Bei euch ist es immer so unheimlich still - Alena Schröder - E-Book

Bei euch ist es immer so unheimlich still E-Book

Alena Schröder

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Beschreibung

Es gibt mehrere Arten, eine Geschichte zu erzählen. Aber nur eine, die alles verändert. Ildingen, 1950er Jahre. Evelyn Borowski hat alles, was sie sich je erträumt hat: Ein Eigenheim mit Garten, einen fürsorglichen Mann und das lang erwartete Töchterchen Silvia. Trotzdem ist sie nicht glücklich: Sie vermisst ihren Beruf als Ärztin und fühlt sich fremd und allein in dieser süddeutschen Kleinstadt. Betti, Ihre Freundin und Schwägerin, ist unverheiratet und kümmert sich deshalb um die Eltern. Mit losem Mundwerk und rasantem Fahrstil sorgt sie für reichlich Ärger. Ein außergewöhnlicher Familienroman, der einen Bogen von der Nachkriegszeit bis zur Wende spannt. 1989, in Berlin liegt Aufbruch in der Luft. Silvia Borowski aber macht einen Schritt zurück. In einem geklauten Polo fährt sie Hals über Kopf Richtung Süden. Neben ihr die erst wenige Wochen alte Tochter Hannah. Was erwartet sie in ihrem Heimatort, aus dem Silvia vor vielen Jahren überstürzt geflohen ist? Ist sie stark genug, sich der Vergangenheit zu stellen? Eine berührende Mutter-Tochter-Geschichte, die von der Last jahrzehntelangen Schweigens erzählt, und von dem Mut, es zu brechen. "Auf dem IIldinger Friedhof hinter der gotischen Kirche aus hellem Sandstein ging Silvia die sauber geharkten Kiesreihen ab. Am Familiengrab der Borowskis setzte ihr Herzschlag einen Moment aus, als ihr auffiel, dass ein Stein fehlte. Ein Stein, der eine Frage beantwortet hätte, die sie nie gestellt hatte, weil sie sicher war, die Antwort zu kennen. Es gab keinen Stein für Tante Betti.« Wer Alena Schröder liest, begreift, nicht nur Aufbruch kostet Mut, sondern auch Heimkehr. Jetzt erzählt die Autorin, was in ihrem gefeierten Bestsellerroman "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" im Dunklen blieb. - »Alena Schröder hat eine dichte, emotionale Geschichte gewoben, genauso spannend wie zum Nachdenken anregend.« Donna - »Ein Starker Familienroman, in dem es auch darum geht, wie Frauen aller Generationen mit dem Muttersein hadern.« Freundin - »Atmosphärisch dicht, die Rückblenden so mitreißend wie Babylon Berlin.« flow - »Hoppla, Alena Schröder ist eine echte Entdeckung.« Denis Scheck, ARD Druckfrisch

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Über das Buch

Ildingen, 1950er Jahre. Evelyn Borowski hat alles, was sie sich je erträumt hat: Ein Eigenheim mit Garten, einen fürsorglichen Mann und das lang erwartete Töchterchen Silvia. Trotzdem ist sie nicht glücklich: Sie vermisst ihren Beruf als Ärztin und fühlt sich fremd in dieser süddeutschen Kleinstadt. Und Beg, ihre Freundin und Schwägerin, sorgt mit losem Mundwerk und rasantem Fahrstil für reichlich Ärger.

 

1989, in Berlin liegt Aufbruch in der Luft. Silvia Borowski aber macht einen Schritt zurück. In einem geklauten Polo fährt sie Hals über Kopf Richtung Süden. Neben ihr die erst wenige Wochen alte Tochter Hannah. Was erwartet sie in ihrem Heimatort, aus dem Silvia vor vielen Jahren überstürzt geflohen ist? Ist sie stark genug, sich der Vergangenheit zu stellen?

Alena Schröder

Bei euch ist es immer so unheimlich still

Roman

Für Marison

Transit

1989

Silvia hatte in ihrem Leben schon viel geklaut, aber ein Auto bislang noch nicht. Kann ich das also auch von der Liste streichen, dachte sie.

Wobei …

War das überhaupt Diebstahl, wenn man einen Zweitschlüssel besaß? Sie hatte Dirks roten Polo ja nicht kurzschließen müssen, auch keine Scheibe eingeschlagen, sie hatte ihn einfach nur auf unbestimmte Zeit geliehen, ohne zu fragen, und sie hatte auch nicht vor, Dirk im Nachhinein um Erlaubnis zu bitten. Sollte das Arschloch ruhig glauben, dass die Karre weg war, der hing doch eh die meiste Zeit high auf dem braunen Cordsofa in ihrer Kreuzberger Hinterhof-WG herum und schnallte überhaupt nichts. Falls es also hart auf hart käme, würde sie immer behaupten, Dirk habe ihr das Auto aus freien Stücken geliehen, vielleicht sogar geschenkt. Und wem würde man dann wohl glauben, einem bekifften Hausbesetzer oder ihr, einer frischgebackenen Mutter? Na also.

Und überhaupt, scheiß auf Dirk. Auf den hatte sie eine Riesenwut, genau wie auf Iris und Zecki. Die konnten den ganzen Tag was von Solidarität quatschen, aber ein bisschen Rücksicht nehmen auf ein Neugeborenes, das war zu viel verlangt. Einfach nur mal das Fenster aufmachen, wenn sie die Küche vollgequarzt hatten. Oder beim Bumsen ein bisschen leiser sein, wenn das Baby gerade schlief. Oder ab und zu mal was Richtiges kochen, auch wenn das sonst immer Silvias Ding gewesen war, die großen Eintöpfe für alle, von denen dann eine Woche lang gegessen wurde, weil sie das nicht mehr ganz frische Gemüse aus dem Genossenschaftsladen mitnehmen konnte, in dem sie tagsüber arbeitete. Seit sie aus dem Krankenhaus wiedergekommen war, mit gebrochenem Herzen und schmerzenden Brüsten, gab es nur noch Käsestulle, und in der Gemeinschaftsküche schimmelte das benutzte Geschirr in der Spüle.

Silvia fuhr die Kantstraße Richtung Westen, um am Internationalen Congress Center, das wie ein großes silbergraues Raumschiff im Westen Berlins herumstand, Richtung AVUS abzubiegen. An der Spinnerbrücke würde sie mit ihrem letzten Geld noch mal tanken, bevor es auf die Transitstrecke ging. Benzin war zwar in der Zone billiger, aber eigentlich wollte sie da nicht anhalten. Sie konnte nur hoffen, dass sie mit der Tankfüllung bis nach Ildingen kam. Und dass die Grenzer ihr keinen Stress machten in Dreilinden und sie nicht zu lange warten musste. Und dass Hannah erst wieder aufwachen und Durst haben würde, wenn sie in der BRD waren. Wessiland.

Neben Silvia auf dem Beifahrersitz lag Hannah in einem grauen, mit Handtüchern und Mullwindeln ausgepolsterten Plastikwäschekorb und schlief. Die winzige, zur Faust geballte linke Hand lugte neben ihrem Kopf unter der Babydecke hervor, die Silvia im Krankenhaus geklaut hatte. Na, das würde den Grenzern gefallen, zwölf Wochen alt und schon die Faust zum sozialistischen Gruß erhoben, vielleicht ließen sie sie ausnahmsweise einfach fahren, ohne Aussteigen und Kofferraumaufmachen und die ganze Schikane.

Hinter Silvia hupte jemand, es war grün, sie hatte es nicht mitbekommen, weil sie ihre Augen nicht von ihrer Tochter lösen konnte. Wie perfekt die war. Wie absolut unvergleichlich und vollkommen in all ihrer Winzigkeit, das kleine ernste Gesicht, der braune Haarflaum, die Spuckebläschen, die sich in ihrem Mundwinkel sammelten, während sie schlief. Das habe ich gemacht, dachte Silvia, und spürte, wie eine warme Welle aus Stolz, Liebe und Sorge über sie hinwegschwappte, sodass ihr schon wieder die Augen feucht wurden.

Ich ganz allein habe dieses Geschöpf gemacht.

Martins Beteiligung wollte sie in Zukunft ausblenden, die Erinnerung an ihn einfach aus ihrem Gehirn kratzen, so gründlich und endgültig, bis alles weg war und es nicht mehr wehtat. Angefangen von ihrer ersten Begegnung im Roten Hirsch, wo er am Tresen gesessen hatte während ihrer Schicht. Und dann immer wieder. Zufällig immer dann, wenn sie Dienst hatte, donnerstags und freitags, ihre Kolleginnen hatten sich schon lustig gemacht über den Typen, der nach Geld aussah und hier gar nicht hinpasste. Die Haare ein bisschen zu kurz, die Klamotte ein bisschen zu neu. Lederhalbschuhe. War wahrscheinlich gelangweilt von der Ollen zu Hause in Charlottenburg oder Dahlem, wollte sich mal ein bisschen Kreuzberger Nachtluft durchs Hirn pusten lassen. Er hatte Silvia zugesehen beim Gläserspülen und Bierzapfen, aber nie den Versuch gestartet, mit ihr zu reden. Bis an einem Abend Thorsten reingekommen war, ihr Ex, besoffen und aggressiv, und sie über den Tresen hinweg angepöbelt und beleidigt hatte. Da hatte Martin ihm wortlos und mit einer ganz selbstverständlichen Bewegung den Arm auf den Rücken gedreht und ihn mit der anderen Hand am Nacken aus der Kneipe geschoben, und Silvia hatte durch die Scheiben gesehen, wie Martin draußen noch etwas zu Thorsten sagte, was den offenbar so beeindruckt hatte, dass er sich trollte und etliche Wochen nicht mehr im Roten Hirsch aufgetaucht war.

Nicht dass Silvia mit jedem ins Bett gegangen wäre, der ihr in der Kneipe mal einen aufdringlichen Typen vom Hals gehalten hatte, aber bei Martin hatte es sich irgendwie ergeben. Der war so höflich und zuvorkommend gewesen, geradezu ritterlich. Rührend und ungewöhnlich hatte Silvia das gefunden. Wie er zum ersten Mal nackt in ihrem Zimmer gestanden und sie ausgezogen und dann bestaunt hatte, als hätte er eine wie sie noch nie gesehen. Als wäre Silvia eine griechische Statue, perfekt und kostbar. Wie spannend er ihr Leben fand, das ehemals besetzte Haus, die WG, ihre Jobs in der Obst- und Gemüsekooperative und in der Kneipe, die politischen Initiativen, in denen sie sich engagierte. Sehnsuchtsvoll hatte er all das aufgesogen, weil es das Gegenteil von seinem Leben war, Grunewald, Segelclub, Jurastudium, dann Juniorpartnerschaft in der Kanzlei seines Vaters, Hochzeit mit seiner Studentenliebe.

Ihre Mitbewohner waren nicht sehr begeistert gewesen von dem neuen Gast, der nun ab und zu wie Falschgeld in ihrer Küche herumsaß. »Der sieht aus wie’n Spitzel, Silvi«, hatte Dirk gesagt. »Wie so’n Zivilbulle.«

»Ne, dafür ist der viel zu auffällig«, hatte Iris gesagt. »Der will sich hier nur ablenken von seiner traurigen Bürgerexistenz. Verknall dich nicht in den.«

Doch da war es längst zu spät gewesen. Silvia hätte eigentlich wissen müssen, dass sie nur eine kurze Abweichung von Martins Lebensplan war, aber irgendwie war sie in den Honigtopf seiner Zuneigung gefallen und kam nun nicht wieder heraus. Silvia war es nicht gewohnt, so vehement umschwärmt zu werden, auf so eine altmodische Art. Martin gab ihr das Gefühl, überirdisch schön und begehrenswert zu sein, während er mit ihr in ihrem Bett lag, einem alten, brettharten Futon auf ein paar Holzpaletten. Er wollte mit ihr verreisen, weg aus Berlin und dann die Welt sehen, endlich rauskommen und frei sein und keine Erwartungen mehr erfüllen. Silvia wollte es sich erst nicht eingestehen, aber je mehr sie über sein Leben wusste, desto mehr fing sie an, sich auszumalen, selbst ein Teil davon zu sein. Vielleicht war es ja doch langsam an der Zeit, die WG zu verlassen und eine andere Art von Leben zu führen. Vielleicht könnten sie sich gegenseitig retten, Silvia Martin vor der totalen Verspießerung in einem vorgefertigten Lebensentwurf mit einer Frau, die er schon lange nicht mehr begehrte, Martin Silvia vor einem Leben in Sperrmüllmöbeln.

Als Silvia merkte, dass sie schwanger war, sagte sie Martin erst mal nichts davon. Wie eine Vorahnung kam es ihr heute vor. Sie wollte dieses Kind auf jeden Fall, und sie wollte sich noch eine Weile selbst erzählen, dass Martin es auch wollen würde. Wollte er dann aber nicht. Das Kind nicht und Silvia wollte er plötzlich auch nicht mehr. Wie hart sein Gesicht geworden war, als sie ihm eröffnet hatte, dass er Vater würde. Da hatte er sie angesehen, als hätte sie eine Maske abgenommen und ihm nun ihre wahre, hässliche Fratze präsentiert.

»Führerschein, Fahrzeugpapiere, Ausweis!«

Silvia reichte dem Grenzbeamten am ersten Wärterhäuschen des Grenzübergangs Dreilinden ihre Papiere durch das Autofenster den Fahrzeugschein hatte sie zum Glück im Handschuhfach gefunden, eine leere Bierdose und eine Tüte mit einem kleinen Rest Gras noch rechtzeitig beim Tanken entsorgt. Hannah machte keinen Mucks in ihrem Wäschekorbbettchen.

»Waffen, Munition, Funkgeräte?«

Silvia verneinte und schaute so harmlos wie möglich. Der DDR-Grenzer legte ihre Papiere auf das kleine Förderband, das in das nächste Wärterhäuschen führte, sein Kollege hielt lustlos den Spiegelstab unter ihr Auto, ein Blick in den Kofferraum, dann bedeutete man ihr mit einer Kopfbewegung, sie solle weiterfahren.

Silvia stand auf keiner Fahndungsliste und ihr Passbild sah ihr noch immer ähnlich genug. Lange rotbraune Haare, immer ein bisschen zottelig und ungekämmt, die grünen Augen ihres Vaters, in jedem Ohrläppchen drei kleine Silberringe, ein paar Sommersprossen, die sie jünger aussehen ließen als 33. Der Grenzer am zweiten Wärterhäuschen hatte ihren Ausweis in der Hand und schaute ihr fest und leicht abschätzig ins Gesicht, dann wieder auf das Foto und wieder zu ihr. Silvia hielt seinem Blick stand, anders als dem Blick von Martin. Den hatte sie nicht ausgehalten.

Ein paar Wochen lang war er einfach nicht mehr aufgetaucht. Dann hatte Silvia im Telefonbuch nach der Nummer seiner Kanzlei geschaut, dort angerufen, einer Frau am anderen Ende der Leitung ihren Namen genannt und erklärt, sie wolle Martin van der Kampen sprechen. »Kleinen Moment mal bitte«, hatte die Frau gesagt, es hatte zweimal geknackt in der Leitung, und dann hörte Silvia, leider sei Herr van der Kampen nicht im Hause, er habe einen wichtigen Termin zusammen mit seiner Gattin beim Regierenden Bürgermeister. Das war gelogen, viel zu spezifisch, um die Wahrheit zu sein. Und welche Sekretärin hätte extra eine Gattin erwähnt, wenn ihr Chef sie nicht explizit darum gebeten hätte?

»Gattin« – wie das schon klang.

Silvia bekam ihre Papiere zurück und den Zettel mit dem Transitvisum, sie durfte weiterfahren. Nicht schneller als 100 km/h, aber mehr schaffte Dirks Polo ohnehin nicht. Der gleichmäßige Sound, den die Reifen auf den Betonnarben der Autobahn machten, gefiel ihr, und Hannah schien er auch nicht zu stören, die schlief einfach weiter.

Wie sie sich geschämt hatte für ihren Liebeskummer. Wie sie mit ihrem immer dicker werdenden Bauch durch Kreuzberg gelaufen war und einfach nur verschwinden wollte, der Erdboden sollte sich auftun und sie in eine unterirdische Höhle saugen, in der sie in Ruhe ihr Kind gebären könnte. Wie sie schwach geworden und von einem Spießerleben geträumt hatte, das war schon ein enormer Verrat an allem, woran sie doch eigentlich glaubte. Dass sie dem Typen jetzt auch noch hinterherweinte: die größtmögliche Demütigung.

»Sei froh, dass du den Pisser los bist, wir kriegen den Wurm schon groß«, hatte Zecki zu ihr gesagt und Iris und Dirk hatten genickt. Aber als die Wehen einsetzten, war sie doch allein mit dem Fahrrad ins Krankenhaus gefahren. Wenigstens konnte sie dort einfach alles rausschreien, die ganze Traurigkeit und die ganze Wut, bei jeder Wehe. Und sie hatte gemerkt, wie sie sich stärker fühlte mit jeder Phase dieser Naturgewalt, die von ihrem Körper Besitz ergriff. Wie sie sich in den Schmerz werfen und durch ihn hindurchtauchen konnte. »Sie machen das gut, Frau Borowski, seien Sie ruhig laut, es dauert nicht mehr lang«, hatte die junge Hebamme gesagt und Silvia hatte gedacht: Ja, das mache ich gut, ich mache das verdammt gut, ich habe noch nie irgendwas in meinem Leben wirklich gut gemacht, aber das hier, das kann ich.

Hannah regte sich neben ihr auf dem Beifahrersitz, bewegte sich, machte kleine, leise Schmatzgeräusche, und sofort fingen Silvias Brüste an zu spannen. War ja klar, jetzt würde sie auf einen der Parkplätze fahren und unter den Augen irgendwelcher Stasitypen ihr Kind stillen müssen, aber es war von Anfang an unrealistisch gewesen, die Transitstrecke ohne Zwischenstopp schaffen zu wollen. Kaum hatte sie den Polo ganz am Rand des nächsten Parkplatzes unter einem Baum geparkt, die greinende Hannah aus ihrem Wäschekorb geholt und sich das Sweatshirt hochgezogen, standen schon zwei Bullen an ihrem Auto und klopften an die Scheibe.

Ja, sie würde gleich weiterfahren.

Ja, sie wisse, dass sie nur im Notfall halten dürfe, aber ihr Baby habe Durst.

Zehn Minuten, nicht länger, versprochen.

Und dann hatten die beiden sich vor ihrem Auto postiert und ihr durch die Windschutzscheibe auf die Brust geglotzt, an der Hannah konzentriert saugte.

Als Hannah das erste Mal auf Silvias Bauch gelegen hatte, unbeschreiblich war das gewesen. Noch nie hatte Silvia sich so richtig, so durchlässig und so voller Liebe gefühlt. Nach zwei Nächten im Krankenhaus hatte Dirk sie mit dem Auto abgeholt und zurück in die Wohnung gebracht, sie hatten alle gemeinsam auf dem braunen Cordsofa gesessen und das kleine Wunder bestaunt, die winzigen Fingernägel, die kleine Nase, die faltigen Öhrchen. Die Stimmung in der WG war ganz heilig gewesen an diesem ersten Tag, alle flüsterten, aber das hatte schon nach kurzer Zeit aufgehört und alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Es wurde gefeiert und gekifft und rumgebumst, gestritten und diskutiert, nur jetzt ohne Silvia, die mit Hannah auf ihrem Futon lag, blutend und mit entzündeten Brüsten. Sie hatte noch einmal in der Kanzlei angerufen und der Sekretärin gesagt, sie möge Herrn van der Kampen ausrichten, seine Tochter sei auf der Welt, sie heiße Hannah. Und gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte sie gehofft, Martin würde kommen und Hannah sehen wollen und dann würde vielleicht doch noch alles gut oder wenigstens anders, aber Martin kam nicht. Stattdessen rief er sie eines Tages zurück, um ihr mitzuteilen, dass er die Vaterschaft nicht anerkennen werde, auch keinerlei Kontakt wünsche, aber bereit sei, monatlich einen festen Betrag zu überweisen, unter der Voraussetzung, dass sie Stillschweigen über ihre Beziehung wahre und sich in Zukunft von ihm fernhalte.

Als Silvia schließlich am Grenzübergang Marienborn ihr Transitvisum und ihre Papiere erneut einem DDR-Grenzbeamten durch das Autofenster reichte und endlich in die BRD fuhr, überkamen sie Zweifel, ob das wirklich eine gute Idee war. Jetzt war sie runter von ihrer Insel und wieder auf dem Festland, sie war einem archaischen Impuls gefolgt, einem Gefühl, an das sie sich kaum noch erinnern konnte, so lange hatte sie es nicht gespürt. Wahrscheinlich waren das die Hormone gewesen oder die Umstände oder beides. Aber nach Martins Brief war sie zwei Wochen lang kaum aus ihrem Zimmer gekommen und hatte einfach in ihrem Bett gelegen und zusammen mit Hannah geheult, bis irgendwann Dirk reingekommen war, um zu fragen, ob es denn jetzt langsam mal gut sei und ob das jetzt immer noch wegen diesem komischen Spießer sei und ob sie ihm mal fünf Mark für Kippen leihen könne.

Da hatte Silvia es erst nur gedacht und dann leise geflüstert.

»Ich will meine Mama.«

Und kaum hatte sie es ausgesprochen, wuchs dieser Wunsch und wurde immer größer, drängender und klarer. Silvia wollte ihre Mutter, die sie seit Jahren nicht gesehen und nur selten gesprochen hatte, sie wollte Hannah schnappen und einfach nur weg aus Berlin, weg von diesen Leuten, die sie für ihr Zuhause gehalten hatte, weg aus diesem Provisorium von Wohnung. Sie wollte im alten Garten ihrer Kindheit sitzen unter der gelben Markise und Schwarzwälder Kirschtorte essen, sie wollte auf Frau Hagerles Eckbank sitzen und Flädlesuppe schlürfen, sie wollte zurück an den Ort, von dem sie vor so vielen Jahren geflohen war, zurück zu ihrer Mutter, der sie sich plötzlich unerklärlich nah fühlte, trotz allem, was zwischen ihnen stand. Hannah würde all das wiedergutmachen. Wenn irgendjemand Doktor Evelyn Borowskis Elefantenhaut durchdringen konnte, dann dieses Baby, da war sich Silvia sicher.

In fünf oder sechs Stunden würde sie in Ildingen sein, wenn der Polo durchhielt. Hinter Stuttgart runter von der Autobahn, dann noch eine Weile auf der sicherlich frisch geteerten Landstraße durch die Weinberge, am Fluss entlang. Sie würde quer durch den Ort fahren, an der Kirche und dem kleinen Marktplatz vorbei, dem Gasthof Zum Ochsen, dann den kleinen Hügel hoch, vorbei an der Neubausiedlung mit den Flachdachbungalows, dem Sportplatz und dem Vereinsheim, dann am Ortsrand nach rechts, wo unter hohen Bäumen die älteren Einfamilienhäuser standen, bis zum Buchenweg 14. Die Nachbarn würden sich wundern über das Auto mit dem Berliner Kennzeichen und sich ihren Reim darauf machen, es würde auf jeden Fall innerhalb eines Tages die Runde machen, dass die verlorene Tochter wieder da war. Silvia würde die drei Stufen zur Haustür hochlaufen und die Klingel drücken und schon bei der Vorstellung spürte sie ihr Herz bis unter die Schädeldecke klopfen. Die Tür würde aufgehen, und da würde ihre Mutter stehen, streng und still, die Haare in kurzer Dauerwelle eng am Kopf anliegend, der Blick schneidend klar. Evelyn würde Silvia mustern und in nur einer Sekunde alles verstanden haben, sie wäre kein bisschen überrascht.

»Hallo Mama«, würde Silvia dann sagen und hoffentlich würde ihr nicht die Stimme zittern.

»Das ist Hannah. Deine Enkeltochter.«

Hochzeit

1950

Man kann eine Geschichte immer auf mehrere Weisen erzählen, aber am Vorabend einer Hochzeit, da zählte nur die eine. Die der Brautleute, vor allem die der Braut, das wusste Betti. Und deshalb blieb sie still und knotete Schleifen aus weißem Tüllband, eine nach der anderen, sorgfältig und gleichmäßig. Sie war eine gute Schleifenknoterin, sie war eine gute Schwester, eine gute Tochter, sie war eine gute beste Freundin. Und ab morgen würde sie sich bemühen, eine gute Schwägerin zu sein, auch wenn es sich gerade so anfühlte, als müsste ihr gleich der Kopf platzen.

Die Ochsenwirtin hatte in der Schankstube drei Holztische zusammengeschoben, um die saßen neben Betti noch fünf weitere Frauen: Evelyn, rotwangig und verlegen wegen der Aufmerksamkeit, die ihr bei aller Vorfreude auf die morgige Hochzeit mit Karl nicht behagte. Ihre zukünftige Schwiegermutter, die Frau Professor, Bettis Mutter, aufrecht und stolz, hocherfreut über den Gang der Ereignisse, drei Nachbarinnen, die sich bereit erklärt hatten, beim Vorbereiten des Kirchenschmucks und der Blumengestecke zu helfen, und die die rührende Liebesgeschichte immer und immer wieder hören wollten. Und Agnes Borowski, die Mutter des Bräutigams, erzählte sie gern.

Wie keiner mehr geglaubt habe, Karl käme je wieder heim. Wie er aber dann im Frühling siebenundvierzig plötzlich in Stuttgart in der Hochschule aufgetaucht sei und unten am Eingang der Fakultät nach seinem Vater gefragt habe. Der sei gerade nicht im Haus gewesen. Und dann der Pförtner, wie der so ganz beiläufig dem Herrn Professor bei dessen Rückkehr zugerufen habe, dass der Sohn aus Russland da gewesen sei und nach ihm gefragt habe. Und wie dann der Herr Professor Hals über Kopf nach Hause gefahren sei, nach Ildingen, hoffend, der Pförtner habe sich keinen Scherz erlaubt. Und die Frau Professor, wie sie gerade mit Betti und Evelyn im Garten gesessen habe, sich vom Unkrautjäten ausruhte, und plötzlich habe da dieser Kerl am Gartenzaun gestanden, dünn wie ein Strich, an rechter Hämpfling, nur noch Haut und Knochen und in zerlumpter Kleidung, sie wollten ihn schon verjagen, aber dann habe Karl »ja wisst ihr denn nicht mehr, wer ich bin« gesagt und an der Stimme hätten sie ihn erkannt. Ein solches Glück sei das gewesen, unbeschreiblich, nach so vielen Jahren, stimmt’s, Elsbeth? Weinend habe man sich in den Armen gelegen, und da sei auch schon der Herr Professor die Straße entlanggehastet, der habe sich schnell nach Hause fahren lassen, und dann das Wiedersehen mit dem einzigen Sohn, da könnte man ja gleich wieder das Heulen anfangen, wenn man daran dachte.

Und wie das Dienstmädchen gleich den Herd angefeuert habe, um dem Bub was G’scheits zu kochen, so gut das eben ging mit den Lebensmittelmarken, und wie Betti nicht aufhören konnte, den Bruder zu umarmen. Und nach einer Weile hätten sich alle gefragt, wo denn des Evele sei. Die habe sich einfach in ihrem Zimmer versteckt, weil sie die Familie nicht stören wollte, dabei gehörte sie doch längst dazu.

»Aber so ist sie, unsere Evelyn, nimmt sich immer zurück. So bescheiden. Stimmt’s, Elsbeth?«

Evelyn errötete, als ihre Schwiegermutter ihr liebevoll die Hand drückte, und Betti nickte.

Dann nahm sie einen großen Schluck von dem viel zu sauren Wein, den die Ochsenwirtin ihnen in einem Krug auf den Tisch gestellt hatte, und spülte so den großen Räusperer weg, der ihr im Hals hing. Die Nachbarinnen zupften weiter gerührt an den Kornblumen herum, die sie zuvor vom Feld gesammelt hatten und die nun mit den Dahlien und Ringelblumen aus Agnes Borowskis Garten zu kleinen Sträußen gebunden wurden. Und Betti dachte daran, wie Evelyn Teil ihrer Familie geworden war. Weil sie Evelyn gerettet hatte. Ihre Freundin, mit der sie das Kriegsende erlebt hatte, als Rot-Kreuz-Schwester im Lazarett in Bad Doberan, an deren stoischer Disziplin sie sich festgehalten hatte. Ihre Freundin, die ihre Familie und ihr Zuhause verloren hatte und nicht wusste, wohin, als das Lazarett aufgelöst worden war und die Russen sie heimgehen ließen. Es war Betti gewesen, die ihr vorgeschlagen hatte, sich mit dem Rot-Kreuz-Ausweis ihrer kleinen Schwester Margit einen Passierschein für die amerikanische Besatzungszone zu erschwindeln. Margit, Rita, die Kleine, Empfindsame, das Sorgenkind der Familie, die sich umgebracht hatte im letzten Kriegsjahr, weil ihr das Sterben offenbar leichter schien, als die Angst weiter auszuhalten. Ihre kleine Schwester hatte Betti nicht retten können, für deren Hochzeit würde sie keine Blumensträußchen zusammenstecken und keine Tüllschleifen knoten. Ihr nicht die langen braunen Haare flechten und hochstecken, ihr kein Kleid nähen.

Evelyn war ganz selbstverständlich aufgenommen worden im Hause Borowski. Man half Freunden in Not und sie hatten ja Platz und bevor man ihnen jemand Fremdes einquartierte … Und wie schnell Evelyn vom Hausgast zur Tochter geworden war, wie leicht sie es allen machte, sie zu mögen. Immer freundlich, zurückhaltend, bescheiden. Bettis Vater, ein gebürtiger Stralsunder, war so glücklich über sein »Küstenkind«, endlich eine Mecklenburgerin, mit der er manchmal das Platt seiner Kindheit sprechen konnte. Bettis Mutter hatte anscheinend all ihre Trauer um Rita in Zuneigung für Evelyn verwandeln können. Und nie wurde darüber gesprochen, wie Rita gestorben war. Und warum. Nur ein stiller Vorwurf, der Betti manchmal anwehte wie ein kalter Luftzug.

»War’s gleich Liebe auf den ersten Blick?«, wollte Heide wissen, die Nachbarstochter, die Evelyn anhimmelte, seit die ihr einmal eine Platzwunde am Kopf genäht hatte.

Evelyn lächelte verlegen, ohne die Frage zu beantworten. Alle hatten ja recht schnell bemerkt, was da vor sich ging, das hatten sie und Karl ja gar nicht verheimlichen können.

»Ohne das Evele wär unser Karl ja gar nicht mehr zu Kräften gekommen«, sagte Bettis Mutter. Ganz und gar in den Dienst von Karls Gesundung habe sie sich gestellt, ihn gepflegt, genau gewusst, was sein von der Zeit im russischen Lager ausgezehrter Körper an Nahrung brauchte und vertrug, sie habe seine zerschundenen Füße und seine schlecht heilenden Wunden am Rücken versorgt, zumindest in den ersten Wochen, bis sie mit ihrem klinischen Semester in Würzburg beginnen sollte. Denn Bettis Vater hatte für Evelyn seine Kontakte spielen lassen, ihr ein Zimmer besorgt und einen Studienplatz. Damit das Evele eine richtige Ärztin werden konnte. Ihr Physikum hatte sie ja noch in Rostock gemacht, kurz bevor die Universität schließen musste, wegen des Krieges.

Aus Betti würde jedenfalls keine Ärztin mehr werden. Das war mal ihre Fantasievorstellung gewesen, ihr gemeinsamer Kindertraum mit ihrem nur ein Jahr jüngeren Bruder. Dass sie beide Ärzte würden, in gestärkten weißen Kitteln und mit je einem dieser mysteriösen Lederkoffer voller Instrumente, Pflaster, Mullbinden und Tiegelchen. Sie übten erst an Bettis Puppen und dann an den anderen Kindern in der Straße, hörten ihnen mit Stöckchen die Brust ab, verschrieben ihnen »Bettruh und kalde Wiggl«. Und als Betti ihr Abitur gemacht hatte, war es Karl gewesen, der den Vater überzeugte. Theodor Borowski, Professor für Mathematik, hatte für seine Tochter höchstens eine Ausbildung zur Krankenschwester und seinen Assistenten als Ehemann vorgesehen, und Karl sollte eine Ingenieurskarriere anstreben, wenn es denn schon etwas Praktisches sein musste. Ein ewiger Schmerz würde es ihm sein, dass der Sohn nicht in die Wissenschaft, sich nicht mit Geistigem befassen, sondern Chirurg werden wollte. Wie so ein besserer Metzger. Aber er ließ sich überzeugen von Karls beharrlicher und leidenschaftlicher Fürsprache, für sich und seine Schwester. Beide begannen ein Medizinstudium. Für Betti endete es nach vier Semestern mit einem nicht bestandenen Physikum. Für Karl etwas später mit seiner Einberufung in die Wehrmacht.

Betti knotete ihre letzte Tüllbandschleife, ihr war übel vom Duft der Blumen, der sich mit dem Gaststättengeruch nach Bier, kaltem Rauch und geschmelzten Zwiebeln mischte. Vielleicht auch vom Trollinger. Oder dem Schluck Melissengeist, den sie heimlich genommen hatte, direkt aus dem kleinen Fläschchen mit den blauen Nonnen, das bei ihrer Mutter im Badezimmerschrank stand. Sie spürte Evelyns unsicheren Blick auf sich, aber sie konnte sie nicht ansehen. Sie durfte ihrer Freundin ja nicht übel nehmen, dass sie so liebenswürdig, so fleißig und zielstrebig war. Und dabei so bescheiden. Nicht mal das war Betti vergönnt: ein richtiger Anlass für ihre leise köchelnde Wut und Enttäuschung. Wie konnte man böse sein auf diese perfekte Ergänzung ihrer Familie, auf die bezaubernde Evelyn, die sich einfügte bei den Borowskis wie das letzte fehlende Puzzleteil, eine Lücke schloss, die eigentlich nicht zu schließen war.

»Und hat Karl dir einen richtigen Antrag gemacht? Ist er vor dir auf die Knie gegangen?«

Heides Backfischwangen glühten. Betti wusste, dass ihre Eltern ihr das Kino verboten, damit sie nicht auf »falsche Gedanken« kam, da musste eben die Liebesgeschichte ihrer Nachbarn herhalten, um wenigstens abends beim Einschlafen auf »falsche Gedanken« kommen zu können.

»Nein«, sagte Evelyn. »Aber das war auch nicht nötig, er hat mich gefragt und ich habe Ja gesagt. Mein zukünftiger Mann muss doch nicht vor mir auf die Knie fallen.«

Gerührtes Aufseufzen in der Damenrunde, leise Enttäuschung bei Heide, Betti zwang sich zu einem Lächeln. Sie erinnerte sich nämlich gut daran, wie sie vor ihrem Bruder auf den Knien herumgerutscht war, um ihm einen Verband an seinen auch Wochen nach seiner Heimkehr immer noch wunden Füßen zu wechseln, sie konnte das mindestens genauso gut wie Evelyn. Aber die war in Würzburg und studierte und da hatte Betti gehofft, dass sich zwischen ihr und Karl wieder die gleiche geschwisterliche Verschworenheit einstellen würde, die sie als Kinder verbunden hatte. Betti und Karl, immer zusammen, und wenn die Nachbarskinder Rita ärgerten, was sie gerne taten, weil Rita viel zu lieb, viel zu leise war, sich viel zu leicht herumschubsen ließ, dann waren sie zur Stelle gewesen, um ihre kleine Schwester zu beschützen, zur Not auch mit Backpfeifen.

Aber von diesem Gefühl war nicht mehr viel übrig nach Karls Rückkehr, vielleicht erwartete Betti auch zu viel. Zu viel Zuwendung und Interesse von ihrem körperlich und seelisch versehrten Bruder, der Albträume hatte und schweigsam war, der nicht erzählen wollte, was er getan und erlebt hatte. Nicht im Krieg und auch nicht in der Gefangenschaft. Und er wollte auch nicht, dass Betti erzählte. Manchmal hatte sie bei ihm gesessen und versucht, mit Karl über Rita zu sprechen. »Willst du nicht wissen, wie sie gestorben ist? Sie war so tapfer, sie war eine wirklich gute Lazarettschwester, aber sie hat es nicht ausgehalten, sie konnte nicht mehr, sie ist immer weniger geworden, immer trauriger, und ich konnte nichts für sie tun. Sie ist eines Nachts einfach verschwunden aus der Baracke, im Nachthemd, wahrscheinlich Richtung Meer und dann … Wir haben nur noch ihre Schuhe am Strand gefunden.«

Karl hatte einfach den Kopf weggedreht und in die Ferne geschaut und geschwiegen, und als Betti fertig war mit dem Verbandswechsel, hatte er gesagt, er wünschte, Evelyn wäre wieder da.

Zu Weihnachten war sie dann tatsächlich gekommen, auf Karls ausdrücklichen Wunsch hin. Erst hatte Evelyn sich geziert, oder besser: bescheiden abgelehnt. Sie wolle die Familie nicht stören beim ersten Weihnachtsfest nach Karls Rückkehr, sich nicht dazwischendrängen. Aber dann hatten alle darauf bestanden, zumal Evelyn ja niemanden hatte, zu dem sie hätte gehen können. Betti hatte an Heiligabend den Tisch gedeckt. Und sie hatte, wie jeden Sonntag davor auch, ein zusätzliches Gedeck für Rita auf den Tisch gestellt. Das hatte ihre Mutter schweigend zurück in den Schrank geräumt. Betti hatte das Gefühl, der Geist ihrer kleinen Schwester verstecke sich hinter der Gardine, schwebe über dem Tisch, rausche durch die trockenen Nadeln des Weihnachtsbaums, zeige sich im leichten Flackern der Kerzen. Aber sie war allein mit dieser Wahrnehmung, nur Betti spürte Rita an diesem Abend. Immer wieder hatte sie den Blick ihres Bruders gesucht, aber der hatte nur Augen für Evelyn. Und als Evelyn und sie nachts gemeinsam in Bettis Zimmer lagen und Betti geräuschlos weinte, weil sie ihre kleine Schwester so vermisste, drückte Evelyn ihr die Hand und sagte: »Ich glaube, ich habe deinen Bruder sehr gern. Wärst du mir böse, wenn er mich auch gernhätte? Sind wir dann noch Freundinnen?«

Inzwischen waren alle Sträuße und alle Schleifen gebunden, die Frauen fegten gemeinsam die übrig gebliebenen Halme und Blätter zusammen, die Ochsenwirtin räumte die Gläser ab und versicherte Bettis Mutter noch einmal, morgen sei alles pünktlich hergerichtet für die Feier nach der Trauung, und nein, da müsse sich die Frau Professor keine Sorgen machen, die Tischdecken seien schon gestärkt und gemangelt.

Heide, das Nachbarsmädchen, hatte noch nicht genug. Es hatte schon so lange keine Hochzeit mehr gegeben im Ort. »Sag, Evelyn, wie ist dein Kleid? Hast du einen Schleier? Hast du es selber genäht?«

»Betti hat es mir genäht, es ist wunderschön!«

»Ja, unsere Elsbeth ist eine sehr begabte Schneiderin«, sagte Bettis Mutter in einem Tonfall, der gleichzeitig huldvoll und herablassend war und der Betti wünschen ließ, die Wirtin hätte die Gläser noch nicht abgeräumt. Es war Bettis Hochzeitsgeschenk für ihre beste Freundin, ein schlichtes weißes Kleid mit Spitzenbesatz und einer Schleife am Rücken, Evelyn auf den Leib geschneidert. Den Stoff hatte Betti lange suchen müssen, es gab kaum welchen und er war sündhaft teuer gewesen. Aber Evelyn sah natürlich bezaubernd darin aus und sie hatte geweint vor Dankbarkeit und Rührung, als sie das Kleid in Bettis Zimmer zum ersten Mal anprobiert hatte.

Es war das Kleid, das Betti einmal für sich selbst entworfen hatte, als sie eine Zeit lang dachte, sie würde vielleicht selbst eine Braut werden. Ein lächerlicher Gedanke, ausgelöst durch eine kurze Schwärmerei, die schnell vergangen war. Betti würde nicht mehr aufspringen auf diesen Zug, der war vor Jahren ohne sie abgefahren. Als Karl Evelyn an die Universität gefolgt war, um dort sein Studium zu beenden. Und Betti zurückgeblieben war. Für sie würde es nicht weitergehen an der Universität, sie hatte versagt, so wie ihr Vater es vorausgesehen hatte. Und sie selber auch, wenn sie ehrlich zu sich war. Sie hatte gewusst, dass sie das Physikum nicht bestehen würde. Ärztin zu werden, war gar nicht ihr heimlicher Traum gewesen. Nur niemals ohne ihren Bruder sein zu müssen – das war es, was sie mehr als alles andere gewollt hatte. So sein wie er, das tun und erreichen, was er tat und erreichte.

Und nun war Betti also die Übriggebliebene. Ohne Mann, ohne Beruf. An die Kunsthochschule wäre sie gern gegangen, malen, zeichnen, Mode entwerfen, sie hatte eine kleine Mappe zusammengestellt, aber ihr Vater hatte nur verächtlich geschnaubt. So was fehlte ihm gerade noch! Eine Ausbildung zur Schneiderin, na schön, eigentlich war das schon nicht standesgemäß, aber da war weit und breit nichts zu finden und Betti doch auch längst zu alt. In ein paar Wochen würde sie 28 Jahre alt sein, die Hochzeit ihres Bruders wäre die letzte Hochzeit in ihrer Familie, jedenfalls bis Evelyns und Karls Kinder heirateten. Betti würde zu Hause wohnen bleiben, immerhin an Geld mangelte es nicht und da musste man dankbar sein in diesen Zeiten. Sie würde irgendwann die Eltern pflegen und bis dahin ab und zu ein paar Kleider schneidern und dabei zusehen, wie ihre Freundin Evelyn das richtige Leben führte, an der Seite ihres Bruders. Sie würde Ritas Geist Gesellschaft leisten, ihr zuzwinkern, wenn sie sie hinter der Gardine erahnte, immer wieder einen zusätzlichen Teller auf den Tisch stellen, auch wenn ihre Mutter den jedes Mal zurück in den Schrank räumte.

»Bist so ruhig heute, Betti, freust du dich nicht auf das Fest morgen?«

Eine der Nachbarinnen hatte in den kurzen Moment der Stille hinein gesprochen, der entstanden war, als alle Frauen noch einmal das getane Werk begutachteten. Sie hatten gemeinsam die schweren Holztische wieder an ihren Platz gerückt, die Schleifen in eine Schachtel getan und die kleinen Sträuße auf diverse Wassereimerchen verteilt.

Betti war ruhig gewesen heute, hatte sich all das verkniffen, was es eigentlich zu sagen gäbe. Sonst hieß es doch immer: »Betti, nicht so laut«, »Betti, red nicht so viel«, »Betti, darüber spricht man nicht, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«, »Betti, das sagt man nicht.« Und jetzt war es auch nicht recht.

»Ich wünschte, Rita wäre hier.«

Da.

Bitteschön.

Jetzt hatte sie doch was gesagt.

Schnittchen

1989

Im Polo stank es erbärmlich und Silvia bereute die Sache mit den Windeln. Da wollte man wenigstens beim eigenen Kind alles richtig machen, einmal an ein paar Idealen festhalten, und dann wurde man doch dafür bestraft. Silvia hatte sich vorgenommen, ihrem Baby nicht diese schrecklichen Plastikpampers anzuziehen, die zwar praktisch, aber auch teuer waren und den Planeten vermüllten. Deshalb hatte sie zehn Stoffwindeln und diverse Mulltücher gekauft, und das hatte schon in Berlin zu Problemen geführt. In der WG gab es nur eine Waschmaschine, die ohnehin nur noch kalt waschen konnte, und als Silvia damit begonnen hatte, Hannahs Windeln im großen Topf auf dem Herd auszukochen, wurde ausgerechnet von Zecki ein Plenum einberufen. Plötzlich sorgten sich alle um die Hygiene. Wo war diese Sorge all die Jahre davor gewesen, fragte sich Silvia, die oft genug den Schimmel aus den hinteren Kühlschrankecken entfernt und die angetrockneten Pissflecken rund ums Klo weggeschrubbt hatte.

Silvia hatte an ihren Stoffwindeln festgehalten, schon aus Trotz, aber für eine lange Autofahrt waren sie nicht wirklich geeignet. Kurz vor Würzburg bekam Hannah noch einmal Durst und brauchte nach dem Stillen eine neue Windel, Silvia musste sie auf dem Beifahrersitz wickeln, während das Baby brüllte wie am Spieß. Und eine Tüte für die volle Windel hatte Silvia vergessen, deshalb legte sie sich das stinkende Stoffbündel zusammengeknotet auf den Schoß und fuhr weiter, in der Hoffnung, das Motorengeräusch und das Schaukeln würden Hannah wieder beruhigen. Aber Hannah lag in ihrem Wäschekorb und schrie. Und Silvia schrie und weinte schließlich mit, müde und geschafft von der Fahrerei und der ängstlichen Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrer Mutter und einfach von der Tatsache, dass sie jetzt wirklich ein Kind hatte. Sie hatte ein wunderschönes Lebewesen in diese unwirtliche Welt hineingeboren, das sie für immer beschützen und von allem Unglück fernhalten wollte. Aber wie sollte das gehen in einer Welt voller Unrecht und voller Arschlöcher? Einer Welt, in der jemand wie Martin lebte, der sich Hannah nicht einmal ansehen wollte. Seine eigene Tochter.

Als Hannah irgendwann tatsächlich wieder einschlief, beruhigte sich auch Silvia wieder, sie musste sich auf die Straße konzentrieren, einatmen, ausatmen, tief in den Bauch. Dahin, wo ihr kaputter Beckenboden mit ihrer vollen Blase kämpfte und wo immer noch die volle Windel lag. Silvia fuhr auf die linke Spur, um einen Schweinetransporter zu überholen, und versuchte, den Blick nicht nach rechts schweifen zu lassen, um bloß keine nach Luft schnappenden Schweinerüssel durch die kleinen Öffnungen der Metallboxen sehen zu müssen. Sie hätte sofort wieder zu heulen angefangen. Und als ein Mercedes hinter ihr mit Lichthupe heranrauschte, um sie von der Straße zu scheuchen, schlug die Traurigkeit in Wut um, und die stinkende Windel flog aus Silvias Fenster, kaum dass sie wieder nach rechts gezogen war. Hätte schiefgehen können, und zum Glück war das Ding nicht einem anderen Auto einfach auf die Scheibe geklatscht und zum Glück hatten das die Bullen nicht gesehen und zum Glück hatte Silvia nun wieder einen festeren Griff ums Lenkrad.

Kurz vor dem Ildinger Ortsschild hielt Silvia am Rand der Landstraße an, schaltete den Motor aus und versuchte, sich zu sammeln. Dieses Sonntagslicht – das gab es in Berlin einfach nicht, da brach das Licht irgendwie anders. Dieser tief hängende Himmel, dieses trübe, milchige Wischiwaschi-Weißgrau, diese zähe Langeweile in der Atmosphäre, die fühlte sich schon sehr nach Zuhause an. Passte eigentlich ganz gut zu ihrer Stimmung, ausgeweint, erschöpft, mit diesem leichten, dumpfen Kopfschmerz. Ob das alles hier wirklich eine gute Idee war? Und falls die Antwort auf diese Frage Nein lautete, was dann?

Da war sie jetzt also. Zurück in der »Heimat«, dem Ort, von dem sie sich so lange so weit wie möglich weggewünscht hatte. Direkt vor dem gelben Ortsschild von Ildingen stand ein kleines verwittertes Kreuz, den Namen darauf konnte man nicht mehr lesen, aber Silvia wusste, dass dort »Joachim« gestanden hatte: einer der Hagerle-Buben, der hier vor vielen Jahren mit seinem Mofa ohne Helm gegen den großen Findling gefahren und gestorben war. Ihr Vater hatte ihn im Krankenhaus noch »auf dem Tisch gehabt«, wie er sagte, also notoperiert. Aber Joachim konnte nicht gerettet werden und am Abend nach der Schicht hatte die achtjährige Silvia ihren Vater heimlich weinen sehen. Er hatte in seinem Sessel vor dem Fernseher gesessen und es waren ihm einfach die Tränen gelaufen, Silvia hatte sich angeschlichen, um einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen, es war ihr strengstens verboten, den Vater nach der Arbeit zu stören. Aber überraschenderweise hatte ihr Vater genau gewusst, dass Silvia in der Tür stand, obwohl sie nicht das kleinste Geräusch gemacht hatte, er hatte vom Sessel aus den Arm nach ihr ausgestreckt und sie herangewunken und dann auf seinen Schoß gezogen. Ihr einen Kuss auf den Scheitel gedrückt. Und Silvia hatte ganz stillgehalten in dieser unverhofften Umarmung, und der Schreck über den Tod des Nachbarsjungen, dem sie so oft beim Hausaufgabenmachen auf der Kücheneckbank zugesehen hatte, war von einem Gefühl von Wärme und Sicherheit überschrieben worden. So lange, bis ihre Mutter sie gefunden und ins Bett geschickt hatte. Ob es den Sessel noch gab? Ob noch irgendwas in diesem alten Haus nach ihrem Vater riechen würde, nach Pfeifentabak, Rasierwasser und Alles-ist-gut?

Im Wäschekorb auf dem Beifahrersitz wurde Hannah wieder unruhig. Silvia drehte noch einmal den Rückspiegel zu sich, um das Gesicht zu betrachten, mit dem sie gleich ihrer Mutter gegenübertreten würde. Eine mittlere Katastrophe. Aber das war nun nicht zu ändern, warum also es nicht einfach hinter sich bringen. Sie startete den Motor und fuhr auf der Ildinger Hauptstraße zur anderen Seite des Ortes. Immer noch das gleiche elende Kaff wie vor achtzehn Jahren, als sie das letzte Mal hier gewesen war, aber ein paar Neuerungen gab es doch. Eine zusätzliche Ampel und noch einen Zebrastreifen. Eine italienische Eisdiele, wo vorher das Bekleidungsgeschäft gewesen war. Der Gasthof Zum Ochsen hatte einen neuen Anstrich in Apricot bekommen, der alte Marktplatz eine moderne Bronzeskulptur in Form einer überdimensionierten Schraubenmutter (Ildingen, Ort des grundsoliden Handwerks!). Dann raus aus dem eigentlichen Ortskern, den Hügel hinauf, vorbei an der Wiese mit dem Kirschbaum, die inzwischen einem Neubaugebiet hatte weichen müssen, auch die alte Scheune gab es nicht mehr. Immerhin: Das alte Bushaltestellenhäuschen aus Spritzbeton stand immer noch und wahrscheinlich roch es darin immer noch nach Pisse.

Die Tanknadel rutschte ganz auf die Nulllinie, als Silvia in die Straße ihrer Kindheit einbog. Sofortige Flucht also kaum möglich. Sie parkte vor der Nummer 14, das Haus kam ihr kleiner vor, als sie es in Erinnerung hatte, aber vielleicht waren auch nur die Bäume drumherum größer geworden. Der Rhododendron am Eingangstörchen war enorm, ein großer dunkelgrüner Blätterplanet, jetzt hätte man sich in seinem Innern eine perfekte Höhle bauen können. Silvia holte Hannah aus ihrem Wäschekorb und legte sich das nass geschwitzte Baby vorsichtig über die Schulter. Süß sah sie aus in ihrem dunkelgrünen Frotteestrampler. Ohne hinsehen zu müssen, spürte Silvia, wie in den Häusern rechts, links und gegenüber die Vorhänge einen Spalt zur Seite geschoben wurden. Das Gartentörchen quietschte beim Öffnen, da wuchs Gras zwischen den Bodenplatten, der Rasen war länger nicht gemäht worden und auch die Beete sahen verwildert aus. Vielleicht war Evelyn gestorben, dachte Silvia plötzlich. Vielleicht war sie seit Wochen tot und niemand hatte ihr Bescheid gesagt, weil niemand ihre Adresse hatte. Oder weil Evelyn höchstselbst verfügt hatte, die nichtsnutzige Tochter nicht zu informieren, sollte sie das Zeitliche segnen. Oder weil sie längst alle Freunde vergrault hatte mit ihrer Härte und ihrer Unerbittlichkeit, ihrer Disziplin und ihren hohen Ansprüchen an alle und jeden. Vielleicht würde sie die Tür aufbrechen lassen müssen, um dann ihre mumifizierte Mutter im Sessel sitzend vorzufinden, den Telefonhörer in der starren Hand, bis zum Schluss zu stolz, um jemanden anzurufen und um Hilfe zu bitten.

Ein Schwall warmer Muttermilch ergoss sich aus Hannahs Mund über Silvias Schulter und lief ihr unter ihrem T-Shirt langsam den Rücken runter, als sie schließlich doch die Klingel drückte. Erst hörte sie nichts außer dem Rauschen ihres Blutes in den Ohren und in der Ferne das spitze Jaulen einer Kreissäge, dann hinter der Tür doch ein Schlurfen, ein gemurmeltes »Moment«, dann das Klackern von mehreren Sicherheitsschlössern.

»Ja, bitte?«

 

Im Türspalt sah Silvia ihre Mutter stehen, eine gebückte Frau, die älter aussah als ihre 66 Jahre. Die Haare zerzaust, die Brille fleckig. Eine geblümte Bluse, ungebügelt, im Blick ein einziges Fragezeichen. Silvia konnte nichts sagen, so perplex war sie, sie hatte diesen Moment auf der Fahrt hierher im Kopf tausend Maldurchgespielt, aber mit einem hatte sie nicht gerechnet: dass sich das Gesicht ihrer Mutter aufhellen würde, als sie sie erkannte. Nur für einen kurzen Moment. Dann hatte sich Evelyn wieder gefangen. Straffte die Schultern, räusperte sich. Öffnete die Tür schließlich ganz.

»Ah. Du bist es.«

So als wäre Silvia nur mal kurz weg gewesen.

»Gut. Komm rein.«

 

Da saß Silvia nun also auf dem alten braunen Ledersofa, Hannah auf dem Schoß, Evelyn in ihrem Sessel gegenüber, still und regungslos, wie zwei Kontrahenten mit gezogenen Colts auf der staubigen Straße einer Wildwest-Stadt. Drei Uhren tickten in leicht asynchronem Rhythmus, die große mit dem Pendel, die kleine goldene neben dem Barometer, auf dem Tischchen neben dem Sessel ein grauer Braun-Wecker. Hannah lag in Silvias Arm und schaute aufmerksam zu ihrer Großmutter hinüber.

»Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben, Mama? Ich muss gleich stillen und ich bin sehr lang gefahren«, sagte Silvia schließlich. Und Evelyn sprang auf, als hätte man sie aus einer Trance geweckt.

»Ja. Ja, natürlich. Entschuldige.«

Silvia wusste nicht, wann ihre Mutter sich das letzte Mal bei ihr entschuldigt hatte oder ob sie das überhaupt jemals getan hatte. Sie war verwirrt von dem Bild, das sich ihr bot. Wie klein ihre Mutter plötzlich schien. So durch und durch unaufgeräumt, irgendwie aus der Spur, fahrig. Sie hörte sie nebenan in der Küche herumkramen, sollte doch eigentlich nicht so schwer sein, ein Glas Wasser zu holen, aber vielleicht musste Evelyn sich erst sammeln.

Das Wohnzimmer sah aus, wie Silvia es in Erinnerung hatte, nur staubiger, abgewohnter, wie schlecht konserviert. So als habe sich in diesem Raum schon lang nichts mehr bewegt, außer den Zeigern und Pendeln und Zahnrädchen der Uhren. Der große Esstisch aus dunklem Holz war mit einem vergilbten Plastikbezug verdeckt worden. An diesem Tisch hatte schon lang niemand mehr gegessen, Evelyn schien nur noch ihren Sessel zu bewohnen.

Evelyn schlurfte zurück ins Wohnzimmer, stellte eine Flasche Sprudel und ein Glas voller Kalkflecken vor Silvia ab, dazu eine blaue Blechdose. Dänische Butterkekse. Dann setzte sie sich zurück in ihren Sessel und schwieg weiter.

»Ist das dein Auto da draußen?«, fragte sie schließlich.

»Nein, hab es nur geliehen.«

Wieder Schweigen. Offenbar hatte Evelyn Borowski nicht vor, ihrer Tochter Fragen zu dem Kind in ihrem Arm zu stellen.

Silvia räusperte sich und versuchte, mit der freien Hand die Sprudelflasche zu öffnen, was ihr nicht gelang. Ihre Mutter machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Silvia gab es schließlich auf.

»Ich habe ein Kind bekommen«, sagte sie schließlich so fest, wie es ging, auch wenn ihre Augen schon wieder zu brennen begonnen hatten.

»Das sehe ich«, sagte Evelyn.

»Sie heißt Hannah, sie ist drei Monate alt.«

»Und wer ist der Vater?«

Silvia zuckte mit den Schultern.

»Brauchst du Geld?«

Noch ein Schulterzucken.

Dann wieder Schweigen.

Schließlich stand Silvia auf. »Ich muss mal auf Toilette, kannst du sie kurz …«

Sie legte Hannah ihrer Mutter in den Arm, die das Kind entgegennahm wie ein schweres Holzscheit, und verschwand in den Flur. Schloss die Tür der kleinen Gästetoilette gleich bei der Haustür. Pinkelte. Blieb länger sitzen, als nötig gewesen wäre. Ohrfeigte sich selbst vor dem kleinen Spiegel, um die Tränen zu vertreiben, die viel zu dicht unter der Oberfläche auf ihren Einsatz lauerten. Das grüne Stück Seife mit der Magnethalterung, die jahrzehntealten Kölnischwasser-Fläschchen, die auf der kleinen Ablage unter dem Spiegel standen – alles immer noch an Ort und Stelle, so wie die unüberwindbare Mauer zwischen ihr und ihrer Mutter.

Als Silvia sich wieder einigermaßen gefangen hatte, ging sie zurück zum Wohnzimmer und blieb in der Tür stehen. Evelyn saß in ihrem Sessel, hielt Hannah im Arm und betrachtete reglos ihre Enkeltochter. Und dann fing sie an zu summen. »Der Mond ist aufgegangen.« So vertieft war sie in den Anblick des Kindes, dass sie Silvia gar nicht wahrnahm. Hannah hatte ihre kleine Hand fest um Evelyns Zeigefinger geschlossen und war ganz still. Evelyn summte und wiegte sich ein wenig hin und her. Strich Hannah mit der freien Hand vorsichtig über den braunen Haarflaum.

Lächelte.

Silvia stand stumm in der Tür und traute sich kaum zu atmen. Jetzt die Mutter umarmen, dachte sie. Sich der Mutter in den Arm werfen und die Nase an ihren Hals drücken, festgehalten werden und alles rausweinen. Das Haar gestreichelt bekommen. Ein Muttersummen und Mutterwiegen, ein Pusten aufs Aua. Das wär’s.

Als Evelyn Silvia schließlich doch bemerkte, schaute sie erschrocken, als sei sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Fasste sich, stand auf und legte Hannah zurück in Silvias Arm.

»Kann ich ein paar Wochen hierbleiben, Mama?«

Evelyn seufzte. So recht konnte Silvia dieses Seufzen nicht deuten. Normalerweise hätte sie es als klassisches Enttäuschungsseufzen aufgefasst, wie sie es aus dem Mund ihrer Mutter schon oft gehört hatte. Weil sie wieder mal gescheitert und in Schwierigkeiten geraten war. Ihrer Mutter Umstände machte. Immer nur Umstände.

Aber jetzt war sie sich nicht sicher.

»Gleich fängt ›Lindenstraße‹ an«, sagte Evelyn schließlich und strich sich die knittrige Bluse glatt. »Ich habe Aufschnitt da, ich kann uns Brote machen. Hast du Hunger?«

Nicht von hier

1952

Draußen piepte das Amselküken, drinnen stöhnte Frau Kollberg. Evelyn lehnte am offenen Fenster und schaute in den Innenhof des kleinen Kreiskrankenhauses. Dort stand eine Eiche, in der Eiche war ein Vogelnest, eines der Küken war offensichtlich herausgefallen, vielleicht bei seinem ersten Flugversuch, und schrie nun im Gras sitzend nach seiner Mutter. Die machte aber keine Anstalten, ihrem Küken beizustehen. Hatte es vermutlich schon aufgegeben. War zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Manchen Müttern war einfach nicht zu trauen, dachte Evelyn.

Sie fühlte sich diesem todgeweihten Amselküken auf schmerzhafte Weise verbunden, seine kleinen, verzweifelten Rufe bohrten sich wie Stecknadeln in ihre Gehörgänge und übertönten die Leidensbekundungen ihrer Patientin. Frau Kollberg war beim Bohnern auf der Treppe gestürzt, hatte sich den Arm gebrochen und eine Gehirnerschütterung zugezogen, die Schwestern hatten alles verbunden und eingegipst, Evelyn sollte nun Schmerzmittel verabreichen, noch einmal Blutdruck messen, gut zureden. Aber Frau Kollberg wimmerte weiter und verlangte nach einem Arzt. Einem richtigen Arzt. Einem Mann.

»Die Frau Borowski gibt Ihnen gleich noch was gegen die Schmerzen, Frau Kollberg«, sagte Schwester Elise in diesem etwas zu lauten, etwas zu aufmunternden Krankenschwesternton, und Evelyn hatte so scharf wie möglich »Frau DOKTOR Borowski« gesagt, während sie noch aus dem Fenster schaute und darauf wartete, dass die Schwester fertig wurde mit ihren Verrichtungen. Das Amselküken unten weinte um sein Leben. Was für eine Verschwendung, dachte Evelyn. Ein Ei ausgebrütet, ein Leben produziert zu haben, um es dann im Stich zu lassen bei der erstbesten Gelegenheit.

Seit fast zwei Jahren war sie nun Assistenzärztin in diesem Krankenhaus, einem sandsteinfarbenen zweigeschossigen Zweckbau, der in Form eines U und wie zum Schutz um die uralte Eiche herumgebaut zu sein schien. Ihr Examen hatte Evelyn mit Bestnoten bestanden, anschließend mit summa cum laude promoviert, noch nie auch nur den kleinsten Fehler gemacht. Sie hatte Karl bei den Prüfungsvorbereitungen geholfen, seine Noten waren schlechter gewesen als ihre, aber die Stelle am Krankenhaus, die hatte er bekommen. Eine Assistenzarztstelle in der Chirurgie musste dringend besetzt werden. Und Karl hatte nur angenommen unter der Voraussetzung, dass man auch seiner Frau eine Stelle anbot.

Evelyn legte Frau Kollberg die Blutdruckmanschette um den gesunden Arm und versuchte, deren skeptischen Blick zu ignorieren.

»Sie sind aber nicht von hier, Frau Doktor?«

»Aus Ildingen.«

»Aber nicht gebürtig.«

»Nein, nicht gebürtig«, sagte Evelyn, ohne weiter ins Detail zu gehen. Was ging es diese alte Schnepfe an, wo sie herkam. Karl würde man so etwas nie fragen, trotz des gänzlich unschwäbischen Nachnamens. Aber Karl hatte den örtlichen Singsang in der Stimme, der seine Zugehörigkeit eindeutig bewies und der sich nicht imitieren ließ, jedenfalls wollte es Evelyn nicht gelingen. Sie war eine Neigschmeckte, eine Fremde, im Grunde eine Aus-dem-Nest-Gefallene wie das arme Amselküken.

»Kommt der Herr Doktor noch?«, jammerte die Kollberg, während Evelyn mit einer kleinen Lampe ihren Pupillenreflex kontrollierte.

»Ich bin der Herr Doktor, Frau Kollberg. Ich gebe Ihnen jetzt noch ein Schmerzmittel, Sie schlafen sich aus und morgen können Sie wieder nach Hause. Der Gips bleibt drei Wochen dran, danach müssen Sie den Arm noch eine Weile schonen. Aber bald ist er fast wieder wie neu.«