Becoming a Queen (humorvolle LGBTQ+-Romance, die mitten ins Herz geht und dort bleibt) - Dan Clay - E-Book

Becoming a Queen (humorvolle LGBTQ+-Romance, die mitten ins Herz geht und dort bleibt) E-Book

Dan Clay

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Beschreibung

Jeder(Mann) kann ein Kleid tragen. Ganz wie er selbst. So fühlt sich Mark, als er beim Talentwettbewerb der Highschool in einem Kleid auftritt. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass sein Freund sich daraufhin von ihm trennt. Mark schwört sich, zukünftig die Finger von Jungs und Pailletten zu lassen. Aber dann entdeckt er plötzlich ein perfektes, lila Kleid und lernt den charmanten Ezra kennen … Als das Schicksal Mark auf eine harte Probe stellt, erkennt er, dass es okay ist, man selbst zu sein – und oft sogar der einzige Weg. Eine Leseprobe aus "Becoming a Queen": Die Leute sagen immer "Sei einfach du selbst", als könnte man auch nur ansatzweise wissen, wer das sein soll. Wenn ich nachzähle, komme ich auf ungefähr tausend unterschiedliche Ichs. Da ist der Mensch, der ich in der Schule bin, und der, der ich auf Partys bin. Dann gibt es den Jungen, der in der Cafeteria laut Witze reißt, und den, der nicht mal ein Hallo über die Lippen bringt. Da ist das verängstigte Ich im Sportunterricht und das alberne Ich in der Theater-AG, plus Hunderte andere, die in meinem schlaksigen Körper um die Vorherrschaft kämpfen. Mein wahres Ich? Wer kennt das schon? Sie sind alle echt und alle fake. Das Geheimnis besteht darin, genau aufzupassen, wer welches zu sehen bekommt. Und gleich wird ganz Annondale das Ich sehen, das dieses Kleid tragen wollte. Wie superschwule Zahnpasta, die man niemals wieder in die Tube zurückkriegt.

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Seitenzahl: 496

Veröffentlichungsjahr: 2023

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TRIGGERWARNUNG Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Auf dieser Seite befindet sich ein Hinweis zu den Themen. ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023, Ravensburger Verlag GmbH Postfach 2460, 88194 Ravensburg Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Becoming a Queen« bei Roaring Brook Press, New York © 2023 Dan Clay Published by Roaring Brook Press Roaring Brook Press is a division of Holtzbrinck Publishing Holdings Limited Partnership 120 Broadway, New York, NY 10271 · fiercereads.com Published by arrangement with Roaring Brook Press, a division of Holtzbrinck Publishing Holdings Limited Partnership. All rights reserved. Übersetzung: Leo Strohm Book design by Aurora Parlegreco Verwendete Zitate: S. 81, 82, 85, 261, 262, Zitate stammen aus dem Gedicht »Geheul« (»Howl«) von Allen Ginsberg, entnommen aus der deutschen Übersetzung von Sophie Warning (www.otium-ev.de/pages/howl.htm) S. 228, Zitat stammt aus dem Lied »Part of Your World« von The Little Mermaid, von Alan Menken und Howard Ashman S. 228, 234, Zitat stammt aus dem Lied »Today 4 You« aus dem Musical Rent von Jonathan Larson Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51183-9

ravensburger.com

Für meine Mom und meinen Dad

Der schlimmste Abend meines Lebens

DiePaillettenscheuern an meinen Oberschenkeln, und ich frage mich, wieso ich mich überhaupt darauf eingelassen habe.

Eigentlich hatte ich von Anfang an kein gutes Gefühl dabei. Vor zwei Wochen, auf der Tribüne unserer Sporthalle, während die Zuschauer, die das Spiel unseres Basketballteams sehen wollten, in die Halle strömten, hatte Haley Stewart drei eng anliegende, schwarze Kleider vor uns hochgehalten. Sie waren mit Fransen verziert, die sich wie die Streifen einer ziemlich nuttigen Zuckerstange an den Stoff schmiegten. Die Kleider waren so eng und so kurz, dass sie sogar dann gegen jegliche Vorschriften verstoßen hätten, wenn sie von Mädchen getragen worden wären.

Joe Thomas mit seinen eins fünfundachtzig war skeptisch. »Soll das ein Witz sein? Coles Oberschenkel passen doch niemals in so ein Ding da rein.«

Auch besagter Damien Cole hatte Zweifel. »Wir sollen uns alle drei in diese winzigen Fummel quetschen? Also, ich weiß nicht …«

Ich selbst stand regungslos da, voller Angst, dass jede noch so kleine Bewegung mich verraten könnte. Ich versuchte, ähnlich zögerlich zu wirken wie Joe und Damien und mir nicht anmerken zu lassen, wie verzweifelt ich dieses Kleid tragen wollte, wie dringend ich dieses Kleid tragen musste, wie das bloße Wissen um die Existenz dieses winzigen Kleidchens mein Herz unverzüglich zum Stillstand gebracht hätte, wenn ich es nicht tragen durfte.

Aber wenn man sich etwas so unbedingt wünscht, dann kann das kein gutes Ende nehmen.

Jetzt, zwei Wochen später, stehe ich wartend hinter den Kulissen, während lautes Gejohle aus dem voll besetzten Saal über die leere Bühne hallt. Ich werde aus meinem Traum gerissen wie eine aufgeplatzte Dose mit Aufbackbrötchen. Ich muss raus aus diesem Kleid. Der Stoff unter den Pailletten juckt wie Windpocken. Die Armlöcher sind zu eng, sodass ich mich fühle, als hätte mich jemand mit einer Angelschnur umwickelt. Eines steht fest: Das Ganze ist eine unfassbar schlechte Idee.

Allerdings … ich hatte keine andere Wahl. Das werde ich nachher jedenfalls zu meinen Eltern sagen. Und zu meinem Freund. Ich hatte keine andere Wahl. Wenige Sekunden vor Anpfiff des Basketballspiels hatte Haley, die sich gefühlt schon seit ihrem sechsten Geburtstag wie ein Teenager verhält, mir mit derselben Autorität, mit der sie sich Dates mit älteren Schülern besorgt und die Abgabefrist für ihre Mathehausaufgaben verlängert, Folgendes eröffnet: »Das wird superwitzig, und ehrlich gesagt fragen wir dich auch gar nicht, sondern teilen dir mit, dass wir dich ausgesucht haben und dass du das machst.« Ihre Worte hatten dieselbe Entschlossenheit wie eine zugeknallte Spindtür. »Ich und Beth ziehen das Ende schön in die Länge – RollingontheRiiii-iii-veeeeeer – und dann wird die Musik wieder schneller, ihr rennt auf die Bühne und fangt an zu tanzen.«

»Und dann gewinnen wir den Talentwettbewerb«, fügte Beth hinzu und wackelte rhythmisch mit den Schultern.

Im Grunde genommen gebe ich meinem Bruder die Schuld. »Wenn du das machen willst, dann mach es, Alter. Wen interessiert es schon, was die anderen sagen könnten?«, hatte er gesagt. »Sei du selbst! Dein buntes, schillerndes Selbst.«

Wie hatte ich nur so viele Warnzeichen übersehen können?

Erstens hat die Generalprobe viel zu viel Spaß gemacht. Wir haben uns in diese hautengen Kleider gezwängt und sind wie alberne kleine Mädchen, die Prinzessin spielen, durch die Gegend gewirbelt. Joe und Damien waren sogar noch übermütiger als ich. Sie haben sich auf Zehenspitzen um die eigene Achse gedreht und die Fransen an ihren Kleidern zum Fliegen gebracht wie die Rotorblätter eines Hubschraubers. Ich selbst habe, da ich als Einziger in Haleys High Heels passe, meinen Supermodel-Gang geübt.

Wenn du über zwölf Jahre alt bist und so viel Spaß hast – und zwar ohne Drogen oder Alkohol –, dann kannst du davon ausgehen, dass irgendetwas schiefgehen wird.

Zweitens hat die Generalprobe auch einfach viel zu gut geklappt. Man kann über Heteros sagen, was man will, aber Joe und Damien hatten ihre Choreografie absolut perfekt einstudiert. »Nee, Mann, du musst die Hand zur Seite abkippen lassen, wie so’n Baby-Schwan. Bumm-bumm-tschak!«, wies Joe mich an. »Streck den Arm hoch, und dann knickst du das Handgelenk um. Bam. Genau im Takt. Siehst du? Mit Schwung.« Er machte mir die Bewegung ungefähr ein Dutzend Mal vor, während ich damit beschäftigt war zu begreifen, dass einer von Annondales besten Footballspielern mir gerade erklärte, dass meine Handgelenke nicht flexibel genug waren. Irgendwann hatten wir es dann drauf. Jeden einzelnen Schritt.

Dabei wissen alle, die jemals bei einem Schulmusical mitgemacht haben, dass die Generalprobe schlecht sein muss, damit die Aufführung gut werden kann.

Jetzt stehen wir also hinter den Kulissen und warten auf unseren Einsatz. Damien zupft sein Kleid zurecht, streicht den Saum glatt und rückt Joes Perücke gerade. »Alter, du bist auch nicht gerade die geborene Blondine«, witzelt er.

»Wir können schließlich nicht alle so hübsch aussehen wie Davis«, erwidert Joe und haut mir auf den Rücken, sodass ich aus meinen hohen Absätzen kippe. Damien fängt mich auf, und dann stellen wir uns eng umschlungen im Kreis auf. »Also gut, Jungs. Bereiten wir denen da draußen einen Abend, den sie nie vergessen werden.«

Die Musik setzt ein. Leise, vereinzelte Gitarrentöne. Haley und Beth betreten von rechts die Bühne. Das Publikum tobt, noch bevor sie einen einzigen Ton gesungen haben. Haley wendet sich mit heiserer Flüsterstimme an die Menge und sagt, dass nett und harmlos noch nie unser Ding war.

Ich bin mir so sicher, dass wir dermaßen auf die Schnauze fallen werden, dass ich nicht einmal nervös bin.

»Los geht’s!«, ruft Joe, während wir ins Scheinwerferlicht stürmen.

˜

Die Leute sagen immer: »Sei ganz du selbst«, als könnte man auch nur ansatzweise wissen, wer das sein soll. Wenn ich nachzähle, komme ich auf ungefähr tausend unterschiedliche Ichs. Da ist der Mensch, der ich in der Schule bin, und der, der ich auf Partys bin. Dann gibt es den Jungen, der in der Cafeteria laut Witze reißt, und den, der nicht mal ein »Hallo« über die Lippen bringt. Die Person, die gern einen Sixpack hätte, und die, die am liebsten eine Großpackung Gummibärchen verdrücken würde. Da ist das verängstigte Ich im Sportunterricht und das alberne Ich auf der Theaterfreizeit, plus Hunderte andere, die in meinem schlaksigen Körper um die Vorherrschaft kämpfen. Mein wahres Ich? Wer kennt das schon? Sie sind alle echt und sie sind alle fake. Das Geheimnis besteht darin, genau aufzupassen, wer welches Ich zu sehen bekommt. Und jetzt gleich wird ganz Annondale das Ich sehen, das unbedingt dieses Kleid tragen wollte. Wie superschwule Zahnpasta, die man niemals wieder in die Tube zurückkriegt.

˜

Ich hatte mich innerlich auf alle möglichen Szenarien eingestellt, bloß nicht auf das, was jetzt tatsächlich passiert: Es sind die besten drei Minuten meines Lebens.

Im grellen Licht der Scheinwerfer fühlen sich meine Pumps wie Flügel an.

Die Schritte tanzen sich von ganz allein. Tosender Applaus – wundervoller Applaus! – hebt uns zum Himmel empor, und ich frage mich, ob es sein kann, dass mein Grinsen noch breiter ist als die Bühne. Vielleicht ist das ja die Belohnung dafür, dass ich sechzehn Jahre lang jeden Sonntag in die Kirche gegangen bin: mein erstes Wunder. Das Gefühl der Befriedigung ist so allumfassend, dass ich keinen Gedanken daran verschwende, mein vorheriges Ich auszulachen – diesen dämlichen Trottel, der so überzeugt davon war, dass alles schiefgehen würde.

Hinter der Bühne wird weiter gefeiert. Es ist meine dritte Talentshow an der Schule, aber die erste mit einer Afterparty. Wo waren die ganzen Superfans eigentlich letztes Jahr, als ich diesen hohen Ton aus Les Miserables so perfekt getroffen habe? Die Hälfte der Annondale High wartet mit Blumen und Komplimenten ungeduldig darauf, Haley, Beth und ihren allen Geschlechterklischees widersprechenden Tänzern zu gratulieren. Bereits jetzt haben wir, die Riverboat Queens, Legendenstatus erreicht.

»Ich bin echt fast in Ohnmacht gefallen da oben, ohne Scheiß. Was ist denn da passiert?«

»Das war der absolute Wahnsinn!«

»Die sind komplett ausgerastet!«

»Alter. Davis. Dein Solo? Mit den hohen Absätzen? Die Leute sind ausgeflippt!«

»Das war die phänomenalste Vorstellung in der Geschichte der phänomenalen Vorstellungen. Einfach der Hammer!«

»Wie habt ihr das bloß geheim halten können?«

»Und die Klamotten. Ey, Joe, was für Titten!«

»Zieh das lieber aus, sonst stehen die Jungs Schlange.«

»Mark, girrrl, du hast sie alle umgehauen, echt.«

Ich drehe mich zu dem Groupie, früher mal Jia aus dem Chemiekurs, um und frage: »Hey, hast du John gesehen?«

Sie macht eine theatralische Armbewegung, als würde sie etwas imitieren, das sie im Fernsehen gesehen hat. »Yasss, Queen!«

»Echt? Super.« Ich stoße den Atem aus und ziehe ungeduldig die Augenbrauen in die Höhe. »Wo?«

»Oh. Nein. Nicht wirklich. Ich wollte das nur schon immer mal sagen.«

Suchend lasse ich den Blick über die Menschenmenge schweifen. Wo ist er? Ich schlüpfe sogar noch mal in meine Pumps, um einen besseren Überblick zu bekommen. Hinter mir trinken zwei Zwölftklässler heimlich Schnaps aus einem silbernen Flachmann, ohne zu schnallen, dass der riesige Wandspiegel jeden Schluck nach draußen in den Flur überträgt, der komplett mit Lehrerinnen und Lehrern verseucht ist.

»Raus hier, na los, raus«, ruft Mr Wagner und verscheucht sie. »Wer nicht auf der Bühne war, kann auch vor der Hall of Fame warten. Wir müssen den Raum frei machen. Ich werde nicht dafür bezahlt, dass ich hier den Aufpasser spiele.«

Unter allgemeinem Stöhnen verzieht sich ein Teil der Feierwütigen. Ich werde von ein paar Zehntklässlerinnen umringt, die mir Komplimente für meine Beine machen.

»Mit Kleid siehst du besser aus als die Hälfte der Mädchen in unserer Klasse.«

»Moment mal, hast du dich rasiert?«

»Nein, aber seine Beinbehaarung ist ganz hell.«

»Ganz ehrlich, für deine Beine würde ich glatt einen Mord begehen.«

Endlich sehe ich ihn. John.

Er feiert mit Damien und Joe. Seit ich die beiden das letzte Mal gesehen habe, haben sie sogar noch zusätzlich Make-up aufgelegt. Wahrscheinlich hat er mich in dem ganzen Gedränge einfach nicht gefunden.

Ich fange an, mich zu freuen. Auf die Umarmung, seine Arme, den festen Druck.

Nicht, dass ich jetzt wahnsinnig viel erreicht hätte oder seine Anerkennung brauchen würde. Wir haben ja nur eine einfache Choreografie hingelegt.

Aber, keine Ahnung – vielleicht bin ich so erleichtert, weil ich befürchtet hatte, dass es ganz schrecklich wird? Vielleicht ist allein die Möglichkeit, tragisch zu scheitern, ja die Voraussetzung dafür, dass etwas wirklich Großartiges entstehen kann? Vielleicht will ich auch nur einen Kuss.

Ich komme näher und höre, wie er Damien und Joe mit Komplimenten überhäuft. »Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass man so kurze Kleider überhaupt tragen kann. Ihr seid krass, Jungs, einfach nur krass!«

Ich bin überglücklich, ihn zu sehen – meinen Freund! –, während das Ganze sich immer mehr zum besten Abend meines Lebens entwickelt.

Er dreht sich um.

Der Flur und alle Menschen verschwinden aus meinem Blickfeld. Diese Wirkung hat er schon immer auf mich gehabt. Der Raum könnte voller Feuerwehrmänner mit nackten Oberkörpern und flatternden Geldscheinen sein, ich würde trotzdem nichts anderes wahrnehmen als John.

Er sieht mich. Endlich sieht er mich.

Ich lächele, während ich auf Zehenspitzen schwebe, so hoch, dass meine Pumps vom Boden abheben.

Seine Augen sprechen zuerst.

Er lehnt den Oberkörper ein wenig zurück. Mustert mich von oben bis unten.

Mit einer langsamen Bewegung nehme ich meine Perücke ab, lasse sie an der Seite herabbaumeln.

Das strähnige Kunsthaar streift den Linoleumboden, während ich an meinem zu kurzen Kleid ziehe.

Ich warte darauf, dass er etwas sagt … irgendetwas.

»Ziehst du dich noch um?«

Elfte Klasse

Oktober

(sechs Monate nach dem Talentwettbewerb)

Kreiseln

Die Flasche liegt auf dem platt getretenen Teppich, und ich wäre am liebsten irgendwo anders, ganz egal, wo. Hauptsache, nicht hier.

Dass ich mich blicken lassen musste, war klar – seit einem Monat verlasse ich das Haus nur noch zu den Vorbereitungskursen für meine College-Aufnahmeprüfung –, aber im Augenblick würde ich viel lieber in der Bibliothek sitzen, um irgendwelche Parabeln zu zeichnen, anstatt auf einem staubigen Betonboden zu hocken und dabei zuzusehen, wie sich ein Haufen geiler Teenager von einer Bierflasche verkuppeln lässt.

Das ist zurzeit das große Rätsel meines Lebens: Wie kann es sein, dass ich, von Freundinnen und Freunden umgeben, Schulter an Schulter im Kreis meiner engsten Vertrauten sitze, den Menschen, die ich mir unter acht Milliarden Möglichkeiten sehr sorgfältig ausgesucht habe, mit denen ich meine Wochenenden, meine Geheimnisse und meinen geklauten Wodka teile … und mich trotzdem vollkommen einsam fühle?

Welcher von all den Leuten hier ist nicht wie die anderen?

Der mit dem Liebeskummer.

Meine Eltern haben mir eine fette Lüge aufgetischt. Sie haben immer behauptet, ich sei etwas ganz Besonderes, und jetzt sitze ich hier und leide ganz banale Qualen, die das genaue Gegenteil von besonders sind. Ursache: ein stinknormales, gebrochenes Herz.

Ich gehe durch den Kreis, um mit Shanna den Platz zu tauschen, und setze mich im Schneidersitz auf eine einzelne, schiefe, beigefarbene Teppichfliese. Irgendwie ist die sogar noch unbequemer als der nackte Beton. Jemand reißt einen Witz und ich lache laut. Perfekt.

Das Stück des heutigen Abends heißt Normal, und wer spielt darin meine Rolle? Ganz genau. Ich.

In meiner Familie gibt es ein unausgesprochenes Motto: Probleme sind keine Probleme, solange andere nichts davon mitkriegen.

So gesehen ist mein Leben eine komplett problemfreie Zone.

˜

Shanna schnappt sich ein gelbes Kissen von Reid Meyers’ Schoß und legt es über die verrostete Wasserleitung hinter ihr, um es sich ein bisschen bequemer zu machen. Dann sagt sie mit lauter Stimme: »Als Erstes haltet ihr mal die Klappe. Und zweitens, für die paar Idioten, die schon vergessen haben, wie diese Partys mal entstanden sind: Mark Davis hat die Flashback-Abende in der neunten Klasse ins Leben gerufen, darum darf er selbstverständlich zuerst drehen.«

Ich springe auf und verneige mich mehrfach in alle Richtungen. »Na ja, leider hat dieses Spiel für mich inzwischen keinen Sinn mehr.« Ich zeige auf die grüne Flasche, die im Licht der summenden Neonröhren erwartungsvoll funkelt. »Was soll ich nur damit anfangen?« Alle lachen. Schwul zu sein ist schon okay, aber beim Flaschendrehen in einer gemischten Gruppe bringt es gewisse Komplikationen mit sich.

»Hey, alles, was beim Flashback-Abend passiert, bleibt unter uns«, sagt Reid Meyers mit einem verführerischen Zwinkern.

Reid Meyers ist einer dieser Typen, die in Hollywoodfilmen immer die Rolle des Schwulen kriegen: attraktiv, glücklich und hetero.

»Nein, nein, ich gründe meine eigene LGBTQ-Runde und stelle mich in eine Ecke, drehe mich im Kreis und trinke einsam vor mich hin.«

Ich lasse mich von den lautstarken Protesten nicht aus dem Konzept bringen, wische die Hände meiner Freundinnen und Freunde beiseite und eile zu dem Klapptisch am Fußende der Treppe. Der verströmt die Atmosphäre einer Neuntklässler-Party, mit kitschig bunter Plastiktischdecke und allem Drum und Dran. Während ich ein paar zusätzliche Umdrehungen in meinen Punschbecher kippe, rufe ich den anderen zu: »Shanna, fangt ohne mich an. Ich komme wieder, wenn ihr bei ›Wahrheit oder Pflicht‹ seid, und dann lasse ich sämtliche Träume von Reid in Erfüllung gehen.«

Ich mixe mir einen Wodka-Dr Pepper und nehme mir einen Keks mit Zuckerguss. Er schmeckt nach Geburtstagskuchen mit einer Glasur aus Desinfektionsmittel. Ich schüttele den Kopf und schlucke alles runter.

Zu behaupten, der »Flashback-Abend« sei meine Erfindung gewesen, ist ein bisschen übertrieben. Es war so: Als wir auf die Highschool gewechselt sind, waren wir plötzlich viel zu cool für all die Spiele, die mir bis dahin immer so wahnsinnig viel Spaß gemacht haben: »Wahrheit oder Pflicht«, »Ich hab noch nie …«, »Wer würde eher …« und so weiter. Und als dann eines Abends, wie an jedem anderen Abend in Annondale, Michigan, wieder mal überhaupt nichts los war, habe ich den anderen einen Vorschlag gemacht: Wir kramen das alte Bettlaken und die Wäscheklammern wieder raus, mit denen wir uns früher in Lisa Sonshines Keller ein Knutschabteil gebaut haben, und spielen die ganzen Spiele, bei denen wir gelernt haben, wie kommunikativ Sex und Liebe sein können, einfach noch mal. Es war ein durchschlagender Erfolg. Eingehüllt in die warme Decke der Nostalgie konnten wir wieder alberne Kinder sein, und so wurde eine Tradition geboren.

Ihr seht also: Ich war nicht schon immer dieses traurige, von seinen Emotionen gebeutelte Häufchen Elend. Es gab sogar mal eine Zeit, in der ich so gern auf Partys gegangen bin, dass ich selber welche gestartet habe!

Gut möglich, dass ich der erste Mensch auf der Welt bin, der schon mit dreizehn den Zenit seines Schaffens erreicht hat.

Aber heute Abend bin ich glücklich. Ich lasse die Vergangenheit hinter mir. Mein großer Bruder hat mal gesagt: »Nur ein aktives Herz kann wirklich heilen« – Ja, tatsächlich, genau so redet der! –, und vielleicht bringe ich ja mit diesem Drink den Heilungsprozess ins Rollen. Obwohl mein großer Bruder auch gesagt hat, dass Alkohol deine Stimmung nicht wirklich verbessert, sondern einfach nur verstärkt.

Das Verrückte ist ja, dass ich mich von John getrennt habe, theoretisch zumindest.

Aber nur, weil mir klar war, dass er mich demnächst sowieso verlassen würde.

Plötzlich legt mir Joe Thomas eine Hand auf die Schulter. Muskel-Joe Thomas. Seit wann ist der denn hier? Wir sind seit einer Ewigkeit befreundet, aber eigentlich sehen wir uns immer nur in der Gruppe und nie zu zweit. Und jetzt liegt seine riesige Hand auf meiner Schulter, eine Hand, die groß genug ist, um einen Basketball zu halten, und stark genug, um ihn zum Platzen zu bringen. Er führt ein ziemlich betrunkenes Selbstgespräch, in dem es um verschiedene Startaufstellungen einer Footballmannschaft geht, ich glaube bei den Detroit Lions. Er sucht sogar auf seinem Handy nach irgendwelchen Spielerstatistiken und diskutiert dabei leidenschaftlich, obwohl ihm sowieso niemand widerspricht.

Das Display seines Smartphones verleiht seinen braunen Augen einen goldenen Glanz. Seine Hand fühlt sich unglaublich kräftig an.

Mein T-Shirt ist an etlichen, modestrategisch entscheidenden Stellen ziemlich zerschlissen. Als Muskel-Joe Thomas meine Schulter drückt und die Sehnen an seinen sonnengebräunten Unterarmen voller Entschlossenheit hervortreten, kommt es mir so vor, als wäre da absolut gar nichts zwischen seiner kraftvollen Hand und meiner nackten Haut.

Wahrheit oder Pflicht, Joe?

Nein. O mein Gott. Nein. Das ist völlig bescheuert. Ich bin bloß einsam. Einhundert Prozent bescheuert. Ich will nicht mal … nein. Denk an was anderes. Noch ein Drink? Nein, das ist noch bescheuerter. Denk einfach an was anderes. Was anderes als seine Hand. Seine Unterarmmuskeln, während seine starke Hand meine kalte Schulter wärmt … Nein. Was ganz anderes.

Zum Beispiel … wie mein Dad rausgekriegt hat, was dieses todschick-zerschlissene T-Shirt gekostet hat, und wie er mich gezwungen hat, als Gegenleistung siebenmal den Rasen zu mähen. Und jedes Mal musste ich das alte Hanes-T-Shirt tragen, das meine Mom als Putzlappen benutzt. »Wenn du das nächste Mal ein kaputtes Shirt haben willst, dann mach dir gefälligst selber eins. Deine Kreditkarte ist ausschließlich für Notfälle gedacht, junger Mann.«

Aber das T-Shirt ist voll süß. Und während Joe Thomas jetzt aus irgendeinem Grund über »diese verdammten Field-Goal-Kicker« herzieht, hab ich es immerhin geschafft, keinen Steifen zu kriegen.

Jippie! Also mache ich doch nicht alles falsch.

»Seit wann bist du eigentlich so eng mit Joe Thomas?«, will Crystal wissen, die mich nun von Joes Vortrag weg zu dem schäbigen gelben Sofa schleift, wo Damien etwas trinkt, was aussieht wie radioaktive Brause.

»Hier.« Er reicht mir seinen Becher. »Damit du deinen Swag wiederfindest.«

»Ich hatte noch nie Swag.«

»Genau das macht deinen Swag ja aus.«

»Also, dann habe ich ihn hiermit offiziell wieder.«

Crystal und ich sind seit der sechsten Klasse befreundet. Sie ist wunderschön, zieht sich aber so an, dass es niemand merkt. Nur Damien ist es aufgefallen. Zu Beginn der Highschool hat er mal versucht, sie auf ein Date einzuladen. Aber sie hat ihm erklärt, dass sie – zumindest bei klarem Verstand – niemals mit jemandem zusammen sein könnte, der gleich im ersten Jahr an der Highschool einen Kurs mit dem Titel »Wie schreibe ich erfolgreich College-Essays?« belegt. Damit war er in der Friendzone gelandet und hat sich auch mit mir angefreundet. Mir ist schon klar, dass das reine Taktik war, aber er ist ein witziger Typ und kann mir bei den Chemiehausaufgaben helfen, darum finde ich das okay.

Crystal lässt sich auf die Couch plumpsen und nimmt Damien seinen Drink ab. »Habt ihr eigentlich auch manchmal das Gefühl, als würdet ihr euch selbst beobachten?«, will sie wissen.

Weil keiner von uns kapiert, was sie damit sagen will, holt sie weiter aus: »Also, als wärt ihr irgendwie von euch selbst abgespalten und würdet von außen auf euer Leben schauen.«

Damien nimmt ihr seinen Becher wieder weg. »Ich glaube, du nimmst inzwischen andere Drogen als ich.«

»Das hat nichts mit Drogen zu tun, Damien.« Sie stößt seinen Namen wie eine Beleidigung hervor und richtet den Blick nach oben an die beigefarbenen Deckenfliesen. »Also, wir sind in uns drin.« Sie legt eine Pause ein, bevor sie weiter philosophiert. »Mein Körper ist hier und redet, lacht und trinkt dein ekliges Gesöff. Aber meine Seele ist gleichzeitig irgendwie draußen, beobachtet uns heimlich und denkt: ›Menschen sind schon sehr eigenartig.‹«

Der Deckenventilator zieht schwankend seine Kreise.

»Deine Seele hört sich irgendwie unheimlich an«, erwidert Damien nachdenklich. »Moment, jetzt mal im Ernst … ist sie nüchtern?« Übertrieben betont schaut er zum Kellerfenster raus. »Kann deine Seele uns vielleicht nach Hause fahren?«

Crystal schickt einen genervten Seufzer nach oben, verdreht die Augen angesichts der kollektiven Ignoranz der Menschheit und lässt sich in die Sofakissen sinken. Während sie langsam und gleichmäßig hinab auf den staubigen Teppichboden rutscht, steckt sie die Hand in einen riesigen Plastikbecher und zieht einen Papierstreifen (den ich sehr sorgfältig ausgeschnitten habe!) heraus. »Was wärst du lieber?«, liest sie resigniert-gelangweilt vor. »Ein Vogel oder eine Schlange?«

˜

Am Anfang habe ich aus meinem Liebeskummer vermutlich so eine Art krankhafte Befriedigung gezogen – Stellt euch mal vor, mit wie vielen Songs ich plötzlich was anfangen konnte! –, aber jetzt will ich nichts anderes als einfach nur wieder glücklich sein. Leider habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Ich bete zu jedem Gott, der mir zuhören will, zu jedem Gott, der bereit ist, in diesen Keller der jugendlichen Sünden herabzusteigen, dass er bitte noch ein einziges Wunder wirken soll. Ich brauche kein Brot und habe meinen eigenen Wein, aber wenn er es schafft, aus meiner jämmerlichen menschlichen Hülle wieder mehr zu machen als nichts, dann werde ich nie wieder sündigen. Versprochen. Dann besuche ich jeden Mittwoch die Bibelstunde, erledige sämtliche Prüfungsvorbereitungsaufgaben und trinke nichts Stärkeres mehr als den Abendmahls-Traubensaft.

SAT (Scholastic Assessment Test):

SÄTZE VERVOLLSTÄNDIGEN

Wählen Sie das Wort/die Wörter, mit dem/denen sich die folgenden Sätze am sinnvollsten vervollständigen lassen.

1. Vergib mir, Vater, denn ich habe den Wodka meines Dads gestohlen und damit diese Party hier überhaupt erst in Schwung gebracht – diese __________________ Party, die ich am liebsten auf der Stelle verlassen würde.

A) ausschweifende

B) abschweifende

C) entwürdigende

D) Entwürdigung

2. Vergib mir, Vater, denn ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich bin zu ______________ um zu fahren und zu ____________________ um Spaß zu haben.

A) betrunken; nüchtern

B) besoffen; trübsinnig

C) sternhagelvoll; deprimiert

D) im Arsch; im Arsch

3. Vergib mir, Vater, denn ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich war doch immer so __________________________.

A) glücklich

B) glücklich

C) glücklich

D) glücklich

˜

Meine diversen Cocktails sorgen nicht dafür, dass ich mich weniger einsam fühle, also kippe ich einen Shot.

Der teilt die Wolken in meiner Brust und lässt die Sonne scheinen. Ihre Strahlen breiten sich überall aus, wärmen mir das Herz und wickeln sich um jede einzelne Rippe, strömen durch meine Schultern und Arme, durch meine Ellbogen bis in die Fingerspitzen, wärmen mir die Magengrube und fließen weiter nach unten, nach unten, ja, auch dorthin, erfassen jeden Zentimeter meiner Oberschenkel, meiner Knie, meiner Schienbeine und Waden, bis die warmen Strahlen, die leise »Alles wird gut« flüstern, sogar meine Füße massieren.

Das fühlt sich so gut an, dass ich sofort zwei weitere Shots nachlege.

Und dann noch einen.

Ich lache, weil jemand einen Witz gemacht hat. Ich hab zwar überhaupt nichts verstanden, aber ich lache ungefähr so laut wie alle anderen auch. »Aufhören. Ich kann nicht … ich kann nicht mehr«, sage ich, und mein Grinsen ist so breit wie die 18 Mile Road, die Hauptstraße, die mein Bruder irgendwann entlangfahren muss, um mich abzuholen, weil ich jetzt so richtig angefangen habe zu saufen. Mein Bruder, der nicht nur perfekt ist, sondern auch niemandem vorgaukeln muss, dass er glücklich ist.

Ich kippe noch einen Schnaps. Er schmeckt wie Nagellackentferner und nasses Gras und sorgt dafür, dass die Decke sich allmählich absenkt. Der Raum wird enger. Eine niederträchtige Falle in einer Vorstadt-Version von Indiana Jones.

Ich muss hier raus.

Gerade, als ich mich auf den Weg nach draußen machen will, prescht Jeff White auf mich zu. »Wir wollen Haley überreden, auch zu kommen«, erklärt er mir. »Schnell! Sei cool«, lautet seine Regieanweisung, während er mir sein Smartphone vor die Nase hält. »Das soll cool sein? Mann, kein Wunder, dass Beckett dich abserviert hat.«

Ich habe ihn abserviert, will ich schreien. Aber wen interessiert’s?

Er schickt das Foto ab und wartet mit wippendem Kopf auf eine Antwort. Ungeduldig schubst er seinen besten Freund Spurling gegen einen freien Hocker. »Ab aufs Trampoliiiin«, brüllt er dann.

»Wenn meine Nachbarn dich sehen, dann schneide ich dir die Eier ab!«, schreit Lisa ihm hinterher.

»Du hast echt nichts als meine Eier im Kopf.«

»Würde sich kaum lohnen. So groß sind die ja nicht.«

Ich sehe Jeff hinterher, wie er förmlich die Treppe hochfliegt, und noch bevor mein Gehirn überhaupt verarbeiten kann, was sich da in mein Blickfeld schiebt, noch bevor ich um eine Entführung durch Außerirdische oder eine spontane Verpuffung beten kann, noch bevor ich genügend Zeit habe, so zu tun, als wäre ich so gut drauf wie noch nie, sehe ich ihn.

Beziehungsweise, nicht ihn, aber seine ausgebleichten, grauen Chuck Taylors mit den extralangen Schnürsenkeln, doppelt um das Fußgelenk gewickelt, und ich weiß sofort, dass er es ist.

Warum ist er hier? Damit habe ich nicht gerechnet. Das ist ja der einzige Grund, weswegen ich überhaupt hier bin. Wieso taucht er hier auf? Das ist meine Party. Ich habe sie erfunden. Das ist meine Party und wenn ich will, kann ich auch heulen, aber ich will es wirklich, wirklich, wirklich nicht, also warum ist er hier?

Und warum schaut er als Allererstes mir in die Augen?

Entropie

Ich starre die Treppe an, während er die Stufen runterkommt.

Wahrscheinlich sieht es so aus, als hätte ich den ganzen Abend lang nur dorthin gestiert und auf ihn gewartet.

Auf ihn.

Er, der den Monat seit unserer Trennung offensichtlich dazu genutzt hat, noch gut aussehender zu werden.

Eine Sache kann ich John nicht vorwerfen: Er hat immerhin so viel Zeit verstreichen lassen, dass ich glauben kann, das Ende unserer Beziehung hätte nichts mit dem Talentwettbewerb zu tun gehabt. Als ich irgendwann vorsichtig erwähnt habe, ich hätte das Gefühl, wir würden uns auseinanderentwickeln, hatte er sich schon die Schnürsenkel zugebunden, bevor ich meinen Satz beendet hatte. »Stimmt. Meinst du, wir sollten uns trennen?«

Ich war schockiert. »Überhaupt nicht. Ich frage mich nur, wieso du so distanziert bist.«

Tja, wie sich herausgestellt hat, hat John einfach keine Verbindung mehr gespürt.

Meine Güte, da kriege ich ja sogar bei einem Physiktest, bei dem ich so mittelgut abschneide, mehr Erklärungen.

Aber ich weiß, wieso. Wirklich. Er hat sich schon vor der Talentshow verraten: Halloween in unserem ersten Jahr auf der Highschool. Dazu müsst ihr wissen: Alles, was ich jemals im Leben – in meinem ganzen Leben – wollte, war, mich zusammen mit meinem festen Freund als Pärchen zu verkleiden. Und jetzt hatte ich endlich einen festen Freund. Außerdem war ich ganz besonders stolz auf meinen Vorschlag, weil John solche Muskelberge hat und ich ein kicherndes, dünnes, verknalltes Etwas war.

»Wie wär’s, wenn du als Popeye gehst und ich als Olive Oyl?«

Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, hat er geantwortet: »Mark, Alter, wenn ich mit einem Mädchen zusammen sein wollte, dann wäre ich mit einem Mädchen zusammen. Und außerdem … sind die Popeye-Cartoons nicht mindestens hundert Jahre alt?«

Ich glaube gar nicht, dass er das Ganze besonders ernst gemeint hat, aber trotzdem bin ich überzeugt, dass dort die Antwort zu finden ist. Es ist heutzutage keine Sünde mehr, dass ein Junge einen anderen Jungen liebt. Ich denke, das haben wir hinter uns. Die Typen, die immer noch homophob sind … also, mit denen will man sowieso nichts zu tun haben. Aber ein Junge, der sich als Mädchen verkleidet? Tja, da ziehen wir die Grenze. Wenn Damien und Joe so was machen, dann ist allen klar, dass es ein Witz sein soll. Aber ich? Das wäre ein bisschen zu nah an der Wahrheit. John ist der Typ des »Das-hätte-man-niemals-vermutet«-Schwulen (eindeutig der beliebteste Typ in Annondale), und das konnte er unmöglich für einen Freund im knappen Kleidchen aufs Spiel setzen.

Trotzdem, inzwischen war ein ganzer Monat vergangen. Es hätte nicht immer noch so schrecklich wehtun dürfen.

Aber wenn man will, kann man einen Großteil seiner Zeit damit vergeuden, darüber nachzudenken, was eigentlich alles nicht sein dürfte. Dabei ist das Leben eben, wie es ist: hart.

Und ich starre immer noch die Treppe an.

Seine Haare sind struppiger als sonst, und er kommt mit einer Lässigkeit angeschlendert, die ich am liebsten klonen würde.

Er klopft auf Schultern, rempelt Oberkörper an und wirft mit Spitznamen um sich wie die Typen während einer Basketball-Halbzeitshow mit T-Shirts. Seine Hemdsärmel sind so eng, dass sie die Umrisse seiner mandelförmigen Schultermuskeln wunderbar zur Geltung bringen, und so kurz, dass man bei jeder Begrüßung seinen gespannten Bizeps sieht. Wie Flüsse bahnen die Adern sich ihren Weg seine Unterarme entlang bis in seine Hände. Diese Hände. Dieses Lächeln.

Ich habe eine Frage, aber ich will sie ihm nicht stellen.

Waren deine Augen schon immer so grün?

Seine Pupillen sehen aus wie winzige Trampoline. Ich lege mich auf sie.

Trampolin. Polypropylen. Ein thermoplastischer Kunststoff aus der Gruppe der Polyolefine ([C3H6]n), der in den unterschiedlichsten Bereichen verwendet wird, unter anderem auch bei der Produktion von Rucksäcken und Trampolinmatten.

Ich versinke im dunklen Polypropylen seines Blicks.

Nein. Nein. Kein Polypropylen. Keine Trampoline.

Aber es gibt kein Entkommen. Seine Augen sind keine Fenster, sie sind eher wie kleine Schwarze Löcher, die meine Seele verschlingen.

»Wenn ein Objekt [wie beispielsweise ein homosexueller Sechzehnjähriger] in ein Schwarzes Loch eintritt, steigt die Temperatur. Damit erhöht sich auch der Entropie-Horizont – die Maßeinheit für die innere Unordnung eines Objektes –, und zwar so lang, bis das Objekt verschwunden und für immer verloren ist.«

Ich erwache gerade noch rechtzeitig aus meiner Starre, bevor ich für immer verloren bin.

John zieht die Augenbrauen nach oben. Ich komme mir bescheuert und betrunken gleichzeitig vor, und bevor ich etwas noch Bescheuerteres machen kann, drehe ich mich zu Joe Thomas um und stelle ihm eine Frage über Football.

Unglücklicherweise kommt John zu uns. »Was geht, Joe?«

Jeff hüpft die Treppe herunter und ruft John ein lautstarkes Hallo entgegen. Dann springt er ihm auf den Rücken, während Joe drei Schnapsgläser füllt, je eines für Jeff, Joe und John.

Ich habe keine Ahnung, wieso ich jetzt den Mund aufmache. »Eine ›J‹-Partyyy!«

Noch bevor ich diese Worte ganz ausgesprochen habe, bereue ich sie schon wieder. Das klingt dermaßen nach schlechtem DJ auf einer Bar-Mitzwa. Ich versuche, es zu erklären, nur für den Fall, dass mein atemberaubender Sinn für Humor mein Publikum ein bisschen überfordert. »Ich … ääh … also … J-Party. JeffJoeJohn.«

»Ja, klar, wir ham’s kapiert, Mark Party«, erwidert Jeff abfällig, während die drei ihre roten Becher erheben und einander zuprosten.

»Auf das Leben.«

»Auf die Liebe.«

»Auf Lacrosse!«

Ich stehe nur daneben und grübele nach, welche lächerliche Version meines Ichs es für eine gute Idee gehalten hat, »J-Party« zu rufen.

Während der Lacrosse-Saison baut John richtig Brustmuskeln auf. Sie zeichnen sich als kopfstehende Parabeln unter seinem weißen T-Shirt ab. Sein Lachen ist, wie immer, offen und ernsthaft zugleich, voller Wohlwollen für jeden, der in seinen Genuss kommt. Jedes Dezibel, jedes Gramm, jeder Zentimeter von John macht mir erneut bewusst, wie unausweichlich das alles gewesen ist.

Mein Gehirn fängt an zu schwimmen. Wörter bewegen sich in Zeitlupe vorwärts. Scheiße. Ich mache den Test, von dem mein Bruder mir erzählt hat, und … die Decke dreht sich tatsächlich.

Ich stelle meinen Becher ab und bringe endlich doch den Mut auf, dieses Macho-Gefängnis zu verlassen.

Ich drehe mich um. Er sieht mir nach.

O Gott, es wäre so viel cooler gewesen, wenn ich mich nicht umgedreht hätte.

Er verabschiedet sich mit einem Fist Bump von Joe und Jeff und kommt auf mich zugeschwebt.

»Wo willst du denn hin?« In gespielter Verwirrung hebt er die Hände.

»Weg von dir.« Mir ist nicht nach Spielen zumute.

»Bin ich etwa so ein mieser Kerl?« Er lächelt. »Süß siehst du aus.«

»Was soll das werden?«

»Wie meinst du das? Wir unterhalten uns doch nur.«

»Das hier ist meine Party«, sage ich, während die Party mehr und mehr in den Hintergrund rückt und die ganze Welt nur noch aus John besteht.

»Mark, wir müssen uns doch wenigstens noch über den Weg laufen können.« Er legt mir eine Hand auf die Schulter, aber ich streife sie ab. »Du bist doch sonst nicht so. So wütend.«

»Ich bin überhaupt nicht wütend«, entgegne ich wütend.

»Gut siehst du aus. Hast du Spaß? Hast du schon Flaschendrehen gespielt?«

»Mit wem denn? Auf wen soll ich denn die Flasche drehen? Oder … keine Ahnung, was die richtige Präposition ist für … das eben.«

»Du bist der einzige Mensch, der im besoffenen Zustand an Präpositionen denkt.«

»Wem sich die Flasche dreht«, entgegne ich und betone dabei jedes Wort überdeutlich, fast schon poetisch.

»Du bist echt seltsam.« Er lacht. »Machst du eigentlich immer noch …«

»Im Ernst, ich kann dich im Moment nicht beplaudern.« Genervt schnaufend blicke ich hoch an die Decke. Sie dreht sich.

Er lacht sein perfektes, gottverdammtes Lachen. »Du kannst mich nicht beplaudern?«

»Lass mich in Ruhe. Ich bin grammatikalisch ein bisschen unsortiert, momentan …« Meine Stimme kriegt einen flehenden Klang. »Ich kann nicht mit dir plaudern.«

»Wie hat Eric immer gesagt? ›Beschwipst ist gut, besoffen ist schlecht.‹«

»Besoffen ist gut, du bist schlecht.«

»Wie geht es Eric denn so, da oben an der Northwest…«

»Ich kann nicht. Tut mir echt leid. Wir haben mal jede Sekunde miteinander verbracht. Meine Oma weiß, dass du keine Tacos mit Kopfsalat magst! Und jetzt stehen wir hier und ›plaudern‹ miteinander?« Meine Augenlider fühlen sich unendlich schwer an. »Ich wollte doch bloß einen Abend haben. Einen einzigen Abend. Es ist schon schlimm genug, dass mich alles an dich erinnert. Es wäre mir echt lieber, wenn du mich nicht auch noch an … an dich erinnern würdest.«

»Das ergibt doch gar keinen Sinn.« Sein perfektes, gottverdammtes Netflix-Romcom-Lachen.

»Es ergibt eben doch Sinn«, entgegne ich trotzig. »Das ist ein Syllogismus … oder so ähnlich. Du weißt schon, so wie ›Wer aufgibt, wird niemals siegen.‹« Meine Handbewegungen werden ausladender. »Solipsitisch.«

»Alles klar. Du brauchst nicht noch mehr Schleifchen dran zu machen, Prinzessin Thesaurus.«

»Weißt du, das kann auch nur mir passieren, dass mein einziger schwuler Mitschüler gleichzeitig der homophobste von allen ist.«

»O mein Gott.«

»Aber weißt du, was? Du brauchst dich damit überhaupt nicht mehr zu beschäftigen … weil meine Eier nämlich nicht mehr in deinem Körbchen liegen!«

»Was soll das denn heißen?« Diesmal verkneift er sich das Lachen, als wäre er in der Kirche.

»Dein Pech, weil aaaalle meine Eier …« Ich begleite meine Worte mit einer dramatischen Bewegung meiner Arme. »… jetzt in meinem Körbchen liegen.«

Ich finde, das klingt nach einer sehr tiefsinnigen Schlussbemerkung, die sich vor den großen Single-Hymnen nicht verstecken muss. Darum stürme ich triumphierend davon, mit entschlossenen Schritten, um allen zu zeigen, dass ich voll und ganz im Reinen mit mir bin. Meine Schritte sind sogar so entschlossen, dass ich kaum erschrecke, als ich gegen den Klapptisch mit den Snacks und den Drinks laufe und das ganze Zeug auf dem Boden landet. Das Knistern der Keksverpackungen, der Aufprall der Wodkaflaschen und das Rascheln des Herbstlaub-Tischtuchs für 99 Cent vereinen sich zu einem Choral der abgrundtiefen Peinlichkeit, während mich alles, was an der Annondale Highschool Rang und Namen hat, mitleidig beobachtet.

»Gott, der ist so was von im Arsch«, flüstert irgendjemand, als ich verzweifelt versuche, die Flasche Absolut zu retten, bevor sie komplett ausläuft. Joe Thomas ist mir großzügigerweise dabei behilflich, die Kartoffelchips einzusammeln und wieder in das mit einer Serviette ausgekleidete Körbchen zu legen.

»Touchdown«, sage ich zu Joe, als wir nebeneinander knien. Er sieht mich verwirrt an, und zwar zu Recht. Dieser Augenblick ist das genaue Gegenteil eines Triumphs. Und dann rufe ich mit schwerer Zunge in die niederschmetternde, ohrenbetäubende Stille hinein: »Alles okay … all’s okay. Is’ bloß’n neues Spiel. Für den Flashback-Abend. Heißt Sieben Minuten in der Hölle. Und ich hab gerade gewonnen.«

Sternbilder

Ich warte am Straßenrand auf meinen Bruder, so weit wie möglich vom Haus entfernt. Die Laternen der Hauptstraße tauchen das ansonsten stockdunkle Viertel in schwaches Licht. Es ist total still, bloß aus Lisas Keller dringt das leise Wummern der Bässe nach draußen. Die Häuser sehen aus wie tot.

Ich lasse mich ins Gras sinken und schaue zu den Sternen hinauf, aber ich finde nicht einmal den Großen Wagen.

Was soll’s. Sternbilder sind sowieso Schwachsinn. Kann es eine größere Beleidigung für die Sterne geben, als sie willkürlich zu irgendwelchen Bildern zusammenzusetzen? Dieses wunderschöne, lebendige Chaos des Universums … und wir finden es besser zu sagen, dass es aussieht wie ein Löffel.

˜

Mit knirschenden Reifen bleibt Erics dunkelblauer Jeep am Bordstein stehen.

»Finstere Zeiten an der Annondale High?«, fragt er und dreht die Musik leiser. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen.

»Highlife im finsteren Annondale.«

»Heilige Scheiße, Batman, wie du lallst! Hast du gesoffen? Wo ist dein Auto?«

»Ich bin Robin. Hol ich morgen ab.«

»Wie war dein ursprünglicher Plan?«

»Hatte keinen.«

»Wer vergisst zu planen, der plant …«

»Hör bloß auf mit diesem Glückskeks-Gelaber.«

»Na ja, wenn ich schon auf die entgegengesetzte Seite der Stadt fahre …« Er stößt rückwärts in die Einfahrt von Lisas Nachbarn und wendet in Richtung Hauptstraße. »… und außerdem noch riskiere, dass du mir auf die Sitze kotzt, dann kannst du mir wenigstens verraten, was verdammt noch mal heute Abend passiert ist.«

»Ich bin ein Idiot.«

»Erkenne dich selbst.«

»Du bist ein Idiot.«

»Wut ist nichts anderes als nach außen gerichtete Angst.«

»Aaaaahhhh! Du hast echt für alles einen Spruch. Also gut. Ich hatte Spaß und habe mir zu starke Drinks gemixt.«

»Du selber? Oder hast du sie von jemand anders gekriegt?«

»Nein! Hab sie selber gemacht, so, wie du’s mir beigebracht hast. Aber ich hatte einen schlechten Einfluss auf mich.« Eric biegt aus dem dunklen Wohnviertel in das helle Licht der Laternen auf der Coolidge Road. »Ich wollte doch nur ein bisschen Spaß haben. Und gerade, als ich fast so weit war, da … ich hatte buchstäblich einen von diesen leckeren Cookies mit den Streuseln und diesem fetten Zuckerguss-Pfannkuchen oben drauf … also, ich hab den in der Hand und mein Abend ist so kurz davor, perfekt zu werden, und dann …«

»Taucht John auf«, beendet Eric meinen Satz. Wir stehen an einer roten Ampel und er dreht sich zu mir. »Habt ihr miteinander geredet?«

»Die gleiche Scheiße wie immer. Dass ich eine Tunte bin. Und emotional.«

»Willst du mich verarschen? Das hat er gesagt? Auf einer Party?«

»Ja, wirklich. Schätze ich mal. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Aber so was in die Richtung. Jedenfalls hat er Tunte gesagt. Glaube ich.«

»Alteeeer.« Er zieht die letzte Silbe in die Länge und schmettert sie in den Nachthimmel. »Du musst dich doch nicht so besaufen. Ja, klar, manche Leute brauchen das, weil sie nur so Spaß haben können. Aber du kannst das auch ohne Alk. Du musst es doch nicht gleich übertreiben.«

»Ich bin gerade nicht spaßig drauf.«

»Ja, ich weiß, dass das im Moment schwer zu glauben ist, wenn du mittendrin steckst, aber das geht vorbei. Und eines Tages wirst du auf das Ganze zurückschauen und denken: ›Verdammte Kacke, ich kann nicht fassen, dass ich mal so viel Energie auf John Arschloch Beckett verschwendet habe.‹«

»Du checkst eben nicht, wie scharf er ist. Das liegt an deinen heterosexuellen Augen.«

»Du bist echt im Arsch.«

Ich brülle die leere Straße an: »Ich bin echt im Arsch!«

»Kann ich dir mal was sagen?« Erics Augenbrauen wandern nach oben bis zu seinen kurz geschnittenen, eindeutig braunen Haaren. Nur braun. Keine weitere Beschreibung nötig. Und wenn er sich morgens die Haare macht, dann bleiben sie den ganzen Tag lang genau so. In der Zwischenzeit muss sein straßenköterblonder, kleiner Bruder eine Dose Haarspray mit sich rumschleppen, weil seine Haare in der vierten Pause so aussehen, als hätte er auf einem Jetski Mittag gegessen.

»Sag’s mir. Sag mir alles! Es kann auf keinen Fall schlimmer sein als die Tatsache, dass ich zu den privilegierten 0,1 Prozent der schwulen Schüler in den USA gehöre, die einen ultrascharfen schwulen Mitschüler haben und die ganze Kiste gegen die Wand gefahren haben, nur weil sie ihm zu schwul sind.« Die Silben kleben aneinander wie labberige Nudeln.

»Du solltest dir ernsthaft überlegen, heute Abend kein Wort mehr zu sagen.«

»Duuu kanns’ dir mal ernsthaft überleg’n …«

»Er ist nicht der Richtige für dich.«

»O mein Gott, ich hab ihn eine J-Party genannt.«

»Er ist nicht der Richtige für dich.«

»Ich bin in deinem Auto eingesperrt!«

»Hör mir zu. Du willst es zwar nicht hören, aber es stimmt. Er ist es nicht. Ein Lacrossespieler? Komm schon, Mark.«

»Das ist ein Klischee.«

»Ich mein ja nur. Er ist ein netter Typ, aber nicht der Richtige für dich.« Eric packt das Lenkrad fest mit beiden Händen. Seine Arme sind kräftig, so wie meine es auch sein sollten. Dann nimmt er die rechte Hand weg und klopft mir gegen den Kopf. »Und ich glaube, irgendwo da drin in deinem kleinen, feuchten Gehirn kapierst du das auch.«

»Du hast ein feuchtes Gehirn.« Ich wische seine Hand weg und schaue zum Fenster raus.

»Und willst du die Wahrheit hören? Die größere Wahrheit? Kleiner Bruder, in einer guten Beziehung willst du mehr du selbst sein. Und nicht weniger.«

»Weißt du, was du bist? Ein Glückskeks mit Führerschein.«

»Halt die Klappe, du Tunte. Ich bin außerdem ein Glückskeks, der das Schicksal deines vorletzten Schuljahrs in den Händen hält. Falls Mom und Dad erfahren, wieso ich dich abholen musste, dann gehst du an den Wochenenden zukünftig nirgendwo mehr hin, außer in die Kirche.« Ich hole aus, um ihm eine zu verpassen, treffe aber stattdessen das Deckenlicht. Er schlägt meine Hand zurück in meinen Schoß. »Und ich mein’s wirklich vollkommen ernst, Kleiner, aber in einer guten Beziehung blühst du so dermaßen auf, da willst du so voll und ganz du selbst sein, dass du sogar die Teile deiner Persönlichkeit, die du nicht leiden kannst, anfängst zu lieben. Dann fragst du dich nicht mehr, ob du vielleicht zu sehr dies oder zu sehr das bist. Dieser eine Mensch liebt dich, gerade weil du zu sehr dies und zu sehr das bist. Er will sogar, dass du noch mehr zu sehr dies oder zu sehr das bist.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«

»Du bist sechzehn. Nur Geduld. Dass das zwischen euch zu Ende gegangen ist, bedeutet nicht, dass es ein Riesenfehler war. Und außerdem … du gehst auf die Highschool und hast über ein Jahr lang eine halbwegs funktionierende Beziehung gehabt. Das ist doch eigentlich ziemlich gut.«

»Aber nur, weil er keine Auswahl hatte.«

Eric verpasst mir einen Schlag auf den Hinterkopf und trifft sehr viel genauer als ich vorhin. »Diese Nummer mit dem Selbstmitleid steht dir überhaupt nicht. So bist du nicht.«

»Ich will zu Taco Bell.«

Und auch der König mit seinem Heer

Als ich Montagmorgen unsere Küche betrete, die über und über mit Hühnern verziert ist, rührt Mom gerade in einem Schmortopf. »Mom, kannst du die Erlaubnis für den Chorausflug unterschreiben?«

Sie legt die Huhn-Suppenkelle auf den Huhn-Suppenkellenhalter und trocknet sich die Hände an dem Huhn-Handtuch ab, aber Dad ist schneller.

»Ein Ausflug mit Übernachtung, was, Kleiner?« sagt er und dreht sofort auf. »Ich hoffe nur, du machst keinen Blödsinn da im …« Er pausiert und sucht nach dem Veranstaltungsort. »… im Springhill Suites by Marriott Midland.«

Genau deswegen gebe ich solche Sachen immer meiner Mom.

»Dad, es ist ein Chorausflug. Nach Midland. Mach schon, ich komm sonst zu spät.«

Er überfliegt den Zettel. »Ja … ja … sieht gut aus …« Er liest wahnsinnig langsam. »Du kennst deine Adresse, das ist gut. Ausgezeichnet. Die Handschrift beweist, dass du erwachsen bist. Gute Arbeit. Kennst den Geburtstag deiner Mutter. Eine glatte Eins in Ahnenforschung!« Bei jedem dieser Worte verdrehe ich die Augen. »Ah, nein.« Er streicht etwas durch. »Festnetznummer für Notfälle, Kleiner. Festnetznummer.«

»Ach so. Stimmt.« Ich lache. »Kannst du dir vorstellen, was Mom im Notfall mit ihrem Handy machen würde?«

Dad imitiert eine gestresste Mom. »Klingelt es etwa? Oder ist das mein Wecker?«

Ich mache mit. »Wie kriege ich das Foto aus der Textnachricht in das iPhoto?«

Mom nimmt ihre Hühnerschürze ab und funkelt uns so verächtlich an, wie nur eine Midwest-Mom es kann. »Von einem Notfall kann nicht die Rede sein, egal auf welchem Telefon«, sagt sie einen Hauch ernster, als es nötig gewesen wäre. Sie verteidigt ihre Stellung als letzte Festnetztelefonbesitzerin in den USA. »Beim Festnetz ist jedenfalls nie der Akku alle.«

»Mom, ist doch nur Spaß. Es geht um einen beschissenen Ausflug.«

»Sag zu deiner Mutter nicht ›beschissen‹.«

Mit der unterschriebenen Erlaubnis in der Hand schleife ich meinen Rucksack durch das feuchte Gras in unserem Vorgarten und wende mich einer sehr viel wichtigeren Aufgabe zu: beten, dass mein Klapptisch-Desaster nicht das Gesprächsthema des Morgens ist.

˜

»Hey, Mann, hast du ein Schwein gehabt.« Im Schulflur hält Damien mich an meinem Rucksack fest, um mich einzuholen. »Als du weg warst, hat Reid Meyers aus Versehen ein Stück Kautabak verschluckt, und als er dann Beth Dorsey küssen wollte, hat er auf das Trampolin gekotzt.«

»Und auf Beth Dorsey«, fügt Crystal hinzu. Sie setzt eine ernste Miene auf. »Du hättest dich zumindest verabschieden können.«

»Ich musste fliehen.«

Damien hüpft ein paar Schritte voraus und dreht sich dann zu uns um. »Als du draußen warst, hast du da zufällig Crystals Seele aus einem Busch linsen sehen?«

Sie gibt ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Das macht durchaus Sinn, wenn du mal darüber nachdenken würdest.«

»Im Augenblick muss ich meine gesamte Denkfähigkeit auf Physik konzentrieren.«

»Stimmt ja. Diejenigen von uns, die in den schwächeren Kurs gehen, haben jede Menge Hirn übrig, um über das Leben nachzudenken. Du hast es echt drauf, Damien.« Crystal verdreht die Augen, und Damien verzieht entschuldigend das Gesicht.

Crystal ist ein echtes Genie, aber in der Schule schaltet sie irgendwie ab. Damien ist wahnsinnig schlau, aber seine guten Noten haben vor allem mit seiner Unsicherheit zu tun: Wenn ich wirklich an mich glauben würde, dann würde ich vielleicht nie ein Studium anfangen. Ich dagegen bin ein Idiot, der unbedingt auf einen besseren Notenschnitt als sein großer Bruder kommen will, und der hatte eine 1,1.

»Hey, Suffkopf«, ruft Haley mir, ohne anzuhalten, entgegen, als wir uns auf der breiten Haupttreppe begegnen. »Freitag.« Sie klopft mir auf den Rücken, während das erste Klingeln unsere Schritte beschleunigt. »Und sei gefälligst verdammt gruselig.«

Kommenden Freitag: Haley Stewarts alljährliche Halloween-Party des Grauens.

Damien legt den Kopf schief. »Ich glaube, für Haley ist die Schule einfach nur der langweilige Teil zwischen den Partys.« Er sieht Crystal an, als sie nicht nach links in den Flur zu den Englischräumen abbiegt, sondern nach rechts, wo es zu den Schulbüros geht. »Wo willst du denn hin?«

»Hab einen Termin mit Mrs Pointer«, erwidert sie und tut so, als würde sie schon bei dem Gedanken an unsere nervtötend verständnisvolle Beratungslehrerin beinahe einschlafen.

»Worum geht’s?«

»Sie will mir bestimmt nur sagen, was ich für eine tolle Schülerin bin. Vielleicht soll ich für irgendjemanden Mentorin werden.«

»Crystals Weisheiten für verwirrte Neulinge«, füge ich mit demselben Sarkasmus hinzu.

Damien macht ein Gesicht wie meine Mom, als es um das Festnetztelefon ging. »Na dann, viel Glück.« Er drückt ihren Arm und ruft mir, bevor wir uns trennen, zu: »Als Feuerwehrmann zu Haleys Party? Bist du dabei?«

»Wie alt sind wir? Zwölf?«

»Sexy Feuerwehrmänner, Bro.«

»Was soll das denn heißen?«

»Na ja, jedenfalls musst du dich bis heute Abend entscheiden. Skinner kauft die Helme.«

Nach dem Olive-Oyl-Drama hatten John und ich uns irgendwann doch einen Ruf für süße Pärchen-Kostüme erarbeitet. In der neunten Klasse war ich eine Hälfte von Mario und Luigi (auch wenn ich lieber Prinzessin Peach gewesen wäre). In der zehnten Klasse war ich eine Hälfte von Batman und Robin (auch wenn ich lieber Catwoman gewesen wäre).

In diesem Jahr bin ich eine Hälfte von Nichts.

Und jeder Drittklässler mit einem Taschenrechner weiß, dass die Hälfte von Nichts gar nichts ist.

Mein Handy vibriert.

»Handy weg, Mr Davis«, brüllt der stellvertretende Schuldirektor Dr Cook, dessen einziger Lebenssinn darin zu bestehen scheint, Schülerinnen und Schüler daran zu hindern, in den Pausen ihre Nachrichten zu lesen.

Gestern Abend, als Eric und ich unser neunhundertzweiunddreißigstes aufmunterndes Gespräch über FaceTime hatten, habe ich ihm versprochen, dass ich »diesen Montag voll angreifen werde«. Davor hatte ich rumgejammert, dass es sich anfühlt, als wäre John der eine Jenga-Stein gewesen, der den ganzen Turm zusammengehalten hat, und dass ich ohne ihn nur ein Haufen umgestürzter Holzklötze sei. Eric hatte sich auf meine dämliche Metapher eingelassen, aber gesagt, dass ich komplett falschliege. »Du wirst schon sehen. Dein Jengaturm ist kurz davor, an den Wolken zu kratzen.«

Ich werfe noch einen schnellen Blick aufs Display, sobald ich sicher bin, dass Dr Cook außer Sichtweite ist.

Ich schicke ihm ein GIF von Humpty Dumpty, nachdem er von der Mauer gefallen ist.

(Kennt ihr eigentlich das Kindergedicht von dem zerbrechlichen Ei namens Humpty Dumpty? Es geht so:

Humpty Dumpty saß auf dem Eck,

Humpty Dumpty fiel in den Dreck,

und auch der König mit seinem Heer,

rettete Humpty Dumpty nicht mehr.« )

»Noch ein Mal, und das Ding gehört mir!«, brüllt Dr Cook.

Der Typ ist wie ein Chamäleon, das die Gestalt eines beigefarbenen Backsteins annehmen kann.

Ich rede nur äußerst ungern über meine Probleme, nicht einmal mit Damien oder Crystal … irgendwie habe ich das Gefühl, es ist meine Aufgabe, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, und es wäre nicht richtig, andere Leute damit zu belasten. Aber bei meinem Bruder macht mir das nichts aus. Und außerdem lebt er geradezu dafür, anderen zu helfen. So ist er schon seit Ewigkeiten. Als wir noch klein waren, hatte Eric eine Art Erleuchtung: Er war krank und konnte nicht zur Schule gehen und hat im Fernsehen eine Sendung mit einem Therapeuten gesehen, der allen möglichen Familien Ratschläge gegeben hat. Da ist ihm klar geworden, dass man das Leben genau so lernen kann wie Mathe. »Und das ist viel sinnvoller, als diesen beschissenen Sinussatz auswendig zu lernen.« Für Eric ist Glück also nichts anderes als ein standardisierter Test. Schwierig vielleicht, aber wenn man fleißig genug lernt und sich die richtigen Formeln einprägt, dann kann man es schaffen.

Ich stecke mein Handy ein und suche in den Tiefen meiner Seele nach einer winzigen Spur Selbstbewusstsein. Dann biege ich in den etwas ruhigeren Englisch-Flur ab und …

Bäääämm.

Obwohl ich mir eine ganz bestimmte Strecke durch die Schule zurechtgelegt habe, nur um ihm nicht über den Weg zu laufen …

… ist er mitten in einer Gruppe, die mir lachend vom Ende des Flurs entgegenkommt.

Ganz locker bleiben, denke ich. Sag einfach nur »Hi.« Bisschen plaudern. Ganz locker plaudern.

Lange Neonröhren beleuchten den Weg, der direkt von mir zu ihm führt.

Ich lächele.

Atme ein.

Gehe normal.

Er sieht mich.

Manche Paare kommen ja tatsächlich wieder zusammen …

Ohne seine Schritte zu verlangsamen, nickt er mir zu.

Er nickt mir zu.

Wir war zwei Jahre lang zusammen.

Das tut mehr weh, als wenn er mich ins Gesicht geschlagen hätte.

Ich nicke zurück, aber zu spät. Ich nicke ins Leere.

Ich kann spüren, wie er sich von mir entfernt. Es fühlt sich an, als würde er Tauziehen mit meiner Lunge machen. Bei jedem Schritt wird meine Brust enger und enger, bis ich kaum mehr Luft bekomme, und vielleicht liegt es ja daran, dass Haley Stewart mir gesagt hat, ich soll gefälligst verdammt gruselig sein, oder weil mein persönlicher College-Dalai-Lama tatsächlich manchmal weiß, wovon er redet, oder vielleicht liegt es auch daran, dass ich einfach die Schnauze voll davon habe, ständig traurig zu sein, jedenfalls beschließe ich ein für alle Mal, dass ich der erste Humpty Dumpty sein werde, der sich selbst wieder zusammensetzt.

˜

Ich stehe den ganzen Tag unter Strom. Sofort nach der Schule facetime ich mit Eric.

»Nein, der Dreck muss weg«, erkläre ich ihm, während ich langsam die Stufen des Treppenhauses hinuntergehe. »Das mit John hat echt wehgetan. Dann ›fiel ich in den Dreck‹. Aber jetzt wischt Humpty Dumpty den Dreck einfach weg!« Ich unterstreiche meine Worte mit einer dramatischen Betonung. »Kapierst du? Weg mit dem Dreck!« Meine Stimme hallt über die weißen Stufen. Gleichzeitig fällt ein Sonnenstrahl durch die schmalen Fenster. Meine Schuhe quietschen auf dem Gummibelag des Fußbodens.

Eric bleibt vor einem altertümlichen Gebäude stehen. Sein Gesicht wird von roten und orangefarbenen Blättern umrahmt. Im Hintergrund huschen verschwommen Studierende vorbei. »Du weißt, dass ich bedingungslos auf deiner Seite bin, aber lass diese Humpty-Dumpty-Metapher sofort fallen.«

»Humpty Dumpty fallen lassen? Schon wieder? Ist er nicht oft genug abgestü…«

Eric legt auf. Als das Display dunkel wird, fällt mein Blick auf die Uhrzeit. In drei Minuten fängt die Musical-Probe an, und ich bin am anderen Ende der Schule. Um 14.40 Uhr soll ich komplett im Kostüm sein, weil es nur noch eine Woche bis zur Generalprobe ist, und falls die Kostüme nicht passen, dann muss Mrs Mould das heute wissen.

Ich rase durch den Mathe-Flur und versuche, nicht an die Rechenaufgaben zu denken, die ich noch erledigen muss. Ich laufe nach draußen und nehme eine Abkürzung zwischen den Klassenzimmer-Containern hindurch, die unserer Schule das Ambiente einer Wohnwagensiedlung verleihen. Mit brennenden Wangen renne ich wieder ins Gebäude, nehme die nächste Biegung vorbei an Mrs Pointers Büro und mir fällt ein, dass ich morgen die Formulare für das freiwillige Praktikum im Tierheim einreichen muss, damit ich bei der Collegebewerbung nicht so »eindimensional« rüberkomme. Ich sause an den Instrumentenschränken vorbei, wo sich morgens um sieben die Kids aus der Band zum Knutschen treffen, und komme endlich auf der Bühne an. Mein Atem reicht gerade noch für ein knappes Hallo in Richtung der eifrigen Neuntklässler, die schon bereit zum Auftritt in ihren dreiteiligen Smokings stecken.

Normalerweise führen wir im Herbst ein Theaterstück auf und im Frühling ein Musical, aber letztes Jahr war Alle meine Söhne von Arthur Miller an der Reihe, ein unfassbar deprimierendes Stück, von dem Annondale sich bis heute nicht erholt hat. Deshalb hat Mr Wagner gesagt, und zwar wortwörtlich: »Goodbye Drama und Hello, Dolly!«

Umgeben von aufgedrehten Kellnern und unechtem Sekt nehme ich einen tiefen Atemzug voll mit Sägespänen und Sprühfarbe und schnappe mir den Smoking, an dem ein Zettel mit »Mark« klebt.

Im Umkleideraum pfeffere ich meine billige Jeans, mein abgetragenes Flanellhemd und meinen viel zu vollen Rucksack in die hintere Ecke und schlüpfe in mein Kostüm. Die breiten, gepolsterten Schultern des Jacketts verleihen mir ein Gefühl von Stabilität und Stärke. Begleitet von einem zufriedenen Klacken klemme ich meine Fliege fest. Mein Atem normalisiert sich, während ich mit der Hand über das glatte Satin des Revers streiche. Ich sehe mich im Spiegel lächeln. Auch wenn mein Leben zurzeit mehr als traurig ist, aber in diesem Smoking bin ich ein reicher alter Mann, der die Dinge so was von im Griff hat.

»Verzeihung«, sage ich in majestätischem Tonfall, als ich einen großen Schritt über den Bühnenarbeiter – einen Zehntklässler – hinweg mache, der gerade dabei ist, ein Stromkabel auf dem Boden festzukleben.

Ich betrete die Bühne, als der Chef-Beleuchter ruft: »Jim, Saalbeleuchtung auf halb und volles Bühnenlicht mit Verfolgerspot für das Ende des ersten Aktes.«

Unmittelbar darauf flammen sämtliche Strahler auf. Es ist, als würden sich die Himmelspforten öffnen, und das genau bei meinem Auftritt.

Aber dann flüstert Mr Wagner ehrfürchtig und voller Bewunderung: »Simone.«

Ich drehe mich um und mir wird fast schlecht vor Neid.

Die Schönheit ihres Kleides raubt Mr Wagner sämtliche Kraft. Er lässt seinen Ordner mit den Regieanweisungen auf den grauen Teppich des Orchestergrabens fallen und wiederholt das einzige Wort, das ihm noch einfällt: »Simone.«

Dann stützt er sich an einer Armlehne in der ersten Reihe ab und hüpft auf die Bühne, tritt näher, legt behutsam eine Hand auf die Tüllspitzen ihres Rocks und fährt durch den Flaum ihrer Schulterpolster. Schließlich macht er einen Schritt zurück, immer noch sprachlos bis auf ein leise gehauchtes »Simone«.

Es ist rot wie ein Sonnenuntergang und flauschig wie eine Wolke.

Weite Ärmel und eine perfekte Taille.

Oben eng anliegend und funkelnd, unten weit und bauschig.

Es ist ein Kleid, das ein Herz zum Stillstand bringen kann.

Es ist ein Kleid, das eine ganze Szene dominieren kann.

Es ist ein Kleid, das einen schwulen Teenager in einem bescheuerten Smoking zu der Frage bringt, wieso nur Mädchen immer den ganzen Spaß haben dürfen.

Mrs Mould hat ihre rot gefärbten Haare zu einem unordentlichen Knoten gebunden, der nur mühsam von einem Bleistift zusammengehalten wird. Sie steht neben mir und flüstert mir zu: »Halloween City.« Es klingt, als würde sie mir ein schmutziges Geheimnis verraten.

Ich starre einfach geradeaus.

Es fühlt sich weniger so an, als würde ich etwas das erste Mal sehen, sondern eher wie eine Erinnerung. Während Mrs Mould ausführlich ihre Suche nach dem perfekten Abendkleid schildert, kommt mir ein zehn Jahre zurückliegendes Erlebnis in den Sinn.

Eric und ich saßen auf den Drehhockern in Herschel’s Diner. Wir teilten uns ein Stück Doppeldecker-Vanilletorte mit Vanilleguss und Regenbogenstreuseln und kamen uns sehr erwachsen vor, weil Mom uns erlaubt hatte, unseren Nachtisch an der Theke zu essen. Da ertönte die Türklingel und wir drehten uns zum Eingang um – hauptsächlich, weil wir ausprobieren wollten, ob die Drehhocker auch wirklich funktionierten.