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Ina ist fünfzehn und nichts stimmt in ihrem Leben – weder der Beat noch das Gefühl, der innere Sound. In der Schule läuft es mittelmäßig, ihren Körper mag sie nicht, die Ehe ihrer Eltern ist eine einzige Fassade und auch ihr eigenes Liebesleben ist deutlich ausbaufähig. Ina mag Phil, hat ihr erstes Mal aber mit Yannik. Und dann ist da auch noch der Gastvater der französischen Austauschfamilie, der ihr näherkommt, als ihr lieb ist … Alexandra Helmig erzählt, wie ein Teenager denkt: assoziativ, sprunghaft, ungeheuer emotional und am Ende doch hoffnungsvoll.
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Seitenzahl: 70
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Arbeit an diesem Roman wurde gefördert durch die Bayerische Akademie des Schreibens.
© 2024 Mixtvision Verlag, Leopoldstraße 25, 80802 München
www.mixtvision.de
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung, Layout, Satz: Anke Elbel
Bildnachweis: Alex from the Rock/Shutterstock.com;
kosmofish/Shutterstock.com; Gina Sanders/stock.adobe.com; candy1812/stock.adobe.com; phadungsakphoto/stock.adobe.com; Maik Meid/stock.adobe.com.
E-Book Herstellung: satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-95854-987-6
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Hab mir heute die Haare gefärbt. Vicki kam vorbei, um mir dabei zu helfen.
Wasserstoffblond.
Meine Kopfhaut hat gejuckt, nicht zum Aushalten. Nach einer Stunde hab ich aufgegeben. Die Badewanne hat jetzt weiße Flecken, dafür
sind meine Haare orange. Vicki hat mich entsetzt angeschaut.
Egal.
Ich finde es cool.
Endlich habe ich mich entschieden, etwas zu tun, von dem alle gesagt haben, mach das bloß nicht.
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Mama hat vorhin angerufen und geweint. Wir müssen etwas unternehmen, hat sie gesagt. Dein Vater weiß nicht, was er tut.
Ich hasse es, wenn sie im Plural redet. Was habe ich damit zu tun, wenn mein Vater eine Freundin hat.
Soll er doch.
Mama tut mir leid, aber ihr Schmerz bleibt für mich fremd. Ich kann sie nicht trösten. Ich würd gern mal über mich reden.
Aber alles, was ich sagen könnte, kommt mir so klein und unwichtig vor.
Deshalb sage ich nichts.
Nur, das wird schon wieder und du kennst ihn doch, das dauert eh nicht lang. Er liebt dich, was gelogen ist, aber das will sie hören. Manchmal überlege ich, mich aufzunehmen. Es sind immer die gleichen Worthülsen, die ich von mir gebe. Wie auswendig gelernt fallen sie aus meinem Mund.
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Meine Eltern sind übers Wochenende in Kiel, weil Papa einen Vortrag über sein Lieblingsthema hält: das Sehsystem mariner Borstenwürmer.
Ich übernachte bei Vicki.
Den ganzen Abend reden wir über meine Eltern.
Ob sie sich noch lieben.
Ob ich mit meinem Vater sprechen soll.
Ob ich ihm meine Liebe entziehen muss, damit er zur Vernunft kommt.
Bis morgens um drei.
Zwei Flaschen Wein und Unmengen an Zigaretten.
Ich liebe Vicki.
Ich weiß gar nicht, wie es ihr geht.
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Hab heute in der Zeitung gelesen, dass ein später Anhänger Dalis sich regelmäßig nackt auf die Straße stellt, um denVerkehr zu regeln.
Irgendwo in Spanien.
Ab wann gilt man als verrückt?
Ist der Verrückte unter anderen Verrückten wieder
normal?
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Meine Eltern sind zurück.
Gut gelaunt, als ob nichts geschehen wäre.
Sie rauschen durch die Wohnung, meine Mutter
reißt alle Fenster auf.
Hier muss mal Luft rein.
Ich bin sprachlos.
Eben noch das heulende Elend, jetzt in Farbe, der rote
Lippenstift klebt an ihren Zähnen.
Alles prima.
Alles super.
Alles bestens.
Fassungslos starre ich meine Mutter an, sie weicht meinem Blick aus. Als Papa auf der Toilette verschwindet, stelle ich sie zur Rede.
Es ist doch alles gut, sagt sie.
Gut? Was soll denn hier gut sein?
Das Geräusch der Toilettenspülung verschluckt meine Worte.
Mama winkt energisch ab.
Keine Fragen mehr.
Nicht vor Papa.
Das kotzt mich an.
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Vicki und ich haben den Nachmittag damit verbracht, Modezeitschriften anzugucken. Wir haben uns fest vorgenommen, ab jetzt weniger zu essen.
Montag Reistag.
Dienstag Obsttag.
Mittwoch Safttag.
Donnerstag Gemüsetag.
Freitag Fischtag.
Morgen fangen wir an.
Ich träume davon, dürr zu sein.
Ich träume davon, dass mich alle fragen, wie ich plötzlich so dünn geworden bin.
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Englisch fiel heute aus.
Vicki und ich sind ins Reisebüro gegangen. Wir haben uns die unmöglichsten Reiseziele herausgesucht und die Frau so lange genervt, bis sie uns vier Kataloge mitgegeben hat.
Philippinen.
Israel.
Argentinien.
Mongolei.
Wir stellen uns die Gesichter der anderen Mädchen vor. Vor allem Lucile würde Augen machen. Ich mag sie, aber es nervt, dass sie meint, sie wär die Allercoolste.
Nur weil sie schon Sex hatte.
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Etwas Unglaubliches ist passiert!
Lena hat ihrem Bruder Theo erzählt, dass ich so toll singen kann, dabei hat sie mich nur einmal gehört, und er meinte, dass seine Band auf der Suche nach einer Sängerin sei und ich mal zur Probe kommen soll.
Nächsten Dienstag.
Ich mach mir vor Aufregung in die Hose.
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Wir haben Mathe zurück. Eine Fünf, gerade so.
Ich atme auf.
Vicki und ich klatschen uns ab. Mathe ist mein schlechtestes Fach. Ich bin nicht stolz darauf, auch wenn ich so tue, als ob.
Füße runter, brüllt der Hartung mit seinem fleischig roten Gesicht.
Ich kann nicht anders, ich lasse meine Beine eine
Sekunde länger als nötig gegen den Tisch gedrückt.
Ich weiß, dass ihn das zur Weißglut treibt.
Ich weiß, dass es ihn ärgert, wenn ich mich über eine Fünf freue.
Aber er weiß nichts von mir.
Nichts.
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Gestern im Zoozies hab ich ihn zum ersten Mal gesehen.
Er ist mindestens einen Kopf größer als ich, also groß, aber nicht zu groß, vielleicht ein bisschen zu dünn, aber genau kann ich das nicht sagen. Wenn er geht, denkt man, er würde hinken.
Tut er aber nicht.
Er hatte einen Pulli an, die Kapuze ins Gesicht gezogen, aber ich konnte seine Augen sehen. Große, blaugraue Augen, die mich angeguckt haben.
Kurz.
Sehr kurz.
Vielleicht eine Sekunde, vielleicht zwei, jedenfalls lange genug, um mich in diese Augen zu verlieben.
Phil kommt aus Berlin. Aus der großen, weiten, verheißungsvollen Welt. Wer ihn bekommt, hat es geschafft.
Er ist das Stadtgespräch.
Alle Mädchen wollen ihn haben. Aber ich werde ihn kriegen. Alles an ihm wirkt lässig. Sein Gang, seine Klamotten, einfach alles.
Vicki findet ihn arrogant. Nur weil er aus Berlin kommt, muss das noch lange nicht heißen, dass er cooler ist als der Rest der Menschheit, sagt sie. Irgendwie hat sie recht, aber ich bin sicher, dass er nur so cool tut.
Woher willst du das wissen?, fragt sie.
Seine Augen. Die sind wie ein Meer aus Traurigkeit.
Vicki versteht mich nicht.
Vielleicht ist sie eifersüchtig?
/
Heute hatte ich Klavierunterricht.
Schon wieder nicht geübt.
Scheiße.
Dabei mag ich Klavier und vor allem mag ich Herrn Luber. Aber die Woche ist einfach zu kurz und dann ist auch schon wieder Mittwoch. Herr Luber öffnet mir die Tür und ich setze eine Leidensmiene auf.
Tut mir leid, ich bin zu spät, aber bei mir ist grad alles, mit meinen Eltern und so ...
Komm doch erst mal rein, sagt er.
Während er einen Kaffee aufsetzt, schaue ich mich in seinem Zimmer um. Der Flügel bestimmt den Raum, ein Regal voller Schallplatten, CDs und Bücher, ein kleiner Tisch, zwei Stühle. Das war’s. Ich kann mir kaum vorstellen, dass in seinem Schlafzimmer mehr als ein Bett steht. Herr Luber wirkt wie aus der Zeit gefallen. Er hat keinen Computer, nicht mal einen Fernseher.
Ob er Freunde hat?
Es scheint, als ob er nichts und niemanden braucht. Als ob er schon so viel gesehen und erlebt hat, dass ihm seine Erinnerungen reichen.
Dabei ist er noch gar nicht so alt, höchstens 40.
Ich frage mich, ob er manchmal vor Glück schreit?
Oder vor Verzweiflung die Wände einschlagen möchte?
Er ist wie ein flaches Land, ohne Höhen und Tiefen, eine unendliche Weite, die mich beruhigt. Und dabei hasse ich nichts mehr als Stillstand.
Er kommt mit zwei Tassen Kaffee zurück und sieht mich aufmerksam an. Eine stumme Aufforderung zu reden, wenn ich denn mag. Er fragt selten, meist hört er nur zu. Wie auf Knopfdruck sprudeln die Worte aus mir heraus. Ich kann nichts dagegen tun. Vielleicht ist es die Stille, die ich nicht aushalte. Die Stille, die sich in meinem Kopf ausbreitet, wenn er mich ansieht.
Ich erzähle ihm meine Sorgen, dramatisiere die Probleme meiner Eltern, damit die Stunde rumgeht. Ich tue so, als ginge mir das alles wahnsinnig nahe, dabei will ich nur vom Klavierspielen ablenken.
Ist das so?
Ich fühle mich schlecht. Er nimmt mich ernst, behandelt mich wie eine Erwachsene. Ich darf sogar rauchen.
Während er an einer halben, selbst gedrehten Zigarette zieht, rauche ich Kette, bis mir schlecht wird.
Ich bin eine falsche Schlange.
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Die Probe war so cool.
Theo hat sein eigenes Reich im Keller, vollgestopft mit Instrumenten, überquellenden Aschenbechern,
verschimmelten Kaffeetassen und leeren Bierdosen auf dem Boden, ein Kabelwirrwarr, über das ich steigen muss. Für mich ist es das Paradies. Ich halte das Mikro in der Hand und singe ein paar Töne. Meine Stimme im Lautsprecher.
Ein Sprachrohr.
Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal mich zu hören.