Bauernopfer - Paul Walz - E-Book

Bauernopfer E-Book

Paul Walz

4,8

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Ein bestialischer Mord erschüttert Trier. Ein Biobauer der ersten Stunde wurde in seinem Vorzeigestall grausam umgebracht. Schnell findet Lichthaus einen Verdächtigen im Kreise der Familie. Als jedoch kurz darauf ein stadtbekannter Politiker vor Lichthaus' Augen ermordet wird, stehen er und sein Team wieder am Anfang der Ermittlungen. Müssen sie den Täter doch in der Ökobranche suchen? Will jemand die Biolandwirtschaft in Misskredit bringen? Oder hat sich gar die Mafia in ihr eingenistet? Ein Journalist wittert einen weitreichenden Skandal und muss für seine Recherchen teuer bezahlen. Kann Lichthaus den Wahnsinn stoppen, bevor seine eigene Familie ins Visier gerät?

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Seitenzahl: 534

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Paul Walz

Bauernopfer – Lichthaus’ zweiter Fall

Trier Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Gabi

»Wo Liebe wächst, gedeiht das Leben. Wo Hass aufkommt, droht Untergang.«

Mahatma Gandhi

Prolog

Die Schmerzen glichen einem Flächenbrand, der ununterbrochen durch ihren Körper wütete, ihr den Atem nahm, sie aufbäumte und ein Stöhnen aus ihrer Kehle zwang, das von ganz unten, aus weiter Ferne zu kommen schien, gleich so, als ob der Tod riefe. Alles, was ihr einmal wichtig gewesen war, was ihrer Aufmerksamkeit wert gewesen schien, war in diesen Flammen niedergebrannt.

Nur er drang zu ihr vor, durchbrach den Feuerschein.

Die Tumore durchzogen ihren Leib. Töchter einer Zelle, die den Selbstvernichtungsmechanismus unaufhaltsam in Gang gesetzt hatte, fraßen Gewebe und drückten auf die Nerven, wucherten in gesundes Fleisch, hatten sie auf dem linken Auge mittlerweile blind gemacht.

Medikamente und Chemotherapeutika verschafften ihr Linderung, wenn auch keine weitere Zeit. Sie lag in Apathie, kaum eines klaren Gedankens fähig, ernährt über eine Kanüle in ihrem Arm, denn selbst zu essen, war ihr schon seit vielen Wochen unmöglich. Im Dunst der Morphine gab es gelegentlich klare Momente, dann wünschte sie sich den Tod herbei, der ihren Geist aus dieser Hülle des Martyriums befreien würde, wohin auch immer die Reise ging.

Wenn er aber an ihr Bett trat und ihre Hand, den Arm oder die kahle Stirn streichelte, wenn die Wärme seiner Berührung sie durchströmte, sie seine Tränen sah, erkannte, wie er mit ihr litt, gab es andere Momente, in denen es gelang, alles anzuhalten und die Krankheit hinter sich zu lassen, in denen es leicht fiel, ein Lächeln zu formen und ihn zu lieben, wie sie es immer getan hatte.

Dann war sie entschlossen weiterzukämpfen. Für diese wenigen Sekunden, für ihn.

Dienstag

Johannes Lichthaus ließ die Glaskugeln in den Händen hin und her wandern, zwischen den Fingern hindurchgleiten und wieder in die Hand zurückkehren. Eine überflüssige Angewohnheit, die ihm aber oft beim Denken half. Er schaute zum Fenster. Draußen war der trübe Märzhimmel mittlerweile schwarz, und die Lichter der Straßen bis hinüber zum Petrisberg brannten in der Dunkelheit, während der Feierabendverkehr unten an der Reichsabtei vorbeirauschte wie eine fluoreszierende Schlange.

Auf seinem Schreibtisch herrschte angenehme Ordnung, und er würde nicht mehr lange hier herumsitzen, sondern die Gelegenheit nutzen und ein paar seiner unzähligen Überstunden mit Claudia und Henriette abfeiern. Nachdem es um Weihnachten und Silvester zu zwei Tötungsdelikten und einigen Gewalttaten gekommen war, zeigten sich Januar und Februar bis auf Karneval extrem friedlich. Seine Mordkommission lief nur im zweiten Gang. Ob es an der eisigen Kälte lag, die spät im Winter über Deutschland hereingebrochen war, oder ob es einen anderen Grund dafür gab, nun, ihm war es egal. Die aktuellen Fälle waren weitgehend geklärt, und es schien eine Zeit anzubrechen, in der man den Schrank aufräumte und Akten von ungelösten Taten ans Licht zog.

Es klopfte, und Siran Özdemir kam wie gewohnt lächelnd herein. Der junge Deutschtürke war mittlerweile ein Jahr bei ihnen und zeigte jede Eigenschaft, die ein guter Kriminalbeamter haben musste: ein enormes Fachwissen, die Fähigkeit, sich in unterschiedlichste Fälle einzudenken, Intuition und unerschöpfliches Beharrungsvermögen, das einen davon abhielt, die Klärung schier unlösbarer Verbrechen aufzugeben. Siri, wie ihn alle in der Abteilung nannten, war ein kleiner, drahtiger Mittzwanziger, der nach Polizeihochschule und kurzer Streifenzeit von der Kripo in Ludwigshafen hierher versetzt worden war. Als Verstärkung nach einem Horrorfall, der bundesweit Schlagzeilen gemacht und die Ermittlungskommission um zwei Teilnehmer dezimiert hatte. Lichthaus’ Blick wanderte zu dem Foto, das ihn und Thomas Scherer zeigte, wie sie angestrengt über den Notizen am Whiteboard grübelten – ein Schnappschuss nur einige Tage bevor Scherer Opfer eines psychopathischen Mörders wurde. Lichthaus hatte den schwer verletzten Freund aus dem Fluss gezogen und zu reanimieren versucht, doch ohne Erfolg.

Siran setzte sich. Er trug wie so oft im Winter Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, der in sein kurz geschnittenes ebenso dunkles Haar überzugehen schien. Er besaß die Gabe, mit einem Blick aus seinen braunen Augen und dem sanften Lächeln Zeugen zum Reden zu bringen, die sich vorher verweigert hatten. Aber sein Äußeres trog. Austrainiert, wie er war, hatten schon deutlich größere Angreifer das Nachsehen gehabt und endeten oft mit Sirans Knie auf dem Rücken und verdrehten Armen.

»Hallo Johannes, liegt noch was an, ansonsten würde ich für heute Schluss machen?« Es war typisch für ihn, nicht nach Hause zu gehen, ohne sich verabschiedet zu haben.

»Nein, Siri, nur eine Frage: Was ist mit diesem Brandscheid?«

Dirk Brandscheid stand in Verdacht, Zeuge eines Totschlags zu sein, der sich an Karneval in Trier-West ereignet hatte. Zwei völlig betrunkene Männer waren sich am Rosenmontagsnachmittag auf dem Bürgersteig begegnet und aneinandergeraten, da keiner dem anderen ausweichen wollte. Nachdem die beiden sich lautstark angebrüllt und mit allen Schimpfwörtern tituliert hatten, die sie aus ihren in Alkohol eingelegten Hirnen hervorkramen konnten, drosch der jüngere, ein Arbeitsloser namens Enrico Decker, seinem gut zwanzig Jahre älteren Widersacher derart ins Gesicht, dass dessen obere Zahnprothese brach, aus dem Mund schoss und quer über die Straße in den Rinnstein sprang, wo sie in einem Fastfood-Karton liegen blieb, in dem noch getrockneter Ketchup klebte. Der nun halb zahnlose Franz Friesdorf rannte nicht davon, sondern wischte sich das Blut vom Kinn, um sich anschließend auf Decker zu stürzen. Der verlor das ohnehin wackelige Gleichgewicht, und beide gingen zu Boden.

Einige Sekunden später war Decker tot, lag mit gebrochenem Schädel zwischen Bordstein und parkendem Auto im karnevalesken Unrat und glotzte leer in den Himmel. Der Notarzt war ohne Chance. Friesdorf hatte einen Blutalkoholspiegel von 2,7 Promille und nach der Ausnüchterung einen enormen Kater, aber keinerlei Erinnerung an die Ereignisse mehr. Die wenigen Zeugen, zum Teil nicht minder betrunken, widersprachen sich über den Tathergang. Die einen behaupteten, Decker sei im Fallen auf den Randstein geknallt, während die anderen meinten, Friesdorf habe Deckers Kopf mit aller Wucht auf den Boden geknallt. Das Brechen des Schädels, in etwa so, als ob man eine Kokosnuss knackte, sei bis auf die gegenüberliegende Straßenseite zu hören gewesen. Die kriminaltechnischen Untersuchungen ergaben kein eindeutiges Bild, obwohl die zweite Version als wahrscheinlicher galt.

Brandscheid war hinter dem Fenster gesehen worden, vor dem das Geschehen wie auf einer Bühne abgelaufen war, aber er leugnete das, ließ jedoch durchblicken, auch zukünftig in der Nachbarschaft von Friesdorfs Familie wohnen zu wollen. Seither blieb er dabei, nichts gesehen zu haben. Am Morgen hatten sie ihn erneut einbestellt, leider ohne Erfolg.

Siran schüttelte nur den Kopf. »Der hat die Hosen gestrichen voll!« Er war in Deutschland aufgewachsen und beherrschte alle Nuancen des Deutschen mühelos. »Wir kommen so nicht weiter, und ein wenig kann ich den Mann verstehen. Der Vorfall ist ihm egal, wenn er allerdings gegen Friesdorf aussagt, wird ihm dessen Sippe das Leben zur Hölle machen. Du weißt ja, was in so einem Fall abgeht.«

Lichthaus nickte. Er hatte schon erlebt, wie Zeugen körperlich bedroht wurden, ihnen das Auto zerkratzt worden war oder Müll in den Garten geflogen kam. Brandscheid würde weiter schweigen. »Dann können wir es nicht ändern, gib dem Staatsanwalt Bescheid, soll der sich doch den Kopf zerbrechen und entscheiden.«

Siran zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich, während Lichthaus noch blieb. Sie mussten die Grenzen ihrer Arbeit akzeptieren. Irgendwann kam der Punkt, an dem sie mit ihren Möglichkeiten am Ende waren, so sehr man auch von der nicht beweisbaren Lösung überzeugt war. Die in Kunstharz eingegossene Schnur, die auf dem Sideboard unter Claudias Bild stand, sollte ihn immer daran erinnern.

*

Die Nacht, in der Horst Görgen sterben würde, war eisig kalt. Ostern lag zwar in greifbarer Nähe, doch hatte der Winter das irgendwie verpasst. Wie jeden Abend begann Görgen seinen Kontrollgang über den Hof um 20.45 Uhr, seit dreißig Jahren nun schon. Er zog die Wollweste über, öffnete die Haustür und schubste Skip, ihren betagten Mischlingshund, in den Gang zurück, dann trat er in die Kälte, wobei er den enttäuschten Blick des Hundes übersah. Sein Spaziergang war immer erst später an der Reihe. Kurz schloss Görgen die Augen und sog die kühle Luft in seine Lungen, die sich nicht mehr so richtig füllen wollten. Lungenemphysem, hatte der Arzt knapp konstatiert und ihn auf seine jahrzehntelange Raucherkarriere hingewiesen. Die Krankheit zehrte an ihm, raubte Gewicht und machte all seinen anderen Verdruss noch quälender.

So schnell es seine Atemnot zuließ, ging er mit der gewohnten Routine, die ihn wie ein Korsett stützte und durchhalten ließ, die wenigen Stufen hinunter über den Hof zum Laden. Hätte er jedoch geahnt, was ihn in den nächsten Stunden erwartete, wäre er die Allee entlanggerannt, um sich starr vor Angst im hintersten Winkel der Welt zu verkriechen. Am Hofladen schloss er den Eingang auf und schaltete die Beleuchtung ein. Sein Hof war der erste Ökohof weit und breit gewesen. Genauso war der Direktverkauf ab Hof zu Beginn der Achtzigerjahre eine Neuheit, den Kunden neugierig genutzt und für gut befunden hatten. Die Verkaufsfläche war dann wegen der steigenden Nachfrage erweitert worden, und sie hatten ein neues Wohnhaus gebaut, um Platz zu schaffen. Görgen schlurfte zwischen den Regalen hindurch zu den Kühlkabinen und Kühltheken, kontrollierte die Thermometer, öffnete und schloss Türen und sah sich prüfend um, bevor er das Licht ausknipste und den Laden verließ, um zum Schlachthaus hinüberzugehen, in dem sie ihr eigenes Vieh verarbeiteten.

Die dunkle Gestalt, die seine Bewegungen durch das Okular eines Nachtsichtgeräts verfolgte, sah er nicht. Still kauerte sie hinter dem leicht geöffneten Rolltor des Stalls und beobachtete den Alten auf seinem stolpernden Rundgang, der ihn nach dem Kühlhaus zum Verschlag der Tiere im Streichelzoo und dann hier hineinführen sollte. So wie jeden Abend, nur dass heute nicht jeder Abend sein würde. Er wusste, ihm blieben bis dahin knappe zehn Minuten, und so steckte er das Fernglas in den Rucksack, schnappte sich den Taser und ging neben dem Tor in die Hocke, fast verschmolzen mit der Dunkelheit. Ein schwarzer Schatten nur, unbeweglich, jedoch so wach wie selten in seinem bisherigen Leben.

Nur wenige Notlampen beleuchteten dürftig den riesigen Stall. Die Rinder standen in geräumigen Freilaufgehegen, deren Böden mit einer dicken Packung Stroh bedeckt waren. Links die Milchkühe, rechts die Färsen und Kälber, davon abgetrennt die Jungbullen. Kein Tier war angebunden, und jedes konnte so fressen oder sich legen, wie immer es wollte. Der perfekte Stall eines Ökohofs, aber all das beachtete der nächtliche Besucher nicht. Er kannte sich hier aus, war schon oft in den Hof eingedrungen. Die Umgebung gefiel ihm in der Nacht. Die Kühe streckten noch vereinzelt die Köpfe zwischen die Fressgitter der Boxen hindurch und muffelten an der ausgestreuten Silage, während andere gemütlich dalagen und träge wiederkäuten. Eine Atmosphäre voller Zufriedenheit, wären da nicht weiter hinten die paar Schweine gewesen, die sich laut quiekend um den besten Platz am Koben stritten. Doch schnell trat wieder Ruhe eine, die gelegentlich durch das sanfte Rascheln des Heus oder eine stampfende Bewegung durchbrochen wurde. Die Tiere waren ruhig geblieben, als er durch den Schlupf geschlichen war, den die Rinder nutzten, um in das Freigehege zu gelangen. Sie waren die Nähe vieler Besucher gewohnt, die sich im Laufe des Tages durch den Vorzeigestall drückten. Eben hatte er den Schnappverschluss eines der Gattertore gelöst, die den Mittelgang von den Boxen trennten, das Gatter jedoch geschlossen gelassen, um die Viecher nicht zu animieren, nachts spazieren zu gehen.

Drüben im Haus brannte Licht, und er konnte in die menschenleere Küche blicken. Ein schmuckloser Raum mit einer Einrichtung aus den Achtzigerjahren. Dunkelbraune Einbauküche mit neobarocken Türen, dazwischen ein lindgrüner Fliesenspiegel. Unfassbar hässlich. Auf dem Tisch, von einer nackten Neonleuchte flimmernd beschienen, standen die Reste des Abendbrots achtlos herum. Auf dem einzigen Teller trocknete ein angebissenes Käsebrot vor sich hin, während in einem Glas Bier schal wurde. Seine Uhr zeigte sieben vor neun. Seine Zeit war fast gekommen. Ein Gatter ratterte laut, und er zuckte heftig zusammen, aber es war nur ein Rind, das sich an den Eisenstäben rieb und mit dem Horn dagegenstieß.

Langsam ließ er den Atem aus seinen Lungen entweichen, lehnte sich zurück und sog tief den Stallgeruch ein, der die von Tierleibern erwärmte Luft erfüllte. Er liebte es, das Gemisch aus Heu und Stroh, Tier und Dung. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, an Tage, die schöner gewesen waren als die Gegenwart. Ihm kam es so vor, als ob die Sonne damals heller vom Himmel geschienen hätte. In jeden neuen Morgen war er voller Erwartungen und Hoffnungen gestartet, die sich jedoch nie erfüllten. Die Erinnerung an sein letztes Lachen schien aus einer anderen Zeit zu stammen, verblasste bereits, und heftige Traurigkeit überkam ihn wie so oft. Vergilbte Bilder aus der Vergangenheit und der Schrecken des Jetzt begannen sein Bewusstsein zu überfluten. Jetzt nur nicht darin versinken. Er straffte sich, riss sich zusammen und drängte die Depression zurück. In dieser Nacht würde er Gerechtigkeit fordern und damit beginnen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Rache nehmen für die Talfahrt seines Hierseins.

Ins Karree des Küchenfensters kam Leben. Dürr wie eine Vogelscheuche und völlig abgehärmt tauchte eine Frau auf, schmuddelig anzusehen. Auch hier ein Ritus. Der Kühlschrank wurde aufgezogen, eine Flasche herausgenommen und das Wasserglas mit Wodka gefüllt. Die fließende Bewegung einer Gewohnheitstrinkerin, und leer war das Glas. Unbeweglich verharrte sie einen Augenblick und wartete darauf, dass sich das sanfte Wohlsein der Droge in alle Poren verteilte. »Das Klicken«, wie es Paul Newman einst in der Verfilmung von Williams’ »Die Katze auf dem heißen Blechdach« genannt hatte. Die Augen halb geschlossen stand sie so einige Sekunden, kippte das zweite Glas und trollte sich samt Schnapsflasche leicht unsicheren Fußes in Richtung Wohnzimmer, aus dem das unstete Flimmern des Fernsehers zu sehen war. Sie spürte jetzt schon kaum mehr etwas, und in nicht einmal einer Stunde würde sie hinüber sein. Die polnische Hilfe würde später auftauchen, so gegen elf verließ sie immer ihre Bude über dem Laden, und sie schließlich ins Bett schaffen. So wie jeden Abend. Nur war heute Abend nicht wie jeder Abend.

Kurz darauf kamen schlurfende Schritte vom Hof herüber und machten sich direkt nebenan zu schaffen. Ein Huhn gackerte und die Ziegen meckerten den Eindringling an. Dann knarrte das Tor. Gleich würde es losgehen.

Er stand leise auf und spannte die Faust so fest um den Plastikgriff des Elektroschockers, dass seine Knochen hervortraten. Die Spannung, die den Puls beschleunigte, war groß. Nur die kommenden Stunden waren wichtig, er konnte »morgen« noch nicht einmal denken. Es galt nur das Hier und Jetzt. Vorsichtig zog er sich tiefer in den Schatten zurück, als der Alte das Tor so weit aufrollte, dass genügend Platz war, um hereinzukommen. Es war gut geschmiert und machte kaum ein Geräusch, als es zur Seite glitt. Doch plötzlich zögerte Görgen und trat wieder auf den Hof und blieb regungslos stehen. Auch er bewegte sich nicht einen Millimeter. Schweiß quoll ihm aus allen Poren und rann aus den Haaren über das geschwärzte Gesicht. Ein Tropfen rollte weiter, erreichte seine Lippen und schmeckte nach Salz. War er bemerkt worden?

Aber dann waren sie auch im Stall zu vernehmen. Abgehackte Rufe sirrten leise durch die Luft. Kraniche. Eine Schar dieser majestätischen Tiere durchpflügte den Nachthimmel gen Norden, wo sie als Vögel des Glücks galten. Wie so manch anderer konnte sich Görgen dem Zauber der Zugvögel nicht entziehen und lauschte zu ihnen hinauf. Durch einen Spalt im Holz war sein Lächeln im schwachen Widerschein der Küche zu erkennen, als er den Kopf nach hinten bog und in die Nacht starrte. Ein Moment des Friedens noch.

Horst Görgen riss sich von dem faszinierenden Anblick los und betrat den Stall. Seit sie ihn gebaut hatten, brannte in ihm Abend für Abend Stolz. Die Tiere konnten sich bewegen, in den Freilauf gehen oder direkt durch den Schlupf auf die Weide trotten. Einfach perfekt. Selbst den Schwalben gefiel es hier. Oben an den Balken hingen noch die Nester vom Vorjahr. Langsam folgte er dem Mittelgang und prüfte die Gatter. Wie immer hatte er das Licht ausgelassen und begnügte sich mit den Notlampen. Die Rinder traten ab und an gegen die Absperrungen oder lehnten sich daran, wodurch die Verschlüsse aufsprangen, und auch heute lohnte sich die Kontrolle. Auf der rechten Seite war ein Riegel offen. Er bückte sich ächzend und griff danach, aber etwas stimmte nicht. Der eiserne Haken hing nicht herab, sondern war über das Gatter gelegt worden. Jemand hatte ihn mit Absicht gezogen.

Ruckartig richtete er sich auf. Die Angst, die über Wochen schon sein Begleiter war, ließ sein Warnsystem schrillen. Er hörte die leise Bewegung in seinem Rücken, doch es war zu spät. Ein kalter Gegenstand wurde ihm an den Hals gedrückt, und schon schoss ein Stromstoß in seinen Körper, der ihm einen pulsierenden Schmerz in alle Glieder jagte und sie bewegungslos machte. Wehrlos sackte er weg, nahm nur noch schwach wahr, wie ihn kräftige Hände packten und durch den Gang nach hinten schleppten, wo er achtlos einer Puppe gleich auf den Boden fallen gelassen wurde. Feine Partikel von Stroh und Heu drangen in seine Nase und reizten diese, doch Niesen war nicht möglich. Nur mühsam gelang es ihm, die Augen zu öffnen und zu sehen, wie eine dunkle Gestalt mit Seilen hantierte, nur ließ ihn sein getrübtes Bewusstsein im Stich und er verstand nicht, was vorging. Die Angst kam zurück, und er bewegte sich, wollte erkennen, wer ihn überwältigt hatte. Aber schon wurde er auf den Bauch gedreht und seine Handgelenke wurden zusammengeknotet. Etwas wurde eingehakt. Kalt und metallisch. Ein sirrendes Geräusch und seine Arme zogen ihn nach oben in ein Meer aus Schmerz, dem er nur durch den Tod entkommen würde. Später, schmerzhaft viel später.

Mittwoch

Das erste Klingeln des Handys ignorierte Lichthaus im Halbschlaf, das zweite wurde von Claudia verstärkt, als sie ihn in die Rippen stieß. »Mach schon, ist ohnehin für dich. Los, nicht dass die Kleine wach wird.« Sie gähnte und wälzte sich zur Wand.

Lichthaus schüttelte den Kopf und warf leise fluchend die Bettdecke zurück, setzte sich auf und griff nach dem vibrierenden Smartphone. Der Klingelton war immer noch die impertinent durchdringende Tonfolge, die voreingestellt gewesen war und er schwor sich zum tausendsten Mal, ihn zu ändern. Doch dann konzentrierte er sich. Handyanrufe in der Nacht bedeuteten Verbrechen und Arbeit für ihn und seine Mitarbeiter. Er stellte die Verbindung her. »Ja?« Sein Ton war grob.

Eine vorsichtige Stimme drang an sein Ohr: »Entschuldige die Störung, habe ich dich geweckt?« Es war Siran. Da er ihn das erste Mal aus dem Bett warf, schien er unsicher auf seine Reaktion zu warten.

»Nein«, log er mit sarkastischem Unterton und schielte auf die Uhr. Es war knapp halb sechs. »Ich stehe jeden Morgen um fünf auf.«

»Wirklich?« Doch als keine Antwort folgte, verstand Siran den Zynismus und wechselte das Thema: »Wir haben einen ...«

Lichthaus gähnte. »Stopp mal einen Moment, bitte.« Er stand auf und schwankte einen Augenblick, bis der leichte Schwindel verflogen war. Es war kalt im Haus, und so wickelte er sich in eine Decke, die Claudia in frostigen Winternächten zusätzlich aufs Bett legte. Dann ging er wieder gähnend ins Arbeitszimmer, schloss die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»So, da bin ich.«

»Wir haben einen Toten. Auf einem Bauernhof bei Wittlich. Muss da irgendwo im Nirgendwo liegen, zwischen Dreis und Bergweiler. Also ich weiß das nicht, aber ...«

»Meine Schwiegereltern wohnen da oben in der Nähe, ich kenne die Ecke ganz gut.« Er rieb sich die Augen und schaute abwesend auf den schwarzen Bildschirm seines Macs.

»Ach so, okay. Die Adresse ist Alleenhof bei Dreis. Mein Navi hat’s sofort gefunden. Der Mann hängt tot im Stall, mehr haben die Kollegen aus dem Anrufer nicht herausgebracht. Der soll völlig durch den Wind gewesen sein.«

Lichthaus fummelte einen Stift aus der Schublade und kritzelte, verwundert darüber, dass das Ding auf Anhieb schrieb, die Daten auf einen Zettel. »Habt ihr einen Namen?«

»Horst Görgen. Ist der Bauer, glaube ich.«

»Hm. Wer ist oben?«

»Die Wittlicher sind sofort mit einer Streife samt Rettungswagen hin, um den Fundort abzuriegeln. Hoffentlich zertrampeln die nicht alles. Spleeth, also die Spurensicherung, ist benachrichtigt. Die müssten längst unterwegs sein.«

»Wieso schon die Spusi?«

»Der Streifenpolizist war zu einhundert Prozent sicher, dass ein Tötungsdelikt vorliegt, da er einen Selbstmord, bei dem sich das Opfer zuerst verprügelt, dann erhängt, um sich anschließend die Pulsader aufzuschneiden, für eher unwahrscheinlich hält.«

»In Ordnung. Ich werde Steinrausch in einer halben Stunde abholen. Sag ihm bitte Bescheid, und mach dich dann auf den Weg.«

Er beendete frierend das Gespräch und rieb sich über das stoppelige Gesicht. Er war müde. Am Vorabend waren sie spät zu Hause gewesen, da sie bis in die Nacht den Geburtstag von Frank, einem Freund aus Trier, gefeiert hatten. Der Fall kam zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Güttler, der Rechtsmediziner ihres Bezirks, und Sophie Erdmann, eine Kollegin seines Teams, verbrachten gemeinsam ihren Urlaub und sollten erst in einigen Tagen zurück sein. Die Sache klang nicht gerade nach Routine, und da würden sie fehlen, besonders Sophie. Er wählte die Nummer der staatsanwaltschaftlichen Bereitschaft.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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