Barmherzige Schwestern -  - E-Book

Barmherzige Schwestern E-Book

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Beschreibung

Seit 1633 widmen sich die Nonnen des Ordens der Barmherzigen Schwestern Kranken und Notleidenden. Sie sorgen sich um Bedürftige, nehmen Findelkinder auf, betreuen Gefangene und psychisch Kranke. Wenig geändert haben sich bis heute die Regeln, nach denen sie leben. In diesem Buch erzählen 25 Schwestern ihre Geschichten. Sie gewähren einen Blick hinter Mauern, die sonst verschlossen bleiben. Sie berichten von ihrem Glauben, vom Glück, aber auch von Zweifeln und Ängsten. Sie erklären, was den Sinn des Lebens ausmacht. Der Künstlerin Kathrin Haller ist es dank vieler Besuche gelungen, intime Gespräche zu führen. Sie schafft es, uns in eine anachronistische Welt zu begleiten, in der es viele Antworten auf moderne Fragen gibt. Fotograf Andree Kaiser setzt die Schwestern in ein magisches Licht. Und Joachim Frank, Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau", erklärt in einem persönlich gehaltenen Essay das Leben im Orden.

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Kathrin Haller · Andree Kaiser

BARMHERZIGE SCHWESTERN

25 Nonnen über Liebe, Leid und Leben

Hinter starken Mauern

von Joachim Frank

Der neue Tag beginnt so, wie alle Tage hinter den schweren Mauern des ehemaligen Schlosses Heitersheim seit mehr als hundert Jahren beginnen, mit dem Morgengebet der »Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul«. Es ist kurz nach halb sieben an einem kalten Wintertag. Zur Laudes und der anschließenden Frühmesse kommen nach und nach 35 Schwestern in die neobarocke Saalkirche. Platz böte sie auch für die vierfache Zahl von Besuchern. Zwölf Bankreihen gibt es links, elf rechts des Mittelgangs. Das Knarren der Holzbänke ist das einzige Geräusch, das zu hören ist, neben leisem Räuspern und Hüsteln der Schwestern. 20 weitere von ihnen sitzen oben auf einer Empore an der westlichen Schmalseite der Kirche. Viele von ihnen wirken gebrechlich, zwei brauchen einen Rollstuhl. Eine Holzbalustrade versperrt ihnen die Sicht auf den Altar. Dafür können sie auf zwei großen Flachbildschirmen verfolgen, wie der Hausgeistliche die Messe zelebriert.

Hier in der Schlosskirche scheint es, als ob jede Unruhe, jede Störung an ihren Mauern abprallen müsste. Es ist ein Ort zum Durchatmen, zum Einschwingen auf einen eigenen Rhythmus des Lebens, ein Ort, um die Seele zu lüften. Eine Sehnsucht nach Ruhe und Einkehr, nach einer Oase inmitten einer hektischen Welt von facebook, Twitter und Blackberry treibt viele Zeitgenossen um – strapazierte Manager, Väter und Mütter im Elternstress, Menschen, die von Dauerkommunikation und modernem Multitasking geplagt sind. Auch deshalb rangieren Bücher, die vom Klosterleben handeln, weit vorne in den Bestsellerlisten. Besonders gern aufgesuchte Klöster erweitern ständig ihre Gästehäuser, Angebote wie »Kloster auf Zeit« sind längst kein Geheimtipp mehr. Gebet und Gotteslob, orientiert an den Tageszeiten, sind Haltepunkte im Fluss der Stunden. Wer sich auf die Abläufe im klösterlichen Leben einlässt, der spürt auch: Es geht nicht darum, ständig etwas tun oder leisten zu müssen. Es genügt, einfach hier zu sein. Die »Barmherzigkeit«, die die Heitersheimer Schwestern in ihrem Ordensnamen tragen, liegt nicht allein in ihrem karitativen Tun, sondern auch – und heute vielleicht mehr denn je – in ihrer Präsenz, im stillen und diskreten Wachhalten der Ahnung von einem anderen Leben. Es tut gut, sich bei ihnen aufzuhalten. Während meines Theologiestudiums und auch danach habe ich immer wieder Zeit in Klöstern verbracht – zu Exerzitien, zu Einkehr- und Besinnungstagen, manchmal auch einfach nur für ein paar stille Tage. Ich verstehe, dass viele Menschen von der ganz eigenen Atmosphäre in Klöstern fasziniert sind.

Das Malteserschloss Heitersheim ist ein über Jahrhunderte gewachsener, immer wieder vergrößerter und veränderter Gebäudekomplex im Markgräflerland, umgeben von weiten, sanft gewellten Wiesen, Feldern und Weinbergen, im Osten erheben sich am Horizont die tiefen Wälder des Südschwarzwalds. Im 8. Jahrhundert wurde der Ort zum ersten Mal in Urkunden erwähnt; 1276 zog der Orden der Johanniter ein, im 16. Jahrhundert wurde das Schloss erbaut – Sitz der Großprioren des Malteserordens für Deutschland, die seit ihrer Erhebung zu Reichsfürsten 1548 zugleich Landesherren des Fürstentums Heitersheim waren. Nach der Säkularisation 1806 und dem Ende der Malteser-Fürstenherrschaft verfiel die Anlage. Fürsten- und Herrenhaus dienten den Heitersheimern, die bis heute das Malteserkreuz im Stadtwappen führen, als Steinbruch. 1893 dann ging das Areal an die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul.

Eine Kreisstraße führt direkt am Schlossgelände entlang. Von ihr aus gelangt man durch einen Torbogen in einem Wohnturm auf den Teil des Geländes, wo die Vinzentinerinnen leben. Der barocke Turm und die ehemalige Kanzlei, heute Haus St. Lazarus, sind in warmen Gelb- und Rottönen gestrichen, die Fensterläden blau und grün. Über dem Eingang zum Haus Lazarus hängt zwischen zwei Heiligenfiguren das prächtige alte Wappen des Malteser-Großpriors. Auf der gegenüberliegenden nördlichen Seite, an der Stelle der ehemaligen Kornkammer, steht das 1900 errichtete Haus St. Ludwig. Normalerweise steht die Tür tagsüber bis nachmittags um fünf offen. Wenn nicht, müssen Besucher bei der Pfortenschwester klingeln. Das Haus St. Ludwig mit insgesamt drei Etagen und wuchtigem Dachgeschoss nimmt die barocke Formensprache auf, ist aber schlichter gehalten. Ursprünglich war es ein Krankenhaus und dient heute als Pflegeheim. St. Ludwig ist die letzte Heimat für etwa 80 Ordensfrauen, die dort von Mitschwestern sowie 30 externen Pflegekräften und anderen Mitarbeitern betreut werden. Diese Frauen haben ihr Leben in Krankenhäusern verbracht, in Operationssälen, im Dauereinsatz auf Stationen, in Heimen, Kindergärten, in Hospizen. Sie haben Gefangene besucht oder in der Dritten Welt Missionen mitaufgebaut. Jede von ihnen hat eine eigene Geschichte, und 27 Schwestern werden sie in diesem Buch erzählen. Nur noch drei der Heitersheimer Vinzentinerinnen sind jünger als 70, die älteste ist 97. Der Begriff »Alter« hat hier eine ganz andere Bedeutung als draußen in der Arbeitswelt, wo die Firmen schon die Mittfünfziger in den Vorruhestand schicken. Viele Schwestern haben mit 70 oder gar 80 Jahren noch einmal mit einer ganz neuen Tätigkeit begonnen.

Schwester Maria Imelda zum Beispiel, Jahrgang 1939. Sie ist eine der Jüngsten in der Ordensgemeinschaft. Ihr Leben lang hat sie mit Kindern gearbeitet, heute kümmert sie sich um ihre älteren Schwestern. Maria Imelda ist eine zierliche, aber drahtige Frau mit großen Augen und einer gesunden Gesichtsfarbe. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Seiden- und Hinterglasmalerei; ihre Arbeiten schmücken die Flure, Treppenhäuser und Gemeinschaftsräume des Schwesternhauses. »Die geborene Seidenmalerin«, sagt Erwin Seifried, der Hausgeistliche, anerkennend. Ein Lob, das Maria Imelda sofort abwehrt. »Ach nein, ich will mich doch nicht … ähm … herausheben«, sagt sie, schaut zu Boden und nestelt an ihrem Ordenskleid. Jeden Tag macht Maria Imelda ihren älteren Schwestern ein Angebot zur Beschäftigung und zum Zeitvertreib. Sie spielt mit ihnen, zeigt Filme, liest vor. »Es geht darum, Lebensqualität im Alter zu vermitteln«, sagt sie, »für manche ist das schon ein freundlicher Blick.« Von ihrem Herzenswunsch getrieben, der Arbeit mit Kindern, interessierte sich die damals 20-Jährige nach der Lektüre eines Buchs über den Ordensgründer Vinzenz von Paul für die Vinzentinerinnen. »Kommen Sie zu uns!«, warb die Noviziatsleiterin, die für den Ordensnachwuchs Zuständige. »Bei uns können Sie auch Ihre Ausbildung machen.« Und so sei es dann ja auch gewesen. Neun Monate dauerte das Postulat, eine Art Kandidatur vor der eigentlichen Aufnahme in den Orden. Diese erfolgte mit der »Einkleidung«, bei der die junge Vinzentinerin die Ordenstracht erhielt. Danach begann sie ein einjähriges »kanonisches Noviziat« mit strenger Klausur im Freiburger Mutterhaus des Ordens, möglichst ohne Außenkontakte. Es schlossen sich neun Monate praktisches Noviziat sowie zwei Monate Vorbereitung auf das Ordensgelübde an. Diese »erste Profess« wurde jährlich erneuert, ehe die Ordensfrau nach sechs Jahren ihre »Profess auf Lebenszeit« ablegte. Inhalt der Gelübde ist die Selbstverpflichtung auf die drei »evangelischen Räte«: Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Sie basieren auf Wort und Weisung Jesu im Neuen Testament. Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert bekam die Trias der Gelübde rechtsverbindlichen Charakter. Sie ist bis heute Grundlage der religiösen Existenz in allen katholischen Orden. Die Kapitel dieses Buches sind nach ihnen benannt.

Das Ordenskleid der Vinzentinerinnen ist ein schlichtes schwarzes Gewand mit schmalem weißem Schleier. Der sah jahrhundertelang allerdings ganz anders aus: Bis 1964 trugen die Vinzentinerinnen eine gewaltige Kopfbedeckung aus weißem Leinen spazieren. Inspiriert von der Tracht französischer Landmädchen, gab es sie als ausladende runde Flügelhaube oder – wie bei den Heitersheimer Schwestern – in einer spitz zulaufenden Form. Sie konnten damals selbst am wenigsten dafür, aber mit ihrer Erscheinung verkörperten sie den Geist ihrer Kirche vor den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965): bedacht auf Habitus und Zeremoniell, gravitätisch und streng doktrinär bis zur Erstarrung. Im Alltag kann das Tragen der Flügelhaube kaum ein Vergnügen gewesen sein, was ältere Schwestern bestätigen: »Ständig dieses Einreiben mit Stärke, damit der Stoff stocksteif wurde. War das eine Prozedur!« – »Und versuchen Sie mit dem Ding mal, Auto zu fahren oder gar einzuparken!« Die Flügelhaube wurde schließlich zunächst von einem Schleier mit steifem Stirnband abgelöst, das die Haare komplett verdeckte. An dessen Stelle trat schließlich der lockere Schleier, den die Vinzentinerinnen heute tragen.

Eine andere Veränderung der reformbewegten 1960er-Jahre betraf die Namen der Schwestern. Zur Einkleidung tauschte die angehende Nonne nicht nur ihre bürgerliche Kleidung gegen die uniforme Ordenstracht, womit sie, für alle sichtbar, ihre Individualität in ein großes Ganzes eingehen ließ. Sie erhielt auch einen neuen Namen – als weiteres Zeichen für den Bruch mit der bisherigen Existenz. Der Ordensname signalisierte den Anfang eines neuen Lebens als »Braut Christi«. Den Vinzentinerinnen wurde es erst nach dem Konzil erlaubt, ihren Taufnamen beizubehalten oder sich ihren Ordensnamen selbst auszusuchen. Bis dahin war die Umbenennung obligatorisch. Der »Superior«, ein den Schwestern zugeteilter Priester in der Ordensleitung, wählte den Namen aus. Er hatte zu beachten, dass jeder Name im Orden nur einmal vorkommen durfte. Auf der Suche nach Alternativen stöberten die Oberen nicht nur vergessene frühchristliche Heilige auf, sondern ließen sich auch bedeutungsschwere Neuschöpfungen einfallen wie »Adoleta«, die »Herangewachsene, Gereifte«. Fromm sollten die Namen klingen, am liebsten griechisch oder lateinisch, aber auf  jeden Fall altertümlich. Schwester Nadine? Oder Schwester Nadja? Gott, bewahre! Nein, lieber Tryphosa, Speranda, Pulcheria.

Als der Erfindungsreichtum nachließ, wurde wie bei den alten Römern einfach durchgezählt, oder es wurden reihum die Monatsnamen vergeben: Schwester Prima, Secunda, Tertia; Januaria, Februaria. Oder man stellte einem Namen noch die »Maria« voran, zu Ehren der Gottesmutter: Maria Aloisia, Maria Romana, Maria Salome. Flugs hatte die Liste verfügbarer Namen die doppelte Länge. Beliebt war es auch, Männernamen mit weiblichen Endungen zu versehen, was Kreationen wie Schwester Osmunda, Bertina, Ruperta oder Herwigis erklärt. In einigen Fällen machten sich die Oberen nicht einmal mehr diese Mühe. So findet sich unter den Heitersheimer Schwestern auch – Otto.

Den Schwestern ist ihr Name wichtig, als Ausdruck von Individualität und Persönlichkeit, wie bei jedem Menschen. Wehe derjenigen also, die mit einem Namen beglückt wurde, mit dem sie den Rest ihres Lebens hadern würde! »Wenn die mich Adam nennen oder Eulalia, dann trete ich gleich wieder aus«, habe sie sich insgeheim gesagt, erinnert sich Schwester Elisabeth, heute Oberin der Heitersheimer Schwestern. Ihre »Assistentin« (Stellvertreterin) Jordana fürchtete seinerzeit, dass sie wegen ihrer Herkunft mit »Nepomucena« beglückt werden könnte, der weiblichen Namensform des böhmischen Nationalheiligen Johannes Nepomuk. Für Schwester Gerlanda, die Generaloberin des Ordens, war vor allem eines wichtig: »Hoffentlich ein Name zum Aussprechen!« Schwester Maria Imelda wiederum fürchtete sich vor einem Männernamen. Nachdem ihr der erspart geblieben war, erkundigte sie sich, was es denn mit »Imelda« auf sich habe. Das sei die Patronin der Erstkommunikanten, erfuhr sie. »Bei meinem Faible für die Arbeit mit Kindern fand ich das passend. Ich habe meinen Namen gern, ich habe ihn lieben gelernt«, sagt die Schwester mit einem Lächeln.

Es ist später Vormittag geworden im Schloss Heitersheim. Auf den Pflegestationen mischt sich der für Krankenhäuser typische Geruch mit Essensduft. Es gibt keine Mahlzeiten für alle Schwestern gemeinsam. Je nach ihrer Pflegebedürftigkeit essen sie in kleinen Gruppen von fünf, sechs, sieben Schwestern in eigenen Speisezimmern. Die 20 noch tätigen Schwestern kommen um 12 Uhr im Erdgeschoss im Refektorium zusammen, einem kleinen Speisesaal. Sie sitzen nicht – wie in manchen Klöstern – an einer langen Tafel, sondern an Einzeltischen. Beim Essen darf gesprochen werden. Alle vier Wochen tauschen die Schwestern per Losentscheid ihre Plätze: damit jede einmal mit jeder redet, wie Schwester Elisabeth erklärt. Vor dem Essen singen sie und beten den »Angelus«, das klassische Mittagsgebet der katholischen Kirche. »Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft.« Dass ausgerechnet bei diesen Worten das Telefon in der Ecke des mit dunklem Holz vertäfelten Raums klingelt, registrieren einige Schwestern mit leisem Schmunzeln.

Für Spaß und Humor haben die Heitersheimer Vinzentinerinnen offensichtlich etwas übrig: In einem der Flure hängen Fotos von der alljährlichen Fastnacht an der Wand. Der Vinzenzsaal, Versammlungsraum der Schwestern, ist bunt geschmückt. Die Schwestern selbst sind – dezent – kostümiert. Pfarrer Seifried trägt in Verkleidung einen Sketch vor. Das sei immer eine große Gaudi, erzählt der Geistliche mit weißem Haar und Vollbart, der in seiner Wohnung in einem Nebentrakt der Schlossanlage selbst getöpferte Flöten und allerlei ausgefallene, exotische Musikinstrumente sammelt. Auch einige der Schwestern, berichtet Seifried, hätten kabarettistisches Talent und gäben davon gern etwas zum Besten.

Das alles hört sich weniger nach freudloser Entsagung an, die manche womöglich spontan mit dem Begriff »Kloster« assoziieren, als nach intensiv gepflegter Gemeinschaft. Die Schwestern spielen zusammen, laden Referenten für Diavorträge ein, sehen gemeinsam fern. Zur Fußballweltmeisterschaft entpuppt sich so manche ehrwürdige Schwester als leidenschaftlicher Fan der deutschen Nationalmannschaft. Jeden Monat gibt es eine kleine Feier für jene Schwestern, die Geburts- oder Namenstag hatten. In der Advents- und Weihnachtszeit stehen in vielen Räumen selbstgestaltete Krippen. Und dann ist da auch noch die reisende Madonna: eine Marienfigur, die die Schwestern untereinander weitergeben und die jeweils eine Zeit lang bei einer von ihnen »wohnt«. Die Räume für die Pflegebedürftigen im Haus St. Ludwig sehen aus wie Krankenzimmer sonst auch – nüchtern, zweckmäßig möbliert. Die tätigen Schwestern bewohnen individuell eingerichtete Zimmer. Im Haus Lazarus gibt es sogar eine Art Doppelapartment für zwei Schwestern, mit gemeinsamem Aufenthaltsraum und getrennten Schlafzimmern. Schwester Jordana, die Assistentin der Oberin, wohnt im barocken Torturm. Der quadratische, etwa 25 Quadratmeter große Raum mit Waschgelegenheit in einer flachen Nische ist mit hellen Möbeln ausgestattet. Jordanas Großnichten haben ihrer Großtante einen Wandkalender gebastelt. Die Fotos darauf zeigen zwei fröhliche Mädchen von acht und vier Jahren. Durch die Fenster nach Süden und Westen hat Schwester Jordana einen fantastischen Blick übers Land. Nach Norden schaut sie über den Innenhof auf das Haus St. Ludwig. »Damit ich weiß, wo ich mal hinkomme, wenn ich selber Pflege brauche«, sagt sie.

Ein Leben hinter Klostermauern lag ursprünglich nicht in der Intention des Ordensgründers, des 1581 geborenen französischen Priesters Vinzenz von Paul. Er wollte, dass sich die Schwestern den Armen und Bedürftigen auf den Straßen der Städte und Dörfer zuwenden. »Sie haben als Kloster nur die Häuser der Kranken und das Haus, in dem die Oberin wohnt, … als Kreuzgang die Straßen der Stadt, als Klausur den Gehorsam, weil sie nur zu den Kranken und zu den zu ihrem Dienst notwendigen Orten gehen sollten, als Gitter die Gottesfurcht, als Schleier die heilige Bescheidenheit. Sie sollen eine ständige Opfergabe für Gott sein mit allem, was sie sind, und mit ihrem  Dienst an den Armen«, schrieb Vinzenz in einem Brief.

Im Lauf der Jahre machte er Konzessionen an die kirchlichen Gepflogenheiten, nicht zuletzt mit Blick auf die Approbation seiner Gemeinschaft durch die Obrigkeit. Er billigte eine von seiner Mitstreiterin Louise de Marillac (1591 bis 1660) verfasste Lebensordnung, eine Art Ordensregel. Er kreierte in Anlehnung an die Tracht französischer Landmädchen ein Ordensgewand und benannte die von Louise gegründete Gemeinschaft der »Filles de la Charité« (Töchter der Barmherzigkeit) in »Sœurs« (Schwestern) um. 1642 legten die ersten von ihnen ihre Gelübde ab. Diese hatten allerdings privaten Charakter und wurden jährlich erneuert. Somit unterlagen die Schwestern nicht dem kirchlichen Ordensrecht mit striktem Klausurgebot. Sie konnten ihre Häuser verlassen, um sich dem Dienst an Bettlern, Kranken, Gefangenen, Waisen und Versehrten zu widmen, von denen es als Folge des 30-Jährigen Krieges in Frankreich sehr viele gab.

Vinzenz von Paul war eine durch und durch außergewöhnliche Persönlichkeit. Der Bauernsohn brachte es zum Seelenführer mächtiger Adliger, zum Berater der französischen Krone und nach dem Tod König Ludwigs XIII. zum Mitglied im Staatsrat der Regentin Anna von Österreich. Vinzenz war oberster Seelsorger der französischen Galeerensklaven; er gründete nicht nur neue Orden für Frauen wie für Männer, sondern reformierte auch die Priesterausbildung. Dazu richtete er Seminare und Kollegien für den Klerikernachwuchs ein. Zu einer der bedeutendsten Gestalten in der katholischen Spiritualitätsgeschichte der Neuzeit wurde Vinzenz aber besonders durch die Erfindung und Organisation dessen, was wir heute unter dem Namen »Caritas« kennen: des sozialen Dienstes katholischer Laien. Die »Schwestern der Nächstenliebe« sind, so schreibt es die österreichische Vinzentinerin Pauline Thorer, tatsächlich so etwas wie der erste Caritasverein gewesen.

»Liebe handelt«, lautet eines der Leitworte des umtriebigen Priesters. »Hingabe an Gott« (ein anderes Motto des Vinzenz) hieß für ihn zugleich: Zuwendung zu den Menschen in ihren konkreten Nöten. »Lieben wir Gott, aber auf Kosten unserer Arme und im Schweiße unseres Angesichts.« Was für ihn selbst der Ausweg aus einer persönlichen Glaubenskrise in der Jugend geworden war, empfahl er auch den Menschen, mit denen er als Seelsorger zu tun hatte. Als Pfarrer im kleinen Dorf Châtillon-les-Dombes bei Lyon spürte er dabei zum einen, dass seine Botschaft von Gottes- und Nächstenliebe mehr Gehör fand, wenn sich seine Predigt auch in der Praxis bewährte. Zum anderen erkannte Vinzenz bei vielen Gläubigen eine große Offenheit für die Armenfürsorge. 1617 gründete er die »Confrérie des Dames de Charité« (Bruderschaft der Damen der Nächstenliebe), in der er wohlhabende hilfsbereite Frauen versammelte. Allerdings scheuten sich manche dieser Damen aus vornehmen Kreisen vor »niederen Tätigkeiten« – sie wollten nicht mit Kranken in Berührung kommen oder mit dem Suppentopf durch die Straßen laufen und schickten lieber ihre Dienstmädchen. Doch denen fehlte oft die innere Motivation zur Fürsorge an Armen und Kranken. Vinzenz fand eine pragmatische Lösung – mit entscheidender Hilfe von Louise de Marillac, die er 1624 oder 1625 kennen gelernt hatte. Sie nahm einfache junge Mädchen in ihr Haus in Paris auf, die sich aus religiösen Gründen und im Geist der Nächstenliebe dem Dienst an Notleidenden verschreiben wollten. Dies war im Jahr 1633 faktisch die Gründung der »Filles de la Charité«, aus denen die Vinzentinerinnen hervorgehen sollten.

Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte haben die zentrale Rolle Louise de Marillacs für Gründung, Aufbau und Entfaltung des Ordens lange Zeit nicht in gebührendem Maße gewürdigt. Während Vinzenz von Paul bereits 1737 heiliggesprochen wurde, war seiner Gefährtin diese Ehre erst 200 Jahre später – 1934 – beschieden. 1960 dann wurde Louise zur Schutzheiligen der christlichen Sozialarbeit erklärt, während der hl. Vinzenz von Papst Leo XIII. schon 1885 zum »Patron der Nächstenliebe« und aller karitativen Vereine erhoben worden war. Diese Wertschätzung im Nachklapp ist symptomatisch für ein Gefälle zwischen Männern und Frauen in der katholischen Kirche, egal ob es dabei um Ordensleute oder um Laien geht.

Dass die katholische Kirche bis heute keine Frauen zu Diakoninnen, Priesterinnen oder gar Bischöfinnen weiht, wird in der (Medien-)Öffentlichkeit meistens aus einem – im weitesten Sinne – frauenrechtlichen Blickwinkel kritisiert: als Benachteiligung, als verweigerte Gleichberechtigung. Es lohnt sich aber, einmal die Perspektive zu wechseln: Durch den Ausschluss der Frauen von den geistlichen Ämtern vergibt die Kirche einen unschätzbaren Reichtum – menschlich und geistlich. Nirgends ist das deutlicher zu erleben als in Frauenklöstern. Dort leben starke, gebildete, charismatische Frauen. Theologisch und spirituell haben sie mindestens so viel zu sagen wie die geistlichen Herren in Pfarrhäusern und bischöflichen Ordinariaten. Es sind Frauen, die in ihren Gemeinschaften alle Aufgaben uneingeschränkt übernehmen und ausfüllen, Leitungsfunktionen selbstverständlich eingeschlossen. Frauen wie die Oberin der Heitersheimer Vinzentinerinnen, die diese formelle Anrede zurückweist und schlicht entgegnet: »Ich bin Schwester Elisabeth.«

Solche Frauen nicht predigen hören zu können, sie bei der Messe in der Kirchenbank sitzen sehen zu müssen – das empfinde ich regelmäßig als unpassend, befremdlich und vor allem als Verlust für die Kirche. Ausgerechnet zur Feier der Liturgie, nach den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils »Quelle und Höhepunkt« allen kirchlichen Tuns müssen sich die ansonsten völlig autarken Frauengemeinschaften von außen einen Mann holen, den Priester. Die wenigsten älteren Schwestern, auch im Schloss Heitersheim, werden sich daran stoßen. Ihnen ist zeitlebens vermittelt worden, dass ihre Bestimmung der aufopferungsvolle Dienst sei – und das Hirtenamt Sache des Klerus. War das nicht immer so in der Kirche? Demut, Disziplin, Gehorsam bis zur Selbstaufgabe kennzeichnen die Biographien vieler Schwestern, die in Heitersheim ihren Lebensabend verbringen.

Umso erstaunlicher ist es, wie persönlich sie in diesem Buch aus ihrem Leben erzählen – so offen wie vielleicht nie zuvor. »Warum sollte sich überhaupt jemand dafür interessieren?«, hat Schwester Elisabeth mich bei einem Besuch verwundert gefragt. Ja, warum? Weil die Berichte der Ordensschwestern etwas ausstrahlen, wonach sich viele Menschen sehnen, ohne es womöglich je zu erreichen: Zufriedenheit trotz aller Widrigkeiten des Lebens, Dankbarkeit für alles Empfangene, eine innere Gewissheit, dass ihr Leben einen guten Ausgang nimmt. Gläubige Menschen nennen das Gottvertrauen.

Die Entwicklung der Vinzentinerinnen nach dem Tod ihrer Gründer ist verwirrend und kompliziert, wie häufig in der Geschichte der katholischen Orden. So nennen sich die Heitersheimer Schwestern zwar »Barmherzige Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul«. Ihre Gründung zur Armen- und Krankenpflege im Geist des Ordenspatrons geht allerdings weder direkt auf Vinzenz noch auf Louise selbst zurück, sondern auf einen französischen Kardinal im 18. Jahrhundert. Der damals entstandene Ordenszweig heißt »Straßburger Kongregation«, weil sein Sitz seit 1827 die Stadt im Elsass ist. Von dort breitete sich der Orden nach Deutschland, Österreich, Slowenien, Ungarn und Bulgarien aus. 1846 folgten sechs Straßburger Schwestern einem Ruf aus dem Erzbistum Freiburg. Sie nahmen dort die Krankenpflege am Universitätsklinikum auf und gründeten in der Bischofsstadt ein Mutterhaus als Zentrale ­einer eigenen Ordensfiliale, der Freiburger Vinzentinerinnen.

Im 19. Jahrhundert erlebten die karitativ tätigen Orden den stärksten Aufschwung und regen Zulauf. Sie waren eine katholische Antwort auf die soziale Frage; nicht von ungefähr besann sich die Kirche dabei auf die Ideale des hl. Vinzenz von Paul. In Kliniken, Waisen- und Armenhäusern herrschten zu dieser Zeit oft katastrophale Verhältnisse. Mit den Schwestern hielt ein anderer Geist Einzug: Krankenpflege und soziale Fürsorge aus Liebe zum Nächsten; nicht verwahren, sondern umsorgen. Damit leisteten die Barmherzigen Schwestern und andere Ordensgemeinschaften über Jahrzehnte einen unschätzbaren Dienst für die Gesellschaft. Auch die Niederlassung der Freiburger Vinzentinerinnen in Heitersheim verdankt sich dem Bemühen, einem als Not erkannten Missstand abzuhelfen: der erbärmlichen Situation vieler junger Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Orden befand, »die Zahl jener armen Geschöpfe, welche durch Verführung, Armut oder eigene Schuld in die Höhlen des Lasters getrieben« worden seien, habe »in erschreckender Weise« zugenommen. Diese Frauen sollten »bei stiller Arbeit und Gebet in der Abgeschiedenheit von der Welt wieder ein menschenwürdiges Dasein führen können«.

In dieser Zeit waren die Orden eine der wenigen Institutionen, wenn nicht die einzigen, in denen sich Frauen sozial engagieren konnten – im Hauptberuf gewissermaßen. Der Ordenseintritt verhieß eine gesicherte Tätigkeit, ein gesichertes – wenn auch kollektiviertes – Auskommen, eine respektable Stellung. »Den Schleier zu nehmen«, wie man die Entscheidung für das Leben im Kloster oder einem Orden nannte, das war für viele junge Frauen gleichbedeutend mit sozialem Aufstieg. Reich und berühmt konnten sie nicht werden, angesehen schon. Und sie konnten sich verdient machen. Viele nahmen dafür den Bruch mit ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld in Kauf.

Heute ist die Situation anders. Nicht mehr die Bibel ist die Basislektüre für organisierten Verantwortungssinn, sondern das vielbändige Sozialgesetzbuch. Einerseits hat der Staat den Kirchen die Hoheit über die Sozialfürsorge abgenommen, andererseits haben die Kirchen selbst mit katholischem Caritasverband und evangelischem Diakonischem Werk gewaltige sozial-karitative Apparate aufgebaut. Damit sind die Orden nicht überflüssig geworden, aber speziell die tätigen Gemeinschaften haben in unseren Breiten ihre Wesensbestimmung eingebüßt. Keine junge Frau, die heute Kinder betreuen, sozial auffällige Jugendliche begleiten, in einem Krankenhaus oder medizinischen Dienst ­arbeiten oder alte Menschen pflegen möchte, muss deshalb in einen Orden gehen. Zumal deren Lebensform ein Anachronismus ist. Die »evangelischen Räte« zu leben – arm, ehelos und gehorsam –, das gilt nur noch den allerwenigsten als ratsam.

Ende 2009 lebten in Deutschland nur noch knapp 22 000 Ordensfrauen. In nicht einmal 20 Jahren hat sich ihre Zahl halbiert – eine prekäre Entwicklung, wenn man zusätzlich bedenkt, dass heute mehr als jede fünfte Ordensfrau älter als 65 Jahre ist. Und auf die 1 700 Klöster, Ordenshäuser und Konvente in Deutschland verteilten sich zuletzt gerade einmal 100 Novizinnen, konzentriert auf einige wenige Häuser. Auch die Zahl der Freiburger Vinzentinerinnen nimmt immer weiter ab. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, Ende der 1930er-Jahre, zählte die Freiburger Kongregation 1 800 Schwestern. Heute sind es noch 200. Sie sind – man muss es so sagen – eine sterbende ­Gemeinschaft.

Was ist das für ein Gefühl, dem eigenen Verlöschen zuschauen zu müssen? Immerzu Abschied zu nehmen – von Mitschwestern; von Aufgaben, die der Orden nicht mehr wahrnehmen kann; von Einrichtungen, die geschlossen werden? »Wir hatten unsere Zeit. Wir waren wichtig. Das ist vorbei. So ist das eben«, sagt Schwester Jordana, Jahrgang 1934, die sich auf eine klare, unverblümte Sprache versteht. Sinngemäß zitiert sie ein Wort des hl. Vinzenz: »Wenn unsere Arbeit getan ist, schließen wir hinter uns die Tür, legen den Schlüssel unter die Fußmatte und gehen still von dannen.« Doch diese Abgeklärtheit mischt sich mit Wehmut. Schwester Elisabeth, Jahrgang 1942, ist vor wenigen Jahren erst aus Messkirch fortgegangen, wo sie für den Orden drei Jahrzehnte lang in einer Sozialstation gearbeitet hatte. »Mit mir war dort eine 150-jährige Tradition unseres Ordens beendet. Das war schon eigenartig.« Und auch die Freiburger Generaloberin, Schwester Gerlanda, bekennt, wie »schlimm« es für sie sei, ein Haus des Ordens aufgeben zu müssen.

Doch die Schwestern stemmen sich nicht gegen diese Entwicklung. Sie werben nicht offensiv um Nachwuchs, beschränken sich darauf, in ihren noch bestehenden Häusern und Einrichtungen »etwas von den Wurzeln zu vermitteln, aus denen wir gelebt haben«, so Schwester Gerlanda. Wie sollte eine junge Frau auch zurechtkommen in einem völlig überalterten Konvent? »Für eine allein ist das einfach zu schwierig«, sagt Schwester Elisabeth, selbst eine ausgesprochene Frohnatur, die in unaufdringlicher Form gute Laune verbreitet und gern lacht. Zusammen mit anderen einzutreten, ja, das ginge vielleicht. Aber auch dann: Welche Zukunftsperspektiven hätten diese Frauen denn? »Wir können doch fast ausrechnen, wann die letzte von uns gestorben sein wird«, sagt Elisabeth, und fügt nach einer kleinen Pause an: »Wenn nicht ein Wunder geschieht.« Sie sagt das so lapidar, mit so wenig Nachdruck auf dem Wort »Wunder«, dass klar ist: An solch ein Wunder glaubt sie nicht. Sie lacht, als sie von einer Begegnung am Heiligen Abend erzählt: »Ich muss etwas gestresst ausgesehen haben. Jedenfalls bin ich im Aufzug einer sehr alten Schwester begegnet. Die hat mich mitleidig angeschaut, und dann hat sie gesagt: ›Gell, das ist eine Aufgabe für euch hier, bis wir alle gestorben sind.‹«

»Wer sich heute für einen spirituellen Weg entscheidet, braucht als Wesenszug einen Hang zur Radikalität«, meint die Generaloberin. Früher hatte der Weg in einen Orden etwas Normaleres, Selbstverständlicheres – nicht nur wegen der weitaus höheren Zahlen, sondern weil das Ordensleben damals tiefer eingebettet war in die Lebenszusammenhänge der Umwelt. Sich einem Orden anzuschließen, das bedeutete nicht einen solch ungeheuren Sprung heraus aus dem Kontext der säkularen Welt von heute. Wer ihn wagt und in sich diesen »Hang zur Radikalität« entdeckt, der wird am Ende aber eher bei einem der strengen, kontemplativen Orden landen, in einem Kloster der Benediktinerinnen, Karmelitinnen oder Klarissen, als etwa bei den Vinzentinerinnen. Die Statistik bestätigt dies: Obwohl nur sechs Prozent aller Ordensfrauen in Deutschland kontemplativen Gemeinschaften angehören, ziehen diese mehr als ein Drittel aller Novizinnen an.

Schwester Maria Imelda, die jahrzehntelang für Kinder gelebt hatte, die ihren Beruf liebte und als Berufung verstand, arbeitet nun mit alten Menschen. Die Entscheidung ist ihr nach eigenen Worten nicht schwergefallen. Als die Generaloberin sie bat, diese Aufgabe zu übernehmen, stellte sie sich die Frage: Was hätte Vinzenz von Paul gesagt? »Als Barmherzige Schwester muss deine Barmherzigkeit jedem Menschen gelten. Also?« Diese Hingabebereitschaft hat etwas Entwaffnendes. Ebenso wie die Rundum-Verfügbarkeit. Auf die Frage nach Freizeit antworten die meisten Schwestern mit einer Gegenfrage: »Welche Freizeit?« Was als geistliche Tugend der Bedürfnislosigkeit und Selbstaufopferung gelten mag, ist auch eine gefährliche Versuchung für Obere, über die Ordensangehörigen bedenken- und bedingungslos zu verfügen. Solche Zeiten, sagt der Heitersheimer Hausgeistliche Erwin Seifried, hat es auch bei den Vinzentinerinnen gegeben. »Da mussten dann alle in die Krankenpflege, weil es eben den Bedarf gab – ob sie wollten oder nicht.« Früher hätten Ordensfrauen alles Mögliche gelernt, nur keine Selbstbehauptung und keine Lebenstüchtigkeit im weltlichen Sinn. Seifried redet sich in Rage. »Viele Schwestern wurden regelrecht verheizt! Sie wurden aufgerieben: Nachtwache, Tagwerk, Nachtwache. Schaffen, bis die Finger bluten. Das gibt es zum Glück heute nicht mehr. Aber das würde heute auch keine mehr mit sich machen lassen.«

Es ist Spätnachmittag geworden, über dem Schloss beginnt es leicht zu dämmern, als die Schwestern Elisabeth und Jordana zum Friedhof der Vinzentinerinnen spazieren. Er ist gleichsam das Fotonegativ von knapp 120 Jahren Ordensgeschichte. Die erste Schwester wurde 1894 hier begraben, ein Jahr nach der Ansiedlung. Der Friedhof ist ein langgezogenes Rechteck, eingefasst von mannshohen Hecken, in der Mitte eine Rasenfläche. Die nüchternen pultartigen Grabsteine sind aus unansehnlichem grauem, schnell verwitterndem Gussstein gefertigt. Auf jeden ist ein massives gleichschenkliges Kreuz aufgesteckt. Durch ihre Form und die Reihung der Grabsteine an den Längsseiten erinnert die Ästhetik des Areals an Soldatenfriedhöfe. Viele Grabsteine stehen windschief. Einige sind sandgestrahlt worden, auf den anderen sind die Namen und Todesdaten der Verstorbenen oft kaum zu entziffern. Gleich hinten links außerhalb des Friedhofsgeländes sind etwa 250 alte Grabsteine zwischengelagert, in Doppelreihen gegeneinandergestellt. Einzelne Grabplatten sind zu einem kleinen Stapel aufgeschichtet.

Wie bei der Einkleidung der Ordensfrauen geht es auch bei ihrer Beerdigung um das Thema Individuum und Kollektiv, es geht um die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft. Eigentlich mag ich die Atmosphäre von Friedhöfen mit ihrer Melancholie, den diskreten Zeichen der Trauer, der stillen Verbundenheit zwischen Toten und Lebenden, dem »Memento mori«, das die eigene Vergänglichkeit bewusst macht. Auf diesem Friedhof fühle ich mich unwohl: zu kühl, zu unpersönlich – fast möchte ich sagen: zu gleichgültig für das Schicksal derer, die hier ihre letzte Ruhe finden. Schwester Elisabeth spricht von sich aus ihr eigenes Unbehagen an. »Es ist sehr gewöhnungsbedürftig.« Das klingt, als müsste sie erst eine innere Schwelle der Pietät überspringen, ehe sie ihr eigentliches Geschmacksurteil in Worte fasst: »Hässlich in meinen Augen.« Aber, so fügt sie eifrig hinzu, eine Firma sei bereits damit beauftragt, den Friedhof umzugestalten. Danach, beteuert sie, werde er »nicht mehr wiederzuerkennen sein«. In einem ersten Schritt würden alle Grabsteine gesäubert und deren Inschriften nachgezogen. Damit die Namen und Daten dann auch präzise sind, durchforstet Schwester Elisabeth gerade alte Verzeichnisse und Namenslisten. Was sie trotz der geplanten Veränderungen stört: dass auf den Grabsteinen immer nur das Todesjahr angegeben ist. »Wir sind doch nicht nur gestorben«, sagt Elisabeth kopfschüttelnd. Schwester Jordana zeigt auf eine ganz bestimmte Grabstelle. Auf dem Stein ist der Name »Jordana« zu lesen und das Todesjahr 1958. Der Name der Verstorbenen wurde noch im gleichen Jahr an eine junge Novizin weitergegeben. Sie trägt ihn bis heute. Jordana ist tot, es lebe Jordana! Auch dieses Detail der Ordenspraxis spricht vom gleichmütigen Umgang mit Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, mit dem Werden und Vergehen.

Die Schwestern machen sich auf den Rückweg. Der Tag endet so, wie alle Tage hinter den schweren Mauern des Heitersheimer Schlosses seit mehr als 100 Jahren enden, mit dem kirchlichen Nachtgebet, der Komplet. Und mit den friedvollen Worten aus dem 31. Psalm: »In Deine Hände / leg ich voll Vertrauen meinen Geist.«