Befreiung von Scham und Schuld - Laurence Heller - E-Book
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Befreiung von Scham und Schuld E-Book

Laurence Heller

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Beschreibung

»Wir sind nicht mit Scham und Schuld geboren«

Scham und Schuld sind tiefsitzende, oftmals unbewusste Empfindungen, die das Lebensgefühl nachhaltig beeinflussen. Der renommierte Psychotherapeut und Begründer des NARM™- Ansatzes Laurence Heller und die Therapeutin Angelika Doerne erläutern die vielfältigen Erscheinungsformen und Folgen dieser negativen Selbstwahrnehmungen. Sie zeigen deren Entstehung anhand acht exemplarischer Charaktere auf und eröffnen Wege zur Befreiung und Heilung. Dabei spielt das gesamte persönliche Erleben eine wichtige Rolle: Durch tiefes Verstehen, Annehmen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse sowie Mitgefühl mit sich selbst können fest verwurzelte Scham und Schuld gelockert werden. Dann können sich Lebenskraft, Freude, Liebesfähigkeit und Zufriedenheit entfalten! In diesem grundlegenden Werk zum NARM™-Ansatz liefern Heller und Doerne dem Leser anschaulich Wege und Prinzipien, um sich dauerhaft von Scham und Schuld zu befreien und sich selbst neu zu finden.

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Seitenzahl: 656

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Das Buch

Scham und Schuld sind tiefsitzende, oftmals unbewusste Empfindungen, die das Lebensgefühl nachhaltig beeinflussen. Der renommierte Psychotherapeut und Begründer des NARM™- Ansatzes Laurence Heller und die Therapeutin Angelika Doerne erläutern die vielfältigen Erscheinungsformen und Folgen dieser negativen Selbstwahrnehmungen. Sie zeigen deren Entstehung anhand acht exemplarischer Charaktere auf und eröffnen Wege zur Befreiung und Heilung. Dabei spielt das gesamte persönliche Erleben eine wichtige Rolle: Durch tiefes Verstehen, Annehmen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse sowie Mitgefühl mit sich selbst können fest verwurzelte Scham und Schuld gelockert werden. Dann können sich Lebenskraft, Freude, Liebesfähigkeit und Zufriedenheit entfalten! In diesem grundlegenden Werk zum NARM™-Ansatz liefern Heller und Doerne dem Leser anschaulich Wege und Prinzipien, um sich dauerhaft von Scham und Schuld zu befreien und sich selbst neu zu finden.

Die Autoren

Laurence Heller ist psychologischer Psychotherapeut mit über 40 Jahren Praxiserfahrung, Mitbegründer des Gestalttherapie Institutes Denver und erster autorisierter Lehrer für Somatic Experiencing® in Deutschland. Der Begründer des Neuro Affective Relational Model™ (NARM™) hat Tausende Fachkräfte ausgebildet und wird als Experte weltweit konsultiert.

Angelika Doerne, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Dipl.-Pädagogin, seit 15 Jahren psychotherapeutisch tätig, ist Assistentin bei NARMTrainings, gibt Ausbildungen und Seminare, ist Gestalttherapeutin, Somatic Experiencing®-Practitioner und Familienaufstellerin in eigener Praxis sowie Yoga- und Meditationslehrerin.

Laurence Heller • Angelika Doerne

Befreiung vonScham und Schuld

Alte Überlebensstrategien auflösen und Lebenskraft gewinnen

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARMTM

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt, München

Covermotiv: © Vladimirkarp/shutterstock.com

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-22642-8V005

www.koesel.de

»Die Scham, die du fühlst, hat nichts mit dir selbst zu tun.«

Laurence Heller

Inhalt

Die Entstehung dieses Buches und unser Dank

Einführung

TEIL 1: Was sind Scham- und Schuldgefühle?

Gesunde versus giftige Scham und Schuld

Giftige Scham kostet einen hohen Preis

Acht Charaktere als Beispiele für Scham und Schuld

TEIL 2: Wie Scham und Schuld entstehen

Die Bedeutung der Bindung bei der Entstehung von Scham

Die Bedeutung der Bedürfnisse bei der Entstehung von Scham

Drei Entstehungsweisen der Scham

Die Entstehung von Scham bei Missbrauch

Weitere Aspekte bei der Entwicklung von Scham

Exkurs: Die Wechselwirkungen zwischen Scham, Stress und Nervensystem

Exkurs: Unser Gehirn – willentlich können wir nicht auf unsere Überlebensstrategien einwirken

Die Weitergabe von Scham und Schuld über die Generationen

Scham und Religion

Schuld ist Ausdruck von Scham

TEIL 3: Die fünf NARM-Überlebensstile

Die Kontakt-Überlebensstruktur: »Ich bin nicht willkommen.«

Die Einstimmungs-Überlebensstruktur: »Ich bekomme nicht das, was ich brauche.«

Die Vertrauens-Überlebensstruktur: »Ich vertraue niemandem.«

Die Autonomie-Überlebensstruktur: »Ich bin loyal und zuverlässig, indem ich mich zurücknehme und Konflikte vermeide.«

Die Liebe-Sexualität-Überlebensstruktur: »Ich muss Leistung oder Attraktivität zeigen, um geliebt zu werden.«

Exkurs: Scham hält uns in destruktiven Beziehungen

TEIL 4: NARM-Prinzipien der Heilung und des Wachsens

NARM-Heilungsprinzip: Willenskraft und Verstand allein reichen nicht

NARM-Heilungsprinzip: Offenes, achtsames Erkunden

Exkurs: Unser Gehirn – mithilfe spürenden Gewahrseins können wir auf unsere Überlebensstrategien einwirken

NARM-Heilungsprinzip: Verstehen, Selbstannahme und Selbstmitgefühl

NARM-Heilungsprinzip: Anerkennen unserer grundlegenden Natur

NARM-Heilungsprinzip: Gefühle und Empfindungen wollen etwas Wichtiges mitteilen

NARM-Heilungsprinzip: Die Fähigkeit entwickeln, unsere Bedürfnisse zuzulassen

NARM-Heilungsprinzip: Aggression als lebensbejahende Kraft anerkennen

NARM-Heilungsprinzip: Dem eigenen Körper vertrauen

NARM-Heilungsprinzip: Kontakt vertrauen

NARM-Heilungsprinzip: Anerkennen einer Lebenskraft, die nach Verbindung strebt

NARM-Heilungsprinzip: Achtsames Gewahrsein zulassen und Vertrauen ins Hier und Jetzt

NARM-Heilungsprinzip: Identifikationen lösen und offene Fragen zulassen

Wachstums- und Heilungswege der Charaktere

Schlusswort

Anhang

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Register

Die Entstehung dieses Buches und unser Dank

Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass ein Amerikaner und eine Deutsche gemeinsam ein psychologisches Buch schreiben. Deshalb möchten wir Sie als Leser an der Entstehungsgeschichte dieses Buches ein wenig teilhaben lassen:

Ich, Laurence Heller, habe den NARM-Ansatz in den letzten fünfzehn Jahren entwickelt. Dabei fließen meine über vierzigjährigen Erfahrungen in der Arbeit mit Klienten ein, ebenso meine über zwanzig Jahre andauernde Lehrtätigkeit in den verschiedensten Ländern Europas und in den USA. Da mein vorheriges Buch Entwicklungstrauma heilen mittlerweile sehr erfolgreich ist, trat der Kösel-Verlag vor einiger Zeit mit der Frage an mich heran, ob es ein wichtiges Thema gäbe, über das ich ein weiteres Buch schreiben wolle. Ich war interessiert und ließ mich auch bei der Arbeit an diesem Werk weiter von meinem starken Interesse daran führen, Menschen in der Tiefe zu verstehen.

Ich, Angelika Doerne, arbeite seit fünfzehn Jahren psychotherapeutisch. Meine Neugierde und mein Interesse, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen und zu verstehen, hat mich zu einer Vielzahl von Aus- und Weiterbildungen sowie Auslandsaufenthalten gebracht. Dabei bin ich auch auf Larry, also Laurence Heller, gestoßen, dem ich bald darauf in seinen Trainings zu assistieren begann. Zur selben Zeit, als der Kösel-Verlag an Larry herantrat, habe auch ich begonnen, mit dem Verlag über ein Buchprojekt zu sprechen. Dabei kam die damalige Programmleiterin Usha Swamy auf die Idee, ob ich nicht ein NARM-Übungsbuch schreiben wolle, um diesen Ansatz noch greifbarer zu machen. Ich fand die Idee reizvoll und wandte mich an Larry, der ebenfalls angetan davon war. Zugleich schlug er vor, den inhaltlichen Schwerpunkt dabei auf Scham und Schuld zu richten und selbst am Buch mitzuwirken. Wir vereinbarten, dass wir die Inhalte gemeinsam entwickeln und ich das Buch schreibe. Das Buchprojekt Befreiung von Scham und Schuld war damit geboren! Wir beide waren von dieser Synchronizität beeindruckt – und freuen uns, dass dieses Buch nun vorliegt.

Obwohl ich, Larry, relativ gut Deutsch spreche, hatte ich Respekt vor der Herausforderung, ein Buch auf Deutsch zu verfassen und es erst danach ins Englische zu übersetzen. Doch ich fand die Idee vielversprechend, und zugleich war es für mich ein Experiment, weil ich Angelika bisher nur als Assistentin aus meinen Trainings kannte. Unsere Zusammenarbeit gestaltete sich sehr fruchtbar. We found ourselves sometimes speaking Deutsch, sometimes English, sometimes me saying something in English and Angelika antwortete in German und manchmal even vice versa, all in all quite bi-lingual.

Anfangs wusste ich noch nicht, was für eine talentierte Schriftstellerin Angelika ist. Meistens haben wir unsere Treffen über das Internet abgehalten, und manchmal hatten wir die Möglichkeit, miteinander in Angelikas schönem Garten in Seeshaupt zu arbeiten.

Besonders freue ich mich über die Charaktere in diesem Buch, die wir gemeinsam entwickelt haben, und die Prinzipien der Heilung, weil durch sie beide der Geist des NARM-Ansatzes spürbar und erlebbar wird. Angelika hat im Dschungel diesen komplexen Themas nie den Überblick verloren und war gleichzeitig unendlich kreativ, die verschiedenen Pfade zusammenzubringen und in einfacher und verständlicher Weise zu vermitteln. Je länger wir gemeinsam an dem Buch arbeiteten, desto beeindruckter war ich von ihrer klaren Wahrnehmung und ihrem tiefen Verständnis vom menschlichen Sein.

Dabei wurde mir auch deutlich, dass sie dabei aus den verschiedensten Ansätzen schöpft, die sie in sich selbst integriert, und dass sie auch persönlich sehr erfahren ist. Für mich war und ist es immer ein großes Vergnügen, mit ihr zusammenzuarbeiten. Und schließlich danke ich Angelika von Herzen für ihre unendliche Mühe und Geduld, das Buch geschrieben zu haben.

Für mich, Angelika, fühlte es sich zunächst ebenfalls wie ein Experiment an, mich mit Larry auf dieses Buchprojekt einzulassen. Unsere Zusammenarbeit habe ich von Anfang an als sehr offen, ehrlich, leicht und gleichzeitig tiefgründig erlebt. Bei unseren Treffen habe ich das gemeinsame, kreative Basteln an den Inhalten sehr genossen. Zugleich hat mich der Austausch mit Larry sehr inspiriert. Ich erlebte ihn immer als zugewandt und respektvoll, mit einer gleichzeitigen Lust, auch gemeinsam um die Inhalte zu ringen und den ein oder anderen Aspekt länger auszudiskutieren. Mit der Zeit wurde der Text sehr viel länger als ursprünglich geplant. Erst da wurde uns bewusst, wie umfangreich und komplex das Thema Scham und Schuld ist und wie lohnenswert es ist, Licht in diesen oftmals vernachlässigten und missverstandenen Bereich zu bringen. Auch wenn das Buch zwischenzeitlich ins Unendliche zu wachsen schien, zweifelte ich nie an seiner Fertigstellung.

Schließlich waren wir beide sehr zufrieden mit dem, was wir erschaffen hatten. Ich möchte Larry von Herzen für seine Offenheit, sein Vertrauen, seine Wertschätzung und sein Engagement danken, sich auf mich und unser gemeinsames Projekt eingelassen zu haben. Dabei schätze ich sehr sein tiefgründiges, feines und auch spürendes Verstehen des Menschseins, seine Fähigkeit, Zusammenhänge klar, respektvoll, einfach und unspektakulär auszudrücken, gepaart mit seiner Faszination für die unendliche Kreativität menschlicher Fähigkeiten, auf schwierige Situationen zu antworten, in der sich für mich seine Liebe und sein tiefes Vertrauen zum Menschsein an sich ausdrückt.

Wir möchten dem Kösel-Verlag für die Initialzündung und die wunderbare Unterstützung danken. Außerdem danke ich, Angelika, all meinen Klienten und Teilnehmern von Herzen, die mich durch ihr Vertrauen und ihre Offenheit den menschlichen Geist haben tiefer verstehen lassen, sowie meiner Familie und meinen Freunden, von denen ich viel Unterstützung erfahren habe.

Laurence Heller und Angelika Doerne

Oktober 2020

Einführung

Scham und Schuld sind heikle Themen. Sie führen in unserem Leben eine Art Schattendasein. Es ist unangenehm, sie zu fühlen und anzusprechen. Zugleich wirken sie oft unmerklich im Unterbewusstsein. Wir bemühen uns ständig, Scham und Schuldgefühle zu vermeiden. Und dennoch: Sie wirken in uns und alle Bereiche unseres Lebens! Durch Scham und Schuld behindern wir unsere Lebenskraft, unsere Lebensfreude, unsere Liebesfähigkeit und unsere Klarheit. Dann bleiben wir, meist unzufrieden, hinter dem zurück, was in unserem Leben möglich wäre. Außerdem ist es uns unangenehm, wenn sich ein anderer in unserer Nähe schämt oder schuldig fühlt. Das ruft ein peinliches Berührtsein hervor. Zurück bleibt eine Sprachlosigkeit und oftmals ein Nichtwissen, wie wir mit Scham und Schuld bei uns selbst und bei anderen umgehen können.

In der psychologischen Fachliteratur wie auch in diversen Selbsthilferatgebern tauchen die Themen Scham und Schuld kaum auf. Auch das ist Ausdruck der Sprachlosigkeit und des Nichtwissens, mit ihnen zurechtzukommen. Doch Scham und Schuld gehören zu unserem Alltag, auch wenn wir uns dieser Gefühle oft nicht bewusst sind.

Aus all diesen Gründen haben wir uns entschieden, ein Buch über Scham und Schuld zu schreiben. Insbesondere deshalb, weil es Wege gibt, sie aufzulösen, ohne dabei in einen Kampf gegen sich selbst treten zu müssen. Wir wollen dieses Thema aus seinem Schattendasein herausholen und eine klare, verständliche Landkarte zeichnen, wie Scham und Schuld entstehen und wie wir uns davon befreien können. Dabei ist es uns ein tiefes Anliegen aufzuzeigen, dass kein Mensch mit Scham und Schuld geboren wird, auch wenn es sich oft so anfühlt. Es ist vielmehr so, dass wir Scham- und Schuldgefühle aufgrund der Botschaften unserer Eltern und unserer Umwelt übernehmen und entwickeln, um emotional und physisch zu überleben.

Damit Sie sich als Leserin und Leser in diesem Thema selbst wiederfinden können, haben wir verschiedene Charaktere entwickelt, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Anhand dieser Charaktere verdeutlichen wir, wie stark unsere bewussten und unbewussten Scham- und Schuldgefühle das eigene Leben einschränken können und wie sie entstehen. Schließlich zeigen wir anhand der Charaktere auf, wie es möglich ist, sich von Scham- und Schuldgefühlen zu befreien. Wir erläutern unsere NARM-Heilungsprinzipien und stellen praktische Übungen vor, die dazu beitragen können, dass das eigene Leben erfüllender, leichter und lebendiger werden kann. Die Charaktere haben wir vor dem Hintergrund unserer jahrzehntelangen praktischen Erfahrung entwickelt. Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Buch richtet sich zum einen an interessierte Leserinnen und Leser,1 die das Thema Scham und Schuld tiefer verstehen und erkunden möchten. Zum anderen wenden wir uns an soziale, pädagogische und psychologische Fachkräfte, die durch dieses Buch ein tieferes Verständnis für ihre Schüler, Klientinnen und Patienten entwickeln und die hier beschriebenen Übungen in ihre Arbeit einbringen können.

Wie Sie bereits gemerkt haben, schreiben wir immer wieder in der Wir-Form, wie beispielsweise im Satz »Wir bemühen uns ständig, Scham und Schuldgefühle zu vermeiden«. Dadurch wollen wir verdeutlichen, dass die Mechanismen, die wir beschreiben, für alle Menschen gelten, einschließlich uns selbst. Darüber hinaus wollen wir Sie mit der Wir-Form einladen, immer wieder den eigenen, persönlichen Bezug zum Thema herzustellen.

Der NARM-Ansatz

NARM ist die Abkürzung für Neuro Affective Relational ModelTM beziehungsweise Neuroaffektives Beziehungsmodell, ein auf somatischen Grundlagen basierender psychotherapeutischer Ansatz, der den Menschen umfassend und ganzheitlich erfasst. NARM zeigt auf, wie der Körper, einschließlich des Gehirns und des Nervensystems, die Gefühle und die Beziehung zu sich selbst und zu anderen wechselseitig aufeinander einwirken und uns zu dem Menschen machen, der wir sind. Im NARM beziehen wir moderne wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Gehirnforschung, der Traumaforschung sowie der Bindungsforschung mit ein. Dadurch können psychische und körperliche Phänomene erklärt werden, die von Betroffenen bis dahin oft nur als selbstverschuldet und Ausdruck ihres mangelnden Bemühens angesehen wurden. Dies kann zu einer großen Erleichterung führen. Festsitzende Schamgefühle wie zum Beispiel »Ich kriege es sowieso nicht hin, auch wenn ich mich noch so anstrenge« können anfangen sich zu lösen.

In den NARM-Ansatz fließen Elemente verschiedener Ansätze ein: aus der humanistischen Psychotherapie Elemente, wie die Gestalttherapie und die Tiefenpsychologie (Psychodynamik), dazu verschiedene körperpsychotherapeutische Ansätze wie die Bioenergetik nach Alexander Lowen. Schließlich ist Achtsamkeit im Sinne eines bewussten, ganzheitlichen Gewahrseins ein zentrales Element.

Ein weiteres Merkmal des NARM-Ansatzes ist sein positives Menschenbild. Dabei geht es nicht um eine harmonieorientierte, rosarote Verklärung, sondern um das tiefe Wissen, dass jeder Mensch aus subjektiv guten Gründen handelt, weil er leben und überleben will. Dies kann manchmal durchaus aggressive und zerstörerische Formen annehmen. Aber die Grundmotivation ist immer die, leben und überleben zu wollen.

Weiterhin gehen wir im NARM-Ansatz davon aus, dass in jedem von uns die Fähigkeit zu Entwicklung und Wachstum liegt und ebenso das Potenzial, glücklich und frei zu sein und lieben zu können. Unsere inneren Blockaden und destruktiven Verhaltensweisen entwickeln wir nicht deshalb, weil wir unfähig oder gar böse sind, sondern weil wir den Drang haben, zu leben und zu überleben. Und weil wir uns bestimmte Strategien und Selbstbilder im Laufe unseres Lebens angeeignet haben, können wir uns genauso gut auch wieder von ihnen lösen; wir sind nicht mit ihnen geboren!

Im NARM-Ansatz richten wir den Fokus auf die gegenwärtige Erfahrung, auf das Erleben, das jetzt, in der Gegenwart, stattfindet. Es geht also nicht darum, unsere Vergangenheit in all ihren Details wie aus einem trockenen und staubigen Geschichtsbuch heraus zu erzählen und aufzuarbeiten, sondern um das, was im gegenwärtigen Augenblick geschieht, zum Beispiel wenn wir uns jetzt gerade an die Vergangenheit erinnern.

Viele der heutigen Ansätze arbeiten in erster Linie mit dem Willen. In unserer Kultur der fast schon wahnhaften Selbstoptimierung wird uns suggeriert, dass wir, wenn wir es nur richtig wollen und bereit sind, uns wirklich anzustrengen, jedes Ziel der Selbstveränderung erreichen können. Und falls es uns nicht gelingt, so liege es an uns, weil wir uns eben nicht genug Mühe geben würden. Dass der Hauptmotor für unsere Selbstoptimierung Scham- und Schuldgefühle sind (»Ich bin nicht gut genug«), bleibt dabei verborgen, und die Selbstoptimierungsindustrie fährt unbeirrt hohe Gewinne ein. Manchmal taucht eine leise Ahnung in uns auf, dass wir die Selbstzufriedenheit, die Selbstannahme und die Selbstliebe, nach der wir uns so sehr sehnen, auf diese Weise nie erreichen können, dass der Teufelskreis der Selbstoptimierung ein Fass ohne Boden ist. Aber mangels Alternativen lassen wir uns meist leicht resigniert weiter auf das anstrengende Spiel ein.

Im NARM-Ansatz sind wir der Auffassung, dass reiner Wille zur Veränderung nicht ausreicht. Im Gegenteil, er kann unsere Situation noch aussichtsloser machen, uns in einen Teufelskreis bringen, der von Scham- und Schuldgefühlen durchdrungen ist, und uns noch mehr von unserer Lebendigkeit, unserer Lebensfreude und unserem Glücklichsein abschneiden. Wir sind überzeugt, dass es für Veränderungen vor allem den Kontakt und die Verbindung zu uns selbst braucht, indem wir lernen, uns zu spüren und zu fühlen und den Mut aufbringen, uns ehrlich und offen auf uns selbst einzulassen.

Der NARM-Ansatz versteht sich somit als eine Alternative zu unserer auf Leistung, Schönheit und Höher-Weiter-Schneller aufbauenden Kultur, als eine Alternative, die menschlicher, klarer und liebevoller ist. Durch das Einbeziehen von Achtsamkeit – kurz gesagt: nicht bewertendes, spürendes Beobachten – wird es möglich, unsere Empfindungen, Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken wahrzunehmen und tiefer zu verstehen. Durch das offene, achtsame Gewahrsein können wir unsere tief sitzenden schambasierten Identifikationen, die der Motor für unsere unbewussten Muster und Verhaltensweisen sind, tiefer verstehen und verändern. Das Anliegen des NARM-Ansatzes ist es, Menschen dahingehend zu unterstützen, dass sie ihre Fähigkeiten und Potenziale in ihrem Leben verwirklichen und Lebenskraft und Lebensfreude entwickeln, sodass das Leben für sie erfüllend und lebenswert wird.

Zentral im NARM-Ansatz sind fünf Überlebensstrukturen, die sich, wie auch die beispielhaften Charaktere, als roter Faden durch das gesamte Buch ziehen.

Zum Aufbau des Buches

Da das Thema Scham und Schuld komplex ist, wollen wir dafür sorgen, dass Sie nicht den Faden verlieren. Deshalb werden wir Ihnen jeweils am Anfang der einzelnen Kapitel eine Orientierung geben, was Sie in diesem jeweiligen Kapitel erwartet. Was uns beiden Autoren an diesem Buch das Wichtigste ist: Wir wollen Ihnen ein tieferes Verständnis für die Entwicklung von Scham und Schuld und für die Möglichkeiten der Befreiung daraus vermitteln und dies mit eigenen persönlichen und professionellen Erfahrungen verbinden. So wird diese Thematik für Sie lebendig und erlebbar und kann Sie möglicherweise auch berühren. Das bedeutet, dass es in diesem Buch theoretische wie auch praktische Teile gibt. Da wir im NARM-Ansatz die verschiedenen Ebenen, die zugleich unterschiedliche Perspektiven darstellen, einbeziehen und miteinander verknüpfen – Gefühle, Bedürfnisse, Körper, Psyche, Nervensystem, Beziehung, Psychodynamik, Gegenwartsorientierung –, ist allein der theoretische Teil ziemlich komplex. Und weil diese verschiedenen Ebenen jeweils ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben und gleichzeitig ineinanderwirken, können wir uns die Theorie eher wie verschiedene Kreise oder Spiralen vorstellen, die aufgrund gemeinsamer Berührungspunkte ineinanderwirken. Das bringt mit sich, dass wir bestimmte Aspekte im Buch öfter aufgreifen, sie dann aber jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Das heißt, es gibt Wiederholungen, die bei genauerer Betrachtung aber jeweils eine weitere Perspektive ausdrücken.

Der praktische Teil in Form der acht Charaktere findet an drei Stellen im Buch seinen Platz: Am Anfang stellen wir die jeweils aktuelle Lebenssituation der einzelnen Charaktere vor und erläutern, inwiefern sich Scham und Schuld in ihrem Leben ausdrücken. In der Mitte beschreiben wir jeweils die Biografie der Charaktere und erläutern, wie sie jeweils ihre giftigen Scham- und Schuldgefühle entwickelt haben. Am Ende des Buches begleiten wir die einzelnen Charaktere in ihren Wachstumsprozessen und zeigen, wie sie sich von giftiger Scham und Schuld befreien, welche Auswirkungen das auf ihr Leben und ihren Alltag hat und inwiefern die NARM-Prinzipien der Heilung dazu beigetragen haben. Dieser letzte Teil ist gewissermaßen das Finale des Buches: Dort kommen die komplexe Theorie, der lebensnahe Bezug zum Alltag wie auch die sich daraus ergebenden Heilungs- und Wachstumswege zusammen.

Wir haben die Seiten, in denen es um die Charaktere geht, jeweils am unteren Seitenrand mit einer breiten grauen Streifen und dem jeweiligen Namen im Kolumnentitel gekennzeichnet, sodass Sie sie leicht finden können.

Im Überblick:

In Teil 1 klären wir, was Scham und Schuld eigentlich sind, und führen die Charaktere als Beispiele ein.In Teil 2 erläutern wir die drei verschiedenen Mechanismen, nach denen giftige Scham dadurch entsteht, dass unsere Bedürfnisse als Kind nicht ausreichend erfüllt werden. Dabei beziehen wir Bindungsdynamiken, die Psychodynamik, die Neurowissenschaft wie auch das konkrete gegenwärtige innere Erleben mit ein. Außerdem stellen wir anhand von Teufelskreisspiralen die verschiedenen Entstehungsdynamiken von Scham dar und geben bereits einen ersten Ausblick auf die daraus resultierenden Heilungskreisspiralen. Weiterhin erläutern wir einige spezielle Dynamiken zwischen giftiger Scham und Missbrauchserfahrungen sowie gehemmter Aggressionen, generationsübergreifende Scham, die Beziehung zum eigenen Körper, die Bedeutung der Religion und der sekundären Scham. In Teil 3 erläutern wir ausführlich die NARM-Überlebensstrategien, die aufgrund der bisherigen Erläuterungen nun tiefer verstanden werden können. Hier begegnen uns auch die beispielhaften Charaktere wieder. In Exkursen gehen wir zudem auf zwei Themenfelder ein, mit denen wir als Erwachsene oft zu tun haben, nämlich wie giftige Scham und Stress miteinander in Verbindung stehen und wie sich giftige Scham in Partnerschaften auswirken kann. In Teil 4 erläutern wir die von uns entwickelten NARM-Heilungsprinzipien, die nun in ihrer ganzen Tragweite verstanden werden können. Wir stellen konkrete Erkundungsübungen vor. Schließlich werden die NARM-Heilungsprinzipien in den Wachstumswegen der Charaktere sichtbar und konkret erfahrbar.

Sie können dieses Buch chronologisch, also vom Anfang bis zum Ende lesen. Sie können aber auch erst die Charaktere, ihre aktuelle Lebenssituationen, ihre Biografien und ihre Wachstumsprozesse lesen und sich dann der Theorie zuwenden. Oder Sie lesen zuerst nur die Theorie und beschäftigen sich dann mit den Charakteren. Je nachdem, wie weit Sie sich selbst auf eine persönliche Erkundungsreise einlassen möchten, kann dieses Buch auch zu einem Reiseführer zu Ihnen selbst werden. Wir wünschen Ihnen in jedem Fall wertvolle Erkenntnisse und viel Freude mit diesem Buch.

TEIL 1: Was sind Scham- und Schuldgefühle?

Scham- und Schuldgefühle sind unangenehm. Wir versuchen, sie zu meiden und zu vermeiden. Doch Scham und Schuld kennen wir alle. Sie sind menschlich. Scham und Schuld können nützlich sein und sie können uns schaden.

Schuldgefühle tauchen auf, wenn wir uns schuldig fühlen. Das passiert, wenn wir jemanden verletzt haben, wenn wir die Erwartungen eines anderen Menschen enttäuschen oder eine Zusage nicht einhalten.

Schamgefühle tauchen auf, wenn wir uns schämen. Das passiert, wenn wir den Eindruck haben, dass wir nicht gut genug sind, oder wenn wir das Gefühl haben, unfähig zu sein. Scham ist die Empfindung, dass wir falsch sind. Wenn wir uns schämen, würden wir am liebsten im Erdboden verschwinden oder uns auflösen. Manchmal schießt uns das Blut in den Kopf, die Situation ist uns sehr peinlich. Wir empfinden uns als Zumutung und bekommen mitunter kein Wort mehr heraus. Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als dass die Situation endlich vorbei ginge. Innerlich ziehen wir uns zusammen, machen uns klein und werden leise. Am liebsten würden wir im Erdboden verschwinden.

Manchmal versuchen wir, unsere Scham geschickt zu überspielen, indem wir uns als besonders toll, als besonders intelligent, cool oder lässig, als besonders sozial oder spirituell inszenieren. Wir tun das, um uns selbst und anderen von unserer Richtigkeit und Unangreifbarkeit zu überzeugen.

Wenn wir uns schämen, stellen wir uns als Person, also unser Recht auf Dasein, komplett infrage. Wir verurteilen uns selbst in Grund und Boden und entziehen uns selbst unsere Existenzberechtigung und damit die Basis für unser Leben. Wenn wir uns dagegen schuldig fühlen, so verurteilen wir nur unser Verhalten, nicht aber unsere Person an sich. Wir haben den Eindruck, ein bestimmtes Verhalten, ein Wunsch oder ein Gefühl von uns sei inakzeptabel und falsch. Wir glauben, wir seien zu egoistisch, zu anspruchsvoll, zu individuell oder zu kompliziert.

Schuld können wir in gewisser Weise wiedergutmachen. Wir können uns entschuldigen, wenn wir beispielsweise aus Versehen jemandem auf den Fuß getreten sind. Wir können unsere Schuld wieder ausgleichen, indem wir den anderen zum Beispiel zum Abendessen einladen. Scham hingegen lässt sich nicht ausgleichen: weil Scham sich nicht nur auf unser Handeln, sondern auf uns als gesamte Person bezieht. Das heißt, wenn wir sie ausgleichen wollten, müssten wir uns als gesamte Person auswechseln – was nicht möglich ist! Scham stellt unsere gesamte Existenz infrage, und genau das macht es so schwierig, mit ihr umzugehen. Deshalb versuchen wir, sie soweit es geht zu vermeiden und Situationen von vornherein aus dem Weg zu gehen, in denen Schamgefühle auftauchen könnten.

Scham und Schuld sind wie Eisberge: Nur eine kleine Spitze ragt aus dem Wasser empor. Nur ein kleiner Teil unserer Scham und Schuld ist uns bewusst. Ein großer Teil hingegen verbirgt sich unter der Wasseroberfläche – er wirkt im Unbewussten. Doch unsere bewusste wie auch unbewusste Scham und Schuld haben Auswirkungen auf sämtliche Bereiche unseres Lebens und hindern uns daran, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.

Schließlich ist es wichtig, zwischen gesunder und giftiger Scham und Schuld zu unterscheiden. Wir brauchen eine gesunde Scham und Schuld, um respektvoll und aufrichtig mit uns selbst und anderen umgehen zu können. Mit giftiger Scham und Schuld wiederum verletzen wir uns selbst und andere.

Gesunde versus giftige Scham und Schuld

Wenn wir nicht in der Lage wären, Scham und Schuld zu empfinden, dann wären wir Psychopathen. Gesunde Scham und Schuld hilft uns, miteinander in Beziehung zu gehen. Sie sind ein nützlicher Seismograf, wenn wir einen anderen Menschen verletzt haben: wenn wir jemandem auf den Fuß getreten sind, wenn wir eine Verabredung nicht eingehalten haben oder wenn wir den Ärger auf unseren Chef an unserem Partner ausgelassen haben. Wenn dann Scham oder Schuld in uns auftauchen, können wir das als Anlass nehmen, uns zu entschuldigen. Diese Entschuldigung ist angemessen und gesund, weil wir dadurch den Respekt und die Aufrichtigkeit dem anderen gegenüber wiederherstellen. Scham und Schuld sind dann Ausdruck unserer Fähigkeit, uns in den anderen hineinzuversetzen, seine Perspektive einzunehmen und die Wirkung, die unser Verhalten auf ihn hat, zu sehen und anzuerkennen.

Ebenso ist es gesund, dass wir uns schämen würden, wenn wir nackt durch die Innenstadt laufen würden. Scham ist auch Ausdruck unserer natürlichen Intimitätsgrenze. In unserer Intimität sind wir körperlich und emotional verletzlich, aus Respekt uns selbst gegenüber ist es daher richtig und gesund, uns zu schämen. Scham drückt aus, dass wir den Respekt vor uns selbst und unserer Verletzlichkeit zu verlieren drohen. Durch eine gesunde Schuld und Scham sind wir in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, uns selbst und andere vor Verletzung zu schützen und Würde, Respekt und Aufrichtigkeit gegebenenfalls wiederherzustellen.

Wenn wir uns aber nachhaltig selbst beschimpfen, kritisieren und verurteilen, weil wir jemand anderen verletzt haben (wofür wir uns schon längst entschuldigt haben), dann handelt es sich um toxische Scham und toxische Schuld. Dann verletzen wir uns selbst und das ist weder gesund noch heilsam. Giftige Scham und Schuld kommen zum Ausdruck, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse ständig zugunsten von anderen zurückstellen, wenn es uns schwerfällt Nein zu sagen oder andere in ihren Erwartungen zu enttäuschen. Giftige Scham und Schuld zeigen sich in der Schwierigkeit, für uns einzustehen und uns zu zeigen, ebenso in Perfektionismus und Vermeidungsverhalten. Giftige Scham und Schuld können in Ängsten wie auch in Wutausbrüchen zum Ausdruck kommen. Sie sind oftmals der unbewusste Motor für das Gefühl, ständig etwas ausgleichen zu müssen, für Harmonie und Frieden sorgen oder sich permanent anstrengen oder verbessern zu wollen.

Giftige Scham und Schuld sind die Ursache für übermäßige Selbstkritik, Selbstzweifel und Selbstablehnung sowie für ständiges inneres Grübeln und Selbstkommentierung, aber auch für Resignation, Hoffnungslosigkeit und Selbsthass. Schließlich bilden giftige Scham und Schuld den Kern von sämtlichen negativen Glaubenssätzen und Überlebensstrategien und können zu diversen körperlichen und psychischen Symptomen führen.

Mit giftiger Scham und Schuld verletzen wir nicht nur uns selbst, sondern auch andere, indem wir ihnen unsere Wahrheit nicht zumuten. Wir machen sie zu kleinen, schwachen Kindern, denen wir nicht zutrauen, uns so zu nehmen, wie wir sind. Das heißt, unsere Selbstverletzung führt gleichzeitig zu einer indirekten Arroganz gegenüber anderen.

In diesem Buch richten wir den Fokus auf giftige Scham und Schuld und untersuchen, wie sie entstehen und wie wir uns von ihnen befreien können.

Giftige Scham als Kern eines negativen Selbstbildes

Giftige Scham ist der Kern unserer schambasierten Identifikation, wie sie sich beispielsweise in Glaubenssätzen wie »Ich bin nicht liebenswert«, »Ich genüge nicht«, »Ich bin irgendwie falsch« zeigen, ebenso wie in unseren Überlebensstrategien, wie beispielsweise der, immer die Erwartungen von anderen erfüllen zu wollen. Als Kind entwickeln wir schambasierte Identifikationen und Überlebensstrategien, um emotional zu überleben. Als Erwachsenen stehen sie uns dann aber oftmals im Weg und hindern uns daran, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.

Auch unsere giftigen Schuldgefühle sind ein Teil unserer Überlebensstrategien, die Ausdruck unserer giftigen Scham sind. Das bedeutet, dass die giftige Scham die Ursache und somit der Motor für unsere giftigen Schuldgefühle ist.

Weiterhin sind das unbewusste Wegdrücken bestimmter Gefühle und Bedürfnisse Teil unserer Überlebensstrategien, ebenso diverse Verhaltens- und Reaktionsmuster, die wir uns im Laufe unseres Lebens angeeignet haben. Sogar psychische und körperliche Symptome können Ausdruck unserer Überlebensstrategien sein.

Das bedeutet, dass im Kern sämtlicher Überlebensstrategien giftige Scham sitzt, in Form von schambasierten Identifikationen. Diese sind der Motor sämtlicher bewusster und unbewusster Verhaltens-, Reaktions- und Erlebensmuster. Wenn wir also die Überlebensstrategien, die uns als Erwachsenen im Weg stehen, verändern wollen, müssen wir unsere schambasierten Identifikationen und somit unsere giftige Scham adressieren und erkunden.

Positives Denken hilft nicht

Giftige Scham und Schuld sind das zentrale Kernhindernis für persönliche Entwicklung und Wachstum. Der schamhafte Eindruck, dass mit uns grundsätzlich etwas nicht stimme, ist das wesentliche Hindernis für alle echten persönlichen wie auch spirituellen Wachstumsprozesse. Mittlerweile gibt es auf dem psychologischen und spirituellen Markt ein großes Angebot von Methoden, beispielsweise mit positivem Denken negative Glaubenssätze aufzulösen. Oftmals versuchen Menschen, sich selbst durch positive Affirmationen davon zu überzeugen, dass sie richtig seien. Allerdings können positive Gedanken und Sätze tief liegende gegenteilige Glaubenssätze nicht auflösen. Das ist der Grund, warum durch reinen Willen und Disziplin, durch gute Vorsätze und durch noch so viele positive Affirmationen keine nachhaltigen Veränderungen erzielt werden können – weil das Kernhindernis dabei nicht aufgelöst wird! An diesem Punkt verzweifeln viele Menschen, Therapeuten und Berater, nachdem sie sich so sehr bemüht haben, sich selbst oder andere »richtig zu machen«.

Wir können unser negatives Selbstbild mit einer inneren Festplatte vergleichen, auf die neue Programme aufgespielt werden. Wenn die Festplatte jedoch eine negative Haltung uns selbst gegenüber eingespeichert bekommen hat, können die aufgespielten Programme noch so ausgereift und intelligent sein, ihre positive Wirkung wird sofort von der negativen Einstellung der Festplatte »geschluckt«. Ebenso verhält es sich mit unserer Scham, die eine negative Haltung uns selbst gegenüber ausdrückt, und den Versuchen, positive Veränderungen in unserem Leben zu erzielen. Bildlich gesprochen: Wenn wir einen Apfel orange anmalen, dann wird er trotz allem nicht zu einer Orange, sondern bleibt im Kern ein Apfel.

Unsere jahrzehntelange Erfahrung in der psychologischen Arbeit hat uns gezeigt, dass sich negative Glaubenssätze nur dann auflösen lassen, wenn wir bis zum Kern vordringen, nämlich zu unserer unbewussten Scham. Wenn wir wachsen wollen, sind wir gefordert, unsere Schuld- und Schamgefühle offen und interessiert zu erkunden, sonst ist viele Mühe einfach umsonst und wir geben irgendwann frustriert auf und verurteilen uns selbst dafür, dass wir es nicht hingekriegt haben – als Betroffene und Unterstützende.

Der gute innere Kern

Wenn Kinder in einer sicheren, geborgenen, verständnisvollen und liebevollen Umgebung aufwachsen, entwickeln sie auf ganz natürliche Weise ein positives Verhältnis zu sich selbst. Sie empfinden es als selbstverständlich, dass sie so, wie sie sind, richtig und liebenswert sind, dass sie einen ihnen angemessenen Platz in der Welt einnehmen, dass sie ein Recht auf ihre Bedürfnisse haben und dass sie sich selbst und anderen vertrauen können. Sie sind anderen Menschen und der Welt gegenüber offen eingestellt und erkunden diese neugierig. Ihren aufkommenden Interessen und Neigungen gehen sie auf natürliche Weise nach. Sie fühlen sich in der Welt und in sich selbst sicher. Sie sind mit ihrem Körper verbunden und gehen ihren Bedürfnissen selbstverständlich nach. Sie haben ein gutes Gespür für den Rhythmus von Aktivität und Ruhe, dem sie ebenfalls ganz selbstverständlich folgen. Sie spüren, dass sie in ihrem inneren Kern richtig und gut sind. Das bedeutet für uns alle, dass wir keinesfalls mit giftigen Scham- oder Schuldgefühlen geboren werden. Wir entwickeln sie erst später, um unser emotionales Überleben zu sichern.

Verschiedene Traditionen sprechen davon, dass jeder Mensch so etwas wie einen »Kern« besitzt, der an sich »gut« ist. Er existiert unabhängig von unseren Prägungen, also unabhängig davon, was wir im Leben bisher erfahren haben. Je mehr wir mit diesem innersten Kern verbunden sind, desto verbundener fühlen wir uns mit uns selbst und mit anderen Menschen, desto lebendiger fühlen wir uns und desto mehr Freude, Zufriedenheit und Dankbarkeit können wir erfahren. Je mehr wir mit diesem Kern in uns verbunden sind, desto leichter kann auch die Lebenskraft in uns fließen. Hierbei sprechen verschiedene Traditionen von einer Lebenskraft, die in allem Lebendigen existiert: von Odem, Prana, Chi oder Ki. Wenn diese Kraft blockiert oder zu schwach ist, fühlen wir uns erschöpft und unzufrieden und diverse körperliche und psychische Krankheiten können entstehen. Je entspannter, offener und gleichzeitig zentrierter wir in Körper und Geist sind, desto freier kann die Lebenskraft in uns fließen. Und dann fühlen wir uns kraftvoller, leichter, freudiger und offener.

Der innere Kern ist, wie auch die Lebenskraft, immer da. Nur manchmal sind sie beide von körperlichen Anspannungen und von Schuld und Scham verdeckt und blockiert. Wenn Scham und Schuldgefühle unser Leben dominieren, können wir uns nicht vorstellen, dass es in uns einen guten und heilen Kern gibt. Doch die Hindernisse und Blockaden, die ihn und unsere Lebenskraft verdecken, lassen sich lösen. Dann wird unser Leben wieder lebenswert und wir können Freude, Kraft, Liebe und Klarheit erfahren.

Erbsünde und Scham

In unserer christlich geprägten Kultur hat auch die Religion einen großen Anteil an unseren tief sitzenden Scham- und Schuldgefühlen. Die sogenannte Erbsünde ist der Inbegriff von Schuld und Scham. Er besagt, dass wir als Menschen an sich schuldig und sündig sind. Interessant dabei ist, dass der Begriff in den frühen Schriften wie den Evangelien gar nicht auftaucht. Erst später entwickelten verschiedene Kirchenväter die Erbsünde als zentralen Aspekt der christlichen Dogmatik – und als nützliches Machtinstrument. Demnach sind wir als Menschen allein durch unsere Geburt sündig geworden, da sie die Trennung von Gott mit sich bringt. Demnach können wir uns noch so bemühen und anstrengen, wir bleiben immer sündig und schuldig, bis »Gottes Gnade« uns irgendwann erreicht! Psychologisch bedeutet das, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als uns mit dem Schicksal, schuldig und sündig zu sein, abzufinden. Darüber hinaus zeigt uns die Geschichte, wie diese Auffassung immer wieder für soziale und politische Machtinteressen missbraucht wird und wurde.

Die ursprüngliche Trennung von Gott kann aber auch in anderer Weise interpretiert werden. Nämlich, dass es sich dabei nicht um eine Trennung von einem äußeren Gott handelt, sondern dass die ursprüngliche Trennung eine Trennung in uns beschreibt, die Trennung von unserem inneren Kern, von unserem inneren »Gutsein«, unserem wahren Selbst. Und dann ist es für uns durchaus möglich, wieder damit in Verbindung zu kommen. Verschiedenste spirituelle und mystische Traditionen lehren genau das. Und auch hier im Buch geht es darum: Je mehr wir in Kontakt mit uns selbst kommen und uns mit Verständnis und Mitgefühl begegnen, desto mehr werden unseren Schuld- und Schamgefühlen die Grundlagen entzogen und sie fangen an sich aufzulösen.

Scham und Trauma

Scham und Trauma stehen in enger Beziehung zueinander: Je mehr Trauma ein Mensch erlebt, desto mehr tendiert er dazu, Scham zu entwickeln, wie die weiteren Ausführungen hier im Buch noch zeigen werden. Allgemein kann ein Trauma als eine Erfahrung verstanden werden, die bei dem Betroffenen das Gefühl einer starken Bedrohung und Not auslöst, der gegenüber er sich hilflos fühlt. Die Bedrohung kann eine körperliche oder emotionale sein. Ein Verkehrsunfall und ein Krankenhausaufenthalt können genauso zu einer Traumareaktion führen wie der frühe Verlust einer Bezugsperson, die Androhung eines Elternteils, das Kind zu verlassen, wenn es nicht artig ist, oder eine ständige Demütigung. Ein Trauma ist immer subjektiv: Ein und dieselbe Erfahrung kann bei dem einen Menschen zu einer Traumareaktion führen, an einem anderen Menschen kann sie mehr oder weniger spurlos vorbeigehen. Ebenso entstehen mehr oder weniger starke Scham und Schuldgefühle daraus. Zugleich gilt: Je weniger tatsächliches Trauma ein Mensch erfahren hat und eher »nur« schwierige Erfahrungen gemacht hat, desto weniger Scham entwickelt er.

Oft erreicht uns die Frage, ab wann man von einer Traumareaktion sprechen kann. Ein Trauma lässt sich nicht immer scharf und präzise definieren, weil der Übergang von einer traumatischen zu einer schwierigen Erfahrung fließend ist. Man kann schwierige Erfahrungen und traumatische Erfahrungen eher als zwei Pole verstehen, zwischen denen es eine gewisse Bandbreite gibt. In der Mitte sind die Übergänge fließend.

Um herauszufinden, ob bei einem Menschen eine ausgeprägte Traumareaktion vorhanden ist, kann folgende Orientierung helfen:

Eine Traumareaktion ist umso stärker und komplexer ausgeprägt,

je länger die für ein Trauma typische Einfrierreaktion2, sowie Resignation, Kollaps, Verzweiflung und Dissoziation3 anhaltenje mehr sich der Betreffende von sich selbst und von anderen abschneidetje mehr Scham, Selbstzweifel und Selbstablehnung der Betreffende entwickelt je mehr chronische Übererregung (Stressreaktion) und körperliche Anspannungen sich bildenje mehr psychische und psychosomatische Symptome der Betreffende entwickeltje früher und je mehr ein Mensch schwierige Erfahrungen gemacht hat.

Umgekehrt lässt sich sagen: Je mehr sich ein Mensch vom Pol Trauma entfernt und »nur« schwierige Erfahrungen gemacht hat,

desto mehr Lebendigkeit, Lebenskraft und Zuversichtdesto mehr Spür- und Fühlfähigkeit desto mehr Kontakt zu sich und zu anderen desto mehr Selbstannahme und Selbstliebe desto mehr Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen desto weniger starke Identifikationen desto mehr innere Balancedesto weniger psychische und psychosomatische Symptome.

Wir können zwischen verschiedenen Arten von Trauma unterscheiden:

Ein Schocktrauma bezeichnet eine Traumareaktion auf ein einmaliges und gut abgrenzbares Erlebnis, wie beispielsweise einen Verkehrsunfall, einen Sturz, einen Krankenhausaufenthalt, einen Überfall oder den plötzlichen Tod eines nahestehenden Menschen.

Ein Entwicklungstrauma ist ein Schocktrauma, das in früher Kindheit stattgefunden hat und die nachfolgende individuelle Entwicklung signifikant beeinträchtig hat.

Ein Bindungstrauma ist ein Trauma, das in der Kindheit durch eine nahestehende Bezugsperson ausgelöst wurde, wodurch ein massiver innerer Konflikt zu dieser Bezugsperson entstanden ist, unter der die Bindung stark gelitten hat. Ursache für ein Bindungstrauma kann körperlicher, sexueller oder emotionaler Missbrauch sein, körperliche oder emotionale Vernachlässigung sowie plötzliche Trennung von oder Unberechenbarkeit der Bezugsperson. Bindungstraumata ziehen sich oftmals über viele Jahre hin: Für das Kind ist es so bedrohlich und bringt so viel Hoffnungslosigkeit hervor, wenn es sieht, dass die Eltern nicht fähig sind, es zu lieben, dass es für das Kind sicherer ist, sich selbst als nicht liebenswert, als falsch und schlecht zu empfinden. Aus der Perspektive des Kindes ist es besser, das ungeliebte Kind von liebenden Eltern zu sein als das geliebte Kind von nicht liebenden Eltern. Das ist der Anfang der Scham.

Von einem Beziehungstrauma sprechen wir, wenn das Trauma durch Menschen ausgelöst wurde, mit denen wir in Beziehung stehen, die aber nicht unsere frühkindlichen Bezugspersonen waren, wie beispielsweise Lehrer, Nachbarn, ältere Kinder, Geschwister, Beziehungspartner, Schwiegereltern, Vorgesetzte, Kollegen und so weiter.

Das Verständnis von Trauma hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt: Zunächst wurde Trauma vor allem mit einem Schocktrauma in Verbindung gebracht, also mit einem klar abzugrenzenden einmaligen Ereignis. Erst in den letzten Jahren ist das Bewusstsein darüber gewachsen, dass auch frühe Bindungserfahrungen zu einer Traumareaktion führen können und dass diese Traumata darüber hinaus gravierender sind als Schocktrauma im Erwachsenenalter.

Giftige Scham kostet einen hohen Preis

Für giftige Scham und Schuld zahlen wir einen hohen Preis: Wir sind ständig am Grübeln, stellen uns selbst infrage, verlieren uns in Gedankenkreisen, haben oft ein schlechtes Gewissen und Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Wir verurteilen uns selbst und meinen, dass andere alles besser können. Dabei bezahlen wir mit unserer Lebenskraft, mit unserer Freude und mit unserer Liebe. Unbewusste Scham führt dazu, dass wir frustriert, resigniert, verärgert, depressiv, ausgebrannt, allein, ängstlich, unzufrieden, überfordert, misstrauisch, missbilligend oder hoffnungslos sind.

Giftige Scham und Schuld ziehen sich wie ein roter Faden durch unser gesamtes Leben und lenken viel innere Aufmerksamkeit auf sich. Tagtäglich kosten sie uns Kraft und Anstrengung und immer wieder kämpfen wir gegen uns selbst an:

»Eigentlich müsste ich noch …«»Das war jetzt völlig daneben von mir!«»Was denken bloß die anderen?«»Wenn ich das endlich schaffen würde, dann …!«»Hoffentlich blamiere ich mich nicht!«»Ist das, was ich gemacht habe, auch gut genug?«»Das kann ich mir auf keinen Fall erlauben.«»Ich will ja nicht anmaßend sein.«»Die anderen gehen vor, ich selbst bin nicht so wichtig!«

Scham und Schuld kosten uns einen hohen Preis

Für giftige Scham und Schuld zahlen wir – je nach individueller Ausprägung – einen hohen Preis. Durch unsere Scham- und Schuldgefühle hindern wir uns daran, unsere Potenziale zu entfalten und uns zu zeigen. Aufgrund von Scham und Schuld erzeugen wir selbst ständige Selbstzweifel, Grübelspiralen und Harmoniesucht. Wir werden perfektionistisch und misstrauisch, oftmals unterschwellig aggressiv oder ziehen uns lieber zurück, üben uns in Vermeidung und tun uns schwer Entscheidungen treffen, Grenzen zu ziehen und für uns einzustehen. Wir engen nicht nur unser Leben ein, sondern wir entwickeln möglicherweise auch eine Vielzahl psychischer und körperlicher Symptome, wie chronischen Stress, inneren Druck, Burn-out und Erschöpfung, Selbstunsicherheit, Schlafstörungen, innere Unruhe und Nervosität, Depressionen, Ängste, Empfindungen von Leere und Sinnlosigkeit, Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten, Kopfschmerzen und Migräne, Tinnitus, Herzrasen, erhöhten Blutdruck, Magen-Darm-Beschwerden, körperliche Anspannungen und Schmerzsymptome.

Besonders perfide ist eine sich oft entwickelnde sekundäre Scham, nämlich die Scham über die Schuld- und Schamgefühle. Wir verurteilen uns dann selbst dafür und fühlen uns schlecht, weil wir uns schämen, weil wir uns nicht trauen, uns zu zeigen und für uns einzustehen. Wir schämen uns, weil wir immer noch ein schlechtes Gewissen haben und von Schuldgefühlen geplagt werden. Somit verstärken wir die Scham immer mehr, sodass sie schließlich immer größer wird. Dann strengen wir uns noch mehr an und versuchen, noch härter an uns zu arbeiten, unsere Schuld- und Schamgefühle abzubauen, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln und zu lernen, uns zu behaupten. Und wenn diese Versuche nicht den gewünschten Erfolg bringen, dann schämen wir uns noch mehr und fühlen uns noch unfähiger und schlechter – wir sind gefangen in einem Teufelskreis, den wir uns selbst erschaffen haben.

Gleichzeitig wehren wir unsere Schamgefühle ab, indem wir so tun, als wären wir besonders schlau, besonders schön, besonders liebenswert, besonders zuvorkommend, loyal, hilfsbereit, großherzig oder spirituell. Wir tun alles dafür, dass bloß niemand merkt, wie wir wirklich sind. Wir setzen uns eine Maske auf, kontrollieren jede unserer Äußerungen und schneiden uns der Vorsicht halber von unseren eigenen spontanen und lebendigen Impulsen ab. Das alles kostet enorm viel Kraft, bis sich unser gesamtes Leben irgendwann nur noch schwer, anstrengend und leer anfühlt.

Scham und Schuld behindern die Qualitäten, die unser Leben lebenswert machen und uns Sinn und Erfüllung geben. Die meisten Menschen wünschen sich Glück, Zufriedenheit, Geborgenheit, Freude und Liebe. Und die entstehen – auch wenn wir sie viel zu oft im Materiellen suchen – aus einer tiefen Verbundenheit zu uns selbst und zu anderen. Sie entstehen aus dem, was wir in uns selbst als echt und wahrhaftig empfinden. Wenn es uns gelingt, unsere eigene Echtheit und Wahrhaftigkeit in unserem Leben auszudrücken, fühlen wir uns lebendig, freudig, erfüllt, verbunden und kraftvoll.

Giftige Scham und Schuld sind die Kernhindernisse für unsere Lebenskraft, für Freude, Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit, für unsere Verbundenheit zu uns selbst und anderen, für unsere Klarheit und Liebesfähigkeit. Sie sind also mehr als nur lästige Begleiterscheinungen unserer Prägungen, sondern sie bringen uns um das, was unser Leben lebenswert und kostbar macht.

Acht Charaktere als Beispiele für Scham und Schuld

Wir haben acht Charaktere entwickelt, die uns in diesem Buch als Fallbeispiele dienen. Anhand der Charaktere zeigen wir konkret auf, wie Scham und Schuld entstehen und wie weitreichend sie unser Leben beeinflussen. In späteren Kapiteln erläutern wir den Wachstumsprozess der jeweiligen Charaktere und wie es ihnen möglich ist, sich von Scham und Schuld zu befreien.

An dieser Stelle beginnen wir mit den aktuellen Lebenssituationen der verschiedenen Charaktere. Sie alle befinden sich gerade in einer mehr oder weniger herausfordernden Situation. Dass dabei ihre Scham oder Schuld eine Rolle spielt, ist den einzelnen Charakteren kaum bewusst. Denn wie bereits erwähnt, ist die toxische Scham wie ein Eisberg und zu einem großen Teil verborgen. Gleichzeitig durchzieht sie sämtliche Bereiche des Lebens.

Christine

Christine ist vierunddreißig Jahre alt und eine erfolgreiche Ärztin. Sie arbeitet in einer renommierten Praxis als Internistin. Christine ist sehr perfektionistisch. Alles, was sie anpackt, will sie »hundertfünfzigprozentig« machen. Sie ist extrem selbstkritisch. Selbst wenn sie etwas sehr gut gemacht hat, hat sie den Eindruck, es ist immer noch nicht gut genug und es könnte noch besser sein. Innerlich führt sie permanent Selbstgespräche. Pausenlos kommentiert sie sich selbst und ihr Handeln in kritischer Weise: wie sie aussieht, wie sie mit ihren Patienten umgeht, welche Behandlungen sie wählt, wie sie mit Freunden redet, wie sie Auto fährt, wie sie ihre Wohnung putzt … Sie kommentiert kritisch einfach alles, was sie tut!

Manchmal, wenn sie nachts nicht schlafen kann, drehen sich ihre Gedanken nur um die Frage, was sie noch alles hätte besser machen können. Dabei wird sie von ihren Patienten sehr geschätzt, und viele melden ihr zurück, dass sich bisher kein Internist so viel Zeit für sie genommen habe wie sie und es bisher niemanden gab, der sie so gründlich untersucht und behandelt habe. Sie hört das, aber aus irgendeinem Grund kommen diese positiven Rückmeldungen gefühlsmäßig nicht bei ihr an. Sie hat immer den Eindruck, dass es nicht reicht, was sie tut, um gut genug zu sein. Zu ihren Kollegen in der Praxis hat sie ein eher distanziertes Verhältnis. Vor allem weil sie beobachtet, dass diese nicht so hohe Ansprüche an die Arbeit haben wie sie selbst. Dadurch sinken sie in ihrem Ansehen und werden für sie uninteressant.

Was ihr wirklich zu schaffen macht, ist, wenn jemand sie direkt oder indirekt kritisiert. Jede Kritik von außen nimmt sie als Anlass, sich abzuwerten und sich selbst noch mehr zu kritisieren, ohne zu prüfen, ob die Kritik überhaupt berechtigt ist. Manchmal kommt es ihr so vor, als suche sie förmlich nach Kritik, um sich selbst wieder abwerten zu können …

Ihre kritische Einstellung drückt sie auch gegenüber ihrem Körper aus. Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel schaut, hält sie nach Makeln Ausschau. Und jeden Morgen findet sie etwas, womit sie nicht zufrieden ist: Mal sind es ihre Augenbrauen, die Form ihrer Lippen, ihre kleinen Sommersprossen auf der Nase, ihre Augenfarbe, ihr Bauch, ihre Hüften oder ihre Körpergröße, ihre Beine, ihr Leberfleck am Hals, die Form ihrer Ohren, ihre Nase, ihre Hände, ihre Fingernägel, ihre Kleider. Es scheint, als würde sie jeden Tag zwanghaft Fehler an sich suchen.

Wenn ihr jemand – und besonders Männer – ein Kompliment macht, dann glaubt sie es nicht. Dazu kommt, dass sie die Männer dann auch nicht mehr ernst nehmen kann, da sie offenbar sehr geringe Ansprüche haben. Auf ihre eigenen hohen Ansprüche ist sie sehr stolz.

Christine hat ziemlich romantische Vorstellungen von einer Beziehung. Diese gibt sie vor ihren Freundinnen aber kaum zu. Schließlich will sie eine moderne und emanzipierte Frau sein und sich den Männern nicht unterordnen. So hat es ihr ihre Mutter vorgelebt und dem will sie in keinster Weise nachstehen. Gleichzeitig kann sie es sich nicht verkneifen, heimlich kitschig-romantische Liebesfilme im Internet zu schauen. Dabei wird ihre Sehnsucht wachgerufen, die sie sich auch nur während dieser Filme erlaubt, nämlich endlich ihren Traummann zu finden, der sie aus ihren Selbstzweifeln erlöst und mit dem sie das Paradies auf Erden erfahren kann.

Bisher hatte sie nur sehr kurze Beziehungen, die sie alle selbst beendet hat. Am Anfang war sie immer sehr verliebt und der festen Überzeugung, nun ihren Traummann gefunden zu haben, weil er so gut aussah, weil er gegenüber Frauen so gute Manieren hatte, weil er ein erfolgreicher Chirurg war oder weil er sich für Philosophie und die wirklich wichtigen Fragen im Leben interessierte. Nach kurzer Zeit jedoch fielen ihr bei jedem dieser Männer Eigenschaften auf, die sie gar nicht mochte: Die Wohnung des einen war in ihren Augen nicht perfekt aufgeräumt, der andere ließ seine Kleider noch von seiner Mutter waschen, was für sie einen Ausdruck von Unselbstständigkeit ist. Der nächste hatte nicht studiert und der letzte Mann war ihr zu klein. Sie will einen Mann, der mindestens einen Kopf größer ist als sie. Erst dann hat sie das Gefühl, dass er stark genug ist und sie sich an ihn anlehnen kann.

Ihren Perfektionismus und ihre hohen Standards wendet sie also auch auf Männer an. Schon seit einiger Zeit fragt sie sich, ob es überhaupt einen Mann gibt, der ihren Vorstellungen entspricht und gut genug für sie ist. Keinesfalls will sie auf Männer und Beziehungen verzichten, aber sie will ihre Ansprüche an sie auch nicht herunterschrauben. Wenn sie sich in ihrer Fantasie ihren Traummann ausmalt und wie sie mit ihm zusammen ist, dann tauchen in ihr vor allen Dingen romantische Vorstellungen auf, wie sie bei einem teuren Dinner zu zweit am Meer bei Sonnenuntergang sitzen und er ihr flüsternd, mit verklärtem Blick sagt: »Ich liebe dich.« An Sex denkt sie dabei kaum. Zum einen mag sie ihren Körper nicht sonderlich und schämt sich, wenn sie nackt ist. Zum anderen hat sie den Eindruck, dass Männer sowieso immer nur »das Eine« wollen, und dafür will sie sich nicht so ohne Weiteres hergeben.

Obwohl Christine in ihrem Leben als Ärztin viel erreicht hat, kann sie ihren Erfolg und was sie alles geschafft hat selbst nicht anerkennen. Sie hat permanent das Gefühl, es reicht noch nicht.

In den letzten Jahren hat sie einige Workshops besucht. Alle mit dem Ziel, noch besser zu werden: Sie hat Yoga gemacht, weil sie ihre Figur verbessern wollte. Sie hat zu meditieren versucht, um sich noch besser konzentrieren zu können und leistungsfähiger zu werden. Sie hat einen Workshop für Singles besucht, um herauszufinden, wie sie endlich ihren Traummann finden kann. Und sie hat einen Kurs zu positivem Denken und Affirmationen besucht, um mit sich zufriedener zu sein. Eine Woche hat sie durchgehalten, sich jeden Morgen an das positive Denken und die Affirmationen zu erinnern. Dann bekam sie einen Wutanfall, weil das alles nicht gefruchtet hat und schmiss die Unterlagen in die Ecke.

Vor zwei Monaten nun hat sie einen Mann kennengelernt und sich verliebt. Dieses Mal scheint er wirklich der Richtige zu sein: Er ist Arzt, kommt aus einer gebildeten Familie, hat gute Manieren, sieht gut aus und ist einen Kopf größer als sie. Vor einer Woche sind sie das erste Mal für drei Tage zusammen weggefahren. Schon als sie zusammen im Auto saßen, überkam Christine ein merkwürdiges Gefühl. Sie fühlte sich plötzlich distanziert von ihm, so als wäre er ihr ganz fremd. Ihre Freude, über den gemeinsamen Ausflug war völlig weg, sie war irritiert und fragte sich, was sie mit diesem Mann die nächsten drei Tage anfangen soll. Sie beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er Auto fährt, und fand, dass er irgendwie depressiv wirke. Wie, um Himmels willen, konnte sie sich in diesen Mann verlieben? ! Dann versuchte sie, die Gedanken beiseite zu schieben und sich an ihr Verliebtsein zu erinnern. Aber immer wieder nahm sie Eigenschaften an ihm wahr, die ihr missfielen.

Die gemeinsamen Tage wurden schwierig, spannungsreich und sehr unangenehm. Am Ende fragte er sie, was eigentlich los sei, er würde sie nicht wiedererkennen. Und sie sagte, dass sie sich in ihm wohl geirrt habe. Daraufhin wollte er wissen, woran sie das festmache. Diese Frage war ihr sehr peinlich und sie versuchte auszuweichen. Er ließ aber nicht locker und sagte, sie solle nicht so feige sein. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen, und sie zählte ihm alles auf, was ihr mittlerweile an ihm missfiel: seine depressive Ausstrahlung, seine grünen Turnschuhe, die Tatsache, dass er morgens zum Frühstück Käse und Marmelade esse und kein gesundes Müsli und dass er während ihrer ersten gemeinsamen Reise Nachrichten auf seinem Smartphone schaue. Er war von ihrer Aussage sichtlich geschockt und entgegnete schließlich verärgert: »Mit all deinen irrationalen Ansprüchen wirst du nie einen Mann finden! Merkst du in all deinem Perfektionismus gar nicht, wie viel Angst du vor Nähe und vor Liebe hast?«

Daraufhin blieb ihr der Mund offen stehen. So etwas hatte noch nie jemand gewagt ihr zu sagen! Ihr Gehirn war blank. Sie schaute ihn nur mit großen Augen an. Sie war komplett verwirrt und konnte nur noch sagen: »Ich muss jetzt nach Hause!«, dann drehte sie sich um und ging.

Die ganze Nacht konnte sie kein Auge zutun. Immer wieder gingen ihr seine Worte durch den Kopf. In den nächsten Tagen war sie sehr unkonzentriert. Die Worte dieses Mannes ließen sie nicht los. Tief im Inneren ahnte sie, dass er etwas Wahres ausgesprochen hatte. Gleichzeitig schämte sie sich so sehr darüber, dass sie es nicht wagte, mit einer Freundin darüber zu sprechen. Sie begann im Internet zu forschen und fand eine Seite, auf der sich Menschen über ihren Perfektionismus austauschten. Das beängstigte und faszinierte sie gleichzeitig. War sie doch immer so stolz auf ihren Perfektionismus gewesen – und nun reden »Betroffene« davon, als sei es eine Krankheit!

Sie entschied sich, Hilfe bei einem Psychotherapeuten zu suchen. Vor zehn Jahren war sie schon einmal bei einem Psychotherapeuten, weil sie während des Studiums unter Schlafstörungen litt. Er gab ihr eine Reihe von Verhaltenstipps, wie sie besser schlafen und sich auch tagsüber mal entspannen könnte. Sie probierte all seine Ratschläge aus, aber ihre Schlafstörungen wurden nicht besser. Erst als sie begann, Schlaftabletten zu nehmen, konnte sie wieder schlafen. Glücklicherweise schaffte sie es, diese nach ihrem Examen wieder abzusetzen. Von daher war sie vor ihrer Sitzung mit der neuen Psychotherapeutin etwas skeptisch. Diese arbeitet tiefenpsychologisch und körperorientiert.

In den Tagen vor dem ersten Termin reflektierte Christine ihre Erfahrungen mit und ihre Reaktionen auf Männer. Sie konnte zumindest ein Muster erkennen: Wenn es mit Männern nah wurde, wurde sie ihnen gegenüber umso kritischer. Und damit blockierte sie jede Beziehung.

Kommentar zu Christines aktueller Lebenssituation

Wenn Sie über Christines Leben lesen, ist Ihnen vielleicht auf den ersten Blick nicht ersichtlich, dass ihre Situation durch und durch von giftiger Scham geprägt ist. Christine ist sich ihrer Scham auch selbst kaum bewusst. Dennoch: Fast jeder Moment in ihrem Leben, sowie sämtliche ihrer Gefühle, Gedanken, ihr Erleben und auch ihr Handeln sind von giftiger Scham durchdrungen. Diese Scham kostet sie einen hohen Preis. Unbewusst projiziert sie ihre giftige Scham auf sämtliche Aspekte ihrer Person, mit denen sie nicht zufrieden ist, und entwickelt daraufhin sehr hohe Ansprüche an sich selbst und an ihre Umwelt. Ihre unbewusste Scham kommt also in ihrem Perfektionismus zum Ausdruck, auf den sie darüber hinaus noch stolz ist. Dazu gehören auch ihre permanenten kritischen Selbstgespräche, ihre tiefe Überzeugung, nicht zu genügen, ihr ständiges Grübeln, was sie besser machen könne, ihr innerliches Abwehren von Komplimenten, ihr Problem mit Kritik umzugehen und ihre Schwierigkeiten, eine intime Beziehung zu einem Mann einzugehen und aufrechtzuerhalten.

Anne

Anne ist sechsundvierzig Jahre alt, verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Manchmal hat sie das Gefühl, dass ihr alles zu viel wird. Sie arbeitet beim regionalen Tourismusverband, ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und dafür, die Interessen des Tourismus in der Region zu vertreten. Das macht sie sehr aktiv und offensiv. Dadurch ist sie in ihrer Arbeit einerseits sehr erfolgreich, da sie die Interessen des Verbandes aktiv in die verschiedenen Gremien, Verbände, Vereine und Netzwerke einbringt. Andererseits ziehen sich Kollegen und Netzwerkpartner oft merklich von ihr zurück, weil sie Anne im Verfolgen ihrer Interessen als fordernd, teilweise sogar penetrant und grenzüberschreitend empfinden. Anne weiß das und ist letztlich stolz darauf. Sie interpretiert das als Bestätigung und Anerkennung dafür, wie gut sie ihre Interessen vertreten kann. Alle vier Wochen gibt sie eine kleine Pressekonferenz. Darauf freut sie sich jedes Mal, weil sie dann im Mittelpunkt des Geschehens steht und viel Aufmerksamkeit bekommt.

Anne hat sich ihre Position in den letzten Jahren hart erarbeitet, indem sie ihre Rechte und ihre Interessen immer offen eingefordert hat. Ihr Chef wollte ihren Posten ursprünglich mit einem Mann besetzen, da er der Auffassung war, Männer seien für diese Arbeit besser geeignet. Sie ist stolz darauf, dass sie sich gegenüber ihrem Vorgesetzten durchsetzen und ihn vom Gegenteil überzeugen konnte. Anne ist kommunikativ und arbeitet gern mit Menschen. Außerdem möchte sie sich weiterentwickeln. Stillstand mag sie gar nicht. Deshalb überlegt sie seit einiger Zeit, an einer Fortbildung im Bereich Coaching teilzunehmen. Was ihr dabei besonders am Herzen liegt, ist, Menschen beizubringen, wie sie mehr für ihre Interessen, Rechte und Wünsche eintreten können.

Von ihren Freundinnen wird sie eher als egozentrisch wahrgenommen. Sie redet viel von sich selbst und unterbricht andere immer wieder, sobald ihr etwas einfällt. Es ist ihr wichtig, anderen ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Manche Menschen, zum Beispiel ihre Nachbarn, empfinden sie als rechthaberisch und anstrengend. Wenn es einer ihrer Freundinnen allerdings schlecht geht, dann kann sie sehr für die andere da sein und sich um sie kümmern.

Als sie mit ihrer Familie umgezogen ist, bemühte sie sich von Anfang an um ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn. Sie brachte ihnen sogar Kuchen vorbei. Mittlerweile meiden einige Nachbarn sie, was sie nicht versteht, da sie sich von Anfang an um einen guten Kontakt mit ihnen bemühte. Doch sie haben sich von ihr zurückgezogen, weil sie sie als aufdringlich und etwas anstrengend empfinden, da sie eben oft sehr viel redet und die anderen im Gespräch schnell unterbricht.

Beruflich ist Anne erfolgreich. Privat ist ihr Leben eher schwierig. Bis sie siebenunddreißig war, hatte Anne mehrere Partnerschaften, in denen sie schon nach kurzer Zeit unzufrieden war, weil sie sich nicht genügend gesehen und verstanden fühlte. Ihre Partner empfanden sie wiederum als ziemlich fordernd. Sie warfen Anne vor, dass sie immer noch mehr wolle und nie satt werde. Mit siebenunddreißig realisierte sie, dass sie zwar beruflich erfolgreich, aber in ihrem Leben immer noch nicht glücklich war. Daraufhin entschied sie sich, dass sie unbedingt Kinder haben möchte. Diese sollten ihr Lebensglück vollenden! Sie setzte alles dran, einen Mann zu finden, mit dem sie eine Familie gründen könne. Mit einundvierzig heiratete sie und mit zweiundvierzig bekam sie ihr erstes Kind. Aber schon kurze Zeit später fiel es ihr schwer, sich über ihr Kind zu freuen, da ihre Position im Tourismusverband nun von jemand anderem besetzt wurde. Also entschied sie sich, drei Monate nach der Geburt wieder Vollzeit zu arbeiten, um ihre Position nicht zu verlieren.

Entgegen dem Wunsch ihres Mannes wollte sie unbedingt noch ein zweites Kind. Sie setzte sich schließlich durch. Nachdem sie mit dem zweiten Kind wieder nur kurz pausiert hatte, musste sie sich sehr anstrengen, um ihren Kindern einigermaßen gerecht zu werden und gleichzeitig ihren Job kompetent ausfüllen zu können. Bis ihr zweites Kind ein Jahr alt war, hatte sie tagsüber eine Tagesmutter für die beiden. Allerdings war Anne mit den Tagesmüttern oft unzufrieden, sodass sie etwa alle drei Monate nach einer neuen suchte.

Andererseits ist Anne neidisch auf andere Mütter, die viel Zeit für ihre Kinder haben und mit ihnen täglich entspannt auf den Spielplatz gehen können.

Anne vergleicht sich ständig mit anderen Müttern wie auch mit ihren Arbeitskollegen. Sie hat den Eindruck, dass sie nirgendwo mithalten kann. Das macht sie sehr unzufrieden. Sie fühlt sich unzulänglich und minderwertig und hat permanent das Gefühl, dass es nicht genug ist, was sie tut. Wie auch immer sie sich entscheidet, entweder für die Kinder oder für ihre Arbeit, sie hat den Eindruck, es ist nie richtig. Das zermürbt sie.

Oft empfindet sie gegenüber ihren Kindern Ärger, weil diese von ihr Zeit und Aufmerksamkeit fordern. Sie merkt, dass sie eigentlich nicht bereit ist, ihren Kindern so viel zu geben, wie sie bräuchten. Das führt dazu, dass sie immer wieder ein schlechtes Gewissen hat und sich Vorwürfe macht, eine Rabenmutter zu sein. Sie ist in einem inneren Konflikt zwischen den Bedürfnissen ihrer Kinder und ihren eigenen Wünschen, den sie nicht lösen kann und der ihr in manchen Nächten Kopfzerbrechen bereitet. Im Tourismusverband will sie ihre Position unbedingt behalten. Normalerweise bedeutet das, dass sie ungefragt und selbstverständlich Überstunden macht. Aber das ist mit den kleinen Kindern schwierig. Wenn sie mehrere Tage hintereinander erst um sieben Uhr abends nach Hause kommt, dann sind ihre Kinder aggressiv, launisch und ungehalten ihr gegenüber. Das macht den Kontakt zu ihnen wiederum noch schwieriger für sie. Manchmal kann sie gar keine Freude mehr darüber spüren, dass ihre Kinder überhaupt da sind. Dafür schämt sie sich sehr und traut sich mit niemandem darüber zu reden. Seit einiger Zeit hat sie sogar Angst, dass andere Leute ihr ansehen könnten, dass sie Aggressionen gegenüber ihren Kindern hat, was sie auf keinen Fall will. Besonders, weil sie sich die Kinder so sehr gewünscht und alles daran gesetzt hat, sie zu bekommen.

Das Hin- und Hergerissensein zwischen den Anforderungen ihrer Arbeit und denen ihrer Kinder zerreißt Anne innerlich. Manchmal hat sie sich schon bei dem Gedanken ertappt, dass sie es bereut, überhaupt Kinder bekommen zu haben. Dafür schämt und verurteilt sie sich und denkt, dass alle anderen Frauen es hinkriegen, nur sie nicht. Zu dieser Zeit war sie der festen Auffassung, dass sie in ihrem Leben nur glücklich werden kann, wenn sie Kinder bekäme. Das stellt sich nun mehr und mehr als eine Illusion heraus! Im Gegenteil, früher fühlte sie sich nicht so erschöpft wie heute.