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Die vergnügliche Familie" aus "Ein altes Haus und lauter nette Leute" lebt nun wieder in ihrem Einfamoilienhaus mit Garten und Terrasse in einem Münchner Vorort: das berufstätige Journalisten-Ehepaar, die beiden inzwischen herangewachsenen Söhne - dazu als Neuzugang Basko von der Fuchswiese, ein Boxer von echtem Schrot und Korn. Mit List, Schläue und unverwechselbar tolpatschigem Charme erobert Basko im Nu die Herzen der ganzen Familie. Das Zusammenleben Baskos mit seineer "Menschenfamilie" ist das Thema dieses bezaubernden Buchs, das den Alltag einer temperamentvollen Familie mit Selbstironie und Humor nachzeichnet und das selbstverständliche Dazugehören eines liebenswerten Hundes mit viel Zärtlichkeit, aber ohne Sentimentalität beobachtet. Ein heiterer Roman für jung und alt, und vor allem natürlich für alle Hundefreunde.
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2016
Helga Leeb
Basko und seine Leute
Ein heiterer Roman
LangenMüller
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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für die Originalausgabe: 1982 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-7844-8276-7
Für Jonathan
1
»Irgend etwas fehlt hier«, sagte Jonathan, verteilte sorgfältig einen Löffel Honig auf seinem Toast und goß sich Kaffee ein.
»Ich weiß«, erwiderte ich seufzend, »die Himbeermarmelade. Ich weiß es übrigens schon die ganze Zeit, während du dein Ei gegessen hast. Aber ich dachte, vielleicht übersiehst du einfach großzügig, daß auf diesem perfekt gedeckten, appetitlichen, mit frischen Blumen und englischem Geschirr gedeckten Frühstückstisch die Himbeermarmelade fehlt.«
»Ach so, die Marmelade! Natürlich fehlt die. Irgendwas fehlt doch eigentlich immer, wenn du Frühstück machst und nicht ich, aber die meine ich nicht«, entgegnete Jonathan ungewohnt friedlich.
»Wunderbar«, murmelte ich, angelte mit meinem großen Zeh einen Gartenstuhl so nahe zu mir heran, daß ich bequem die Beine darauf legen konnte und schaute der dicken Amsel zu, die drüben unter dem Fliederstrauch in unserem sogenannten Vogelbad, einem ausrangierten, halben Römertopf, duschte. Sie sprühte mit heftigen Flügelschlägen immer neue perlende Wasserkaskaden über sich. Man hörte das Geplätscher über den Rasen bis auf die Terrasse.
»Schau nur, sie verbraucht wieder das ganze Wasser, und die Meisen, die ringsum anstehen und schon ganz ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfen, müssen sich um den Rest balgen«, sagte ich zu Jonathan. Er nickte zerstreut. Das allsonntägliche Schauspiel schien ihn heute nicht besonders zu interessieren.
»Irgendwann einmal muß ich ein größeres Vogelbad kaufen«, stellte ich fest, »oder ich stelle den anderen halben Römertopf auch noch auf, dann können zwei Amseln gleichzeitig baden.«
Ich blinzelte zu den üppigen Blütendolden der Clematis hinauf, die das Balkongeländer umrankte, und fand, daß dies ein herrlicher Sonntagmorgen war: blauer Himmel, Sonne, ein leichter, lauer Wind und über uns die orangerote Markise, die uns gegen fremde Blicke schützte.
Niemand von den Einfamilienhäusern ringsum konnte beobachten, wie wir faul, in Morgenmänteln (lila ich, beige Jonathan), barfuß und unrasiert (Jonathan) auf der Terrasse saßen und frühstückten. Vielleicht stand Herr Speicher an seinem Badezimmerfenster und verrenkte sich, um einen winzigen Ausschnitt unserer morgendlichen Idylle zu ergattern, seinen Hals, aber das störte mich längst nicht mehr.
Vom Zwiebelturm der Dorfkirche schlug es gemächlich zehn Uhr. Gleich würden Michi und Christian verschlafen und mit zerzaustem Haarschopf auf die Terrasse tapsen und sich mit einem beiläufigen »Morgen« über die Reste hermachen. Jonathan pflegte das lasche Auftreten seiner Söhne jedesmal mit einer sarkastischen Bemerkung zu begleiten, etwa: »Auch schon auf, die Herren?« oder »Aha, da hat jemand gehört, das alles fix und fertig ist und keinerlei Mithilfe mehr benötigt wird.«
Er war ein autoritärer, etwas altmodischer Vater und hätte gerne gehabt, daß ihn am Sonntagmorgen zwei frischgewaschene und gekämmte Knaben mit freundlichen Gesichtern und fertig gedecktem Tisch empfangen hätten. Leider ließen sich seine Vorstellungen nicht in die Realität umsetzen, woran ich mit meiner toleranten Erziehung – wie es Jonathan nannte – sicher nicht unschuldig war. Also brummelte er wenigstens ein bißchen, wenn die beiden erschienen, fand dann aber, damit habe er seine Autorität ausreichend bewiesen.
»Wie ich vorhin schon sagte«, begann Jonathan aufs neue, diesmal mit leichtem Nachdruck: »Ich finde, uns fehlt etwas.«
Ich schaute ihn an, wie er dasaß, die Hornbrille auf die Nase gerutscht, unter dem Gürtel des Morgenrocks ein leichter Bauchansatz, die ersten grauen Haare an den Schläfen, alles in allem ein ziemlich zerzauster, aber doch recht ansehnlicher Ehemann.
»Ach Jonathan, du bist drollig«, rief ich gut aufgelegt. »Natürlich fehlt uns eine ganze Menge: mir zum Beispiel ein Pelzmantel, irgend so was ganz Lässiges mit Kapuze zum Reinkuscheln. Außerdem fehlt uns ganz eindeutig ein neuer Teppich, am besten wäre ein weißer Berber, wollig, weich und drei Zentimeter hoch. Ach ja, und ein guter Anfang für meinen Artikel fehlt mir, und – das wollte ich dir eigentlich gar nicht sagen – aber irgendwie fehlen mir auch zweihundert Mark vom Haushaltsgeld und der Reservehausschlüssel, vielmehr einer von meinen drei Reservehausschlüsseln.«
Normalerweise wäre Jonathan nach diesem letzten Geständnis wutentbrannt hochgefahren und hätte etwa Folgendes gesagt: »Das Verhältnis dieser Familie zu Geld und insbesondere zu Hausschlüsseln ist erschütternd. Es gibt bestimmt kein Haus weit und breit außer unserem, bei dem von morgens bis abends der Hausschlüssel außen in der Tür steckt, und das Gartentor weit offensteht, damit jeder, aber auch wirklich jeder, mühelos hereinkommen kann. Es ist ein reines Wunder, daß sich nicht sämtliche Diebe und Einbrecher der Stadt bei uns verabreden.«
Spätestens an diesem Punkt hätte ich Jonathan normalerweise unterbrochen und gesagt: »Tatsache ist aber, daß uns noch nie jemand die kleinste Sache gestohlen hat und daß es bei den vielen Freunden der Kinder viel praktischer ist, wenn jeder aus- und eingehen kann, ohne zu klingeln. Außerdem finde ich es gemein von dir, daß du meine Reservehausschlüssel, die alle an guten, vernünftigen Plätzen untergebracht sind, immer wieder heimlich wegnimmst. Neulich mußte ich durchs Waschhausfenster klettern – das geht übrigens prima, obwohl du glaubst, das Gitter sei diebstahlsicher befestigt –, bloß weil ich keinen einzigen Schlüssel finden konnte. Jedenfalls würden wir alle viel weniger Hausschlüssel verlieren, wenn man sie einfach dort ließe, wo sie hingehören: einer außen an die Tür, einer unters Fensterbrett der Garage, einer in den Wäscheklammersack im Garten und einer für schlimmste Notfälle hinter den Geranientopf auf der Terrasse.«
Merkwürdigerweise fand dieser Dialog heute nur in meinem Gehirn statt. Jonathan schien an seinem Lieblingsthema gänzlich desinteressiert zu sein. Statt dessen sagte er plötzlich laut und langsam: »Was ich seit einer halben Stunde sagen möchte, ist folgendes: ich finde, was uns fehlt, ist ein Hund.«
»Ein Hund?« wiederholte ich tonlos, und dann, als ich die ganze Tragweite dieses Satzes begriffen hatte, schrie ich entsetzt auf: »Ein Hund!!!!?«
»Ja«, erwiderte Jonathan sachlich. »Ich finde, zu einer richtigen Familie gehört einfach ein Hund.«
Ich saß ein paar Sekunden stumm vor Staunen und schaute ihn fassungslos an.
Jonathan schaute zurück. »Ich wollte schon immer einen Hund haben, weißt du«, sagte er. »Hunde gehörten zu meiner Kindheit, wie der Lagerplatz an der Spree, wo wir Verstecken spielten, und die Berliner Weiße mit Schuß am Samstagabend. Mein Hund damals war ein Dackel und hieß Biggi.«
»Und starb an Herzverfettung und keifte jeden Fremden an, der eure Wohnung betrat, bis er asthmatisch keuchend in einer Ecke zusammenbrach und von deiner Mutter aufs Sofa gebettet wurde. Ich erinnere mich deutlich, es war ein erhebender Anblick.« Meine Stimme klang sarkastisch.
»Du hast Biggi nur in seinen letzten Jahren in München gesehen. Früher war er anders. Außerdem konnte er nichts dafür, daß meine Mutter ihn hemmungslos überfütterte und nie jemand mit ihm spazierenging.«
»Aha, da haben wir’s. Wer bitte sollte mit unserem Hund Spazierengehen?«
»Die Kinder natürlich«, erwiderte Jonathan. »Und am Wochenende du und ich. Jeder müßte seinen Teil Verantwortung für den Hund übernehmen. Ich sehe da überhaupt kein Problem.«
»Du siehst nie Probleme«, seufzte ich. »Für dich ist es ganz normal, ein gepflegtes Haus, einen gemähten Rasen, zwei halbwegs ordentlich erzogene Söhne und eine berufstätige Frau zu haben. Von pünktlichen Mahlzeiten und tadellos gebügelten Hemden ganz abgesehen.«
»Richtig, es klappt alles tadellos. Wo gibt es da ein Problem?«
»Gelegentlich«, sagte ich, »ganz selten einmal bin ich etwas atemlos, weißt du, und überlege, wieso ich das eigentlich alles schaffe.«
»Aber Liebling, ganz einfach, weil du eine emanzipierte Frau bist«, antwortete Jonathan fröhlich.
»Ich bin zwar eine emanzipierte Frau, aber nur, weil ich das unverdiente Glück habe, eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Zugehfrau als Hilfstruppe zu besitzen«, erklärte ich.
»Na also, wo liegt das Problem?« erkundigte sich Jonathan. Es war hoffnungslos.
»Das Problem liegt darin«, erklärte ich behutsam, »daß ich mir manchmal denke, es müßte Spaß machen, einen Mann zu haben, der sich partnerschaftlich mit mir die Hausarbeit, die Bügelwäsche und die Elternsprechtage für zwei schulpflichtige Kinder teilt. So etwas gibt es nämlich. Ich schreibe dauernd darüber.«
»Liebling, das ist doch nicht dein Ernst! Kannst du dir vorstellen, wie ich mit dem Bügeleisen aussähe oder beim Abspülen? Mit Gummihandschuhen womöglich!«
»Eigentlich nicht«, gab ich zu. »Aber vielleicht hätte ich mich im Verlauf einer zwölfjährigen Ehe an diesen Anblick gewöhnen können.«
»Also ich nicht«, erklärte Jonathan mit verblüffender Selbstverständlichkeit.
»Tja, dann ist dieses Problem ja wohl auch gelöst«, stellte ich fest. Jonathan spürte meinen ironischen Unterton nicht. »Siehst du, ich sag’s ja immer, du suchst Probleme, wo es gar keine gibt«, rief er vergnügt. »Und mit unserem Hund wird das sicher ganz genauso.«
»Wieso mit unserem Hund?«
»Na ja, wir reden im Grunde doch die ganze Zeit davon, daß wir einen Hund wollen.«
»Du willst einen Hund«, beharrte ich eigensinnig. »Also gut, ich. Aber Michi und Christian sicher auch. Für die wäre ein Hund sogar besonders wichtig. Für ihre menschliche Entwicklung, weißt du. Wir hatten die beiden schließlich im zarten Alter von sechs und acht ihrer Heimat entfremdet und sie in ein fernes, unbekanntes Land verpflanzt.«
»Du tust, als ob unsere zwei Jahre London nicht eine herrliche, faszinierende Zeit gewesen wären.«
»Waren sie, wenn auch etwas aufregend, wie du zugeben wirst. Aber für Michi und Christian ist es nicht so einfach, sich wieder in ihre alte Umgebung einzugewöhnen. Ein Hund könnte ihnen dabei helfen.«
»Jonathan, werde nicht sentimental«, sagte ich. »Du weißt genau, daß Michi längst die drei Größten und Frechsten aus seiner Klasse als Freunde hat, und ob Christians Rechtschreibung im Deutschen weniger katastrophal wäre, wenn er zwischendurch nicht zwei Jahre auf einer englischen Schule verbracht hätte, ist keineswegs erwiesen. Schließlich ist auch seine englische Rechtschreibung katastrophal.«
»Da kommen sie«, sagte Jonathan. »Wir fragen sie einfach selbst, ob sie einen Hund haben wollen.«
Es war zu spät, um einzugreifen.
»Wieso redet ihr von einem Hund? Kriegen wir vielleicht einen Hund?«
Michi, der mit seinen braunen Locken und seiner Pfirsichhaut viel zu hübsch für einen Neunjährigen aussah, blieb buchstäblich der Mund offenstehen. Dann drehte er sich um, boxte seinen um zwei Jahre älteren Bruder in die Seite, daß der aufheulte, und brüllte: »Christian, hast du das gehört! Wir kriegen einen Hund!«
»Mensch klasse«, sagte Christian trocken. »Ich wollte schon immer einen Hund haben.«
»Also Moment mal, das ist noch gar nicht sicher, da müssen wir erst nochmal drüber reden«, versuchte ich einzuwerfen, kam aber, was nur selten geschieht, einfach nicht zu Wort. Die drei männlichen Mitglieder der Familie unterhielten sich bereits ausführlich und in ungewohnter Harmonie über Hunde im allgemeinen und unseren Hund im besonderen. Michi war für einen Bernhardiner, Christian für einen Afghanen, Jonathan für einen deutschen Schäferhund. Ich goß mir eine letzte Tasse Kaffee ein und hörte zu.
»Kinder, seid mal ruhig«, sagte Jonathan nach einer Weile. »Eure Mutter sitzt hier so still dazwischen. Die muß doch schließlich auch gefragt werden, was für einen Hund sie haben will!«
»Oder willst du womöglich gar keinen?« fragte Michi mit verzweifelt flehendem Blick.
Ich blinzelte in die Morgensonne, die jetzt schon fast eine Mittagssonne geworden war, schaute auf die wilde Unordnung des Tischs und dann auf die drei zerzausten, in schlampige Morgenmäntel gehüllten Gestalten drumherum, deren Gesichter vor Begeisterung glühten.
Es war wirklich ein außergewöhnlich schöner Sonntagmorgen.
»Natürlich will ich auch einen Hund«, sagte ich. »Ich hab mir meine ganze Kindheit hindurch einen Hund gewünscht und nie einen bekommen. Ich freu mich wahnsinnig auf unseren Hund.«
Christian und Michi fielen mir von zwei Seiten her um den Hals, eine englische Kaffeetasse zersprang klirrend auf dem Boden, Jonathan blickte mild und schob mit dem Fuß die Scherben beiseite.
»Am liebsten hätte ich einen Rauhhaardackel«, sagte ich, als ich wieder zu Luft gekommen war. »Einen ganz kleinen frechen, zärtlichen, den man auf den Schoß nehmen und streicheln kann.«
»Einen Dackel!« riefen Michi und Christian gedehnt.
»Aber ein Dackel ist doch gar kein richtiger Hund.«
»Ich fürchte, unser Hund wird doch ein Problem«, sagte Jonathan ahnungsvoll.
Er sollte recht behalten.
2
Sein Name war Basko von der Fuchswiese, sein Stammbaum so edel, daß sich ein Seitenzweig bis nach Schottland erstreckte, wo er bei einer Lady Mildred Whitebreast endete. Basko war im übrigen kein Rauhhaardackel, sondern ein Boxer, und zwar einer vom alten Schrot und Korn.
Da war noch nichts Schmales und Windschlüpfriges hineingezüchtet, wie man das heute an Boxern sieht: Nein, Basko war von kraftvoller, stämmiger Figur, hatte einen riesigen, eckigen Kopf mit schwarzer Maske und tief herabhängenden Lefzen. Seine Augen blickten treuherzig über die melancholisch nach unten gezogenen Lider, seine Stirn legte sich in eine Unzahl drolliger Kummerfalten, Brust und Pfoten waren weiß, sein goldbraunes, glänzendes Fell schien ihm eine paar Nummern zu groß zu sein. An den Hinterbacken liefen die Haare in entgegengesetzter Richtung zusammen, so daß es aussah, als befänden sich dort zwei Reißverschlüsse mit Druckknopf. Michi behauptete, daß Basko nachts, wenn ihn niemand beobachtete, sein Fell auszog. Aber Michis Phantasie neigte zu skurrilen Purzelbäumen.
Der Grund, warum wir uns nach langen Diskussionen auf einen Boxer geeinigt hatten: Ein Hund dieser Rasse schien alle Eigenschaften in sich zu vereinigen, die ein neues Mitglied einer so unruhigen Familie wie unserer unbedingt mitbringen sollte. Er mußte gutmütig und kinderlieb, strapazierfähig und praktisch sein, hochbeinig, damit er nicht bei jedem Matschwetter Dreckspuren über den Teppich schleppte, und kurzhaarig, denn wer möchte schon an allen Sesseln und Möbeln Hundehaare kleben haben? Dies alles – so entnahmen wir klugen Büchern – traf auf Boxerhunde zu. Was nicht drinstand war, daß auch kurzhaarige Hunde unbeschreiblich haaren können und daß vier tapsige Boxerpfoten bei Regenwetter kaum weniger aparte Muster auf dem Teppich hinterlassen als die schleifenden Bauchhaare eines Dackels.
Ein wichtiger Gesichtspunkt war ferner, daß ein Boxer kein Schoßhund, sondern wie Jonathan und die Söhne fanden, ein männlicher, charaktervoller Hausgenosse war. Daß unser künftiger Hund auf keinen Fall weiblichen Geschlechts sein würde, war von vornherein klar. Darüber gab es nicht einmal eine Diskussion. Mir war es recht. Das männliche Element überwog in unserer Familie bereits so stark, daß es nicht mehr darauf ankam. Nachdem wir uns also theoretisch auf einen Boxer geeinigt hatten, fiel mir etwas ein. »Hört mal«, sagte ich. »Sind Boxer nicht diese Hunde, die ständig tropfen?«
»Wieso tropfen?« fragte Jonathan.
»Na ja, ich meine, sind das nicht diese Hunde, die immer Speichel und Schaum am Maul haben? Es muß irgendwie mit ihren langen Lefzen zusammenhängen.«
»Das sollte man klären«, meinte Jonathan, als Journalist daran gewöhnt, vage Gerüchte durch gründliche Recherchen aus der Welt zu schaffen oder zu erhärten.
Am nächsten Tag kam er nach Hause und verkündete: »Ich habe mit dem Boxerverein gesprochen, mit einer alten Dame aus unserer Honorarabteilung und mit einem freien Mitarbeiter. Du hast recht. Früher haben Boxer in der Tat getropft. Es heißt übrigens korrekt trielen, nicht tropfen. Aber heute hat man diese Eigenschaft längst weggezüchtet.«
»Wunderbar«, sagte ich. »Dann steht einem Boxer eigentlich nichts mehr im Wege.«
Aber obgleich Boxer damals zu Anfang der siebziger Jahre noch keine Modehunde waren, schien es unglaublich schwierig, einen davon zu erstehen. Wann immer wir einen Zwinger oder einen privaten Züchter anriefen, war der letzte Boxer gerade verkauft, vorgemerkt oder seit langem jemand anderem versprochen, die Hündin hatte nur drei anstatt wie erwartet fünf Junge geworfen, oder es gab zwar einen jungen Boxer, aber eben keinen Welpen. Schließlich bekamen wir einen Geheimtip. In einem kleinen Ort dreißig Kilometer südlich von München lebte in einem romantischen Haus mit Garten eine alte Dame, die außergewöhnlich schöne Boxer züchtete. Das heißt, sie züchtete sie eben nicht berufsmäßig, sondern ließ nur ihre Hündin gelegentlich decken, zog die Jungen liebevoll groß und trennte sich so schwer von ihnen wie eine Mutter von ihren leiblichen Kindern. Die Jungen würden dort auch nicht im Zwinger gehalten, sondern im Haus.
»Gut«, sagte ich. »Dann hat unser Hund wenigstens keine Heimschäden, ist stubenrein und von vornherein daran gewöhnt, daß er nicht aufs Sofa oder ins Bett springen darf.«
Wir riefen die alte Dame an. Sie war reizend. Bevor wir zu Wort kamen, erkundigte sie sich ausführlich nach der Größe unseres Gartens, dem Alter der Kinder, dem Charakter jedes einzelnen Familienmitglieds, nach Beruf und Einkommensverhältnissen. Es war so ähnlich wie bei einem Polizeiverhör.
»Wissen Sie, ich gebe meine Hunde nur Leuten, die mir sympathisch sind«, sagte sie abschließend. Und dann: »Ich glaube, Sie sind mir sympathisch.«
»Haben Sie denn einen Hund für uns?« fragte ich atemlos.
»Ja«, sagte sie zögernd. »Ich habe einen. Er ist bei weitem der hübscheste des ganzen Wurfs, und ein Züchter möchte ihn unter allen Umständen kaufen. Aber da ist ein Haken. Denn Basko – so heißt er – ist bedauerlicherweise ein Einhoder.«
»Ein was?« fragte ich, während der Rest der Familie sich ums Telefon drängelte und gebannt an meinen Lippen hing.
»Ein Einhoder«, wiederholte die alte Dame. »Das bedeutet, daß er nur einen Hoden hat. So etwas kommt auch manchmal bei Kindern vor. Aber bei ihnen holt man den fehlenden Hoden durch eine kleine Operation nach außen. Bei Hunden tut man das nicht.«
»Aha, und was bedeutet das, wenn ein Hund ein Einhoder ist?«
»Eigentlich nicht viel. Er kann durchaus Nachwuchs zeugen. Bloß bekommt dieser Nachwuchs keinen Stammbaum. Basko ist sozusagen dazu verurteilt, eines Tages illegitime Kinder in die Welt zu setzen, wenn überhaupt. Deshalb hat ihn der Züchter auch noch nicht gekauft. Er wartet.«
»Worauf?« fragte ich.
»Darauf, daß der zweite Hoden doch noch zum Vorschein kommt. Sobald es soweit ist, nimmt er ihn.«
»Und wenn der Hoden nun nicht erscheint?« erkundigte ich mich hoffnungsvoll.
»Dann«, sagte die alte Dame, »können Sie Basko bekommen. Und zwar zum halben Preis.«
Ich legte die Hand über die Sprechmuschel und erklärte der gebannt lauschenden Familie, daß wir einen wunderhübschen kleinen Boxer namens Basko in Aussicht hätten, dem es an einem Hoden mangelte.
»Bis wann fällt die Entscheidung?« fragte ich ins Telefon.
»Nach drei Monaten besteht keine Chance mehr. Basko ist gestern zwei Monate alt geworden. Rufen Sie doch in vier Wochen nochmals an.«
Ich legte auf und teilte Jonathan und den Kindern meine neuen Erkenntnissse mit. Alle waren der Ansicht, daß Basko, gerade weil er nur einen Hoden hatte, eine Familie brauchte, die ihn liebte und akzeptierte. Wir beschlossen, auf Basko zu warten. Natürlich riefen wir nicht erst nach vier Wochen, sondern praktisch jeden dritten Tag an. Zwischen Frau M. und uns entstand langsam eine freundschaftliche Beziehung. Sie wußte über Onkel Pubos Schwerhörigkeit Bescheid und seine eigensinnige Weigerung, ein Hörgerät zu benutzen, sie nahm an Christians Niederlagen im Kampf mit der deutschen Rechtschreibung teil und äußerte sich kritisch zu meinen neuesten Reportagenthemen. Dafür berichtete sie uns ausführlich über die Eigenarten aller Boxerhündinnen, die sie je besessen hatte.
Wir fragten schüchtern, ob wir Basko einmal besuchen dürften. Aber da stießen wir auf Granit. Nein, die Enttäuschung sei dann zu groß. Sie wisse, wie das mit Kindern sei. Falls der Hoden doch noch käme, wäre es besser, wir hätten Basko nie kennengelernt, denn er sei nun einmal der edelste, schönste und liebenswerteste Hund, den sie je aufgezogen habe.
Unsere Familiengespräche kreisten praktisch nur noch um Basko und seinen nichtvorhandenen Hoden.
Ich erinnere mich an eine etwas merkwürdige Situation im Café Glockenspiel hoch überm Münchner Marienplatz. Ich hatte mich mit meiner Mutter verabredet, um ihre neuesten Reisepläne mit ihr zu besprechen. Meine Mutter war damals schon über siebzig, sah aber aus wie eine jugendliche Sechzigjährige und unternahm mehrmals im Jahr abenteuerliche Omnibus- und Flugreisen zu den merkwürdigsten Punkten der Welt. Diesmal wollte sie nach Ladakh, irgendwo mitten im Himalaja. Nachdem sie mir ausführlich berichtet hatte, daß sich die Menschen dort nie waschen, alle ihre Kleider übereinander tragen und ranzigen Buttertee trinken, lenkte ich das Gespräch auf unseren künftigen Hund.
Ein älterer Herr hatte inzwischen an unserem Tisch Platz genommen. Wir hatten ihm zerstreut zugenickt und weitergeplaudert.
»Also, ich weiß nicht recht«, sagte meine Mutter. »Hast du dir das auch gut überlegt! Nur einen Hoden zu haben, das ist gewissermaßen doch ein Mangel, den man nicht zu leicht nehmen sollte. Davon kannst du mich nicht abbringen.«
»Ach, Mama, du bist immer viel zu besorgt«, beschwichtigte ich. »Abgesehen davon, daß ich praktisch gar nicht mehr zurück kann. Die Familie würde mich glatt lynchen. Es ist alles abgemacht. Im übrigen ist sonst alles ganz normal bei ihm. Ich versichere dir’s. Der Arzt sagt, er könnte durchaus Kinder zeugen. Aber wir wollen ja sowieso keinen Nachwuchs.«
»Wenn das nur gut geht«, sagte meine Mutter und wiegte nachdenklich ihr Haupt mit dem schwungvoll aufgebogenen Filzhut. »Sicher wird es gutgehen«, sagte ich. »Er ist nämlich nicht nur ein besonders hübscher Kerl, er hat auch einen ausgezeichneten Charakter. Das ist doch wichtiger als ein Hoden mehr oder weniger, findest du nicht?«
Wir machten eine Pause. Der alte Herr neben uns hatte inzwischen bezahlt, schlüpfte in seinen Mantel und beugte sich plötzlich väterlich zu mir herab.
»Nehmen Sie mir’s nicht übel, daß ich mich einmische«, sagte er. »Es geht mich ja nichts an. Aber ich würde mir so eine Verbindung sehr überlegen. Sie sind doch noch jung und hübsch! Und dann ein Mann mit nur einem Hoden! Also verzeihn Sie, aber da gebe ich Ihrer Frau Mutter durchaus recht. Das kann nicht gut ausgehen!«
»Das kommt davon, weil du immer so laut redest«, sagte meine Mutter vorwurfsvoll. Ich verschluckte mich vor Lachen fast an meinem Eisbecher. Jonathan lachte komischerweise überhaupt nicht, als ich ihm das Ganze erzählte. Er fand, in einem öffentlichen Café spreche man nicht über Hoden, auch nicht über die von Basko.
Endlich, nach vier Wochen, sagte Frau M. am Telephon:
»Ich glaube, er kommt nicht mehr. Sie können Basko kriegen. Holen Sie ihn bitte gleich, sonst kann ich mich nicht mehr von ihm trennen.«
Als wir vor dem Gartenzaun standen, trottete uns eine alte Boxerhündin würdevoll über den Kiesweg entgegen.
In dem mit antiken Möbeln überladenen Wohnzimmer der alten Dame sprang ein entzückender kleiner Boxer mit unnatürlich langen Beinen, einem viel zu großen Kopf und viel zu weitem Fell vom Sessel auf die Couch, tapste quer über den Tisch und schaute uns treuherzig an.
»Basko«, flüsterte ich gerührt und streichelte vorsichtig die krummen Falten auf seiner Stirn.
»Er sieht aus wie ein Reh«, sagte Michi.
»Wir brauchen einen größeren Korb«, stellte Christian fest.
Jonathan legte Basko das grüne Lederhalsband um, und ich ließ mir erklären, womit und wie oft er gefüttert werden müßte.
Der alten Dame standen die Tränen in den Augen, als sie den widerspenstigen kleinen Kerl, der seine vier staksigen Beine in den Boden stemmte, hinter sich her zu unserem Auto zog.
»Seine Mutter ist jetzt ganz allein«, schniefte Michi.
»Darf ich Sie noch etwas fragen?« wendete ich mich zum Abschied an die alte Dame. »Tropft er?«
»Was meinen Sie?«, erkundigte sich die alte Dame verständnislos.
»Ich meine, ob Basko trielt. Sie wissen schon, das, was Boxer häufig tun.«
»O nein«, erwiderte die alte Dame erleichtert. »Diesen Speichelfluß hatten Boxer früher einmal. Ich erinnere mich gut. Ja, das konnte sehr unangenehm sein. Aber glücklicherweise hat man das längst weggezüchtet.«
»Wunderbar«, sagte ich. Auf Jonathans Recherchen konnte man sich eben verlassen.
Ich setzte mich neben Jonathan ins Auto und hielt den warmen kleinen Kerl auf dem Schoß. Er wendete unruhig seinen ausdrucksvollen Kopf hin und her und vergrub seine breite Nase schließlich in meinem Oberarm.
Wir waren alle vier gerührt. Jonathan hatte – ich schwör’s – nasse Augen hinter seiner Brille. Er ist schrecklich sentimental, was er aber nie zugeben würde.
Michi und Christian beugten sich einträchtig über meine Schultern und streichelten abwechselnd mit behutsamen Bewegungen Baskos Rücken.
In unserem Garten setzten wir ihn vorsichtig auf den Rasen. Er wackelte zur Tanne, pinkelte und sah jetzt tatsächlich aus wie ein Reh von Walt Disney. »Was hast du denn da für einen Flecken auf der Bluse?« fragte Christian. Basko trottete auf mich zu, schnüffelte an meinen Beinen herum und hinterließ zwei schleimige Schaumspuren auf meinen neuen Jeans.
»O mein Gott«, rief Jonathan entsetzt. »Ich glaube, er tropft!«
Ich beugte mich zärtlich zu dem warmen, glänzenden Bündel Fell hinunter, das sich wohlig zu meine Füßen zusammengerollt hatte und sagte: »Natürlich tropft er. Alle richtigen Boxer tropfen.«
Basko richtete sich auf, schaute uns aus seinen großen dunklen Augen aufmerksam an und schüttelte sich dann, daß seine Lefzen nur so flogen. Jonathan tätschelte ihn hinter den Ohren. Dann nahm er seine Brille ab, um sie von den Spuren des Sprühregens zu reinigen, den Basko um sich geschleudert hatte.
Es war eine Geste, die wir von nun an häufig bei Jonathan beobachten konnten.
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