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Zu Fuß von Berlin zum Nordkap, 3325 km in 150 Tagen. Anfangs ist das nur eine spinnerte Idee, aber sie lässt Philipp Fuge nicht mehr los. Ohne so recht an sich zu glauben, fängt er an zu planen und zu organisieren - Auszeit auf der Arbeit, nächtelanges Brüten über Landkarten, das Reisebudget zusammensparen und vieles mehr. Am 13. März 2016 ist es endlich so weit. Bei frostigem Vorfrühlingswetter bricht er auf, mit 25 kg auf dem Rücken. Schon kurz hinter Berlin kommen die ersten Zweifel - Kälte, Hunger, Erschöpfung, Einsamkeit. Doch Schritt für Schritt wird er sich seiner Sache sicherer. Ob Sonne, Regen, Sturm, Nebel, Hagel oder Gewitter, Morgen für Morgen schultert er den Rucksack und geht weiter zum nächsten Schlafplatz - meistens das eigene Zelt, hin und wieder ein Unterstand oder eine kleine Hütte, selten mal ein Hostel und in klaren Nächten direkt unterm Sternenhimmel. Ein Leben nur mit dem Allernötigsten und ganz langsam. Oft ist er selbst erstaunt, dass ihm nichts fehlt. Im Gegenteil, er fühlt sich unendlich reich. Er nimmt uns mit auf eine Reise voller farbenprächtiger Sonnenuntergänge, tiefblauer Seen, rauschender Wälder, karger Hochebenen und schroffer Gebirgslandschaft. Er kraxelt über Blockfelder, schlägt sich mit Heerscharen von Mücken herum, überquert eiskalte Flüsse und wandert durch tiefen Schnee. Mit jedem Tag fühlt er sich draußen in der Natur ein bisschen mehr zu Hause. Er schildert sein demütiges Staunen angesichts der Herrlichkeit der Schöpfung. Doch er schwärmt nicht nur, er kritisiert auch - sich selbst und uns alle für unseren energiehungrigen, profitorientierten und zerstörerischen Lebensstil, mit dem wir uns und künftigen Generationen ein Überleben auf diesem Planeten immer schwerer machen. Wiederholt kommt er auf die vielfältigen und verworrenen Probleme unserer Zeit zu sprechen, nicht schulmeisterlich, sondern selbst ratlos. Aber eines hat er gelernt auf seiner Reise: Nicht den Mut verlieren, denn jeder Schritt zählt!
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Seitenzahl: 589
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Wir sind in dem Maße Fremdlinge in der Natur wie wir uns von Gott entfremden. Ist die Landschaft, von der ein jeder Schimmer voller Erhabenheit ist, nicht sein Antlitz?
(R.W. Emerson)
Ich ging in die Wälder, weil mir daran lag, bewusst zu leben. Ich wollte mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens beschäftigen, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben.
(H.D. Thoreau)
„Nach Rostock…“
Skåne – Schwedens südlichster Zipfel
Småland – Seen, Wälder, Bullerbü
Ich bin am Vättern!
Jetzt erst recht! – Die ersten Tausend
Sonnenverwöhnt durchs südliche Dalarna
Dalarna Nord – Wo sind meine Skier?
„Härliga Härjedalen“
Jämtland – Schöner geht’s nicht!
„Oh poor boy, you need more sun!“ – Regenzeit in Västerbotten
Mitternachtssonne am Polarkreis
140 km ohne Handynetz – Zwischen Sarek und Padjelanta
Gegen den Strom
Stecknadel im norwegischen Felsenhaufen
Finnlands Alpen
Dschungelcamp im Reisadalen
Verrückte Leute – Von Kautokeino nach Alta
Wandern, wo andere Autofahren – Mein Endspurt zum Nordkap
Just follow the reindeers
Epilog
13. März
BERLIN – da steht es schwarz auf gelbem Grund und durchgestrichen mit einem dicken, roten Balken. Schon hier am Ortsausgangsschild würde ich am liebsten umkehren. Was habe ich mir nur in den Kopf gesetzt? Fünf Monate mit dem auskommen, was in meinen Rucksack passt, ohne ein festes Zuhause und die meiste Zeit ganz allein. Über 3000 km zu Fuß – wie vergeblich erscheint da der einzelne Schritt…
Ich laufe trotzdem weiter – einfach, weil ich zu stolz bin, jetzt schon kleinbeizugeben. Die Luft ist kühl, der Himmel grau. Beidseits der Straße nach Hennigsdorf wächst Buchenwald. Die Zweige sind noch kahl und zwischen den Stämmen liegen matschig verklebt die modrigen Blätter des Vorjahres. Ab und zu düst ein Auto vorbei. Es ist der 13. März, der erste Tag meiner Wanderung von Berlin zum Nordkap. Ankommen kann nur, wer losgeht, und losgegangen bin ich – immerhin.
Ein paar Stunden später auf einem Waldweg gerade mal 15 km hinter Berlin bin ich vollkommen k.o. Der Rucksack scheuert an Beckenknochen und Schlüsselbeinen, mir tut so ziemlich alles weh und jeder Schritt wird zur Qual. Erschöpft lasse ich mich in einen Laubhaufen fallen. Der noch beinah winterliche Wald ist menschenleer und vollkommen still, kein Lüftchen regt sich, kein Vogel singt. Ich höre nichts weiter als meinen keuchenden Atem.
Vor mir liegen fünf Monate Freiheit, die ich mir hart erkämpft habe. Fünf Monate ohne den Lärm der Großstadt, ohne die Hektik auf dem Weg zur Arbeit, ohne das Gedränge in der U-Bahn, ohne den Gestank von Autoabgasen, ohne die tristen grauen Straßenzüge. Aber auch ohne meinen Mann Martin, meine Eltern, meine Freunde, ohne meine vertrauten Lieblingsplätze, ohne Kletterhalle, ohne Theatergruppe, ohne Sonntage mit Gottesdiensten und gemütlichem Frühstück im Straßencafé und ohne meine Arbeit als Arzt, die zwar oft anstrengend, aber ebenso oft auch voller schöner Momente ist.
Mutlos schaue ich den Waldweg hinab nach Norden. Dort irgendwo in unerreichbarer Ferne liegt mein Ziel. Ein ganzes Jahr lang habe ich fast jede freie Minute auf die Planung dieser Tour verwendet, abendelang über Landkarten gebrütet, Strecken vermessen und in den entlegensten skandinavischen Käffern nach Campingplätzen und Supermärkten gegoogelt. Ich war voller Vorfreude. Aber worauf eigentlich? In der warmen Wohnung, während draußen die Schneeflocken tanzten oder der Regen ans Fenster prasselte, hat sich das ganz anders angefühlt als jetzt, frierend und verschwitzt zugleich und mit einem Rucksack, den anzuheben mir graut.
Ich würde am liebsten aufgeben. Doch wenn ich jetzt umkehre, dann fühle ich mich erst richtig mies. Dann muss ich das Gefühl ertragen, eine womöglich einmalige Gelegenheit verpasst zu haben, und dagegen ist das bisschen Erschöpfung gar nichts. Jetzt ist meine Chance gekommen, eine so lange Wanderung zu unternehmen. Ich bin frei von allen Verpflichtungen. Mein neuer Job beginnt erst im September. Überall habe ich erzählt, dass ich bis dahin wegbleiben will. Niemand rechnet mit mir. Ich habe in Berlin nichts verloren. Für fünf Monate wird der Weg mein Zuhause sein. Das habe ich mir so ausgesucht und dabei soll es bleiben.
Ich schultere den Rucksack und schleppe mich weiter. Die Sonne kommt heraus und gleich geht es besser. Ein paar Rehe kreuzen meinen Weg. Es sieht wunderschön aus, wie sie leicht und elegant durchs Unterholz springen. Das sind herrliche Augenblicke in der Natur und dafür lohnt es sich unterwegs zu sein. Ich spüre, wie ich zu lächeln beginne. Es wartet so viel Schönes auf mich und ich will nichts auslassen. Ich bin ein Glückspilz! Die Möglichkeit, diesen Weg zu gehen, ist ein kostbares Geschenk, und ich werde es nicht leichtfertig wegwerfen wegen ein bisschen Muskelkater oder ein paar Blasen an den Füßen.
Allmählich werden die Buchen weniger und der für Brandenburg so typische Kiefernwald prägt die Landschaft. Immer lauter höre ich das Rauschen des Verkehrs auf dem Berliner Ring. Eine Brücke führt mich über die Autobahn. Ich bleibe stehen und sehe hinab. Wie schnell die alle sind! Aber neidisch bin ich nicht. Ich freue mich über meine neu gewonnene Langsamkeit. Ich habe so viel Zeit, dass ich es mir leisten kann, bis zum Nordkap zu laufen. Ist das nicht ein viel größerer Luxus als irgendein sportlicher Flitzer unterm Hintern?
Jenseits der Brücke fühle ich mich schon ganz weit weg. Die hohen Kiefern wippen sanft auf und ab. Der Lärm der Autos wird leiser. Inzwischen ist es später Nachmittag geworden. Ich muss mich nach einem Platz für die Nacht umsehen. Wildes Zelten ist in Deutschland nicht erlaubt, nur in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gibt es Sonderregelungen. Hier darf man außerhalb von Naturschutzgebieten oder ersichtlichem Privatgrund für eine Nacht ein Zelt aufstellen. Dieses Gesetz kennt allerdings kaum jemand, und deshalb sollte man sich lieber ein halbwegs abseitiges Plätzchen suchen, um nicht frühmorgens unsanft von irgendeinem übereifrigen Spaziergänger oder Hobbyjäger geweckt zu werden und über Paragraphen diskutieren zu müssen.
So früh im Jahr ist das Unterholz noch ziemlich licht, aber auf dem sanft hügeligen Waldboden gibt es ein paar Senken, die etwas Sichtschutz bieten. Der Himmel ist klar. Es wird bestimmt nicht regnen. Um weniger aufzufallen, lasse ich das Zelt weg und breite nur die Isomatte aus. Mit Einbruch der Dämmerung wird es rasch empfindlich kalt. Ich beeile mich, in meine warmen Nachtklamotten und dann in den Schlafsack zu schlüpfen. Wie eine dicke Raupe liege ich da und schaue, wie der Himmel immer dunkler wird und zwischen den Baumwipfeln die Sterne zu funkeln beginnen – ein wunderschöner Anblick, der für alle Strapazen des heutigen Tages entschädigt. Gut, dass ich nicht aufgegeben habe!
14. März
Als ich im Morgengrauen erwache, ist mein Lager von einer dicken Reifschicht bedeckt und in meiner Wasserflasche klappern Eisstückchen. Die Nacht war ordentlich kalt. Doch kaum bin ich wieder unterwegs, kommt richtig schön die Sonne durch. Heute geht es ein paar jener endlosen schnurgraden Alleen entlang, die für Brandenburg mindestens ebenso typisch sind, wie die Kiefernwälder. Rechts und links liegen Felder, Seen und von kleinen Bächen durchzogene Feuchtgebiete. Kraniche staksen umher und stoßen ihre charakteristischen Trompetenrufe aus.
Gegen Nachmittag humpele ich mit ersten heftigen Blasen nach Wustrau hinein. Der Ort ist sehr malerisch mit überwiegend alten Häusern und einem prächtigen Schloss. Im kleinen Dorf-Edeka versorge ich mich mit neuem Proviant und suche mir dann ein Plätzchen auf einer Bank am See. Am Ufer wachsen hohe, von Efeu berankte Bäume. So viel Grün zusammen mit dem Sonnenschein und dem Geschnatter unzähliger Wasservögel erinnert schon ein bisschen an Frühling. Ich verdrücke mühelos drei dick belegte Käsebrötchen. Unglaublich, wie hungrig mich die körperliche Anstrengung macht und wie gut eine so einfache Mahlzeit an der frischen Luft schmeckt.
Der Campingplatz "Zum roten Milan" liegt etwas versteckt, aber von außen gut beschildert im Garten eines Einfamilienhauses an der Dorfstraße. Ich bin der erste Gast in diesem Jahr. Die Betreiber des Platzes, ein freundliches älteres Ehepaar, sind sichtlich verwundert und auch etwas besorgt, dass ich bei diesen Temperaturen schon zelten will. Auf die Frage, wohin ich wandere, antworte ich beinah reflexartig "nach Rostock". Zuzugeben, dass ich zum Nordkap unterwegs bin, kommt mir gar nicht in den Sinn. Ich glaube selbst noch zu wenig daran, dass ich jemals dort ankommen werde.
Die Frau deutet auf einen Raubvogel, der über uns seine Kreise zieht. Das sei tatsächlich ein Milan, erklärt sie mir und daher rühre der Name ihres Campingplatzes. Sie zeigt mir auch den Turmfalken auf einem kleinen Sims unterhalb der Uhr des nicht weit entfernten Kirchturms. Dann drückt sie mir den Schlüssel zu den Waschräumen in die Hand. Auf die warme Dusche freue ich mich schon seit heute Morgen.
Hinterher kuschele ich mich in den warmen Schlafsack. Ich finde es wahnsinnig gemütlich, mit der Taschenlampe im dunklen Zelt zu liegen und zu lesen. Zu Beginn meiner Tour muss es Jack Londons "Ruf der Wildnis" sein, obwohl ich es in und auswendig kenne. Aber da ich nur ein Buch dabeihabe, brauche ich etwas, was ich immer wieder lesen kann.
15. März
Ich klingele an der Haustür meiner Gastgeber, um zu bezahlen. Im Flur riecht es angenehm nach frisch getoastetem Brot und Kaffee. Ich beneide die beiden um ihr warmes Häuschen. Jetzt in einer gemütlichen Küche an einem Tisch sitzen mit einem üppigen Frühstück vor der Nase..., aber für mich heißt es raus auf die zugige Landstraße.
Es geht übers freie Feld und durch prachtvolle Eichen- und Buchenalleen. Nach Osten öffnen sich immer wieder herrliche Blicke auf den Ruppiner See. Einige Kilometer hinter Wustrau entdecke ich einen Rastplatz und nutze die Gelegenheit für eine Pause. Es ist so windig, dass mir ständig irgendwelche Verpackungen wegfliegen und auch das Knäckebrot will nicht auf dem Teller bleiben. Andauernd muss ich aufspringen und rund um den Picknicktisch laufen, um alles wieder einzusammeln. In Ruhe frühstücken geht anders.
Neuruppin begrüßt mich mit einer Ansammlung hässlicher Gewerbegebiete. Das Highlight: Eine Döner-Bude auf dem Parkplatz eines Baumarktes und darüber in großen Leuchtbuchstaben die Aufschrift "Fontane-Döner". Ist das die Art, wie man hier dem wohl größten Sohn der Stadt huldigt, frage ich mich teils belustigt, teils entsetzt. Doch das Fontane-Denkmal in der Innenstadt versöhnt mich wieder. Überhaupt ist der Stadtkern sehr hübsch mit vielen historischen Gebäuden und weiten Marktplätzen dazwischen.
Als ich am Bahnhof vorbeikomme, wird gerade ein Zug nach Berlin durchgesagt. Auf diese Weise lässt sich die Strecke der letzten zweieinhalb Tage in weniger als einer Stunde zurücklegen. Ich befürchte kurzzeitig, dass ich Heimweh kriegen und versucht sein könnte, einzusteigen. Doch glücklicherweise bleibt mir das erspart. Immer mehr genieße ich mein Leben hier draußen auf dem Weg. Nicht zu wissen, wie der Tag verläuft und wo man abends schlafen wird, macht, wenn es ein selbst gewählter Zustand ist, ungeheuer frei. Ich lebe einfach von Schritt zu Schritt und ich sorge mich auch um nichts weiter als um den nächsten Schritt. Alles was mich sonst in meinem Alltag beschäftigt, tritt mehr und mehr in den Hintergrund und ich spüre, wie ich mich auf eine sehr tiefgreifende Art entspanne.
Es dauert eine Weile, bis ich sämtliche Ausläufer von Neuruppin hinter mir gelassen habe und die Einsamkeit der vorfrühlingshaften Kiefernwälder mich wieder aufnimmt. An der Landstraße stolpere ich über einen totgefahrenen Waschbären. Offenbar liegt er noch nicht lange hier. Kaum getrocknetes Blut klebt an seiner Schnauze und der Wind streicht sanft durch das noch glänzende Fell. Mit ein paar Ästen schaffe ich ihn zur Seite und spreche ein Gebet.
Kummer und Wut steigen in mir auf. Ein herrliches Tier, das vor ein paar Stunden noch voller Leben steckte, getötet – wofür? Weil irgendwer es wieder eilig hatte. Plötzlich erscheint mir das Ganze wie ein Sinnbild für das, was gerade weltweit geschieht. Wir gefährden das Wunder des Lebens und damit nicht zuletzt unsere eigene Existenz durch einen immer hektischeren, immer ausschweifenderen und immer bequemeren Lebensstil. Wir glauben, dass das, was wir tun, richtig ist und unser Leben leichter und schöner macht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir verschmutzen die Luft, die Meere und den Boden, wir treiben das Artensterben und den Klimawandel voran. Und alles, was dabei herauskommt, ist ein kranker Planet mit bettelarmen, unterernährten Menschen auf der Südhalbkugel und uns im reichen Norden – nervös, verwöhnt, überfordert und unersättlich. Ich will in den nächsten Monaten lernen gegen den Strom zu schwimmen: ein Leben nur mit dem Allernötigsten und mit dem Mut zur Langsamkeit.
Ich bin froh, als ich endlich von der Landstraße auf einen Forstweg abbiege. Ich habe die Autos gründlich satt. Stundenlang laufe ich durch menschenleeren Wald. Kurz vor Sonnenuntergang taucht am Rand einer Wegkreuzung ein überdachter Picknicktisch auf. Ich lege meine Isomatte unter eine Eiche mit weit ausladender Krone. Langsam bricht die Dunkelheit herein. Im Licht der Taschenlampe schreibe ich meine ersten Tagebucheinträge. Ich bin eine leuchtende Insel mitten im dunklen Wald. Eingekuschelt in den warmen Schlafsack ist das ein sehr gemütliches Gefühl. Zwischen dem kahlen Geäst über mir gehen nach und nach die Sterne auf. Der Löwe steht hoch im Süden und Orion ist schon irgendwo hinter den Baumwipfeln verschwunden. Es wird Frühling!
16. März
Der Himmel ist strahlend blau. Es geht weiter durch den Wald und dann übers Feld bis in ein Dorf namens Braunsberg. Mir begegnen nicht allzu viele Menschen, dafür ist das Hundegebell hinter den Gartenzäunen umso lauter.
Jenseits des Ortes beginnt eine alte, holprige Fahrstraße, die bis nach Rheinsberg führt. Der Untergrund ist für die Füße zwar eine echte Herausforderung, für Autos allerdings mindestens ebenso unattraktiv und so habe ich meine Ruhe. Am Wegesrand stehen prächtige, hoch gewachsene Birken mit weit hinabhängenden, noch unbelaubten Zweigen, die wie wallende Schleier im sanften Wind wehen. Angesichts der Schönheit der Bäume gerate ich in eine richtig euphorische Stimmung und denke zum ersten Mal sehr konkret: "Ja, ich schaffe das, und es werden unvergessliche fünf Monate."
Rheinsberg ist viel kleiner als Neuruppin und lässt sich deutlich rascher und stressfreier durchqueren. Ich kaufe neuen Proviant und verputze auf einer Bank in der Sonne eine Schale Himbeeren und ein großes Eis. Das Schloss liegt weithin sichtbar am Ende einer langen Allee. Eine Besichtigung kommt mit dem dicken Rucksack auf dem Rücken nicht in Frage und so begnüge ich mich mit dem äußeren Anblick.
Jenseits der Stadt geht es wieder durch Kiefernwald. Die tiefstehende Sonne schickt warme, orange Strahlen zwischen den Stämmen hindurch. Die Luft ist voller Harz- und Frühlingsduft. Irgendwann sehe ich Wasser hinter den Bäumen schimmern und wenig später erreiche ich eine große umzäunte Wiese am Seeufer. Am Eingang hängt ein Schild „Campingplatz am Bikowsee, geöffnet“. Weit und breit ist kein Mensch zu entdecken, auch kein Auto, Wohnwagen oder Zelt.
Vorsichtig drücke ich die Klinke des Gartentors, das sich quietschend öffnet. Eine Holztreppe führt auf die Terrasse eines Häuschens und zu einer Tür mit der Aufschrift "Rezeption". Ich trete in einen kleinen sonnigen Korridor. Auf den Fensterbrettern stapeln sich Prospekte über die Gegend, in der Ecke steht ein Schreibtisch. Ein reichlich absurdes, in allen möglichen Farben geschecktes Kaninchen mit Schlappohren hoppelt auf mich zu und beschnuppert meine Schuhe. Es ist zutraulich und lässt sich streicheln. Ich höre Schritte. Eine junge Frau kommt herein und streckt mir freundlich die Hand entgegen. Mal wieder bin ich der erste Gast in diesem Jahr.
Nachdem ich das Zelt aufgebaut habe, wird es rasch kühl und dämmerig. Über dem See ragen die schwarzen Silhouetten der Kiefern und Fichten wie Scherenschnitte in den Himmel, den das Abendrot in leuchtenden Farben erstrahlen lässt. Als das Rufen und Flügelschlagen der letzten Wasservögel verklungen ist, wird es ganz still. Nach und nach gehen die Sterne auf: Der Löwe mit Jupiter, das komplette Wintersechseck, alle zirkumpolaren Sternbilder, die Plejaden, und schließlich kann ich sogar den Andromedanebel erkennen. Ich ziehe den Schlafsack bis übers Kinn hinauf, schließe mit einem breiten Grinsen die Augen und denke an nichts Anderes als daran, wie glücklich ich bin.
17. März
Auf meinem Zelt liegt eine ordentliche Reifschicht. Klare Nächte sind oft bitterkalt. Erst nachdem ich ein dick mit Nutella und Erdnussbutter bestrichenes Brötchen verdrückt habe, kann ich mich dazu durchringen, mich aus dem warmen Schlafsack zu schälen und mir die eisigen Wanderklamotten überzuziehen. Gegen das Frieren helfen vor allem zwei Dinge: Bewegung und Kalorien – am besten Schokolade!
Zum Glück steigt die Sonne rasch höher und schon auf den ersten Kilometern scheint sie mir angenehm warm ins Gesicht. Nach etwa zwei Stunden passiere ich die Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern – ein kleiner Etappensieg, der mich sehr froh macht und mir das Gefühl gibt, voranzukommen. Ich halte an und fotografiere das Schild. Zwei Waldarbeiter, die in einem Auto am Wegesrand ihre Butterbrote essen, sehen mir belustigt zu.
Am frühen Nachmittag erreiche ich Mirow. Der Campingplatz liegt auf einer Wiese direkt am See und gehört zum benachbart gelegenen Strandhotel. Die Rezeption ist nicht besetzt, und im Restaurant herrscht gähnende Leere. Bei den beiden gelangweilt herumstehenden Kellnern löse ich mit der Bitte, draußen mein Zelt aufschlagen zu dürfen, das übliche Erstaunen aus. Auch hier bin ich, wer hätte das gedacht, der erste Campinggast in diesem Jahr. Die Waschräume noch nicht in Betrieb. Ich soll die Toiletten im Hotelrestaurant benutzen. Da gibt es zwar keine Dusche, aber dafür kostet mich die Übernachtung nur 5 Euro.
Wie gestern habe ich völlig freie Platzwahl und suche mir ein Eckchen direkt am Wasser mit herrlichem Seeblick. Ich schlage das Zelt auf und laufe anschließend nach Mirow hinein. In den hohen Bäumen auf der Schlossinsel schreien Unmengen Krähen und am Ufer dösen Enten in der Abendsonne. Neben dem Schloss, einer „bescheidenen“ Nebenresidenz der Herzöge von Mecklenburg-Strelitz, steht eine Johanniterkirche aus dem 14. Jahrhundert. Alle Gebäude sind aufwendig restauriert und der umgebende Park liebevoll angelegt. Dafür ist der Rest der Stadt ganz schön heruntergekommen. An manchen Stellen sieht es aus, als hätte sich seit über 30 Jahren nichts getan – eine kleine Zeitreise in die DDR, wie ich sie mir vorstelle.
Zurück auf der Zeltwiese bin ich wider Erwarten nicht ganz allein. Drei Teenie-Mädchen sitzen auf einer Bank und betrachten mich neugierig. Als ich mir meine Nachtklamotten anziehe, brechen sie in unterdrücktes Kichern aus. Offenbar passiert in diesem Kaff nicht viel Spannendes, wenn schon ein 34-Jähriger in unvorteilhaft geschnittener langer Unterwäsche für Stimmung sorgt.
Ich setze mich auf den Steg, lausche den langsam verstummenden Geräuschen der Wasservögel und schaue in das allmählich verblassende Abendrot. Unter mir spiegelt sich der Mond im Wasser und hoch über mir gehen die ersten Sterne auf. Unendlicher Friede! Ich frage mich, ob ich jemals zuvor so voll von innerer Ruhe gewesen bin. Das ist einer dieser perfekten Augenblicke, für die ich diese Reise unternehme.
18. März
Es ist trüb und windig. Ich wasche mich notdürftig auf der Toilette des Hotelrestaurants. Meine Trinkflaschen passen nicht unter den Wasserhahn des winzigen Waschbeckens. Also krame ich meine Tasse heraus, fülle sie mehrere Male und gieße den Inhalt in die Flaschen um. Ein adrett gekleideter Hotelgast kommt herein und sieht mich mitleidig-skeptisch an. Ich fange seinen Blick kurz auf und schaue dann weg. Theoretisch könnte ich auch hier im Hotel logieren, praktisch will ich es nicht!
Das Wetter ist ungemütlich-herbstlich. Langsam ändern sich Landschaft, Dörfer und Menschen. Ich spüre deutlich, dass das nicht mehr Brandenburg ist. Die Leute sprechen einen Dialekt, der weniger nach Berlin und mehr nach Küste klingt, Kiefernwald wird seltener und immer mehr Häuser sind reetgedeckt. Der Weg heute führt ausschließlich übers Feld – nur vereinzelt Bäume und weit und breit keine windgeschützte Stelle. Entsprechend zugig und zügig fallen meine Pausen aus.
Einige Autofahrer halten und bieten mir an, mich ein Stück mitzunehmen. Ich freue mich, dass es so nette Menschen gibt, lehne aber jedes Mal dankend ab. Ich will nicht zum Nordkap trampen, sondern jeden einzelnen Meter zu Fuß zurücklegen. Auf die Frage, wohin ich unterwegs sei, antworte ich immer noch „Rostock“ und ernte sogar dafür anerkennende Kommentare. Das sei aber noch sehr weit, meint eine Frau ehrlich besorgt. „Das macht nichts, ich habe Zeit“, erwidere ich und sehe innerlich lächelnd den Rücklichtern nach, wie sie im dunstig-trüben Licht hinter einer Kurve verschwinden.
Ich fühle mich angesichts des langen Weges, der noch vor mir liegt, gar nicht mehr so verzweifelt wie am ersten Tag. Manchmal lasse ich meine Gedanken weit vorausschweifen, meist aber denke ich nur an die nächsten paar Kilometer, vielleicht an den Abend, den Schlafplatz oder daran, dass ich Hunger habe, mehr nicht. Ich bin ganz im Hier und Jetzt angekommen. Der Weg soll mein Ziel sein, und ich bin erstaunt, wie leicht es mir fällt, diese Weisheit umzusetzen, – auch wenn feiner Nieselregen meine Wangen hinabläuft und ein frostiger Wind mir ins Gesicht pustet.
In Vipperow steht die Tür der Dorfkirche offen. Da das Gebäude von außen sehr hübsch aussieht, bin ich neugierig auf den Kirchraum und gehe hinein. Vorm Altar liegen Kränze und in den Reihen Psalmenblätter – „Der Herr ist mein Hirte…“. Zwei ältere Leute, ein Mann und eine Frau, sind damit beschäftigt, einen Beerdigungsgottesdienst vorzubereiten. Sie kommen offenherzig und freundlich auf mich zu und fragen mich in breitem Platt und gemessen an der Feierlichkeit des Raumes ziemlich laut, wohin ich unterwegs sei. Wieder antworte ich „Rostock“. Da sie schon etwas schwerhörig sind, muss ich diesmal beinah schreien. Sie erzählen mir umständlich und langatmig, alles Mögliche über ihr Dorf und ihre Kirche. Sie kennen jedes Wandbild und jede Fußbodenritze. Nicht ein Hauch von weihevoller Stille, aber unterhaltsam ist es trotzdem! Im Rausgehen werfe ich ein paar Münzen in die Spendendose am Eingang. Die beiden nicken mir zu und lächeln befriedigt.
Gegen Nachmittag erreiche ich Röbel. Wie auf mittelalterlichen Stadtansichten sehe ich mein Ziel schon von Weitem aus der sanft hügeligen Landschaft emporragen. Der Ort besitzt einen schönen alten Stadtkern mit Resten einer Stadtmauer und mehreren prächtigen Kirchen. Das Ganze wirkt ein wenig wie Lübeck im Kleinen. Im Sommer ist an der Müritz Einiges los, aber noch ist absolute Vorsaison. Überall geschlossene Eisbuden und Bootsverleihe – irgendwie gefällt mir das, denn es strahlt eine angenehme Ruhe aus.
Auf dem Campingplatz bin ich diesmal nicht der erste Gast. Hier und da stehen schon ein paar Wohnwagen. Die Dusche ist leider kalt, aber ich beiße die Zähne zusammen und werde trotzdem sauber. Beim Abendessen sehe ich zu, wie langsam der Mond zwischen den Säulenpappeln hinter meinem Zelt emporsteigt. Das kahle Geäst zeichnet sich geheimnisvoll vor dem dunkelblauen Nachthimmel ab. Hinter der Allee verläuft die Straße, und immer wieder flimmert Scheinwerferlicht zwischen den Bäumen hindurch. Doch bald schon wird die Welt ganz still, und ich krieche satt und zufrieden ins Zelt.
19. März
Gleich hinter Röbel beginnt ein malerischer, zum Teil fast tunnelartig von Sträuchern gesäumter Spazierweg, der mich in einen Wald hineinführt. Endlich wieder Wald! Hier aber mit mehr Laubbäumen und weniger Kiefern als in Brandenburg. Den ganzen Tag über wechseln Äcker und kleine Gehölze einander ab. Darüber wölbt sich ein freundlicher Frühlingshimmel und beständig ertönen die Trompetenrufe der Kraniche, die sich hier und da auf den Feldern neben mir mittels eines beeindruckend kräftigen und lauten Flügelschlags majestätisch in die Luft erheben.
In der Ferne sehe ich die Klosterkirche von Malchow, lange bevor ich den Ort tatsächlich erreiche. Die Altstadt drumherum ist perfekt restauriert, der Rest ist ziemlich trist. An der Ausfallstraße nach Westen finde ich einen Lidl. Es landen reichlich Kilos in meinem Einkaufswagen, denn ich muss für zwei Leute einkaufen. Morgen wird mein Kumpel Jan mit der Bahn hier ankommen und mich zusammen mit seinem Hund Jerry bis Rostock begleiten.
Wenn ich auf den Parkplätzen vor den Supermärkten meine Einkäufe im Rucksack verstaue, werde ich meistens von irgendwem angesprochen. Es sind immer wieder dieselben Fragen. Wo ich hin wolle und warum, ob der große Rucksack nicht zu schwer sei, wie viele Kilometer ich pro Tag schaffe… Manche Leute sind nett und interessiert, machen bewundernde Kommentare oder scheinen mich gar zu beneiden, so als sähen sie in mir jemanden, der etwas wagt, was sie auch gern tun würden. Andere behandeln mich misstrauisch oder von oben herab. Ich glaube sie halten mich für einen armen Irren, einen Sozialfall, einen Obdachlosen oder einen komischen Aussteiger, der sich nirgends anpassen kann und mit dem man auf keinen Fall tauschen möchte.
Dass ich als Wanderer so häufig für Aufsehen sorge, ist irgendwie kurios. Schließlich ist das Gehen doch die natürliche Fortbewegungsweise des Menschen. Ich stelle mir vor, Autofahren wäre die Ausnahme. Dann würden die Rucksackträger die Autofahrer neugierig oder argwöhnisch ansprechen: „Interessant, Sie fahren Auto, das sieht man selten. Warum machen Sie das? Wo soll es denn hingehen? Macht das Spaß? Ist es nicht sehr anstrengend? Na dann viel Glück!“
Der Campingplatz liegt ein paar Kilometer westlich von Malchow am Plauer See. Wegen des schweren Einkaufs und auch weil es schon spät ist, entscheide ich mich für den unangenehmeren, aber kürzeren Weg entlang einer stark befahrenen Schnellstraße – zur Rechten ein zugemüllter Straßengraben, zur Linken der dicht an mir vorbeidüsende Verkehr. Nicht gerade das schönste Teilstück meiner Wanderung! Ich bin sehr erleichtert, als ich endlich wieder in den Wald abbiegen kann. Der Straßenlärm wird leiser, ich höre die Vögel wieder singen und spüre, wie ich innerlich ruhiger werde.
Hinter einer Wegbiegung taucht der Eingang zum Campingplatz auf. Halb sieben – hoffentlich treffe ich hier überhaupt noch jemanden an. Das Rezeptionsgebäude ist verschlossen, aber da hängt ein Zettel mit einer Telefonnummer. Der Mann am anderen Ende erlaubt mir, mein Zelt aufzubauen und morgen zu bezahlen. Wieder mal freie Platzwahl! Nirgendwo sehe oder höre ich einen Menschen – fast ein wenig unheimlich. Das Ganze würde gut als Filmkulisse taugen – nach verhängnisvoller Epidemie völlig entvölkerte Erde. Waschhaus, Küche, Terrasse mit Gartenmöbeln, Campinghütten, Spielplatz, quietschende Schaukel – alles verlassen, im Dämmerlicht und mitten im Wald.
Ich stelle mein Zelt auf einer Wiese zwischen ein paar Birken auf. Ein dichter Erlenbruch verdeckt die Sicht auf den Plauer See. Doch weit kann es nicht sein, denn ich höre die Wellen gegen die Uferböschung schlagen. Und plötzlich ist da noch ein anderes Geräusch, das langsam näherkommt. Scheinwerferlicht flackert zwischen den Baumstämmen und kurz darauf hält ein Pickup vor meinem Zelt. Zum Glück keine Horde Zombies, sondern nur der Campingplatzbesitzer, der netterweise doch noch gekommen ist, um mir einen Schlüssel für die Waschräume zu geben.
Nachdem ich geduscht habe, lasse ich sogar noch Waschmaschine und Trockner laufen, und zwei Stunden später stopfe ich einen Schwung warme, duftende Wäsche zurück in meinen Packsack. Ich merke, wie sehr ich mich darüber freue. Zu Hause hätte ich das Zeug einfach vom Wäscheständer gerupft und achtlos in den Schrank geworfen, als wäre saubere Kleidung eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht kann ich auf dieser Reise lernen, dankbarer zu sein für das Alltägliche und scheinbar Banale.
20. März
Tag acht, mein erster Pausentag. Nach dem Aufwachen bleibe ich noch eine Weile eingekuschelt in meinen warmen Schlafsack und genieße es, nicht sofort in die eisigen Wanderklamotten zu schlüpfen. Gegen zehn Uhr raffe ich mich auf, um Jan vom Bahnhof abzuholen. Da ich absolut keine Lust habe, nochmal an der Schnellstraße entlang zu laufen, studiere ich die Karte auf der Suche nach einer Alternative. Die werden wir für den gemeinsamen Rückweg sowieso brauchen, denn für Jerry sind die vorbeirasenden Autos sicher eine noch größere Quälerei als für uns.
Bevor ich den Waldweg in Richtung Stadt einschlage, mache ich einen Abstecher zum See. Ich bin neugierig, was ich da die ganze Zeit nicht weit von meinem Zelt plätschern höre, ohne es sehen zu können. Ein schmaler Pfad führt mich zum Ufer. Die Bäume reichen bis ans Wasser und die kahlen Äste biegen sich im Wind. Die Wellen, die sich auf dem schmalen Sandstrand brechen und sogar ein wenig Gischt aufwerfen, sind gar nicht so klein. Der graublaue See im Kontrast mit dem ockerfarbenen Schilf und die rasch ziehenden weißen Wolken am klaren Frühlingshimmel bieten ein herrliches Farbenspiel. Plötzlich raschelt es im Unterholz und dicht neben mir sitzt ein Hase im Gebüsch. Für einen winzigen Augenblick treffen sich unsere Blicke, dann macht er sich mit beeindruckender Geschwindigkeit davon.
Als ich mich Malchow nähere, zieht sich der Himmel mehr und mehr zu und es beginnt zu regnen. Eine halbe Stunde muss ich rumbringen, bis Jans Zug kommt. Ich setze mich, durchnässt wie ich bin, in das überdachte Wartehäuschen auf dem Bahnsteig, eine Bahnhofshalle gibt es nicht, und lese den „Ruf der Wildnis“. Als der Zug einrollt, bin ich, passend zur Lektüre, ziemlich blau gefroren. Doch zum Glück klart das Wetter wieder auf und der Rückweg zum Campingplatz wird zu einem sehr angenehmen Spaziergang. Es ist schön, nicht mehr allein unterwegs zu sein.
Im Vorfeld meiner Reise habe ich oft darüber nachgedacht, ob eine so lange Solotour eine gute Idee ist, und immer wieder bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich es nur herausfinden kann, indem ich es ausprobiere. Was wäre die Alternative? Warten bis ich jemanden finde, der für eine gemeinsame Reise in Frage kommt? Die Anzahl an Leuten, mit denen ich mir vorstellen kann, so viel Zeit zu verbringen und so intensive Erlebnisse zu teilen, ist ziemlich überschaubar. Und wer hätte überhaupt Lust, zum Nordkap zu laufen und könnte sich genau zur selben Zeit wie ich ein halbes Jahr freinehmen? Bis das alles so zusammentrifft, bin ich alt und grau oder tot und in jedem Fall zu keiner Langstreckenwanderung mehr in der Lage. Also muss ich eben alleine gehen oder es wenigstens versuchen und zwar jetzt.
Jan baut sein Zelt neben meinem auf und drückt mir beim Auspacken einen nicht gerade leichten Beutel in die Hand. Stimmt, das sind alles Sachen, die mitzubringen ich ihn gebeten habe, nur notwendige Dinge, aber trotzdem werde ich ordentlich daran zu schleppen haben: eine volle Gaskartusche, Wanderkarten für die nächsten 1700 km und neue Lektüre – natürlich „Nils Holgersson“, was sonst sollte man lesen während man Schweden von Süd nach Nord durchquert?
Mein Rucksack ist mir bisher schon nicht gerade leicht vorgekommen, aber jetzt... Mir graut ein bisschen vor Morgen. Wieder einmal spüre ich diese Diskrepanz zwischen Planung und Wirklichkeit. Ich habe mir das alles zu Hause am Schreibtisch genau überlegt. Mich nun aber tatsächlich ganz langsam Tag für Tag mit 25 kg auf dem Buckel vorwärts zu bewegen, das ist etwas völlig anderes. Ich bin ein verschwindend kleiner Punkt inmitten von Wäldern, Feldern und Bergen, und zwischen Start und Ziel liegen etwa 5 Millionen Schritte.
Wir unternehmen einen ausgedehnten Spaziergang am Plauer See entlang. Es ist windig, aber sonnig. Die Wolken ziehen rasch dahin und bilden bizarre Formationen. Die Landschaft ist in ein helles Frühlingslicht getaucht, das die Farben beinah unwirklich leuchten lässt. Jan ist begeistert und sagt immer wieder, wie wunderbar erholsam das sei: der weite Blick und die frische Luft. Auch ich genieße es, aber nicht als etwas Neues, sondern als etwas Vertrautes. Ich bin erst eine Woche unterwegs und nur 160 km von Berlin entfernt. Und doch trennen mich Welten von dem Leben, das ich normalerweise führe. Zwei Wildgänse fliegen über dem Acker eine Schleife und landen elegant auf dem See. Irgendwie fühle ich mich ihnen verbunden, denn dieses Frühjahr ziehe auch ich nach Norden.
21. März
Schluss mit der gestrigen Gemütlichkeit! Nachdem wir den Plauer See hinter uns gelassen haben, wandern wir mehrere Kilometer direkt an der A19 entlang, wenn auch mit einem hohen Zaun zwischen uns und der Fahrbahn – ein ermüdendes Stück Weg und obendrein beginnt es zu nieseln. Ich spüre den Rucksack mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Nach einer Weile fühlt es sich beinah an wie am ersten Tag.
Gegen Mittag biegen wir endlich auf einen Waldweg ab. Plötzlich läuft in gemütlichem Trab ein weißer Labrador an uns vorbei, bleibt stehen, wendet sich um und sieht uns an – fast so als würde er lächeln. Er und Jerry beschnuppern sich. Dann geht der fremde Hund voraus, kontrolliert jedoch alle paar Meter mit einem Blick über die Schulter, ob wir ihm auch folgen. Weil er gar nicht wieder verschwinden will, locken wir ihn mit etwas Brot zu uns heran. Zum Glück frisst er uns buchstäblich aus der Hand, und wir können ihn am Halsband fassen, wo wir eine Telefonnummer finden.
Etwa zehn Minuten später hält ein Kombi neben uns auf dem Waldweg. Unser neuer Freund ist inzwischen ganz zutraulich geworden, hat sich zu uns auf den Rand der Böschung ins Gras gelegt und lässt sich streicheln. Eine Frau steigt aus dem Auto und bedankt sich überschwänglich, dass wir ihr so rechtzeitig Bescheid gesagt haben. Ihr Hund gehe gerne mal stiften und sie habe schon viel weiter fahren müssen, um ihn wieder einzusammeln. Sie verfrachtet den Ausreißer im Kofferraum und der Wagen holpert davon. Unser kurzzeitiger Reisegefährte blickt uns durch die Heckscheibe nach. Ich weiß, dass Hunde nicht winken können, aber es hätte gut zu seinem freundlichen Gesichtsausdruck gepasst, wenn er es getan hätte.
Nachmittags schlagen wir unsere Zelte zwischen ein paar großen Findlingen auf. Eine Infotafel erklärt, dass es sich um ein jungsteinzeitliches Grab handelt. Die dicken Brocken begrenzen einen Kreis von einigen Metern Durchmesser, in dem sich große Mengen alten Laubs angesammelt haben. Hier ist es windgeschützt, weich und gemütlich. Das findet auch Jerry, der sich tief in den Blättern vergräbt. Wir schmeißen den Kocher an, machen uns Kaffee und essen dazu reichlich Süßkram. Dabei kommen wir ins Plaudern und vergessen völlig, dass es eigentlich ziemlich kalt und nass ist.
Gegen Abend allerdings geht der Nieselregen in einen veritablen Platzregen über und wir müssen uns fluchtartig in die Zelte verkriechen. Es pladdert so laut, dass wir uns, obwohl kaum zwei Meter zwischen uns liegen, kaum noch verständigen können. Mit viel Gebrüll einigen wir uns darauf, uns heute nicht mehr zum Kochen hinauszubewegen. Nüsse, Kekse und Schokoriegel, wovon jeder noch einen ordentlichen Vorrat bei sich im Gepäck hat, schmecken ja auch ganz gut.
Ich bleibe noch lange wach, schreibe Tagebuch, lese und träume vor mich hin. Solche Abende sind, trotz aller scheinbaren und zum Teil auch realen Unbequemlichkeit, auf ihre Art wahnsinnig erholsam, denn auf 2 m2Zelt kann man beim besten Willen nichts weiter tun, als auf der faulen Haut zu liegen.
22. März
Zwar packen wir im Trockenen zusammen, doch als wir losgehen, nieselt es schon wieder. Wir kommen trotzdem – oder vielleicht auch deshalb – gut voran und erreichen schon gegen 13 Uhr den Campingplatz in Krakow.
Als der Regen aufhört, setzen wir uns mit einem warmen Kakao vors Zelt. Wenn der auch nur mit heißem Wasser aufgegossen ist, so schmeckt er hier draußen doch tausendmal besser als irgendeine abgefahrene „spicy flavored premium caramel double hot Chocolate“ in einer großstädtischen Café-Lounge. Das fasziniert mich am Unterwegssein immer wieder: Was ich unter normalen Umständen für unbequem und strapaziös halten würde, kann ich in vollen Zügen genießen und bin dabei viel glücklicher, als ich es umgeben von allem erdenklichen Komfort jemals sein könnte. Natürlich ist nicht plötzlich Sommer geworden. Wir bibbern und unsere Hände sind rau und aufgesprungen, aber umso schöner ist es, die warme Tasse mit allen Fingern zu umschließen. Wir schauen über den See, lauschen dem Geschnatter der Wasservögel und atmen die frische Luft. Es ist ein Irrtum, dass Verzicht zwangsläufig Entbehrung bedeuten muss. Verzicht als freiwillige, bewusste Handlung kann ungeheuer bereichernd sein.
Verglichen mit den Campingplätzen, die mir bislang untergekommen sind, herrscht hier schon ordentlich Betrieb. Viele Dauercamper haben die Saison bereits eingeläutet und nutzen den regenfreien Nachmittag, indem sie Ostersträucher schmücken, Rasen mähen, Gartenmöbel reparieren... Wir laufen den kurzen Weg nach Krakow hinein zum Supermarkt, um neuen Proviant zu besorgen. Zurück am Zelt löffeln wir unser Abendessen, wiederum mit Blick auf den See. Von irgendwoher weht Schlagermusik herüber, die verwaisten Schaukeln auf dem Spielplatz am Ufer quietschen im Wind, die Wasserrutsche ist noch ganz im Besitz kreischender Möwen. Im Sommer, das kann man sich gut vorstellen, geht es hier sicher weniger beschaulich zu. Doch das fühlt sich weit weg an.
23. März
Bis zum nächsten Campingplatz in Schwaan sind es 43 km. Wir beschließen, das in zwei Etappen zu teilen und unser Nachtlager irgendwo kurz vor Güstrow aufschlagen. Es gibt dort eine Jugendherberge, wo allerdings dem Internet zufolge keine Hunde erlaubt sind. Ich hoffe, dass sie eine Ausnahme für uns machen werden. Falls nicht, wird sich schon irgendetwas anderes ergeben. Wir laufen erstmal los und schauen, was der Tag uns bringt.
In Sachen Hundegebell ist heute reichlich was los! Jetzt mit Jerry melden sich die Vierbeiner auf den Dörfern und Bauernhöfen am Weg noch lauter zu Wort, als ich das allein und ohne Hund schon ein paar Mal erlebt habe. Hinter einem zum Glück ziemlich hohen Zaun rennt eine Dogge aufgeregt hin und her und stolpert dabei mehrfach über ein im Weg stehendes Bobby-Car. Es wirkt wie eine ziemlich gut geprobte Slapstick-Einlage, und ich muss ein wenig schmunzeln. Dennoch habe ich ordentlich Respekt vor dem großen, muskulösen Tier und bin dankbar für den Zaun.
Am frühen Nachmittag erreichen wir die Jugendherberge. Jan wartet mit Jerry draußen. Die Dame an der Rezeption mustert mich mit einigem Widerwillen, dann zwinkert sie aufgeregt mit den Augen. Ein Wanderer mit großem Rucksack, matschigen Schuhen, wirrem Haar, der obendrein noch etwas verschwitzt riecht, und so was in einer Jugendherberge! Wäre ich ins Ritz Carlton hineingestapft, ich hätte mich kaum unwohler gefühlt.
Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen habe, schüttelt sie hektisch mit dem Kopf und macht abwehrende Gesten mit den Händen. „Ja, ja, ich geh ja schon“ denke ich etwas erschreckt. Dann aber nehme ich nochmal allen Mut zusammen, setze mein gewinnendstes Lächeln auf und frage, ob sie eventuell einen Tipp hat, wo in der Nähe zwei Wanderer mit Hund für eine Nacht unterkommen könnten.
Ein wenig Mitleid scheint sich in ihr zu regen. Jedenfalls überlegt sie kurz und meint dann, wir sollten es ein Stück die Straße runter beim Hotel Grenzburg versuchen, da dürfe man zu dieser Jahreszeit manchmal im Garten zelten. Ihre Stimme klingt nach einer Mischung aus Überlegenheit und schlechtem Gewissen. Für mich fühlt es sich an, als hätte ich um ein Almosen gebettelt und sie mir 50 Cent zugeworfen. Ich bedanke mich – halb aufrichtig, halb gespielt – und spüre ihren erleichterten Blick im Rücken, als ich durch die vollautomatische, kindersichere Hightech-Drehtür zurück auf den Parkplatz stiefele.
Die Zeiten, als Jugendherbergen für Low-Budget-Wanderer da waren, sind wohl vorbei. Diese Jugendherberge zumindest hat sich ganz auf besserverdienendes Klientel eingeschossen. Blankpolierte, auf Geländewagen gestylte Familienkutschen mit WWF-Aufkleber an der Heckscheibe glänzen in den Parkbuchten, und auf dem Abenteuerspielplatz wuseln Kinder in teuren, blitzsauberen Outdoor-Klamotten herum.
Völlig anders das Hotel Grenzburg, – es liegt ein Stück ab von der Straße am Ende eines Feldweges neben einer Schafweide. Schon von Weitem sehen wir rundherum im Garten verteilt mehrere Zelte und Wohnwagen. Das Ganze wirkt eher ländlich-bodenständig, nicht besonders protzig und irgendwie nett.
Ein locker gekleideter Typ kommt auf uns zu. Diesmal haben wir mehr Glück und dürfen bleiben. „Ja klar“ meint er „aber wir bauen für Ostern einen Mittelaltermarkt auf, und es springen schon reichlich Hunde herum. Falls euch das nicht stört, herzlich willkommen!“ Er deutet auf ein windschiefes kleines Häuschen etwas abseits der Zelte. „Da hinten steht der Toilettenwagen, Duschen gibt’s nicht.“
Wir nicken. „Kein Problem.“
„Dann gebt mir einfach jeder ‘nen Fünfer, das passt schon.“ Wir fingern mit dreckigen Händen in unseren Geldbeuteln herum. Hier scheint unser Aufzug niemanden zu stören. Der Typ stopft sich unsere zerknickten Scheine in die Hosentasche. „Fühlt euch wie zu Hause“, sagt er noch und verschwindet im Haus.
Etwa ein Dutzend Menschen sind, teils in Freizeitklamotten, teils in irgendwelchen Mittelalterkostümen, damit beschäftigt, Marktbuden zusammenzuhämmern, Lagerfeuer aufzuschichten oder an irgendetwas herumzuwerkeln. Auf jeden Zweibeiner kommt mindestens ein Vierbeiner. Ein ausgelassener, schneeweißer Welpe mit seidigem Fell schießt auf uns zu und will mit Jerry spielen. Der lässt sich zwar ein bisschen darauf ein, macht aber ansonsten einen auf altersweise, so als würde er sagen „Naja Kleiner, wenn’s sein muss ganz kurz, aber danach möchte ich gern gemütlich vorm Zelt liegen.“
Bei Einbruch der Dämmerung gibt es ein beeindruckendes, etwa einstündiges Bell-Konzert. Nicht nur die Hunde auf dem Hotelgelände stimmen mit ein, sondern sämtliche Hunde im Umkreis von bestimmt fünf Kilometern scheinen sich verschworen zu haben. Ein paar Mal kehrt für wenige Sekunden Ruhe ein, dann muss wieder einer unbedingt das letzte Wort haben. Die Sache ist eher belustigend als störend und wir brechen jedes Mal in lautes Gelächter aus, wenn irgendein kleiner Kläffer in der Ferne die Stimmung aus einem kurzen Moment der Stille heraus erneut anheizt. Erst als es richtig dunkel ist, nimmt die Darbietung ein Ende, und wir verkriechen uns in unsere Zelte.
24. März
Ein neuerliches Bell-Konzert in der Morgendämmerung treibt uns früh aus den Federn und so sind wir gegen neun Uhr schon mitten in Güstrow. In einer gemütlichen Bäckerei gönnen wir uns ein ausgedehntes Frühstück im Warmen. Gut gelaunt fallen wir in die weichen Polstersessel, trinken Kaffee und Kakao und essen dick belegte Brötchen und Kuchen.
Hinterher fühlen wir uns so satt, dass wir uns kaum noch bewegen können. Etwas träge schlendern wir durch Güstrow. Zuerst am Schloss vorbei – ein beeindruckendes Renaissancebauwerk samt Parkanlage – und dann über den Marktplatz, wo reger Gründonnerstags-Vormittags-Einkaufsrummel herrscht. Die Altstadt ist gut erhalten und für Fans norddeutscher Backsteingotik sicher ein echtes Eldorado. Die Atmosphäre erinnert an Lübeck. Die Hansezeit lässt grüßen, und bis zur Ostsee ist es nicht mehr weit!
Vor einem Supermarkt am Ortsausgang halten wir an. Jan wartet mit Jerry draußen. Ich gehe hinein, um schnell unsere Einkäufe zu erledigen. Doch daraus wird nichts, wenigstens nicht aus dem „schnell“. Überall stolpere ich über halb ausgepackte Warenkartons, prollige Eltern schimpfen lautstark mit bockig quengelnden Kleinkindern und in den engen Gängen beladen übergewichtige Rentner in aller Gemütsruhe ihre Gehwagen mit Ostereinkäufen. Frisches Brot gibt es nirgends und die Obst- und Gemüseabteilung ist so klein, dass ich lange danach suchen muss. Das Sortiment scheint im Wesentlichen aus Süßkram, Chips, zuckerhaltigen Getränken, Bier und Spirituosen zu bestehen. Immerhin, in Sachen Kalorienbomben kann ich unseren Proviant erfolgreich aufstocken.
Als ich nach langem Anstehen an der einzigen geöffneten Kasse endlich wieder auf die Straße trete, stehen Jan und vor allem Jerry schon ziemlich ungeduldig draußen an der stark befahrenen, lauten Ecke. Auch ich bin genervt. Natürlich bin ich aus Berlin viel größeren Trubel und vollere Supermärkte gewöhnt, aber scheinbar haben mich die knapp zwei Wochen, die ich jetzt unterwegs bin, schon so dem Stadtleben entwöhnt, dass mir selbst Güstrow mit seinen etwa 30.000 Einwohnern zu viel ist.
Die Ausfallstraße nach Norden haben wir rasch gefunden und bald wird es ruhiger. Wir wandern über einsame Feldwege und durch kleine Dörfer. Nur die letzten paar Kilometer entlang einer Schnellstraße sind nochmal so richtig anstrengend. Ein Auto nach dem anderen düst an uns vorbei. Jerry tut mir echt leid, und auch wir sind ganz schön erledigt, als wir endlich den Campingplatz erreichen. Die Frau an der Rezeption freut sich, dass auch mal Leute zu Fuß kommen. Radler gäbe es ab und zu, aber Wanderer seien wirklich selten, erst recht zu dieser Jahreszeit. Auf ihre Frage, wo es hingehe, antworte ich zum ersten Mal nicht „nach Rostock“, sondern sage, dass ich mit der Fähre nach Schweden will, um ein bisschen in Richtung Norden zu laufen. Langsam fange ich zumindest an, daran zu glauben, dass ich es weiter als bis Rostock schaffe. Wie weit, das wird sich zeigen.
25. März
Regen, Regen, Regen – den ganzen Tag. Aber mit dem Wissen, dass wir nachmittags Rostock erreichen, wo ein warmes Hotelzimmer auf uns wartet, ist das gar nicht so schwer zu ertragen. Das erste Stück des Weges bis nach Schwaan führt uns an der Warnow entlang. Trotz des Wetters ist die Landschaft bezaubernd. Die Bäume am Ufer neigen sich tief hinab und die bizarren Silhouetten der kahlen Zweige zeichnen sich scharf vor dem grauen Nebeldunst über den Flussauen ab. Das noch herbstlich gefärbte Schilf leuchtet beinah golden.
Schwaan ist ein kleines Städtchen mit gut erhaltenem Altstadtkern. Doch heute an Karfreitag sind alle Geschäfte geschlossen und der Ort wirkt etwas ausgestorben. Wir lassen ihn rasch hinter uns und nutzen bis Rostock den gut beschilderten Berlin-Kopenhagen-Radweg. Hier läuft es sich sehr bequem, da die Strecke überwiegend asphaltiert ist, – ein Segen, denn die schmalen Feldwege dürften heute ganz schön vermatscht sein. Am Rand stehen beeindruckend große und breite Weiden, die der peitschenden Weide in Hogwarts echt Konkurrenz machen könnten. Netterweise tun sie es nicht, wenigstens nicht während wir vorbeigehen.
Nach einigen Stunden erreichen wir einen Rastunterstand und nutzen die Chance auf eine Pause im Trockenen. Der Blick hinunter ins dunstverhangene Tal der Warnow ist herrlich. Die einzelnen Elemente der Landschaft verschwimmen ineinander, so dass alles wie gemalt aussieht. Trotz der Nässe ist es wärmer als an den vergangenen Tagen, wahrscheinlich weil kaum ein Lüftchen weht. Jedenfalls fangen wir nicht so schnell an zu bibbern wie sonst und können uns ein gemütliches zweites Frühstück gönnen. Auch Jerry bekommt ein paar Leckerlis, was ihm offenbar derart Auftrieb gibt, dass er einige Kilometer später völlig ohne Vorankündigung ins Feld saust, um auf seine alten Tage doch nochmal einem Hasen nachzusetzen. Alles Rufen ist vergeblich und nach kürzester Zeit ist er hinter einem Hügelkamm verschwunden. Zum Glück taucht er wenig später mit hängender Zunge und ziemlich außer Atem wieder auf. Der Hase war wohl doch zu schnell.
Am frühen Nachmittag passieren wir das Ortsschild „Rostock“. Mein erstes großes Etappenziel! Immerhin 250 km liegen hinter mir. Das sind zwar erst 7,5% der Gesamtstrecke, aber von solchen Rechenexempeln will ich mich nicht entmutigen lassen. Bisher macht mir das Wandern so viel Spaß, dass ich allen Grund habe, den viereinhalb Monaten, die noch vor mir liegen, voller Vorfreude entgegen zu sehen. Die vorbeirasenden Autos wirbeln reichlich Matsch auf. Doch statt mich zu ärgern, spritze ich vergnügt zurück, indem ich schwungvoll in jede Pfütze patschte. Ich bin einfach nur glücklich.
Die Damen an der Rezeption des ibis Hotels am Warnowufer schauen ein wenig pikiert, als wir wie drei begossene Pudel die Lobby betreten. Einen Moment befürchte ich, dass sie uns hochkant rauswerfen, aber wir haben reserviert und uns wurde telefonisch versichert, dass Hunde erlaubt seien. Tatsächlich händigen sie uns, wenn auch leicht konsterniert, unsere Schlüsselkarten aus.
Der Platz im Zimmer ist für einen Vierbeiner und zwei Zweibeiner nicht eben großzügig bemessen. In der Mitte stehen zwei dicht zusammengeschobene Betten, um die man geradeso herumgehen kann, und im Nu haben wir bis in die hinterletzte Ecke alles mit unseren nassen Klamotten vollgehängt. Irgendwie ist es aber trotzdem gemütlich.
Das absolute Highlight ist die Dusche! Sie ist warm und es gibt sogar Duschgel und Shampoo – für mich ein echter Luxus, weil ich mich sonst mit einem Stück Seife begnüge. Das wiegt weniger, hält länger und kann im Rucksack nicht auslaufen. Der krönende Abschluss meines Wellness-Vergnügens ist ein großes, weiches Frotteehandtuch als willkommene Abwechslung zu meinem meist etwas klammen 40x90 cm kleinen „Outdoor-Lappen“.
Abends gehen wir Pizza essen, um unsere Ankunft in Rostock zu feiern. Später beim Einschlafen bin ich mit meinen Gedanken schon halb in Schweden. Ich liebe dieses Land mit seinen unendlichen Wäldern im Süden und der einsamen Bergwelt im Norden, mit seinen unzähligen Seen, den klaren Bächen und Flüssen, den oft wilden Wolkenformationen am Himmel und dem weiten Horizont. Morgen Abend legt meine Fähre nach Trelleborg ab und ich werde Deutschland für knappe fünf Monate verlassen – länger als jemals zuvor in meinem Leben.
26. März
Obwohl eine Matratze natürlich viel bequemer ist als eine Isomatte, schlafe ich nicht besonders gut. Es ist einfach zu warm im Zimmer, und die Luft fühlt sich abgestanden an. Wahrscheinlich werde ich nach dieser Reise und den unzähligen Nächten im Zelt vollkommen unfähig sein, in geschlossenen Räumen auch nur ein Auge zuzutun. Aber momentan kann ich mir kaum vorstellen, dass es eine Zeit nach der Tour überhaupt geben wird. Mein Magen knurrt, und ich denke nicht viel weiter als bis zum Frühstück.
8 Uhr ist ziemlich früh für ein Osterwochenende, und so haben wir für ungefähr eine Stunde das ganze Buffet für uns. Wir hauen ordentlich rein, und hinterher begleite ich Jan zum Bahnhof. Das liegt zwar nicht auf dem direkten Weg zum Seehafen, aber ich habe massig Zeit. Meine Fähre fährt erst um 23 Uhr und bis zum Anleger sind es nur 12 km.
Ich stehe auf dem Bahnsteig und schaue dem Zug hinterher. Ganz plötzlich schnüren mir aus heiterem Himmel Heimweh und Zweifel die Kehle zu. Werde ich es schaffen, so lange allein zu sein? Wird das wirklich Spaß machen oder zu einer einzigen Quälerei ausarten? Wäre es nicht das Vernünftigste, mir einzugestehen, dass ich mich verschätzt habe? Das Ganze ist doch wohl eine Nummer zu groß für mich. Am besten ich fahre noch heute zurück nach Berlin.
Ich gehe hinunter in den Zeitungsladen und laufe unschlüssig zwischen den Auslagen herum. Ich tue als würde ich nach etwas Bestimmtem suchen, lese aber in Wirklichkeit nichts von all den Schlagzeilen, sondern hänge meinen Gedanken nach. Da ist etwas in mir, das sich wahnsinnig auf die Tour freut. Eine ganz neue Unabhängigkeit liegt vor mir, zum Greifen nah. Ich muss nichts weiter tun, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, ganz ohne Alltagsverpflichtungen. Vielleicht sollte ich das Ganze als einen Versuch betrachten. Ich bin frei, und damit auch frei, meine Reise jederzeit zu beenden. Ich werde es genauso machen, wie ich es vorgestern der Frau auf dem Campingplatz erzählt habe: Ich fahre nach Schweden und wandere ein bisschen in Richtung Norden. Wenn ich es bis zum Nordkap schaffe, gut – wenn nicht, auch gut.
Mit dieser Sichtweise auf mein Vorhaben geht es mir besser. Ich kaufe eine „Zeit“ und setze mich in ein Café auf dem Bahnhofsvorplatz. Schließlich ist das hier meine vorerst letzte Chance, ausgiebig in einer deutschsprachigen Zeitung zu lesen. Ungefähr zwei Stunden hänge ich bei Tee und Kuchen in einem tiefen Polstersessel. Erst gegen Mittag, als mehr und mehr Sonnenstrahlen durch die breite Fensterfront hereindringen, gehe ich wieder hinaus. Über mir strahlt der Himmel in herrlichstem tiefem Frühlingsblau, die Vögel singen, an einem Busch im Park sprießen erste Weidenkätzchen und die Sonne wärmt sogar ein wenig. Hoffentlich ist das Wetter auf der anderen Seite der Ostsee genauso gut.
Ich bummele durch die Straßen. Rostock gefällt mir. Zum Geist der Hansezeit kommt hier die Buntheit und Vielfalt einer modernen Universitätsstadt hinzu. Auf dem Marktplatz ist ein großer Jahrmarkt mit Riesenrad aufgebaut. Zwischen den Buden herrscht reges Getümmel. Menschen an Stehtischen essen Pommes und Bratwurst, zwei Kinder laufen mit einem riesigen Bausch Zuckerwatte vorbei und von den Fahrgeschäften her klingen halb fröhliche, halb ängstliche Schreie herüber. So viele Menschen auf einem Haufen – dergleichen werde ich wohl für eine Weile nicht mehr erleben.
Rostock mit seinen rund 200.000 Einwohnern ist mit Abstand die größte Stadt auf meiner Tour, gefolgt von Trelleborg mit etwa 43.000. Neuruppin und Güstrow mit je 30.000 liegen schon hinter mir. Alle anderen Orte sind viel, viel kleiner. Normalerweise bin ich kein Fan von großem Trubel, aber jetzt genieße ich noch einmal ausgiebig die Atmosphäre. Ich sauge das Gefühl städtischen Lebens auf, sozusagen als Vorrat für die nächsten Monate.
Gegen 16 Uhr mache ich mich auf den Weg zur Fähre, denn ich möchte noch vor Einbruch der Dämmerung dort ankommen. Rasch finde ich die Hinweisschilder des Berlin-Kopenhagen-Radweges wieder, denen ich ganz bequem bis zum Hafen folgen kann. Die Strecke ist viel schöner als angenommen. Es geht übers freie Feld und durch dörfliche Vororte mit malerischen Backsteinkirchen. Zwar liegen auch trostlose Plattenbaugebiete am Weg, aber wenn man schon Ostseeluft riecht, ist das beinah erträglich, und im Licht der hellen Frühlingssonne erscheint ohnehin alles etwas verklärt.
Der Blick reicht weit über das flache Land und auf den letzten Kilometern sehe ich in der Ferne schon die Hafenanlagen aufragen. Doch bis zum Anleger zu gelangen, ist schwerer als es aussieht. Fußgänger sind auf einem Hafengelände einfach nicht vorgesehen. Überall breite, autobahnartige Straßen, große Parkplätze, endlose Containerwüsten und keine für Wanderer nützliche Beschilderung. Nach einer kleinen Odyssee erreiche ich kurz vor Sonnenuntergang endlich den Fährterminal.
Nachdem ich eingecheckt habe, rufe ich Martin an. Ich habe große Sehnsucht, seine Stimme zu hören. Es ist das erste Mal seit meinem Aufbruch aus Berlin, dass wir telefonieren. Bisher habe ich ihm nur SMS geschrieben, aus Sorge sonst in den Heimweh-Modus zu verfallen. Zum Glück geschieht nichts dergleichen. Es ist einfach nur wunderbar, mit ihm zu sprechen und wir verabreden, von jetzt an jedes Wochenende zu telefonieren – Handyrechnung hin oder her.
In einem kleinen Bistro neben der Wartehalle haue ich meine letzten Euro auf den Kopf. Mit zwei Käsebrötchen und einer Apfelschorle setze ich mich an einen Tisch und freue mich angesichts der anheimelnden Plastikblumen-Deko umso mehr, in den kommenden Monaten ausschließlich in Gegenwart echter Pflanzen zu Abend zu essen. Ein, um es nett auszudrücken, ziemlich stattlicher Herr verzehrt schmatzend ein fettes halbes Hähnchen, dessen charakteristischer Geruch die ansonsten leere Gaststube füllt. Er ist LKW-Fahrer, will ebenfalls auf die Fähre und schlägt hier seine Zeit tot, indem er die Bedienung grobschlächtig anbaggert. Da keine anderen Kunden da sind, hat sie nichts Besseres zu tun, als debil grinsend darauf einzugehen. Ich lausche dem etwas banalen Dialog und muss grinsen. Das also ist mein Abschied von der deutschen Sprache für die nächsten paar Monate. Man muss die Dinge nehmen wie sie kommen.
27. März
Bei der Einfahrt in den Hafen von Trelleborg stelle ich meine Uhr eine Stunde vor. Jetzt ist Sommerzeit! Bestimmt hat das ständige Frieren bald ein Ende hat. Der Himmel ist strahlend blau und die ruhige See glitzert in der aufgehenden Sonne.
So früh am Ostersonntagmorgen ist die Stadt noch ganz verschlafen. Ich jubele innerlich, als ich durch die menschenleere Fußgängerzone wandere: Ich bin in Schweden! Ich fühle mich durch diesen Gedanken derart beflügelt, dass es sich anfänglich wie von selbst läuft, und schon bald liegt Trelleborg weit hinter mir. Viel anders als auf der anderen Seite der Ostsee sieht die Landschaft nicht aus: reichlich Felder, wenig Wald und hier und da Gehöfte und kleine Dörfer zwischen den sanften Hügeln. Nur sind die Häuser meist dunkelrot und aus Holz und überall in den Vorgärten weht die schwedische Fahne.
Gegen Mittag ziehen Wolken auf und der Wind nimmt merklich zu. Ich biete ihm durch den ausladenden Rucksack eine optimale Angriffsfläche und habe alle Mühe, nicht auf die Fahrbahn zu wehen. Das Vorankommen wird immer anstrengender und Erschöpfung macht sich in mir breit. Meine einzige Chance auf eine halbwegs windgeschützte Pause ist der Straßengraben. Hier kauere ich mich auf den Boden neben eine weggeworfene Coladose und verzehre frierend und in aller Eile ein paar Nüsse und etwas Schokolade. Ich möchte ausruhen, aber es ist einfach zu kalt, um länger hier sitzen zu bleiben. Also krieche ich den Abhang wieder hinauf und schleppe mich weiter.
Der Rucksack wird schwerer und schwerer. Die Euphorie von Vorhin ist verflogen und ich fühle mich nur noch mies. Wenn ich jetzt umdrehe, dann bin ich heute Abend wieder in Trelleborg, morgen früh in Rostock und morgen Mittag in Berlin in meinem warmen Zimmer. Es fällt mir schwer, diesen verlockenden Gedanken zu unterdrücken. Ein paar Mal bleibe ich stehen und bin drauf und dran kehrtzumachen. Schließlich aber kann ich mich dazu überreden, heute einfach durchzuhalten und abzuwarten, wie es mir morgen geht.
Am Nachmittag taucht endlich in der Ferne ein Haufen wogender Baumwipfel auf. Irgendwo da hinten habe ich Chancen auf einen Schlafplatz. Bei so viel Landwirtschaft war bisher nicht an Zeltaufbau zu denken. Das Allemansrätten (zu Deutsch Jedermannsrecht) erlaubt zwar das Übernachten draußen in der Natur, sieht aber nicht vor, dass man sein Zelt mitten auf einem Acker aufstellt.
Der Untergrund auf wilden Wiesen, in Wäldern oder im Gebirge ist mit dem kurz geschorenen Rasen eines Campingplatzes nicht zu vergleichen. Es gibt hohes Gras, dicke Wurzeln, Felsblöcke und alle möglichen Unebenheiten. Ich laufe eine ganze Weile umher, bis ich schließlich zwischen Büschen, Bäumen und verwittertem Gemäuer eine halbwegs glatte Stelle finde, wo ich mich häuslich einrichten kann.
In der Dämmerung laufe ich zum Ufer hinab und hole Wasser. Ich halte inne und genieße den Blick auf den ruhig daliegenden See. Der Wind hat sich gelegt, der Himmel ist milchig grau und die Luft schmeckt angenehm frisch. Es duftet nach Laub und Erde – noch eher herbstlich als frühlingshaft. Ein leises Lüftchen rauscht durchs hohe Gras, ansonsten ist es vollkommen still. Ich atme tief ein und aus und fühle, wie ich mich innerlich mehr und mehr entspanne. Alles ist gut so wie es ist, und ich bin sehr froh, vorhin auf der Landstraße nicht umgekehrt zu sein.
28. März
Hinter einem Schleier aus Frühnebel schiebt sich die Sonne langsam über den grasbewachsenen Hügel vor meinem Zelt empor. Es verspricht ein herrlicher Tag zu werden. Lautes Rufen und Flügelschlagen kündigt den Abflug der Wildgänse an, die unten im Schilf die Nacht verbracht haben. Vielleicht sind das dieselben Vögel, die ich schon auf der anderen Seite der Ostsee beobachten konnte. Doch im Gegensatz zu mir sind sie aus eigener Kraft über das Meer gelangt. Voller Bewunderung sehe ich ihnen zu. Tiere sind in viele Dingen viel autonomer als wir Menschen. Diese Gänse fliegen jedes Jahr tausende von Kilometern und finden ganz selbstverständlich ohne Kompass, Karte, GPS oder Navi den Weg zu ihren Brutplätzen im hohen Norden. Sie wissen genau, wo sie hin müssen. Welcher Mensch kann das schon von sich behaupten?
Auf einer Lichtung nahe am Wegesrand esse ich zu Mittag. Hinterher strecke ich mich gemütlich im weichen Moos aus, blinzele durch die Baumkronen hindurch in die hochstehende, „heiße“ Sonne und nicke schließlich ein.
Als ich wieder aufbreche, habe ich ordentlich Durst. Ich muss irgendwo Wasser finden. Doch es ist wie verhext, während der folgenden zwei Stunden komme ich ausschließlich an sumpfigen, eingetrockneten Rinnsalen vorbei, aus denen ich nur im allergrößten Notfall und auch dann nur unter Verwendung einer Reinigungstablette trinken würde. Mit den Dingern kriegt man Wasser, das einem nicht geheuer ist, weitgehend keimfrei. Sie riechen aber schon, wenn man die Schachtel öffnet, so derartig nach Schwimmbad, dass ich es eigentlich unbedingt vermeiden will, sie zu benutzen.
Mein Mund fühlt sich trocken an. Die Sonne knallt schweißtreibend vom Himmel und ich habe heute wirklich noch nicht viel getrunken – vielleicht einen halben Liter. Gerade fange ich an, nervös zu werden, als ich es neben mir im Wald leise Plätschern höre. Ich lausche angestrengt und laufe weiter. Ja, da ist es wieder und diesmal lauter. Ein paar Schritte noch und ich gelange an einen Bach, der durch ein dickes Rohr unter dem Weg hindurch geleitet wird. Ich klettere die Böschung hinab. Das Wasser fließt rasch, ist klar, schäumt nicht und die Steine im Bachbett sind dicht mit Algen bewachsen, alles Zeichen für gute Wasserqualität. Außerdem ist es arschkalt – noch ein Indiz für Sauberkeit. Das Rohr allerdings sieht rostig und oll aus, aber wenn ich das Wasser zapfe, bevor es den Weg kreuzt, kann mir das egal sein. Vorsichtig probiere ich einen kleinen Schluck. Es schmeckt neutral und nicht unangenehm. Ich fülle beide Flaschen und trinke gierig eine Tasse voll. Mehr gibt’s erst, falls ich innerhalb der nächsten Stunde keine Bauchkrämpfe kriege.