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Von März bis Oktober 2023 bin ich quer durch Schweden gewandert - 4500 Kilometer von der Küste bis ins Hochgebirge, von der Großstadt bis in die Wildnis, vom äußersten Süden bis in den hohen Norden. In diesem Buch beschreibe ich Schritt für Schritt, was ich auf meiner Reise erlebt habe und warum Langsamsein manchmal alles andere ist als Zeitverschwendung.
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Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2025
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SÜDSCHWEDEN
Von Karlskrona nach Malmö
Von Malmö nach Göteborg
Von Göteborg zum Vättern
Vom Vättern nach Stockholm
Von Stockholm an den Siljan
NORDSCHWEDEN
Von Abisko auf den Kebnekaise
Vom Kebnekaise zum Polarkreis
Vom Polarkreis nach Klimpfjäll
Von Klimpfjäll nach Åre
Von Åre an den Siljan
Ich öffne die Augen und blinzle schlaftrunken in das orange Zwielicht der aufgehenden Sonne hinein. In gleichmäßigem Takt rumpelt der Zug über einen Flickenteppich aus Weiden, Äckern und Waldstücken. Links verläuft eine Schnellstraße, rechts schillert manchmal ein bisschen Ostsee durchs Fenster. Ein paar Sitze weiter vorn guckt eine dunkelrote Mütze über die Rückenlehne und irgendwo hinter mir ragt eine Schuhspitze in den Gang. Ansonsten bin ich allein im Wagon.
„Nächster Halt Karlskrona“ schnarrt es durch den Lautsprecher und draußen wird es rasch städtischer. Immer mehr Häuser tauchen auf, Straßenzüge, Kirchtürme, Parkanlagen, Spaziergänger mit Hunden. Ich wuchte meinen Rucksack aus der Gepäckablage und schwanke durch den Gang in Richtung Tür. An so viel Gewicht auf den Schultern muss ich mich erstmal wieder gewöhnen.
Mit einem leisen Quietschen kommt die Lok zum Halten. Die Wanderstöcke voran mache ich einen großen Schritt auf den Bahnsteig hinaus. Ein kurzes Pfeifen ertönt, dann rattert der Zug hinter mir davon und vor mir liegt Schweden. Das heißt, eigentlich ist da nur der menschenleere Bahnhofsvorplatz von Karlskrona, doch fühlt es sich für einen Augenblick so an, als breite sich das ganze Land vor mir aus: In der Ferne die hohen Gipfel, dann die tiefen Wälder und riesengroßen Seen und schließlich die wilden Flüsse, die sich zum Meer hinabschlängeln.
Ein bisschen euphorisch und ein bisschen zögerlich gehe ich die ersten Schritte. Ich bin todmüde von der langen Anreise und zugleich hellwach. In mir rumort eine nervöse Unruhe irgendwo zwischen Übermut und Zweifel, Verzagtheit und Tatendrang. Bisher habe ich die 4500 Kilometer kreuz und quer durch Schweden, die ich während der nächsten acht Monate laufen will, bloß am Schreibtisch geplant. Jetzt bin ich tatsächlich unterwegs und es wird ernst.
Die Sonne ist inzwischen vollständig aufgegangen, über mir wölbt sich ein blauer Himmel und eine hauchdünne Schneedecke lässt die Welt beinah unnatürlich hell erscheinen. Im noch kahlen Geäst der Bäume am Straßenrand zwitschern die Vögel. Es ist ein herrlicher Frühlingsmorgen Anfang März. Schöner hätte ich mir den Beginn meine Wanderung wohl kaum erträumen können.
In der Fußgängerzone angelangt beschließe ich, mir zunächst einen Kaffee und eine Zimtschnecke zu gönnen. Während ich gemütlich in einem weichen Sessel versinke, die warme Tasse in den Händen, merke ich erst, wie kalt mir draußen war. Ich strecke die Beine aus und spüre, dass ich innerlich ruhiger werde. Ich sollte mich nicht auf die Strecke als Ganzes konzentrieren, sondern auf die vielen kleinen Schritte, aus denen sie besteht. Statt einem abstrakten Ziel in ferner Zukunft entgegenzufiebern, möchte ich jeden Meter und jeden Augenblick wertschätzen. Dann nämlich werde ich wie von selbst immer genau dort sein, wo ich gerade sein möchte, im Hier und Jetzt.
Als ich das Café wieder verlasse, ist es ist merklich wärmer geworden. Menschen laufen geschäftig die Straße auf und ab. Mitten im Gewühl umkreisen ein paar Lachmöwen einen Mülleimer und streiten sich keifend um die Überreste eines weggeworfenen Brötchens. Die Fontänen eines Springbrunnens schillern in den hellen Strahlen der Vormittagssonne. Zwei Kirchen und mehrere andere prächtige Bauten mit kunstvoll gestalteten Fassaden umgeben den weitläufig angelegten Marktplatz. Alles aus Stein, kein einziges Holzhaus. Besonders schwedisch wirkt das nicht, vielmehr versprüht es ein beinah südeuropäisches Flair. Und das trotz des eisigen Ostseewindes und der weißen Schneehäubchen, die Bänke, Blumenkübel, Fenstersimse und Mäuerchen zieren und auch vor dem Kopf von König Karl XI. nicht Halt gemacht haben, der über das von ihm gegründete Karlskrona bis heute als Statue Wache hält.
Erbaut wurde die Barockstadt auf mehr als dreißig zum Teil winzigen Inseln. Andauernd sieht man irgendwo das Meer, dessen heute nur ganz leicht gekräuselte Oberfläche unter einem strahlend blauen Himmel mindestens ebenso strahlend vor sich hin glitzert. Eine Weile lasse ich die Beine von der Kaimauer hinabbaumeln, schaue in Richtung Horizont und verliere mich in meinen Gedanken.
Mein anfängliches Zaudern ist einer großen Dankbarkeit gewichen. Zwar bin ich immer noch aufgeregt, aber sorglos und ohne Bedenken. Ich fühle mich freudig gespannt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum und ich spüre, wie das unfassbare Glück dieses Augenblicks jede Faser meines Körpers durchdringt. Der weite Blick, die warmen Sonnenstrahlen, der frische Wind, die salzige Luft, die Rufe der Möwen, das Schnattern der Enten und der sanft plätschernde Wellenschlag. Hier draußen wartet so viel Schönes auf mich. Ich muss nur lernen, es wahrzunehmen, und genau darum bin ich aufgebrochen.
Aufbruch bedeutet Abschied vom Bekannten und Vertrauten. Zwar lasse ich einiges gern für eine Weile hinter mir zurück, aber es gibt auch viel Liebgewonnenes, das mir Halt und Sicherheit gibt und auf das zu verzichten mich Mut kostet. Es ist, als segelte ich aufs Meer hinaus. Das Ufer wird kleiner und kleiner. Manchmal freue ich mich über die neu gewonnene Freiheit, manchmal habe ich Angst und will umkehren. Doch der Drang, über den Horizont hinauszublicken, ist stärker. Eine Weitwanderung ist immer auch eine Reise tief ins eigene Selbst. Ich laufe los, um herauszufinden, wer ich bin, wenn kein Land mehr in Sicht ist.
Der eigentliche Grund dafür, dass ich Karlskrona als Startpunkt gewählt habe, ist jedoch gar nicht der Blick aufs Meer, sondern ein Junge namens Nils Holgersson, der in einen Kobold verwandelt wird und dadurch winzig genug ist, um auf dem Rücken einer Gans quer durch Schweden zu fliegen. Dabei lernt, versteht und erlebt er so viel Neues, dass er als ein anderer nach Hause zurückkehrt, als der er aufgebrochen ist.
Karlskrona ist die erste große Stadt auf Nils‘ Weg. Genau wie ich staunt er über die fürstlichen Häuser auf dem erhaben wirkenden Marktplatz, macht allerdings den Fehler, Karl XI. mit einer frechen Bemerkung zu provozieren, woraufhin der König lebendig wird und ihn mit laut polternden Schritten durch die nächtlichen Gassen jagt. Zuflucht gewährt ihm schließlich der freundliche, holzgeschnitzte Herr Rosenbom, indem er kurz den Hut lüftet. Dank seines praktischen Zwergenformats kann Nils darunter unbemerkt verschwinden.
Vor der Admiralskirche treffe ich auf die Skulptur „Sprungen ur boken“, die den kleinen Nils zeigt, wie er aus einem aufgeschlagenen Buch hervorhüpft. Eine Weile stehe ich davor und lasse das Denkmal auf mich wirken. Ich glaube, es möchte daran erinnern, dass sich zwischen den Seiten eines Buches wunderbare Welten auftun können. Dies geschieht immer dann, wenn wir nicht bloß lesen, sondern auch träumen. Unser Gehirn ist in der Lage, Buchstaben nicht nur zu Worten, sondern zu ganz neuen Wirklichkeiten zusammenzusetzen. So entstehen Orte jenseits unserer gewöhnlichen Wahrnehmung, wo man zum Beispiel auf einer Gans durch die Luft fliegen und die Sprache der Tiere verstehen kann.
Sich von der eigenen Vorstellungskraft ab und zu entführen zu lassen, ist aus meiner Sicht weder Zeitverschwendung noch schädliche Weltflucht, sondern eine Möglichkeit, um Mut und Kraft zu tanken für einen neuen Blick auf die Realität des Alltags. Ähnliches passiert beim Wandern: Wenn ich nichts weiter zu tun habe, als einen Fuß vor den anderen zu setzen und Meter für Meter die Landschaft an mir vorbeiziehen zu lassen, dann wird mein Kopf frei und es entsteht Raum für allerlei Gedanken. Erinnerungen können wach werden, Ideen können wachsen, Geschichten können entstehen. Im Rhythmus meiner eigenen Schritte kann ich loslassen, was ich vergessen, und mir aneignen, was ich bewahren will.
Mein Weg raus aus der Inselstadt Karlskrona führt am Wasser entlang. Die Luft schmeckt salzig, die Möwen kreischen und an den vertäuten Booten klackert das Tauwerk. Die Sonne hat inzwischen ihren höchsten Punkt erreicht und strahlt erstaunlich hell vom wolkenlosen Himmel herab. Wären da nicht der eisige Wind und die kleinen Schneehäufchen überall am Wegesrand, würde sich die Welt vielleicht sogar frühlingshaft anfühlen. So jedoch werde ich, sobald ich zum Fotografieren die Handschuhe ausziehe, unmissverständlich daran erinnert, dass heute erst der achte März ist und ich wohl noch ein paar Wochen lang vor allem frieren werde.
In einem Supermarkt am Stadtrand statte ich mich mit Proviant aus: ein großes Paket Nudeln, ein paar Instantsuppen, Nüsse, Rosinen, Haferflocken, Kakao- und Kaffeepulver, Kekse und reichlich Schokoriegel. Bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit in Rönneby sind es knapp hundert Kilometer. Dafür brauche ich vier Tage. So lange müssen meine Vorräte reichen.
Karlskrona und Rönneby liegen beide am östlichen Ende der schwedischen Südküste. Auf der Karte wirkt der Abstand zwischen den Orten nicht sehr groß und in der Tat sind es Luftlinie nur etwa zwanzig Kilometer. Mit dem Auto auf der Fernstraße nahe am Meer entlang wäre die Strecke rasch bewältigt. Ich will jedoch nicht den kürzesten, sondern den schönsten Weg finden und deshalb entscheide ich mich, auf dem Wanderweg Blekingeleden einen weiten Bogen übers Landesinnere zu machen.
Am Bastasjön, einem kleinen Waldsee hinter der Stadt, stoße ich auf die erste Wegmarkierung, ein oranger Farbklecks an einem Baumstamm. Der Nachmittag ist inzwischen weit fortgeschritten und die Sonne bereits zur Hälfte hinter den Baumwipfeln verschwunden. Letzte Strahlen gedämpften Lichts blitzen verhalten über die vereiste Wasseroberfläche. Zwar werden die Tage während der nächsten Wochen rasch länger werden, doch im Augenblick tue ich gut daran, spätestens gegen 18 Uhr zu wissen, wo ich schlafen kann.
Nachdem ich den See zur Hälfte umrundet habe, finde ich ein geeignetes Plätzchen für ein Nachtlager. Inzwischen ist die Sonne vollständig untergegangen. Der westliche Himmel erstrahlt in kräftigem Abendrot, während im Osten vor tiefblauem Hintergrund schon die ersten Sterne zu leuchten beginnen. Ich hocke mich zwischen die Baumwurzeln am Ufer, hacke mit den Wanderstöcken ein paar Mal auf die dünne Eisdecke ein und lasse das schneidend kalte Wasser in meine Trinkflasche fließen. Dann breite ich die Zeltplane aus, stecke die Stangen durch die Ösen und schlage die Heringe in den harten, gefrorenen Boden.
Anders als in Deutschland ist Wildzelten in Schweden so gut wie überall erlaubt. Sonderregelungen gibt es nur für einige Nationalparks und besondere Schutzgebiete. Ansonsten gilt das „Allemansrätten“, demzufolge jedem Menschen der freie Zugang zur Natur gestattet ist, sofern er sorgsam mit ihr umgeht.
Als mein Häuschen endlich steht, ist die Nacht vollständig hereingebrochen. Die Singvögel sind verstummt und stattdessen schallen Eulenrufe durch den Buchenwald. Der Lichtkegel, den meine Kopflampe über den Boden wirft, reicht nur ein paar Meter weit. Hoch und schwarz ragen die nackten Stämme in den Himmel empor, vor dem sich scherenschnittartig das kahle Geäst der Baumkronen abzeichnet. Durch die dünne Schneedecke schimmert rötlich braun das Laub vom letzten Jahr. Über dem See steht ein großer, fahler Mond, kein Lüftchen regt sich, es ist vollkommen still und bitterkalt.
Nachdem ich einen großen Topf Nudeln verschlungen habe, ziehe ich den Schlafsack bis über beide Ohren zu, schiebe mir die Mütze tief in die Stirn und schlafe so schnell fest ein, dass ich kaum noch Zeit habe zu merken, wie müde ich bin.
Gegen Morgen ist es am kältesten. Bibbernd schiebe ich mir im blassen Licht der Dämmerung einen Schokoriegel zwischen die Zähne. Das hilft, um sich ein bisschen wärmer zu fühlen und noch kurz weiter zu dösen. Doch langfristig muss ich den Schlafsack verlassen und meine kuschlig warme Schlafkleidung gegen das klamme Wanderzeug von gestern eintauschen, daran führt kein Weg vorbei.
Da ich entsetzlich friere, will ich alles ganz schnell erledigen, was auf zwei Quadratmetern Zelt natürlich nicht gelingen kann. Fluchend und Zähne klappernd verfange ich mich halb aufgerichtet erst in den Ärmeln von Pullover und Jacke, dann in den Beinen meiner langen Unterhose. Zwischendurch suche ich meine Mütze, dann die Socken, dann den linken und schließlich den rechten Handschuh. Jedes Mal kremple ich das mich umgebende Chaos aus Kochgeschirr, Suppentüten, Klamottenberg, Wanderkarten, Powerbanks, Taschenlampe, Handy und Zahnbürste einmal komplett um, nur um am Ende festzustellen, dass das gesuchte Kleidungsstück unter meine Isomatte gerutscht ist, ich also die ganze Zeit darauf gesessen habe.
Bis ich in sinnvoller Reihenfolge und Richtung vollständig angezogen bin, dauert es eine Weile. Und immer wieder frage ich mich, warum ich mir das hier eigentlich antue. Ich könnte jetzt so schön zu Hause im Warmen sitzen. Solche Momente, in denen ich am liebsten hinschmeißen will, sind auf meinen Weitwanderungen gar nicht so selten. Doch habe ich mit der Zeit gelernt, dass sie genauso schnell, wie sie kommen, auch wieder vergehen und dass ich am besten daran tue, sie zu ignorieren.
Es funktioniert auch diesmal: Kaum, dass ich den Reißverschluss des Zeltes aufgezogen habe, weiß ich wieder sehr genau, weshalb ich unterwegs bin: Auf jedem Zweig, jedem Millimeter Moos, das die Steine und Baumstämme umhüllt, auf jedem Blättchen am Boden und jeder Kiefernnadel sitzen Eiskristalle und glitzern im Licht der Morgensonne wie unzählige Perlen. Die Welt sieht aus, als wäre ich in eine riesige Schatzkiste gefallen.
Das Eis auf dem See ist über Nacht undurchdringlich hart geworden. Auch das Wasser in meiner Trinkflasche hat sich in einen trägen Klotz verwandelt. Mit viel Schütteln gelingt es mir, ein paar Bröckchen in meinen Kochtopf zu befördern, doch für Kaffee und Müsli reicht das wohl kaum. Mein Frühstück besteht also bloß aus einem weiteren, ziemlich bissfesten, tiefgefrorenen Schokoriegel. Unter anderen Umständen könnte mir das gründlich die Laune verderben, nicht jedoch an einem so schönen Morgen wie heute.
Ich stapfe durch einen tief verschneiten, hügeligen Winterwald – manchmal bergab, meistens jedoch bergauf. Der Schnee drückt die Zweige weit hinab und die großen kantigen Felsen, die überall zwischen den Baumstämmen verstreut liegen, tragen weiße Häubchen. Selma Lagerlöf beschreibt Blekinge wie eine Art Treppe, die von der flachen Ostseeküste hinauf ins småländische Hochland führt. Stufe für Stufe keuche ich vorwärts und freue mich jetzt schon auf den Weg von übermorgen, der mich wieder abwärts zurück zum Meer bringen wird.
Am Ufer eines zumindest teilweise flüssigen Baches kann ich endlich mein Frühstück nachholen. Ich setze mich auf einen schmalen Holzsteg, lasse die Beine baumeln und schaue ins Wasser hinab. An den Steinen am Ufer hängen noch dicke Eiszapfen, doch in der Mitte strömt es lebhaft. Die Sonne glitzert auf der wildbewegten Oberfläche und ich spüre den Frühling in allen Gliedern.
Stundenlang wandere ich über eine bis auf ein paar Tierspuren unberührte weiße Decke hinweg. Es ist vollkommen windstill und abgesehen vom Knarzen des Schnees unter meinen Sohlen ist kaum ein Laut zu hören. Als ich abends im Schlafsack liege, macht sich in meinen überanstrengten Muskeln eine angenehm betäubende Müdigkeit breit. Ich bin umgeben von bedingungsloser Ruhe und fühle mich absolut sicher und geborgen. Zweifel und Unlust von heute Morgen sind Lichtjahre weit von mir entfernt.
Während der folgenden Tage stapfe, schlittere, stolpere und schnaufe ich die Treppe namens Blekinge auf und ab. In den oberen Stockwerken lausche ich dem Knirschen, Krachen und Knistern der zugefrorenen Seen. Manchmal klingen die Geräusche der sich aneinanderreibenden Eisschollen fast wie Gesang. Weiter unten zwischen den Feldern ist es milder. Hier zwitschern Spatzenschwärme in den Sträuchern, und auf der Hauptstraße von Rönneby gucken sogar schon erste Blümchen durch den brüchigen Asphalt.
Den Supermarkt im Zentrum habe ich rasch gefunden und beinah ebenso rasch ist mein Einkaufswagen reichlich gefüllt. Gierig schiebe ich an den Regalen entlang: Kuchen, frisches Obst, ein Käsebrötchen, Trinkjoghurt... Eigentlich nichts Besonderes, aber nach vier Tagen nur mit meinen knapp bemessenen Rucksack-Rationen fühle ich mich wie im Schlaraffenland. Vor lauter Hunger übertreibe ich es allerdings ein wenig, und verfüttere schließlich jede Menge Kuchen und Croissant an ein paar vorwitzig dreinblickende Dohlen auf dem Marktplatz. Es tut gut, mal wieder richtig satt zu sein.
Zwischen den Dächern der bunten Holzhäuser, die sich an einen kleinen Hügel schmiegen, ragt ein kalkfarbener Kirchturm hervor. Darüber ziehen schwere Regenwolken auf, die im Kontrast zu dem weißen Mauerwerk noch etwas düsterer wirken als sie ohnehin schon sind. Ich beginne zu frösteln, hinter mir klappert ein Fahnenmast im Wind, über mir kreischen die Möwen und vor mir fliegt eine leere Plastiktüte in wirrem Zickzackkurs über das Straßenpflaster. Um noch im Trockenen einen Schlafplatz zu finden, muss ich mich beeilen.
Die Einfamilienhaussiedlungen rund um den Stadtkern durchquere ich beinah im Laufschritt. Als endlich das letzte bisschen Vorort hinter mir liegt, erklimme ich einen felsigen Absatz und schlage oben im Kiefernwald mein Zelt auf. Der Wind hat abgeflaut, noch ist kein Tropfen gefallen, die Luft aber ist klamm. Feucht-verschwommenes Dämmerlicht senkt sich herab. Konturlos verwackelt wie unter einem milchgasartigen Schleier gehen unter mir im Tal die Lichter an. Ich verkrieche mich in den Schlafsack und lese „Nils Holgersson“, das einzige Buch, das ich dabeihabe, und im Augenblick das passendste, das ich mir vorstellen kann: „Die Erde hüllt sich in Regendunst“ heißt es dort, als die Wildgänse über Blekinge fliegen, und genauso sieht auch mein Blekinge am nächsten Morgen aus.
Tatsächlich ziehen unterwegs immer wieder Wildgänse in großen Scharen über mich hinweg. Bemerkenswert mühelos fliegen sie dem schlechten Wetter einfach davon. Mir aber bleibt nichts anderes übrig, als durch den Matsch zu stapfen. Unerbittlich prasselt und trommelt der Regen auf meine Kapuze. Mein Pfad schlängelt sich durch einen urig bemoosten Nadelwald. Schwerer weißer Dunst hängt an den Baumwipfeln fest und pitschnass schlagen mir die Zweige ins Gesicht. Für eine Weile verkrieche ich mich unter einem massigen, dachartig geneigten Felsbrocken, von dessen äußerster Spitze mit einem leise hallenden Knall Tropfen für Tropfen auf eine dicke, knorrige Wurzel niederfällt. Es ist fast wie in einer Koboldhöhle. Die Welt wirkt ganz und gar verwunschen. Während eine laute, schmutzige Stadt bei diesem Wetter einfach nur hässlich wäre, wandere ich hier durch ein zauberhaftes Regenmärchen. Klar könnte ich gut darauf verzichten, dass mir die feuchtkalte Nässe durch Jacke und Pullover, Hose, Schuhe und Socken langsam, aber sicher bis auf die nackte Haut durchsickert, im Tausch gegen ein so herrliches Naturerlebnis jedoch ist das ein fairer Preis.
Gegen Nachmittag lichtet sich der Wald. Ich gelange auf ein lose mit Heidekraut, windschiefen Kiefern und bizarr geformten Wacholdersträuchern bewachsenes Felsplateau. Von hier aus habe ich eine knappe Woche hinter Karlskrona endlich wieder Blick auf die Ostsee. Ich kraxele zu einem schmalen Stück Strand hinunter. Ein Streifen Sand, dann Wiese, dahinter ein Buchenwäldchen. Die flachen Wellen brechen sich sanft und bilden nur sehr wenig Gischt. Zwischen den Baumstämmen entdecke ich einen Windschutz oder auf Schwedisch vindskydd. Das sind kleine Rastunterstände zum Picknicken und auch zum Übernachten. Meistens sind sie an einer Seite offen mit weit hinabgezogenem Dach. Drinnen ist man sicher vor Unwetter und kann auf einem trockenen Boden aus Holzplanken Schlafsack und Isomatte ausbreiten.
Ich knote Packriemen und Schnürsenkel zu einer langen Wäscheleine zusammen und spanne sie quer durch meine Behausung. Schon bald baumelt mein nasser Krempel im Abendlicht, dahinter plätschert die Ostsee. Natürlich wird über Nacht nicht alles trocken werden, aber trotzdem wird mich jeder verschwundene Wassertropfen ein kleines bisschen leichter machen, und wenn ich morgen früh weiterlaufe, bin ich hoffentlich ein etwas weniger vollgesogener Schwamm.
Mein Plan geht auf, wenigstens so halbwegs. Den Rest regelt das kräftige Sonnenlicht des nächsten Tages. Ich erwache durch lebhaftes Vogelgezwitscher in den Baumkronen über mir. Von etwas weiter entfernt aus den Tiefen des Buchenwaldes hallt das Hämmern eines Spechtes dazwischen. Ich schäle mich aus dem Schlafsack und werfe den Gaskocher an. Erstmal Kaffee und Frühstück mit Meerblick. Gestern war die Ostsee diesig grau, heute ist sie so tiefblau, dass man die frostig kalten Temperaturen beinah vergessen könnte.
Es ist mein siebter Tag unterwegs und allmählich werden die täglichen Handgriffe beim Ein- und Auspacken zur Routine. Es fühlt sich völlig normal an, hier draußen zu sein. Mein Leben vor der Tour scheint sehr weit weg. Ich lebe von Augenblick zu Augenblick nur mit dem, was in meinen Rucksack passt, und nehme die Dinge wie sie gerade kommen. Gestern waren die Blätter am Boden glitschig nass, Regentropfen hingen an meiner Nasenspitze und für meine Brille hätte ich gut ein Paar Scheibenwischer gebrauchen können. Heute rascheln meine Schritte durch golden schimmerndes Laub, während ich dem hellen Frühlingslicht entgegenblinzele. Im Schritttempo erlebe ich meine Umgebung wie ein Museum voller Schätze, die nur darauf warten, von mir entdeckt zu werden.
Tag für Tag umgibt mich ein ewig gleicher, beruhigender Rhythmus: Im Morgengrauen fiebere ich bibbernd den ersten Sonnenstrahlen entgegen. Mittags glitzern die Eisblumen an den Zweigen der Bäume mit den Elchspuren in der unberührten Schneedecke um die Wette. Nachmittags landet ein Haufen schnatternder Wasservögel auf der noch halb gefrorenen, bläulich schimmernden Oberfläche eines Waldsees, über den sich ganz allmählich ein knalliges Abendrot herabsenkt. Das Farbspektakel wird nahtlos von einem überwältigenden Sternenhimmel abgelöst, bis ein paar Stunden später das Ganze mit der aufgehenden Sonne wieder von vorne anfängt.
Nach einer stockfinsteren Winternacht draußen im Zelt kann man spüren, wie sehr das Leben auf unserem Planeten auf den wärmenden und leuchtenden Feuerball dort oben am Himmel angewiesen ist, und plötzlich nimmt man ihn nicht mehr nur beiläufig wahr, sondern empfindet ihn als etwas ganz Besonderes. Viele alte Kulturen verehrten Sonnengötter, eine sehr naheliegende Idee, wie ich finde. Denn hier draußen kommt es mir vor, als beginne jeder Tag mit einem riesengroßen Wunder.
Wenn ich mit dieser Überzeugung den Rucksack schultere, dann kann ich sicher sein, dass es nicht lange dauert, bis ich ein zweites und drittes und immer noch mehr Wunder entdecke. Am Ufer des Mörrum zum Beispiel schaue ich lange auf die wild strudelnde Wasseroberfläche hinab, die beständig neue Wellen und Wirbel bildet, ein gleichbleibendes Strömen und doch ist kein Augenblick wie der andere. Wenn ich meine Kamera auf eine bestimmte Stelle richte, den Auslöser eine Weile gedrückt halte und mir danach die Fotoreihe angucke, dann sieht jedes Bild ein wenig anders aus. In einem Moment ist das Wasser spiegelglatt, dann wieder kringelt es sich zu einem Strudel zusammen, manchmal bildet es launisch spritzende Wellen und vielleicht tänzelt etwas Gischt auf den Kämmen.
Der Mörrum ist der größte Fluss in Blekinge und, da Unmengen Lachse in ihm leben, ein beliebtes Ausflugsziel für Sportfischer. Noch aber hat die Angelsaison nicht begonnen, weit und breit ist niemand zu sehen und der Pfad am Ufer noch ganz und gar bedeckt vom Laub des Vorjahres. Nacheinander hebe ich einige der alten Buchenblätter vom Boden auf und betrachte den Verlauf der Adern an ihrer Unterseite. Auch hier gilt: Obwohl sie sich ähneln, ist doch jedes für sich einzigartig.
Man kann sich in so vieles vertiefen und sich andächtig darüber freuen, wenn man sich nur die Zeit dafür nimmt. Je langsamer ich mich fortbewege, desto mehr fange ich an, Dingen Beachtung zu schenken, von denen ich ganz und gar vergessen hatte, dass es sie gibt. Ich weiß nicht, wann ich mir zum letzten Mal die Hülle einer Buchecker mit ihren weichen Spitzen oder die Maserung der Rinde eines herabgefallenen Astes genauer angesehen habe. Ich glaube, das ist lange her. Wahrscheinlich war ich noch ein Kind.
Während ich so vor mich hinlaufe und tagelang mit meinen Gedanken allein bin, entsteht in meinem Kopf viel Raum für Fantasie. Ab und zu tauchen an einem See oder am Rand eines Ackers einzelne rote Holzhäuschen auf. Einige sind romantisch verfallen, andere wirken wie verrammelte Feriendomizile, wo vielleicht im Sommer jemand wohnt. Manchmal lege ich den Rucksack ins verschneite Gras, esse ein paar Kekse, stelle mir vor, wem die Häuser gehören oder einst gehört haben, und denke mir Geschichten aus, die sich hier zugetragen haben könnten.
Eine verwitterte Schautafel neben einer Felshöhle mitten im Wald informiert in knappen, nur noch halb lesbaren Worten darüber, dass dieser Ort vor vielen hundert Jahren einem Tischler als Werkstatt gedient hat. Für mich ist er perfekt geeignet, um mich vor einem nahenden Schneeschauer zu verkriechen. Durch einen fensterartigen Ausschnitt sehe ich den tanzenden Flocken zu und vor meinem inneren Auge entwickeln sich sehr lebendige Bilder vom einstigen Arbeitsleben zwischen diesen steinernen Wänden.
Ganz ähnlich ergeht es mir ein paar Tage später in Tulseboda – früher ein in Schweden beliebter Kurort, heute ein bewaldeter Hügel, unter dem sich die Ruinen der ehemaligen Kuranlagen verbergen. Nur die Heilquelle selbst existiert noch. Tulseboda war berühmt für sein eisenhaltiges Wasser und tatsächlich schmeckt die Flüssigkeit, die ich in meine Tasse schöpfe, ziemlich metallisch. Ich belasse es also bei ein paar vorsichtigen Schlucken, während ich mir vorstelle, wie hier, wo heute Eichhörnchen die Stämme hoch und runter huschen, Wildschweine nach Eicheln schnüffeln und nachts der Waldkauz ruft, einst vornehme Gesellschaften durch den Kurpark flanierten.
Von Tulseboda ist es nicht mehr weit bis nach Olofström. Der Ort ist mit seinen 7500 Einwohnern nicht gerade riesig, aber ausreichend, um alles zu bekommen, wonach ich mich im Augenblick dringend sehne: reichlich Essen, eine warme Dusche und eine Möglichkeit, meine dreckigen, feuchtkalten Klamotten zu waschen. Ich trotte auf einem asphaltierten Rad- und Fußweg neben der Straße entlang. Der viele Verkehr, der neben mir vorbeirauscht, fühlt sich merkwürdig an. Natürlich bin ich aus Berlin weit mehr gewöhnt, doch zehn Tage Einsamkeit in Blekinges verschneiter Winterlandschaft haben mich manches vergessen lassen.
Nachdem ich mich mit neuem Proviant eingedeckt habe, stiefele ich mit einem Rucksack voller leckerer Dinge zum Campingplatz am Stadtrand. Der Himmel hängt schmutzig und leicht tröpfelnd wie ein alter Putzlappen über der matschigen Zeltwiese. Ab und zu fegt ein kräftiger Windstoß durch eine lose Reihe aus Birken und Kiefern und malt gekräuselte Muster auf die graue Oberfläche des hinter den Bäumen gelegenen Halen-Sees.
Auspacken und Zeltaufbauen geht nicht gut mit Handschuhen. Deshalb habe ich nach kurzer Zeit völlig blaugefrorene Finger, mit denen ich die Kekse, die ich mir, um warm zu bleiben, in immer kürzer werdenden Abständen zwischen die Zähne stopfe, kaum noch richtig festhalten kann. Sie landen größtenteils in meinem Bart und auf der Regenjacke. Ein paar Wohnwagenurlauber schauen mir aus den beschlagenen Plastikfenstern ihrer Vorzelte heraus halb neugierig, halb verständnislos zu. Wahrscheinlich sehe ich aus wie eine Mischung aus Krümelmonster und einem begossenen Pudel.
Waschraum, Küche und Aufenthaltsraum habe ich ganz für mich allein. Auch die Waschmaschine benutzt im Augenblick niemand und so dauert es nicht lange, bis alle meine Wünsche für den heutigen Tag in Erfüllung gegangen sind: Ich sitze frisch geduscht, krümelfrei und in sauberen Klamotten auf einem gar nicht so unbequemen Sessel. Die Füße habe ich unter der Heizung und im Bauch einen Salat, eine große Portion frische Pasta und einen Schokopudding. Während ich mich in „Nils Holgersson“ vertiefe, nasche ich ein paar Gummibärchen und beobachte, wie es draußen langsam dunkel wird.
Das miese Wetter hält die Nacht über an. Im Halbschlaf höre ich unentwegt Regen gegen die Zeltplane prasseln. Als schließlich fahles Morgenlicht hereinfällt, dauert es eine Weile, bis ich mich überwinden kann, auf die pitschnasse Wiese hinauszukriechen. Doch zurück im tröpfelnden Wald stelle ich mal wieder fest, dass draußen in der Natur auch die ungemütlichen Tage mit ihren märchenhaften Nebelschwaden zwischen den Baumstämmen und über den Seen ihren ganz eigenen Charme besitzen.
Nach einigen Stunden verlasse ich Blekinge und betrete Skåne, die nächste Provinz auf meinem Weg durch Schweden. Die Luft ist immer noch feucht, doch es regnet nicht mehr. Der Wetterbericht behauptet sogar, dass gegen Abend die Sonne herauskommen soll. Ich suche mir einen Schlafplatz auf einer bewaldeten Landzunge, die weit in einen See hineinragt und warte. Die Atmosphäre hat etwas Unwirkliches. Kein Windhauch regt sich, die Zweige der Fichten hinter meinem Zelt hängen unbeweglich und schwer herab. Die Wasseroberfläche vor mir ist so reglos und spiegelglatt, dass es fast gespenstisch wirkt. Das gegenüberliegende Ufer versteckt sich hinter undurchdringlichen Dunstschleiern, die eher näher zu kommen scheinen, als dass sie Anstalten machen würden sich aufzulösen.
Allmählich bricht die Dämmerung herein. Ich koche mir mein Abendessen und finde mich damit ab, dass sich heute kein Sonnenstrahl mehr zeigen wird. Irgendwo aus dem undurchdringlichen Weiß heraus ertönen sehr gedämpft ein paar Entenrufe. Doch nur für kurze Zeit. Dann wird es rasch stockfinster und nachdem ich das Zelt zugezogen habe, herrscht vollkommene Stille, so raumgreifend und intensiv, dass sie mir beinah laut vorkommt.
Ich erwache in derselben Welt, in der ich gestern schlafen gegangen bin: Wälder, Seen und ab und zu ein Regenschauer. Schritt für Schritt vergeht der Tag, ohne dass auch nur ein einziger Sonnenstrahl die schmutzig graue Wolkendecke durchdringt. Doch immerhin wandelt sich die Landschaft: Gegen Mittag trete ich aus dem düsteren, etwas hermetisch wirkenden Fichtenwald heraus, die Umgebung wird offener und plötzlich reicht mein Blick weit in die Ferne. Vor mir erstrecken sich Ackerflächen, dazwischen Bauernhöfe, kleine Dörfer und hier und da eine lose Baumgruppe. Kraniche stolzieren über die Felder und erfüllen die Luft mit ihren durchdringenden Rufen. Es klingt, als wollten sie mit kleinen Trompetenfanfaren den Frühling hervorlocken, was trotz des miesen Wetters zu funktionieren scheint, denn auf den kleinen Wiesenstreifen längs des Weges blühen die ersten Krokusse. Kaum zu fassen, dass ich vor einer Woche noch durch Schnee gestapft bin.
Kurz vor dem Ort Arkelstorp zieht Wind auf und der nächste kräftiger Schauer peitscht mir dicke Tropfen ins Gesicht. Um möglichst schnell den kleinen Supermarkt zu erreichen, der sich laut Karte irgendwo dahinten zwischen den Häusern verstecken soll, beginne ich zu rennen. Tatsächlich schaffe ich es ins Trockene, bevor ich vollkommen durchnässt bin.
Viel Proviant brauche ich nicht, denn morgen erreiche ich das deutlich größere Kristianstad. Trotzdem verbringe ich eine ganze Menge Zeit im Laden. Zum einen um den Regen abzuwarten, zum anderen um mir eine große Tüte mit losen Süßigkeiten zusammenzustellen. An der Wand neben der Kasse gibt es eine beeindruckende Auswahl an Gummibärchen, Lakritzsorten und Bonbons aller Art, die man sich mit einer kleinen Schaufel in eine Papiertüte füllen kann. In Deutschland wäre das eher was für Kinder. In Schweden findet man die Regale mit den aufklappbaren Dosen voller buntem Zuckerzeug in jedem Supermarkt und es ist absolut üblich, dass man sich auch als Erwachsener gelegentlich ein paar saure Pommes, Frösche, Schlümpfe, Kirschen oder Cola-Flaschen gönnt.
Mit einem Gummischnuller im Mund durch eine Pfütze zu patschen, fühlt sich viel besser an als ohne, und so komme ich erstaunlich gut gelaunt nicht nur durch den Rest des heutigen, sondern auch noch durch die erste Hälfte des nächsten, mindestens ebenso nassen Tages, bis es in Kristianstad endlich aufklart.
Ich laufe durch verwinkelte Gassen, über weitläufige Marktplätze und vorbei an prächtigen Kirchen. Die Szenerie ist ähnlich fürstlich und historisch aufgeladen wie in Karlskrona und genau wie dort steckt auch hier der gründende König im Namen. Es ist Christian IV. von Dänemark, zu dessen Herrschaftsgebiet im 17. Jahrhundert weite Teile Südschwedens gehörten. Anders als in Karlskrona jedoch habe ich es heute mit meinem Stadtspaziergang ein bisschen eilig, denn in ein paar Stunden geht die Sonne unter und es gibt eine Sehenswürdigkeit am südöstlichen Stadtrand, die ich unbedingt noch abklappern will, bevor es dunkel wird.
Kaum habe ich das Zentrum verlassen, kann von glanzvollmajestätischer Stimmung keine Rede mehr sein. Hier kreuzen sich Schnellstraßen, LKWs donnern an mir vorbei, es riecht nach Tankstelle und im Wind klappern die Fahnen diverser Autohäuser. An einem großen Parkplatz halte ich mich links, und laufe über die weißen Markierungen der zumeist leeren Parkbuchten hinweg auf eine Baustelle zu, wo hinter einer rissigen Absperrplane ein Presslufthammer dröhnt.
Neben einem Stück aufgerissener Erde und einem in den Rand eines schlammigen Sandhügels eingesunkenen Baggers führt ein schmaler Pfad in ein Birkenwäldchen hinein. Durch die Bäume hindurch rauscht die Autobahn. Gerade fange ich an, mich zu fragen, ob ich hier richtig bin oder mich irgendwie verlaufen habe, da stoße ich auf ein unscheinbares, leicht verblasstes Schild: 200 Meter bis zu Schwedens tiefstem Punkt. Genau da will ich hin.
Keine drei Minuten später tauchen Picknicktische zwischen den Birken auf. Ein paar Krähen picken Essensreste aus einem Mülleimer, dazu der unermüdliche Lärm des vorbeirasenden Verkehrs. Ich hatte mir den Wanderweg zu einer geographisch so bedeutsamen Stelle spektakulärer vorgestellt, doch anzunehmen, dass es spürbar bergab gehen würde, war natürlich naiv. Schließlich ist der tiefste Punkt Schwedens kein Loch im Boden, sondern einfach nur die mit 2,32 Metern unter Meeresniveau niedrigste Stelle in einer ohnehin niedrig gelegenen Umgebung. Ohne die Informationstafeln würde absolut nichts darauf hindeuten, dass es mit diesem Ort etwas Besonderes auf sich hat. Das wird in ein paar Monaten auf dem Kebnekaise, dem mit 2096 Metern höchsten Punkt des Landes, sicher ganz anders sein.
Davon, dass es ab jetzt unterm Strich nur noch bergauf gehen müsste, merke ich am nächsten Morgen noch nicht das Geringste. Ich durchstreife das sogenannte Vattenriket, das Reich des Wassers. Ein Biosphärenreservat aus Feuchtgebieten und Sumpfland, dazwischen Äcker, Weiden und kleine Waldstücke. Wasserarme schlängeln sich hindurch, münden in Teiche und Seen oder verlieren sich auf den überfluteten Salzwiesen, die bis zur Ostsee reichen. Das Land ist flach und man kann unendlich weit gucken, vor allem an einem Vormittag wie heute, wo nur ein paar windzerzauste Wolkenfetzen über den Himmel jagen und die Welt ansonsten blau und sonnig ist. Ein Schwarm Wildgänse erhebt sich unter lautem Geschnatter hoch in die Luft, hier und da trompeten Kraniche, dann wieder habe ich nichts als das Rauschen des Windes im Ohr.
Eigentlich ist das Vattenriket beliebt bei Spaziergängern und Tagesausflüglern, doch zu dieser Jahreszeit und noch dazu mitten unter der Woche ist so gut wie niemand unterwegs. Auch das direkt am Meer gelegene, beschauliche Städtchen Åhus, im Sommer voller Badegäste, liegt noch im Winterschlaf. Eine alte Klappbrücke führt mich über den Fluss Helge. Der Himmel hat sich zugezogen, Häuser und Bootsanleger verschwimmen hinter einer Nebelwand. Eine Weile bleibe ich stehen, beuge mich über das Geländer und beobachte die auf und ab segelnden Möwen, wie sie unten auf dem Wasser landen und nach Nahrung tauchen.
Am anderen Ufer schlage ich einen von Kiefern gesäumten Weg ein, der direkt aufs Meer zuläuft. Der Boden ist teils mit Zapfen und Nadeln, teils mit feinem weißem Sand bedeckt. Für eine Weile sieht es so aus, als könne sich die Gegend nicht recht entscheiden, ob sie lieber Wald oder Strand sein will. Immer lauter mischt sich Wellenrauschen zwischen die pfeifenden Windböen. Offenbar hat die sonst so ruhige Ostsee heute ordentlich Brandung. Ein Pfad durch wildzerzausten Strandhafer schlängelt sich eine Düne hinauf. Oben angelangt liegen vor mir nur noch Himmel und Wasser. Nun hat der Strand den Wald eindeutig abgelöst.
Bis zum Nachmittag des nächsten Tages stapfe ich durch feuchten Küstensand in Richtung Süden. Zu meiner Linken brechen sich die Wellen und weiße Gischt tanzt über die aufgewühlten Fluten. Zu meiner Rechten verschluckt ein grauer Dunst das Land. Nur ein paar Baumwipfel ragen silhouettenhaft daraus hervor. Abends schlüpfe ich ins Zelt und mit dem ersten Schimmer des neuen Tages laufe ich weiter. Vierundzwanzig Stunden lang gibt es nur mich und den schmalen Pfad zwischen den Dünen. Das Rauschen des Meeres übertönt jedes Geräusch und ich fühle mich so weit weg von der Welt, dass ich, als ich schließlich wieder ins Landesinnere abbiege, ziemlich verwundert bin, schon nach kurzer Zeit auf Häuser und Straßen zu stoßen. Natürlich wusste ich, dass hier Menschen leben, die vielen Dörfer längs der Küste sind schließlich auf der Karte verzeichnet, doch da mir niemand begegnet ist und alles so verlassen wirkte, hat es sich einfach nicht so angefühlt.
Für die nächsten paar Tage bleibe ich ein Stück vom Meer entfernt. Der äußerste Süden Schwedens ist bekannt für seine prächtigen Buchenwälder. Die glatten grauen Stämme wirken wie Säulen eines gigantischen Bauwerks, sogar jetzt schon im Vorfrühling, obwohl sie über sich noch gar kein üppiges Blätterdach tragen. Rotkehlchen tänzeln durchs Unterholz und trillern lustig vor sich hin. Eichhörnchen laufen die Stämme empor. Eine Kröte hüpft vorbei, mir fast auf den Fuß. Die aufgeweichten Wege sind voller Regenwürmer und Nacktschnecken. Das feuchte Moos duftet urtümlich und geheimnisvoll.
Eine Weile überlege ich, ob ich es schade finden soll, dass ich nicht ein paar Wochen später durch diese Region laufe. Doch je länger ich die kahlen Baumkronen betrachte, desto mehr stelle ich fest, dass sie auch oder vielleicht sogar gerade zu dieser Jahreszeit wunderschön sind. Das kunstvolle und bei jedem Baum einzigartige Geäst mit all seinen Gabelungen bis in die dünnsten Zweige hinein kann man jedenfalls nur jetzt bestaunen. Sobald die Bäume belaubt sind, ist es verdeckt. Besonders schön sieht es aus, wenn zwischen den Wolken ein Fleckchen blauer Himmel als Hintergrund zum Vorschein kommt. Wann immer dies geschieht, setze ich mich auf den Boden, lehne mich gegen den Rucksack und vertiefe mich in das scherenschnittartige Bild, so lange bis mir der nächste Regentropfen auf die Nase fällt.
Nach einigen Tagen beginnt die Sonne intensiver und ausdauernder zu scheinen. Der Wald endet und ich laufe mal wieder zwischen Feldern und Weiden. Mein Blick reicht weit über Gehöfte und Dörfer hinweg. Manchmal führen prächtige Alleen aus knorrigen alten Eichen zu hochherrschaftlichen Gutshöfen und sogar an zwei Schlössern komme ich vorbei: Snogeholm und Svaneholm haben herrliche Parks mit Blumenbeeten voller Osterglocken. Auf den glitzernden Teichen dazwischen tummeln sich scharenweise Enten, deren aufgeregtes Geschnatter sich wie eine Frühlingsbeschwörung anhört.
Dann erreiche ich Västra Vemmenhög, die Heimat von Nils Holgersson. Doch wird in dem Straßendorf mit der hübschen Feldsteinkirche um eine der bekanntesten Romangestalten der Weltliteratur erstaunlich wenig Aufhebens gemacht. Auf der Wiese vor dem Schulmuseum stehen ein paar lebensgroße Gänse aus Stein, zwischen ihnen die Skulptur von einem auf Gänsegröße verkleinerten Jungen, daneben eine Büste der Schriftstellerin. Das Museum selbst beherbergt eine Ausstellung über das berühmte Kinderbuch, hat aber nur an ausgewählten Tagen im Sommer geöffnet.
Was Nils Holgersson, als er seine Reise hier beginnt, aus der Vogelperspektive zu sehen bekommt, lässt sich auch vom Boden aus gut nachvollziehen. Die Landschaft des südlichen Skåne wirke, so formuliert es Selma Lagerlöf, wie ein riesiges kariertes Tuch. Gemeint sind die vielen rechteckigen Äcker und Wiesen, die sich in dichter Folge aneinanderreihen. Für Schweden sind sie tatsächlich etwas Besonderes, denn der größte Teil des Landes besteht aus Wäldern und Seen und dürfte von oben eher aussehen wie ein grünes Tuch mit einigen unregelmäßig geformten, blau schimmernden Flächen darin.
Skåne ist die Kornkammer Schwedens. Das Klima ist mild, der Boden fruchtbar und in keiner anderen Region sind die Bedingungen für Landwirtschaft so günstig wie hier. Zwischen den Feldern, wo es kaum große Bäume gibt, kann sich die Sonne nirgends verstecken und scheint mir direkt ins Gesicht. Warm und gemütlich ist mir trotzdem nicht zu Mute, denn ebenso wie die Sonnenstrahlen wird ohne Wald auch der Wind durch nichts gebremst. Eisig fegt er über mich hinweg und bläst mir den losen Sand der Ackerkrume direkt in die Augen. Schutz vor den kräftigen Böen bieten nur die Dörfer. Zum Glück haben die meisten von ihnen Kirchen und zum Glück sind diese fast immer offen, so dass ich mich alle zwei bis drei Stunden irgendwo ausruhen kann.
Von den Wetterverhältnissen gänzlich unbeeindruckt kreuzen in bemerkenswertem Tempo zwei Hasen meinen Weg. Ihre weißen Schwänzchen verschwinden in der Ferne hinter einem flachen Gebüsch, während direkt über mir ein Spatzenschwarm routiniert gegen den Wind ansegelt. Dass das mit einem so geringfügigen Körpergewicht überhaupt möglich ist, grenzt eigentlich an ein Wunder. Mich jedenfalls, der ich ungefähr zweitausendmal schwerer bin, kostet das Vorankommen einige Mühe.
Für die Nacht steuere ich einen alten Kalkberg an, auf dem weit und breit das einzige Wäldchen wächst. Der oben zwischen den Bäumen gelegene Windschutz entpuppt sich als unerwartet origineller und idyllischer Schlafplatz. Es handelt sich um einen eiförmigen Holzverschlag, der in eine bodennahe Astgabel hineingebaut ist. An den Zweigen ringsum sprießen erste Knospen, die Vögel zwitschern im sonnendurchströmten Geäst und aus dem Boden schießen wilde Osterglocken empor.
Die Nacht ist wie gewohnt kühl, doch gleich am nächsten Morgen geht der Frühling weiter. Von meinem Kalkberg aus ist es kaum eine halbe Stunde Weg bis zur Ostsee, und zwar bis zu einer ganz besonderen Stelle, die Smygehuk genannt wird und den südlichsten Punkt Schwedens markiert. In den Boden sind kompassartig ein paar Steine mit Pfeilen eingelassen. Sie zeigen die Luftlinien-Entfernung in verschiedene europäische Großstädte. Nach Berlin sind es erstaunlicherweise nur 314 Kilometer. Diese Distanz wird sich im Laufe der nächsten Monate immer mehr vergrößern, bis mich schließlich am nördlichsten Punkt meiner Tour eine Strecke von über 1750 Kilometern Luftlinie von zu Hause trennen wird.
Ich wende mich nach Westen und laufe am Strand entlang in Richtung Trelleborg. Nach wenigen Schritten taucht ein alter Leuchtturm auf. Die Tür ist offen und ein Schild lädt zur Besichtigung ein. Die siebzehn Meter lange Wendeltreppe scheppert bei jedem Schritt. Zwischen den engen Metallwänden ist es kühl und finster, oben im verglasten Ausguck dafür umso wärmer. Die Morgensonne hat die Scheiben schon mächtig aufgeheizt. Die Sicht ist klar und der Blick reicht weit aufs blaue Meer hinaus. Hier und da sind Frachter und Containerschiffe zu sehen und irgendwo hinter dem Horizont liegt Rügen. Erkennbar ist die deutsche Küste von hier aus jedoch nicht, dafür sind 75 Kilometer dann doch zu lang.
Bis nachmittags bleibe ich nahe am Wasser. Nur wenige Meter neben mir brechen sich die Wellen auf dem feuchten Sand. Die Gischt glitzert und das Licht ist so sommerlich hell, dass ich sogar die Schuhe ausziehe und für einige schmerzhaft erfrischende Augenblicke meine nackten Füße in die auslaufende Brandung halte. Hinterher setze ich mich zum Trocknen in die Dünen und schaue den Schwänen zu, wie sie majestätisch wippend auf der funkelnden Ostsee treiben.
Leider ist in Trelleborg Schluss mit vorsommerlichem Anbadewetter. Über dem Hafen ziehen sich die Wolken zu einer schweren, trüben Masse zusammen, in die die Schiffsschornsteine ihren grauen Rauch hinauspusten. Ein paar LKWs schleppen sich unter dumpf hallendem Metallgetöse eine Laderampe empor, um einer nach dem anderen im Bauch einer großen Fähre zu verschwinden. Eine Reihe PKWs wartet noch auf Abfertigung.
Sechs Stunden dauert die Überfahrt nach Rostock. Ich bin schon öfter auf diesem Weg nach Schweden gereist, allerdings als Fußpassagier, also ohne Auto. Da die Abfahrtszeiten von Zug und Fähre nicht immer perfekt zusammenpassen, kenne ich Trelleborg inzwischen recht gut, wenn auch nur als Ort, an dem ich die Fußgängerzone auf und ab laufe, weil ich auf meine Anschlussverbindung warte. Diesmal jedoch werde ich die Stadt nicht per Zug oder Schiff wieder verlassen, sondern auf meinen eigenen zwei Beinen, was sich merkwürdig anfühlt.
Ich betrete eines der großen Einkaufszentren, erstens um dem Nieselregen zu entkommen, der inzwischen eingesetzt hat, zweitens weil ich weiß, dass es hier einen Outdoorladen gibt, wo ich hoffentlich eine neue Gaskartusche kaufen kann, denn die brauche ich ziemlich dringend. Ansonsten ist Schluss mit heißem Kaffee und warmem Essen, und das wäre unangenehm. Zum Glück werde ich fündig und praktischerweise kann ich, ohne zwischendurch wieder in den kalten Regen hinauszumüssen, im Supermarkt eine Etage tiefer auch gleich noch meinen Provianteinkauf erledigen.
Während ich meinen Krempel auf das Kassenband lege, steigere ich mich in den Gedanken hinein, dass inzwischen vielleicht die Sonne zurückgekommen sein könnte. Da es keine Fenster nach draußen gibt, kann ich mir vorstellen, was immer ich möchte. Doch leider sieht die Realität ein bisschen anders aus. Kaum habe ich mich durch die gläserne Drehtür ins Freie geschoben, bläst mir ein eisiger Windstoß eine Hand voll Nassschnee ins Gesicht.
Ich ziehe mir die Kapuze über beide Ohren und stapfe los. Leute hasten zu ihren Autos oder verschwinden in den Hauseingängen. Im Nu sind die Straßen wie leergefegt. Durch die vollgetropften Gläser meine Brille hindurch erkenne ich etwas verschwommen die Konturen einer Bronzestatue: ein paar Menschen, von denen man nur die Beine sieht, der Rest ist verborgen unter einem Knäuel von Regenschirmen, das ein kuppelartiges Dach über dem Grüppchen bildet. „Böst“ heißt die Statue, ein Begriff aus dem südschwedischen Dialekt, der vom deutschen Wort „böse“ stammt und auch in etwa das gleiche bedeutet. Benutzt man ihn, um Wetter zu beschreiben, lässt er sich wohl am treffendsten mit der Vorsilbe „Schiet-“ übersetzen.