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Eines Tages erfährt die Autorin von ihrem Mann, dass die gesamte Familie, bestehend aus den Eltern und zwei schulpflichtigen Jungen, in wenigen Wochen mit Sack und Pack nach London übesiedeln werde. In Hampstead, dem schönsten und ehrwürdigsten Stadtviertel finden sie nach langem Suchen eine entsprechende Wohnung in einem altehrwürdigen Haus. Das "englische Leben" kann beginnen. Doch schon beim Einzug stellt sich sehr schnell heraus, dass die Traumadresse Redington Road, um die sie jeder beneidet, nur vornehm klingt, im Inneren sieht es völlig anders aus. Aber trotz der verschiedensten Mißstände sind die Anfangsschwierigkeiten bald überwunden, und die Familie beginnt, diese Wohnung und das alte Haus zu lieben und sich mit den seltsamen Menschen anzufreunden, die darin leben. Ein Buch, das für alle Freunde Englands und der englischen Mentalität von großer Faszination sein wird, das sich aber auch an ein Publikum wendet, das bereit ist, sich in die skurrile Welt lebensfroher Gestalten entführen zu lassen.
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Seitenzahl: 244
Veröffentlichungsjahr: 2016
Helga Leeb
Ein altes Haus und lauter nette Leute
Roman
LangenMüller
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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für die Originalausgabe: 1976 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-7844-8275-0
1
Natürlich hätte ich zu Jonathan einfach »nein« sagen können oder: »Moment mal, wie stellst du dir das vor? So etwas bespricht man doch zuerst einmal gründlich!«
Dann hätten wir uns vermutlich eine Menge Aufregungen erspart und niemals dieses verrückte Haus in Hampstead bezogen.
Aber ich habe eben nicht »nein« gesagt. Ich hatte statt dessen kurz von meinem Artikel über die Probleme berufstätiger Ehefrauen aufgeblickt und meinem seit einiger Zeit heftig telefonierenden Mann auf seine Frage leichthin »ja, warum nicht?« geantwortet.
Ich erinnere mich noch deutlich, daß Jonathan in einer Art Schrecksekunde verharrte, sich dann wieder dem Telefon zuwandte und zu seinem Gesprächspartner sagte: »Ich habe gerade meine Frau gefragt. Sie scheint nichts dagegen zu haben. Ich nehme also den Posten in London an.« Der Rest des Gesprächs handelte von technischen Einzelheiten, Gehaltssummen fielen, von einem Büro in der Fleet Street war die Rede und davon, daß London eine sehr aufregende Stadt sei.
Jonathan legte den Hörer auf, ließ sich in den Schaukelstuhl neben dem Bücherregal fallen, atmete einmal tief durch und starrte mich an. Ich starrte über meine Schreibmaschine hinweg zurück. »Soll das heißen, daß du, ich meine, daß wir demnächst nach London umziehen?«
»Ich fürchte, ja«, seufzte Jonathan! »Es kommt mir auch ein bißchen plötzlich vor. Jedenfalls habe ich gerade einen Vertrag als Londoner Korrespondent angenommen. Ich fand das übrigens fantastisch, daß du so spontan einverstanden warst«, fügte er hinzu. »Ich dachte, ich müßte dich erst mühsam überreden, weil so ein Ortswechsel doch einige Probleme mit sich bringt.« Er zündete sich eine Zigarre an. Nach dem ersten genüßlichen Zug fragte er bereits wieder in geschäftsmäßigem Ton: »Hast du dir schon überlegt, wie wir das am besten mit der Umschulung von Michi und Christian hinkriegen und ob wir unser Haus hier möbliert oder unmöbliert vermieten sollen und ob du für deine Zeitung auch von London aus arbeiten kannst?«
Jonathan legt zuweilen ein atemberaubendes Tempo vor, wenn es darum geht, einmal gefaßte Entschlüsse zu verwirklichen.
Ich sagte zu Jonathan – und ich gebe zu, daß meine Stimme nicht ohne scharfen Unterton war: »Ich habe mir selbstverständlich nichts dergleichen überlegt. Schließlich weiß ich überhaupt erst seit drei Minuten, daß du planst, unser gemeinsames Leben demnächst in einem anderen Land fortzusetzen. Außerdem ist es ausgesprochen unfair, mir eine so lebenswichtige Frage zu stellen, während ich über einem Artikel über die Probleme der berufstätigen Frau brüte, der spätestens gestern per Eilboten hätte weggehen müssen. Du kannst nicht erwarten, daß ich da richtig zuhöre.«
»Du hörst nie richtig zu, wenn ich dich etwas frage«, sagte Jonathan ungerührt. »Das ist, finde ich, eines der Hauptprobleme der berufstätigen Ehefrau.«
An dieser Stelle begannen wir heftig zu streiten, bis unser Jüngster seinen Wuschelkopf durch die Tür steckte und sich gähnend erkundigte, ob wir uns nicht leiser anbrüllen könnten, weil bei diesem Krach kein Mensch schlafen könne. Ich zog ihn heftig in meine Arme und sagte: »Komm, Kleiner, ich bringe dich ins Bett zurück. Wer weiß, wo du demnächst schlafen wirst, mein armes Kind. Dein Vater ist nämlich übergeschnappt. Er will, daß wir alle weit fortgehen von hier!«
»Sehr pädagogisch«, brummte Jonathan.
»Wohin gehen wir denn?« fragte Michi, machte sich aus meiner Umarmung frei und war plötzlich hellwach.
»Auf eine ferne Insel«, sagte ich. »Dahinter gibt’s nur noch Meer und dann kommt schon Amerika.«
»Prima«, erwiderte Michi. »Können wir bitte schon morgen hinfahren, da haben wir Schönschreiben bei Fräulein Specht, das ist furchtbar langweilig.«
»Nein, morgen noch nicht«, sagte ich.
»Na ja, dann geh’ ich lieber wieder ins Bett«, entschied Michi und tappste in seinem zerknautschten Schlafanzug die Treppe hinauf. »Gibt es auch Eingeborene auf der Insel?« rief er uns übers Treppengeländer zu, bevor er in seinem Zimmer verschwand.
»Sicher, Michi, jede Menge Eingeborene«, antwortete Jonathan.
»Die armen Kinder«, sagte ich vorwurfsvoll. »Verlieren ihre Freunde, ihre gewohnte Umwelt, womöglich ihre Muttersprache – bloß weil ihr Vater Lust hat, ein bißchen nach London zu gehen.«
»Nicht ein bißchen, genau zwei Jahre lang«, verbesserte mich Jonathan. »Und gib endlich zu, daß du die Idee auch großartig findest. Denk doch mal: Carnaby Street und Portobello Road!«
»Und die Pubs«, sagte ich. »Und das Londoner Theater.«
»Und die chinesischen Restaurants in Soho und die Hippies am Piccadilly Circus.«
»Und die Boutiquen in Chelsea und die Liegestühle im Hydepark.«
»Siehst du, ich habe ja gewußt, daß du dich auf London freust«, sagte Jonathan.
»Na und?« sagte ich. »Sonst hätte ich ja wohl auch nicht so spontan ja gesagt, nicht wahr?«
Vier Wochen später brachten wir Jonathan zum Flughafen. »Also, mach’s gut und such uns eine schöne Wohnung«, sagte ich, während ich ganz unnötigerweise nasse Augen bekam; denn schließlich war London ja nur eineinhalb Flugstunden von München entfernt, und außerdem würde Jonathan während der nächsten drei Monate alle vierzehn Tage übers Wochenende heimkommen. Nasse Augen waren also völlig fehl am Platz, vor allem, wenn man bedachte, wie oft Jonathan und ich uns am Flugplatz verabschiedeten, weil entweder er oder ich wegen irgendeines Auftrages wegflogen. Manchmal nach Mexiko oder an den Nordpol (meistens er), manchmal nach Köln oder Hamburg (meistens ich).
»Bye-bye«, sagte Jonathan in fließendem Englisch. »Servus, Michi, servus, Christian. Behandelt eure Mutter gut und paßt auf, daß sie unser Haus nicht aus lauter Menschenfreundlichkeit an einen armen Künstler vermietet, der keine müde Mark Miete zahlen kann.«
»Okay, Daddy«, erwiderte Christian und bewies damit, daß die wöchentlich einstündige Anwesenheit einer Englischlehrerin namens Kathie Dull in unserem Hause nicht ohne Wirkung geblieben war.
»Papa, kennt die Mama einen armen Künstler?« erkundigte sich Michi interessiert. »Warum ist er so arm? Hat er nichts zu essen? Können wir ihm kein Geld geben?«
»O Gott, war das nötig«, zischte ich Jonathan zu. »Dieses Gespräch über den armen Künstler wird Stunden dauern. Michi wird keine Ruhe geben, bis ich einen erfunden habe.«
»Ich meinte ja bloß! Mir wird immer ein bißchen komisch zumute, wenn du geschäftliche Dinge in die Hand nimmst.«
»Uralte männliche Vorurteile«, gab ich wütend zurück. »Wozu schreibe ich eigentlich andauernd über die Emanzipation der Frau?«
»Ist ja gut«, beschwichtigte mich Jonathan. »Du wirst unser Haus in München vermieten, und ich werde eine Wohnung in London suchen.«
»Eine große, sonnige Wohnung«, ergänzte ich. »Möglichst mit Garten und nicht zu weit vom Zentrum weg.«
»Ich weiß«, sagte Jonathan. »Und möglichst ruhig gelegen, am besten auf einer Themse-Insel, und die U-Bahn-Station gleich um die Ecke. Ich bin sicher, London ist voll von solchen Wohnungen …«
Von nun an trafen alle paar Tage dicke Briefe von Jonathan ein, die Grundrisse von Wohnungen enthielten. London schien tatsächlich voll von leeren Wohnungen zu sein. Nur für uns war keine dabei. Endlich, nach vier Wochen, brüllte Jonathan ins Telefon: »Ich hab’s.«
»Was?«
»Ein Haus. Das heißt, eine Wohnung in einem Haus, die genau zu uns paßt. Du mußt am Wochenende herfliegen und sie dir ansehen. Die Maschine geht um 10.30 Uhr. Das Ticket läßt du am besten am Schalter zurücklegen, dann kannst du es nicht zu Hause vergessen.«
»Wunderbar«, sagte ich. »Ich dachte zwar, du kämst morgen nach Hause, und habe ein paar nette Leute eingeladen. Außerdem weiß ich nicht, wer auf die Knaben aufpassen soll, und beim Friseur war ich auch nicht und mein neues Kostüm ist in der Reinigung …«
»Ich weiß«, antwortete Jonathan sanft. »Und du mußt noch einen Artikel fertigschreiben.«
»Richtig«, meinte ich. »Aber das macht nichts. Ich glaube, ich kann mit dem Absatz, den ich gerade geschrieben habe, aufhören. Machst du das auch manchmal, wenn dir kein Schluß einfällt? Das wirkt oft sehr gut.«
»Selten«, sagte Jonathan. »Bei mir wirkt das selten gut. Aber müssen wir uns für zwei Mark pro Minute über berufliche Probleme unterhalten, wenn ich dir gerade erzählt habe, daß ich das Haus gefunden habe, in dem wir die nächsten zwei Jahre unseres Lebens verbringen werden? Ein Haus, in das du dich auf den ersten Blick verlieben wirst!«
»Weißt du das so genau?«
»Ziemlich genau.«
»Wie viele Leute wohnen außer uns in dem Haus?«
»Eine ganze Menge, glaube ich. Insgesamt sind es vier Wohnungen. Das Ganze war früher einmal eine feudale Villa, die man später in vier Mietwohnungen aufgeteilt hat.«
»Aha! Gibt es in dem Haus Kinder für Michi und Christian?«
»O ja, viele Kinder!«
»Wie alt?«
»Von ganz klein bis ganz groß. Aber einige wohnen nur manchmal da, und manche gehören zu anderen Eltern beziehungsweise sind gar nicht die Kinder von den Eltern, die in dem Haus wohnen. Also, die Familienverhältnisse der Bewohner scheinen etwas wirr zu sein. Aber das geht uns ja nichts an, nicht wahr?«
»Gibt es auch einen Garten?«
»Ja«, sagte Jonathan. »Eigentlich ist es mehr ein Park, oder war es vermutlich früher einmal, bevor man aufgehört hat, ihn zu jäten, zurechtzustutzen und zu mähen. Jedenfalls sehr romantisch.«
»Und das Stadtviertel?«
»Hampstead! Muß etwas ganz Besonderes sein. Jeder, dem ich es erzähle, kriegt verzückte Augen und sagt: Hampstead? Ist das Ihr Ernst? Sie haben mehr Glück als Verstand, alter Knabe.«
»Ist die Wohnung möbliert?«
»Nein, gähnend leer. Alles blau und gelb. Wir müssen mit einem richtigen Möbelwagen umziehen.«
»Wieso blau und gelb? Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht genau. Ich habe ja keinen Sinn für Farben. Aber irgendwie schienen mir die Wände und der Teppichboden ziemlich blau und gelb. Du wirst das ja selbst sehen. Ich hole dich morgen am Flughafen ab. Mit einem Leihwagen!«
»Kannst du denn im Linksverkehr fahren?«
»Keine Ahnung. Irgendwann muß ich ja mal anfangen.«
»Jonathan!«
»Ist noch was???«
»Sag bitte, was ist nun blau und was ist gelb in unserer Wohnung. Es sind ja zwei schöne Farben, jede für sich, aber du weißt, daß unsere Couch knallrot ist und daß wir ziemlich viele bemalte Bauernmöbel haben! Ich meine, zu Blau und Gelb eine passende Farbe zu finden, ist fast ausgeschlossen. Zu Gelb ist es natürlich eine Kleinigkeit und zu Blau auch, obwohl ich Blau hasse. Aber zu beidem gleichzeitig! Bist du sicher, wir sollten die Wohnung nehmen???«
»My God«, stöhnte Jonathan. »Ich erzähle dieser Frau, daß ich die schönste Wohnung von London gefunden habe, eine Wohnung, nach der Dutzende von Leuten gierig sind, und was tut sie? Sie hält mir einen Vortrag über Farben.«
»Farben sind wichtig«, entschied ich. »Für das seelische Wohlbefinden und überhaupt.«
2
Der Himmel über London war seidig blau und alle Narzissen blühten. Sie schwammen als dottergelbe Inseln unter den Bäumen des Hydeparks, leuchteten von den Fenstersimsen ehrwürdiger Bankgebäude und Hotels und säumten die handtuchschmalen Vorgärten der Reihenhäuser. Und alle Fassaden hatten gemütlich vorspringende Erkerfenster, und alle Autos fuhren auf der falschen Straßenseite. Jonathan auch. Jedesmal, wenn aus einer Kurve ein roter Doppeldeckerbus in gefährlicher Schräglage auf uns zu kam, schloß ich verzweifelt die Augen und erwartete eine Katastrophe.
Das Haus stand am höchsten Punkt der Straße, ein bißchen zurückgesetzt hinter einer niedrigen Ligusterhecke, die offenbar eine Weile nicht mehr geschnitten worden war. Zwischen Haus und Hecke gab es einen Kiesvorplatz, auf dem vier Autos älteren Datums geparkt waren, zwei entlang der Hecke, die zwei anderen unter den beiden halbrunden Erkerfenstern links und rechts von der Eingangstüre.
Auf den ersten Blick sah das Haus ähnlich aus wie alle anderen Häuser an der hügelaufwärts geschwungenen Straße: aus rotem Ziegel, sehr groß, sehr würdevoll und auf rührende Weise altmodisch. Es hatte viele hohe Fenster, die alle durch weißgestrichene Holzrahmen in winzige Gevierte aufgeteilt waren, und an seiner Fassade liefen sowohl in waagrechter wie senkrechter Richtung schwarzlackierte Wasserrohre und Regenrinnen entlang. Der rechte Erker war von einem Kletterstrauch halb überwuchert. »Dahinter liegt unser Wohnzimmer«, sagte Jonathan.
Als wir über den Kiesplatz gingen, bemerkte ich die ersten feinen Unterschiede zwischen diesem Haus und den anderen, an denen wir vorbeigefahren waren. So hingen zum Beispiel die Garagentüren der anderen Häuser, soweit man sie hinter dem gepflegten Buschwerk erspähen konnte, nicht windschief und weit geöffnet in den Angeln, auch schienen die anderen Garagen nicht knöcheltief unter Wasser zu stehen. Die steinernen Stufen am Eingang hatten nirgends so bemoost und abgebröckelt ausgesehen, und die Haustüren, man kann schon beinahe sagen Portale, in der Nachbarschaft waren nicht verwittert und grau, sondern glänzend gewachst und mit prächtigen schmiedeeisernen Beschlägen versehen. Ob sie auch klemmten und mit lautem Knall hinter einem zufielen, aber dennoch nicht ins Schloß sprangen und deshalb Tag und Nacht einladend angelehnt blieben, konnte ich nicht sagen, bezweifelte es aber stark.
Die Halle des Hauses machte einen noblen, aber leicht verwahrlosten Eindruck, links und rechts gab es je eine hellgrün gestrichene Wohnungstür. Vor uns führte eine breite Treppe zum ersten Stock, auf dem untersten Pfosten des geschnitzten Treppengeländers lag ein Stapel Briefe, ein paar weitere lagen auf den Stufen und auf dem glanzlosen Parkettboden verstreut.
Die Angewohnheit des Briefträgers, die Post von vier Familien täglich dreimal mit elegantem Schwung in Richtung Treppengeländer zu werfen – vermutlich in der vagen Hoffnung, daß einige der Briefe auf dem Pfosten liegenblieben –, lernte ich später sehr schätzen. Einmal erhielt dadurch jeder Hausbewohner einen genauen Überblick über die Korrespondenz seiner Mitbewohner, zum anderen wußte man immer, wer schon aufgestanden war und wer nicht.
Gegenüber der Haustür führte eine Glastüre in den Garten. Zwei Scheiben waren zersprungen. Ein paar schmutzige Kindergummistiefel, ein Schaukelpferd und Gartenmöbel unterschiedlicher Art und Farbe lagen links und rechts von dieser Tür. »Kleinlich scheinen die Bewohner jedenfalls nicht zu sein«, sagte ich halblaut zu Jonathan. »Wer sind die Leute, deren Wohnung wir übernehmen wollen?«
»Mr. und Mrs. Dustin«, erklärte Jonathan. »Mr. Dustin war jahrelang Kolonialbeamter in einer indischen Kleinstadt, Madeleine Dustin ist Französin. Als es mit dem Empire dahinging, kehrte Mr. Dustin ins Mutterland zurück und gründete einen Vertrieb für Comic-Hefte. Muß enorm florieren. Jedenfalls hat er sich gerade ein Haus gekauft.«
»Siehst du«, sagte ich vorwurfsvoll, während Jonathan auf den Klingelknopf neben der rechten Wohnungstür drückte. »Und du behauptest immer, andere Kinder läsen Klassiker.«
Die Tür ging auf. »Oh, Sie sind es, wie reizend, kommen Sie doch herein. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, daß mein Mann und ich noch nicht angezogen sind, aber wir machen gerade die Wohnung sauber, und so ist es viel bequemer, nicht wahr?« zwitscherte uns Mrs. Dustin melodisch entgegen. »Egmond«, rief sie über mehrere Terzen und Quinten hinauf und hinunter. »Eeeeegmond, komm und sieh, wer da ist!«
Mrs. Dustin raffte ein cremefarbenes Spitzennegligé über der Brust zusammen, fingerte vergebens nach einem Knopf oder Haken, ließ die Spitzenvolants wieder auseinanderfallen und schob statt dessen mit der Fußspitze einen Kehrichteimer zur Seite. »Eeegmond, Eeeegmond«, rief sie nochmals, wobei sie mühelos das hohe C erreichte. »Mein Mann hat so furchtbar viel Arbeit mit der Wohnung gehabt«, zwitscherte sie von neuem. »Sie wissen sicher, daß man hierzulande eine Wohnung nur wenn sie tadellos renoviert ist an den Nachmieter weitergeben darf. Und weil Egmond so geschickt ist, hat er alle Wände selbst gestrichen. Ich sagte zu ihm: ›Egmond, nimm Gelb, Gelb wirkt so freundlich‹ finden Sie nicht auch?«
Ich nickte stumm und ließ meinen Blick über die gelben Wände des schmalen, langen Korridors schweifen, der sich weit hinten um mehrere Ecken verlor. Als ich zur Decke schaute und feststellte, daß auch sie gelber war als irgend etwas Gelbes, das ich jemals gesehen hatte, tauchte in der Ferne Egmond auf. Das heißt, zunächst tauchte ein gewaltiger, summender Staubsauger auf, den ein kleiner, runder Mann in rotem Bademantel vor sich herschob. Ich fand, Egmond sah aus, als müßten seinem freundlichen Fischmund nach Comic-Art jeden Augenblick kleine Sprechblasen entquellen: Ächz, stöhn, schnauf, schnauf.
Als Egmond bei uns angelangt war, schüttelte er uns stumm und kräftig die Hand und führte uns ins Wohnzimmer. Es war ein hoher, heller Raum von etwa vierzig Quadratmetern, der bis auf zwei Sessel dicht neben der Tür und einen Tisch mit zwei Stühlen weit vorne im Erker vollkommen leer war. »Ich finde immer, je mehr Möbel man hat, desto schwieriger ist das Saubermachen«, zwitscherte Mrs. Dustin. Glücklicherweise hatte Egmond die Wände dieses Raumes weiß gestrichen. Weiß war auch die Decke mit den strengen Stuckmotiven, weiß der hölzerne Kaminsims. Zusammen mit dem königsblauen Teppichboden und den schweren, messingfarbenen Vorhängen, die zu beiden Seiten des Erkers bis zum Boden reichten, ergab das eine hinreißende Wirkung.
»Wir brauchen andere Sessel«, flüsterte ich Jonathan zu. »Irgend etwas ganz Ausgefallenes. Und die Couch lasse ich neu beziehen. Es wird traumhaft schön werden.«
Jonathan winkte stirnrunzelnd ab und sprach weiter über Ablösesummen, Mietverträge und eine Dame namens Mrs. Miller, die kürzlich ihren 90. Geburtstag begangen hatte und unsere Landlady war. Schließlich deutete er auf den zierlichen golden lackierten Heizkörper neben der Tür und einen zweiten ebenso zierlichen im fernen Erker und erkundigte sich, ob damit denn dieses Zimmer zu heizen sei.
»Oh, wir fanden es immer mollig warm, nicht wahr, Egmond?« flötete Mrs. Dustin. »Zentralheizung ist ja so etwas Angenehmes. Es gibt sie nicht oft in Häusern wie diesem.«
Mr. Dustin nickte heftig. Dann zeigte er uns die weiteren Räume der Wohnung. Sie bestanden aus einem Bad, das sich seltsamerweise unmittelbar neben dem Wohnzimmer befand, während die Küche erst hinter mehreren überraschenden Windungen des Korridors in Richtung Schlafzimmer lag. Außerdem gab es ein riesiges gelbes Kinderzimmer, ferner ein kleines, düsteres Gelaß neben der Küche, dessen Nordfenster von üppig gerafften Gardinen verhängt war und so den Blick auf die Mülltonnen nur ahnen ließ. Auch hier leuchteten die Wände in freudigem Gelb. Ganz hinten am Ende des Ganges erreichten wir schließlich über zwei Treppenstufen ein großes gelbes Schlafzimmer. Es war in einem pavillonartigen Anbau des Hauses untergebracht, was ihm sehr reizvolle architektonische Eigenheiten verlieh, aber den Nachteil hatte, daß in diesem Raum zu jeder Jahreszeit genau die gleichen Temperaturen wie im Garten herrschten.
Auf der Rückwanderung zum Wohnzimmer fragte ich Mrs. Dustin, ob die Entfernungen zwischen den einzelnen Räumen nicht etwas mühsam seien. Aber sie zwitscherte, sie habe sich angewöhnt, nicht nur die Mahlzeiten, sondern überhaupt alles, was man von einem Ende der Wohnung zum anderen transportieren wolle, auf einen kleinen Rollwagen zu stapeln, einen sogenannten »Trolley«, der sehr handlich sei. Sie würde mir ihren Trolley gern überlassen, fügte sie hinzu, was mir angesichts der Summe, die wir für den gelben Wandanstrich und den leicht abgewetzten Teppichboden bezahlten, durchaus angemessen schien.
»Was meinst du?« fragte mich Jonathan rasch auf deutsch, als die Besichtigung zu Ende war.
»Ich liebe die Wohnung«, antwortete ich. »Nimm sie sofort, egal, was sie kostet.«
»Wußte ich’s doch«, brummte er und sprach weiter mit Egmond über Geld, während ich überlegte, warum wohl mitten im Wohnzimmer gänzlich unmotiviert ein Wäschekorb stand.
Später wurde mir klar, daß er von Mrs. Dustin dorthin gestellt worden war, um eine glänzende, völlig kahle Stelle des Teppichbodens zu verdecken. Auch bei uns lagen an dieser Stelle fürderhin immer zwanglos hingestreute Zeitungen, wenn Besuch kam. Und als wir die Wohnung eines Tages an Mr. Mayday weitergaben, hatte Michi den strengen Auftrag, wann immer Mr. Mayday uns besuchte, auf einem afrikanischen Sitzkissen Platz zu nehmen, das die haarlose Stelle genau bedeckte, und unter keinen Umständen aufzustehen, damit nicht jemand gedankenlos die Sitzgelegenheit in die Nähe des Tisches ziehen würde. Vermutlich dachte Mr. Mayday, unser Sohn sei gehbehindert oder zumindest stark verhaltensgestört, weil er auf freundliche Fragen wie: »Willst du mir nicht den Garten zeigen?« oder: »Laß doch mal dein Kinderzimmer sehen?« stets nur den Kopf schüttelte und wie eine Pagode mitten im Zimmer sitzen blieb.
»Wie wohl die übrigen Leute sind, die im Haus wohnen?« fragte ich im Halbdunkel Jonathan, der neben mir auf einem leise knarrenden Notbett im überfüllten Ivanhoe-Hotel lag. In meinem Kopf kreisten viel zu viele Sherries, die wir in viel zu vielen Pubs getrunken hatten, um die glücklich vollendete Wohnungssuche zu begießen.
»Ich kenne nur Ray«, sagte Jonathan gähnend. »Er ist unser Nachbar im Parterre. Lebt ganz allein in der riesigen Wohnung, versetzt dauernd irgendwelche Wände, scheint sein Hobby zu sein.«
»Was macht er außerdem?«
»Ich glaube, er hat augenblicklich keinen Job, wühlt sich gerade durch einen Haufen neuer Angebote, wie er sagt. Er ist ein reizender Bursche«, murmelte Jonathan und gähnte. »Ganz reizend, man muß sich eben nur an diese kleine Eigenheit gewöhnen …«Weiteres Gähnen …
»Welche Eigenheit?« fragte ich.
»Nun ja, er – Himmel, bin ich müde – ich glaube, ich schlafe jetzt ein«, sagte Jonathan und schlief ein.
3
Es war an meinem letzten Tag in München, kurz vor Mitternacht, als mich die Erkenntnis traf, daß meine beiden gültigen Reisepässe in der mittleren Schublade des Schreibtischs lagen. Dieser stand zwischen einer Waschmaschine und einem Kinderbett eingeklemmt auf einem Möbelwagen, der wiederum seit vier Tagen gen England rollte. Mit anderen Worten: Meine Reisepässe würden in etwa sechs Stunden nach England einreisen. Leider ohne mich.
Alles hatte so gut geklappt. Der gesamte Inhalt unseres Hauses hatte wider Erwarten samt vier Fahrrädern und zwei Rodelschlitten in dem silbernen Ungetüm von Möbelwagen Platz gefunden, den ein kleiner magerer Mr. Smith mutterseelenallein über tausend Kilometer nach London steuerte. Michi und Christian weilten mit ihrer Großmutter auf dem Land, wo sie auch bleiben sollten, bis ich in London Tritt gefaßt hatte und das Sommer-Term von »St. Patrick’s Junior School« begann.
Ich war gerade von der allerletzten Abschiedsfeier zurückgekommen, hatte ein bißchen auf der Kinderschaukel beim Fliederbusch gewippt, den schiefen Mond angesehen und dann meine kleine Reisetasche fertiggemacht. Heute würde ich zum letztenmal in unserem gähnend leeren Haus schlafen. Morgen früh ging mein Flugzeug nach London, wo ich etwa zur gleichen Zeit wie Mr. Smith und sein Möbelwagen eintreffen sollte. Übermorgen würde ein Kosmetikvertreter bei uns einziehen, dessen Frau ich dreimal hintereinander für eine neue Freundin von ihm gehalten hatte, weil sie jedesmal eine andersfarbige Perücke mit dazu passendem Make-up trug.
Ich hatte gerade Lust verspürt, ein bißchen sentimental zu werden: statt dessen wählte ich die Nummer des Hotels Ivanhoe. Während ich darauf wartete, daß man Jonathan vom sechsten Stock herunterholte, dachte ich an die beiden einzigen Situationen in meinem Leben, die in ähnlicher Weise mit Reisepässen zu tun gehabt hatten. An beide würde mich Jonathan in etwa drei Minuten erinnern.
Die erste lag sehr weit zurück und betraf seltsamerweise ebenfalls eine Reise nach England. Jonathan und ich waren damals wenige Monate verheiratet und wollten zusammen mit einem Fotografen und einem etwas exzentrischen Schwabinger Millionär, der sich aufs Filmen verlegt hatte, eine mehrwöchige Fahrt durch Irland unternehmen. Wir waren mit dem Auto nach Calais gefahren, um von dort mit der Fähre nach England und von Liverpool aus mit einer weiteren Fähre nach Dublin überzusetzen. Als die weißen Felsen von Dover in Sicht kamen, stellte Jonathan fest, daß mein Reisepaß abgelaufen war. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir es schafften, den Kontrollbeamten auf der Fähre so intensiv in ein Gespräch zu verwickeln, daß er es nicht bemerkte. Wahrscheinlich war ich der erste und letzte Ausländer, der je ohne gültigen Paß ins British Empire eingereist ist. (Daß ich am übernächsten Tag mit einem gültigen, da verlängerten Paß ausreiste, verdanke ich der deutschen Botschaft, die sich vermutlich noch lange an uns erinnerte.)
Der zweite Zwischenfall ereignete sich viele Jahre später auf dem Flughafen von Madrid, von wo ich mit einem Fotografen eine gemeinsame Reportagereise fortsetzen sollte. Fünfzehn Minuten bevor unsere Maschine aufgerufen wurde, entdeckte ich, daß ein Paß von mir am Empfang des Hotels liegengeblieben war, während der andere (inzwischen hatte ich zwei, um für alle Gelegenheiten gewappnet zu sein) gerade unaufhaltsam in meiner Reisetasche auf dem Gepäckband davonrollte. Es war zum erstenmal, daß ich meinen sehr erfahrenen, schnell reagierenden Kollegen mit hilflos ausgebreiteten Armen auf eine Bank habe niedersinken und resignieren sehen. Er hätte sich diese dramatische Geste sparen können. Unser Flugzeug hatte wider Erwarten eine volle Stunde Verspätung. Wenige Minuten nachdem ein aufgeregter Hotelpage mit meinem Paß wedelnd in der Abflughalle auf mich zustürzte, übergab mir ein höflicher Beamter die Reisetasche, deren vollautomatische Beförderung in den Flugzeugrumpf er auf dem Dienstweg unterbrochen hatte. Es blieben mir noch bequeme zehn Minuten Zeit, um mit einem Paß nach Wahl durch die Kontrolle zu schreiten.
»Hallo«, sagte Jonathan verschlafen ins Telefon. »Was ist los? Ich dachte, wir müßten morgen beide ausgeschlafen und fit sein, um einen Umzug über die Bühne zu bringen.«
Ich sagte ihm, was los war.
»So etwas kann nur dir passieren«, seufzte Jonathan. »Darf ich dich bei der Gelegenheit an unsere Irlandfahrt und den Flughafen von Madrid erinnern?«
»Du darfst«, sagte ich sanft. »Obgleich ich es ein bißchen unfair finde, immer nur die wenigen Gelegenheiten zu erwähnen, bei denen ich ohne Reisepaß war, und nie die zahllosen anderen Gelegenheiten, bei denen ich meinen Paß dabei hatte.«
»Lassen wir das«, sagte Jonathan. »Kannst du mir sagen, wie du dir den weiteren Verlauf unserer Umsiedlung nach London vorstellst?«
»Nein. Das wollte ich gerade dich fragen.«
»Ich könnte ja immerhin morgen früh deinen Paß aus dem Schreibtisch nehmen und dich damit an der Paßkontrolle am Flughafen erwarten«, schlug Jonathan vor.
»Ich fürchte, das geht nicht.«
»Warum?«
»Weil ich den Schlüssel zum Schreibtisch in der Handtasche habe. Schließlich wäre es leichtsinnig, einen Schreibtisch mit wertvollen Dokumenten unversperrt zu lassen.«
»Großartig«, sagte Jonathan. »Der neue Abschnitt unseres gemeinsamen Lebens fängt sehr vielversprechend an. Weißt du, was? Komme, wie du willst, wann du willst und womit du willst. Ich fürchte, ich kann zum erstenmal im Leben nichts für dich tun. Also dann bis demnächst, bis morgen oder übermorgen oder…«
»Jonathan«, rief ich. »Du weißt doch gar nicht, wo die Männer von der Umzugsfirma alles hinstellen sollen. Ich habe doch die Skizze!«
Aber Jonathan hatte schon aufgehängt.
Ich verbrachte den nächsten Tag in einem reizenden Städtchen namens Porz am Rhein. Wenn überhaupt irgendwo, dann könne man mir am Paßamt von Porz weiterhelfen, hatte mir ein Beamter des Kölner Flughafens erklärt. Jedenfalls sei es das nächste erreichbare Paßamt. Ich war eigentlich entschlossen gewesen, mich ohne Paß nach London durchzuschmuggeln, wurde aber bereits bei der Zwischenlandung in Köln von einem Kontrollbeamten ertappt. Er geriet in helle Aufregung, holte weitere, höhere Beamte herbei und verwehrte mir, obgleich ich ihm schluchzend das bevorstehende Zusammentreffen meines hilflosen Mannes mit dem riesengroßen Möbelwagen schilderte, den Weiterflug. Nie und nimmer gelänge es mir, ohne Reisepaß britischen Boden zu betreten, sagte er, und ich brächte nicht nur mich, sondern auch die deutschen Behörden in die fürchterlichsten Schwierigkeiten, wenn sie mich ohne Paß in eine Maschine nach London ließen.
Die Porzer Paßbeamten waren alle sehr nett. Nach sechs Stunden Wartezeit und unzähligen Tassen Kaffee mit Blick aufs liebliche Rheintal bekam ich einen im Blitzverfahren ausgestellten, von München telefonisch beglaubigten Ersatzpaß ausgehändigt. Der Taxifahrer sagte, wenn ich die Verantwortung dafür tragen wolle, daß er seine Lizenz verliert, könne er versuchen, die letzte Maschine nach London zu erreichen.
Es regnete in Strömen, als wir in Heathrow landeten. Hinter der Zollkontrolle stand Jonathan und winkte heftig mit zwei Reisepässen. Er hatte den Schreibtisch aufgebrochen und war seither zu jeder Maschine aus Deutschland gekommen.
»Was hast du denn um Himmels willen den ganzen Tag gemacht?« fragte er besorgt.
»In Porz am Rhein Kaffee getrunken«, sagte ich und steckte sorgfältig meine drei Reisepässe in die Handtasche.
4
Redington Road, die »Perle von Hampstead«, war übersät mit Kirsch- und Mandelblüten, die der Wind aus den gepflegten Gärten auf die Straße geweht hatte. Jonathan fuhr schweigend die sanften Hügel und Windungen von Redington Road entlang bis hinauf zu dem runden, roten Postkasten, der mir später, wenn ich die 25 Minuten vom alten U-Bahnhof im Hampstead, beladen mit Tüten von »Selfridges« und »Marks and Spencer«, heimwankte, immer wie eine Art Leuchtturm in höchster Not erschien; ich wußte, daß ich von diesem Postkasten aus nur noch eine allerletzte kurze Steigung bis zu unserm Haus zu überwinden hatte.
In unserer künftigen Wohnung sah es ungefähr so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: die Männer der Umzugsfirma hatten unter den vagen Anweisungen Jonathans den Inhalt des Möbelwagens großzügig über die Räume verteilt. Das meiste stapelte sich im Wohnzimmer, weil es der Eingangstür am nächsten lag. Immerhin fand ich die Matratzen unserer Betten auf dem Boden im Schlafzimmer. Das war schon etwas.
»Und ich hatte so eine schöne Skizze gemacht«, seufzte ich und fiel auf die Couch, die quer mitten im Zimmer stand. Jonathan ließ sich auf einer Kiste nieder, die sowohl Geschirr wie Bücher als auch Unterwäsche oder Kinderspielzeug enthalten konnte. An der Decke brannte eine matte Glühbirne. Die Wände sahen kränklich und grünstichig aus. Besonders grün kam mir die Wand an dem schmalen Nordfenster vor. Wir sollten erst später merken, daß das nicht an der Beleuchtung lag, sondern am Zustand der Regenrinne, die entlang dieser Wand in einen ständig gurgelnden, meist verstopften Gully führte.
»Vielleicht machen wir ein bißchen Musik«, schlug ich vor. »Und wenn du die Stehlampe hinter dem Bügelbrett hervorziehen würdest, könnte es möglicherweise noch ein ganz gemütlicher Abend werden.«
»Hat keinen Sinn«, erwiderte Jonathan dumpf. »Die Stecker passen nicht. Morgen kommt ein Elektriker. Du solltest wieder mal eine Liste anlegen, damit wir nicht übermorgen ohne Toaster und Kaffeemaschine dasitzen.«
Auch das noch, dachte ich verbittert. Als ob es nicht reichte, daß man in diesem Land in Füßen statt in Metern maß, in Steinen statt in Kilogramm wog und für den Umgang mit Geld das Zwölfereinmaleins beherrschen mußte. Auch die Steckdosen waren anders als überall sonst in Europa.
»Eine Putzfrau habe ich auch bestellt. Die kommt von der Firma ›Eifrige Heinzelmännchen‹, bemerkte Jonathan.