Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid - Alena Schröder - E-Book
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Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid E-Book

Alena Schröder

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Beschreibung

Vom Erbe unserer Mütter und dem Wagnis eines freien Lebens Alena Schröders mitreißender SPIEGEL-Bestseller-Roman! In Berlin tobt das Leben, nur die 27-jährige Hannah spürt, dass ihres noch nicht angefangen hat. Ihre Großmutter Evelyn hingegen kann nach beinahe hundert Jahren das Ende kaum erwarten. Ein Brief aus Israel verändert alles. Evelyn soll die Erbin eines geraubten und verschollenen Kunstvermögens sein. Warum weiß Hannah nichts von der jüdischen Familie? Und weshalb weigert Evelyn sich, über die Vergangenheit zu sprechen? Hannahs Suche nach der Wahrheit führt zurück in die 20er Jahre, zu einem eigensinnigen Mädchen namens Senta ... »Eine berührende Jahrhundertgeschichte.« Angela Wittmann, ›Brigitte‹ Lesen Sie auch ›Bei euch ist es immer so unheimlich still‹ - ein weiterer außergewöhnlicher Familienroman, in dem Alena Schröder erzählt, was in ihrem gefeierten Bestsellerroman ›Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid‹ im Dunklen blieb.

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Alena Schröder

Junge Frau,am Fenster stehend,Abendlicht,blaues Kleid

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für meine Eltern

1.

Bevor sich ihre Großmutter weiter mit dem Sterben beschäftigen konnte, musste Hannah die Sache mit der Jalousie erledigen.

Es war ein deprimierendes Ritual zum Ende ihres wöchentlichen Besuchs im Altenheim, die immer gleiche Bestätigung der Gewissheit, in den Augen der Großmutter nicht mal die simpelsten Dinge auf Anhieb richtig machen zu können, immer einen zweiten und dritten Anlauf zu brauchen. Aber gut, sie konnte großzügig sein. Nichts leichter, als einer alten, des Lebens überdrüssigen Frau in einem Pflegeheim ein paar Momente reinen Überlegenheitsgefühls zu schenken.

Evelyn saß eingesunken in ihrem Ledersessel, der sich wie ein Schildkrötenpanzer um ihren krummen Rücken legte, beobachtete ihre Enkeltochter mit wachsender Frustration und gab mit ausgestrecktem Zeigefinger Anweisungen zur korrekten Einstellung der Jalousie.

»Weiter runter! Das ist zu weit! Und jetzt schräg stellen. Noch schräger! Herrgott, Kind!«

Hannah fummelte an der Fadenschlaufe und dem Acrylstab herum, bis die Oktobersonne, die durch die weißen Plastiklamellen schien, das Zimmer in besonders fahles Licht tauchte. In diesem mittleren Grau würde Evelyn den Rest des Tages sitzen, dem Ticken ihrer vielen Wanduhren lauschen oder fernsehen und auf den Tod warten, während sie gleichzeitig Vitaminbonbons lutschte und all die lebensverlängernden Pillen und Pulver zu sich nahm, die Hannah ihr in der Apotheke besorgt hatte.

Wenn sie ehrlich war, war es dieses Zusammenspiel aus Todessehnsucht und Überlebenswillen, das Hannah an ihren Besuchen bei der Großmutter festhalten ließ. Es war ein Gefühl, das sie beide verband. Mit dem Unterschied, dass Hannah die Tage an sich vorbeiziehen ließ, als würde sie die Welt durch eine Milchglasscheibe betrachten, während Evelyn mit ihren 94 Jahren wütend, trotzig und unzufrieden am Leben festhielt, so als hätte es noch Schulden bei ihr.

Immer dienstags fuhr Hannah in den äußersten Berliner Westen, wo ihre Großmutter seit einigen Jahren residierte. Das war auch der Tag, an dem sie nur bis zum frühen Nachmittag in der Bibliothek sitzen und so tun musste, als würde sie ihre Doktorarbeit schreiben. Der Tag, an dem sie nach stundenlangem Starren auf die leere Seite ihres »Diss_Fassung1.doc« betitelten Dokuments die Tasche packen und mit einem klaren Ziel vor Augen die Bibliothek verlassen konnte.

Sie überquerte den Potsdamer Platz, fuhr mit der U2 zum Theodor-Heuss-Platz, ging dort in die Apotheke direkt neben Blume2000, kaufte Doppelherz, Folsäuretabletten, Vitaminbonbons und Ginsengkapseln, stieg in den Bus in Richtung Stadtrand und überantwortete sich der eingespielten Choreografie dieser Besuche.

Das Seniorenpalais lag ein Stück die Heerstraße runter, hatte die Havel vor der Nase und den Soldatenfriedhof im Rücken und gab sich alle Mühe, nicht wie ein Altenheim, sondern mehr wie ein Vorstadthotel zu wirken. Der Eingang des dreigeschossigen Zweckbaus war mit einem ausladenden Glasvordach versehen worden, unter dem jahreszeitlich wechselnde Blumenarrangements wie auch Deko-Utensilien drapiert werden konnten, jetzt im Oktober ein Dutzend Zierkürbisse neben einer alten Milchkanne. Hannah grüßte den Pianisten, der an einem Flügel im Foyer das immer gleiche Richard-Clayderman-Medley spielte, und auf dessen Instrument man ebenfalls eine Ladung Zierkürbisse drapiert hatte. Sie lächelte die beiden älteren Damen an, die dem Geklimper lauschten, und griff sich einen Flyer mit den wöchentlichen Aktivitäten und Events vom Tresen der Anmeldung: Klavierkonzerte und wissenschaftliche Vorträge im hauseigenen Auditorium, Chorproben unter der Leitung eines pensionierten Domkantors, Aquarellkurse, Lesezirkel und Wassergymnastik im Therapiebecken sollten das Seniorenpalais von einer normalen Altenpflegeeinrichtung abheben.

Evelyn nutzte keines dieser Angebote, aus einer Art Trotz heraus, so wie sie auch ein bisschen stolz war, wenn sie trotz ihres Wohlstands nicht heizte. An einem der diversen Zerstreuungsangebote teilzunehmen wäre Evelyn wie eine Kapitulation vorgekommen, wie eine billige Ablenkung von der Zumutung ihrer Existenz. Dass das Essen einigermaßen genießbar war, dass an ihrem Türschild »Dr. med. Borowski« stand und das Personal sie auch bei der Fußpflege immer mit »Frau Doktor« ansprach, das allein rechtfertigte für sie den Betrag, den sie monatlich für ihr Zimmer im Seniorenpalais entrichtete.

Hannah fuhr mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock, den Geruch von Urin, Desinfektionsmitteln und Kantinenessen in der Nase. Verrückt, dachte sie, dass man in einem Altersheim mit ein wenig Landhausdeko und hochwertigem Mobiliar wirklich vieles übertünchen konnte, nur den elenden Anstaltsgeruch nicht. Sie ging den Flur entlang bis zur letzten Tür, klingelte und lauschte, wie ihre Großmutter sich stöhnend und mithilfe ihres Gehstocks aus ihrem Sessel stemmte, um ihr die Tür zu öffnen.

»Du bist spät!«, sagte Evelyn zur Begrüßung, auf die schneidende Art, die sie über die Jahre perfektioniert hatte, schon um davon abzulenken, dass ihre Augen etwas anderes sagten.

Hannah wusste, wie sehr ihre Großmutter tagelang von diesen Besuchen zehrte, sie herbeisehnte und genoss, auch wenn sie versuchte, so zu tun, als gewähre sie ihrer Enkeltochter die Gnade einer Audienz. Sie küsste Evelyn auf die Wange, hakte sie unter und brachte sie langsam zu ihrem Sessel zurück. Stellte ihre Apothekenausbeute auf den Couchtisch, zog sich den Mantel aus und setzte sich Evelyn gegenüber für die wöchentliche Ansprache.

»Kind, es reicht, ich will nicht mehr. Ich weiß nicht, warum dieses Elend hier noch so lange dauert. Ich hab alles satt. Ich guck auch schon keine Nachrichten mehr. Nur Schrott.«

Hannah schenkte ihrer Großmutter ein Lächeln, das Verständnis und Zuversicht ausstrahlen sollte. Sie war ein wenig gerührt, weil Evelyn sich offenbar schick gemacht hatte für ihren Besuch. Der mobile Friseur hatte ihr die dünnen weißen Haare in Form geföhnt und mit Haarspray fixiert, das hatte Hannah schon bei der Begrüßung gerochen. Und die Pflegerinnen hatten Evelyn am Morgen eine von den korallenfarbenen Blusen angezogen, die Hannah ihr einmal im KaDeWe gekauft hatte. Rund um die goldene Ginkgoblattbrosche prangte ein Sternbild aus Bratensoßenspritzern, und Hannah freute sich still über die Vorstellung, wie einer der jungen Männer, die im Rahmen ihres »Freiwilligen sozialen Jahres« im Altenheim aushalfen, »weil alte Leute total interessant sind«, beim Mittagessen versucht haben könnte, ihrer Großmutter die Serviette nicht etwa auf den Schoß zu legen, sondern um den Hals zu knoten, und wie Evelyn dem jungen Mann dann einen ihrer Todesblicke zugeworfen hätte, denn einer wie ihr band man kein Lätzchen um wie einem kleinen Baby.

»Sie haben einen neuen Pfleger eingestellt, die reinste Plaudertasche, du glaubst es nicht. Als bräuchte ich einen, der mit mir redet. Sollen mich einfach in Ruhe hier verrecken lassen, wofür bezahle ich die sonst. Warum hast du mir nicht die Folsäuretabletten gebracht, wo auch gleich noch Vitamin B12 mit bei ist? Die hatten doch immer so eine Kombi?«

»War aus, Omi. Ich hab dir den Veranstaltungsplan mitgebracht.«

»Brauch ich nicht. Was soll ich da? Basteln und singen wie im Kindergarten, mit lauter alten Leuten. Muss die ja alle schon beim Essen sehen, das reicht. Hast du jetzt endlich deinen Doktor?«

»Ich arbeite dran, Omi, das dauert noch.«

Evelyn hatte vor einiger Zeit einmal nach dem Thema von Hannahs Dissertation gefragt, und Hannah hatte es ihr widerstrebend verraten: »Transzendenz und Utopie im Frühwerk Georg Distelkamps«. Evelyn hatte leise geschnaubt, das Thema schien ihr albern, genau wie das ganze Vorhaben. Ein Doktortitel, der kein medizinischer war und für den man jahrelang in irgendwelchen germanistischen Bibliotheken und Archiven herumkriechen musste, war in ihren Augen vollkommen sinnlos. Und Hannah gab ihr insgeheim recht, das ganze Unterfangen war albern und sinnlos, aber es war besser als nichts. Und es war der einfachste Weg, ein Teil des Lebens ihres Doktorvaters zu bleiben, mit dem sie einmal geschlafen hatte und es jederzeit wieder tun würde.

Evelyns Lamento, ihre Inspektion der Apothekengaben, die kurze Nachfrage nach der Dissertation waren nun also abgehakt, als Nächstes folgte das Aufziehen der fünf im Zimmer verteilten Uhren, dann das vorsichtige Gießen der auf der Fensterbank aufgereihten Orchideen, schließlich das große Finale, der Endgegner: die Jalousie.

Und damit war Hannahs Besuch eigentlich beendet, normalerweise hätte sie sich von ihrer Großmutter mit einer kurzen Umarmung verabschiedet und hätte mit einer Mischung aus Erleichterung und Beklemmung die Zimmertür hinter sich zugezogen, aber ihr Blick fiel auf das niedrige Glastischchen neben Evelyns Sessel. Dort lag wie immer die Hörzu. Und in der Zeitschrift steckte wie ein Lesezeichen ein Brief mit ausländisch anmutenden Briefmarken und einem Poststempel mit hebräischen Schriftzeichen.

»Wer schreibt dir denn aus Israel, Omi?«

»Niemand.«

»Wie, niemand? Hast du den Brief nicht gelesen?«

»Doch.«

»Ja, und? Was steht drin?«

»Alter Kram.«

»Was für Kram?«

»Ich will damit nichts zu tun haben.«

»Warum nicht?«

»Mach mir den Fernseher an.«

»Omi, was für Kram?«

Evelyn fixierte Hannah für einen kurzen Moment, prüfend, abwägend, müde. Sie hätte ihn einfach wegwerfen sollen, diesen Brief, nun war es zu spät. Hannah würde ohnehin nicht lockerlassen, sollte sie sich doch kümmern um diesen ganzen alten Dreck. Diesen Trümmerberg aus Erinnerungen, den sie über die Jahrzehnte ihres Lebens so sorgsam begrünt und bepflanzt hatte, so wie der Berliner Senat den Teufelsberg, eine Müllhalde aus Weltkriegsschutt, dessen Spitze aus weißen Kuppeln der alten amerikanischen Abhöranlagen sie an klaren Tagen von ihrem Fenster aus sehen konnte.

»Den Fernseher, Kind.«

Hannah begriff das Tauschgeschäft, drückte den abgegriffenen »On«-Knopf der Fernbedienung und zappte bis zu einer Doku über die im Frühjahr geborenen Tierbabys der beiden Berliner Zoos.

»Bis nächste Woche. Bitte stirb nicht bis dahin, okay?«, flüsterte sie Evelyn ins Ohr, als sie ihr die Fernbedienung in den Schoß legte und im Gegenzug den Brief an sich nahm. Ungerührt starrte Evelyn auf die flimmernden Bilder von Eisbärenbabys und Zebrafohlen auf ihrem Flachbildschirm, und als Hannah sich zum Gehen wandte, stellte sie den Ton lauter, damit sie nicht hören musste, wie ihre Enkeltochter die Tür hinter sich schloss.

2.

Warnemünde 1922

Ein Septembernachmittag von brutaler Schönheit, der Himmel blau, das Meer ölig wogend und die Möwen ein höhnischer Chor.

»Ablandiger Wind«, dachte Senta. »Geschieht mir recht.«

Gerade hatte sie sich zum zweiten Mal in eine kleine Sandkuhle im Schatten ihres Strandkorbes erbrochen, und solange der Wind nicht drehte, würde ihr bis auf Weiteres statt salzig-algiger Meeresluft der säuerliche Geruch ihres Elends in die Nase steigen.

Ulrich hatte es natürlich einfach nur gut mit ihr gemeint, als er für sie an der Strandpromenade von Warnemünde eines dieser grauenhaften Korbmöbel gemietet hatte, in denen kein Mensch bequem sitzen konnte. Sie hatte matt protestiert, aber er hatte das auf seine ritterliche Art abgetan, so als habe sie nicht etwa einen Wunsch geäußert, sondern nur bescheiden sein großzügiges Angebot ablehnen wollen. Eine Dame, dazu eine schwangere, noch dazu seine Verlobte, hatte nicht auf dem Boden zu sitzen oder gar zu liegen, sondern sich aufrecht zu halten, das bauchkaschierende Spätsommerkleid ordentlich um sich zu drapieren und die gute Seeluft zu genießen. Im Strandkorb. So ein guter Mann war er nämlich, umsichtig und edelmütig. Ein ganz großer Fang.

Was für ein Glück sie hatte, dachte Senta matt.

Und wie unglücklich sie war.

Einfach liegen, das wäre das Schönste. Weit weg vom Strandkorb und viel näher am Wasser, ohne Decke, flach auf dem Bauch. Ein Ohr in den Wind und eins auf den warmen Sand gedrückt, dem Rieseln der Körner lauschen, die Zehen eingraben bis zu dem Punkt, an dem die Sonne den Sand nicht mehr wärmte. So wie früher mit Lotte. Als es noch keinen Tag und erst recht keinen Strandausflug ohne ihre beste Freundin gegeben hatte. Als ihre Leben und ihre Gedanken noch so verwoben waren, dass sie sich keinen Tag ohne einander vorstellen konnten. In der unbefestigten Straße ihrer Kindheit am Rand von Rostock, nicht weit von den Werften, da, wo die Klinkermietskasernen aufhörten und die geduckten Vorstadthäuser anfingen, waren sie die beiden Kinder ohne Väter gewesen, Sentas Vater war an der Grippe gestorben, Lottes beim Fischen ertrunken. Und sie waren die beiden einzigen Mädchen mit schwarzen Haaren gewesen, die beiden »Schwatten« in einer Kindermeute aus nordisch-blonden Wollköpfen.

»Das war doch derselbe Zigeuner bei euch!«, hatte der alte Strihlow ihnen einmal hinterhergebrüllt, als er sie dabei erwischt hatte, wie sie in seinem Garten Johannisbeeren klauten. Und mehr noch als Wut oder Scham empfanden sie nach diesem Ausbruch eine kribbelnde Freude bei der Vorstellung, der alte Strihlow könnte recht haben und sie wären tatsächlich Schwestern.

Und nun hatte Lotte am Morgen den Zug nach Berlin genommen. Allein. Hatte eine kleine Reisetasche, ihren Schreibmaschinenkoffer und ihr Erspartes dabei und im Kopf die Adresse einer älteren Dame, die irgendwo in der Nähe des Halleschen Tors ein Zimmer vermietete.

Als Erstes würde sie sich die Haare kurz schneiden lassen, hatte sie Senta zum Abschied gesagt. Und versprochen, ganz oft zu schreiben. Und spätestens zur Hochzeit in ein paar Wochen würde sie wieder da sein, falls sie bis dahin genug Geld für die Zugfahrkarte verdient hatte.

Senta war nicht mit zum Bahnhof gekommen, zu elend fühlte sie sich und zu furchtbar war ihr die Vorstellung, Lotte in dem Zug davonfahren zu sehen, in dem sie eigentlich mit ihr zusammen hatte sitzen wollen. Stattdessen hatte Ulrich sie in seinem offenen Adler mit nach Warnemünde genommen, wo er sich mit einem alten Jagdflieger-Kameraden am Strand treffen wollte. Die Fahrt und die frische Luft würden ihr guttun, hatte er gesagt, und vor allem seinem Sohn. Denn dass das Kind in Sentas Bauch ein Sohn werden würde, daran bestand für ihn kein Zweifel. Einer wie er, ein Fliegerass und Kriegsheld, Träger des Eisernen Kreuzes und Mitglied im Orden Pour le Mérite, ein Patriot und Abkomme eines stolzen preußischen Junkergeschlechts, einer wie er zeugte Söhne. Und dass Senta nun schon seit Wochen speiübel war, sei ein eindeutiges Zeichen dafür, dass in ihrem achtzehnjährigen Körper ein kräftiger Knabe heranwachse. So hatte seine Schwester es ihm erklärt, und die musste es wissen.

Schon die Fahrt über die holprige Straße in Richtung Küste war für Senta eine Tortur gewesen. Das Geschaukel und der eigentümliche Benzingeruch, den sie immer so geliebt hatte, verschlimmerten jetzt ihre Übelkeit, sie mussten zweimal anhalten, damit sich ihr Magen beruhigen konnte. Ulrich, der sonst so sicher fuhr, schien nervös und aufgekratzt und krachte die Gänge ins Getriebe, als wolle er den Motor für die angespannte Stimmung bestrafen, die zwischen ihnen herrschte. Dabei waren diese Autofahrten vor Kurzem noch ihr größtes gemeinsames Vergnügen gewesen. Senta hatte die Geschwindigkeit genossen, den Fahrtwind, die lang ausgefahrenen Kurven, den Blick auf den blonden, selbstsicheren Mann an ihrer Seite. »Hättest mich mal fliegen sehen sollen, Kleene!«, hatte er zu ihr gesagt, wenn er ihren Blick bemerkte.

Und das hatte ihr gefallen.

Kleene.

Wo sie doch noch nie klein gewesen war, sondern immer die Große. Die älteste von fünf Schwestern, immer einen Kopf größer als ihre Schulkameraden, das »lange Elend« mit den hohen Wangenknochen, die »schwatte Köhler«.

Nichts an Senta war klein und puppig oder besonders mädchenhaft und sie hatte sich angewöhnt, sich immer ein bisschen krumm zu machen, die Schultern hängen zu lassen und den Kopf einzuziehen, damit es nicht so auffiel. »Halt dich gerade!« war ein Satz, den ihre Mutter ihr täglich zum Abschied hinterherrief. Manchmal gelang es ihr auch. Dann, wenn sie sich das Leben ausmalte, das sie einmal führen wollte. Wenn sie mit der Schule fertig sein und mit Lotte nach Berlin gehen würde. Um Geld zu verdienen, nicht mehr heimlich hinterm Hühnerstall rauchen zu müssen, damit ihre jüngeren Schwestern sie nicht dabei sahen. Nein, in der großen Stadt würden sie mit ausladender Gestik rauchen, und jeder sollte es sehen. Sie stellte sich vor, wie Lotte und sie mit kurzen schwarzen Haaren und einem dieser Hosenanzüge, die sie in der Zeitung gesehen hatte, in Cafés und Salons sitzen würden. Sie würden Shimmy tanzen lernen und all die Dinge tun, über die man in Rostock die Nase rümpfte. In Berlin wären sie nicht mehr »die Schwatten«, sondern zwei junge Frauen mit geheimnisvoll düsterer Aura, sie würden sich über Kunst und Politik unterhalten und an sonnigen Tagen auf dem Kurfürstendamm flanieren oder ein Pferderennen besuchen. Eine Weile würden sie als Bürofräulein arbeiten, ihre Mütter hatten lange gespart, um ihnen je eine Schreibmaschine zu kaufen, auf denen sie sich selbst das Tippen beigebracht hatten. Aber irgendwann würden sie Schriftstellerinnen sein. Oder Schauspielerinnen. Oder beides. Und während sich Senta in ihr zukünftiges Ich träumte, streckte sich ihr Körper, hob sich ihr Kinn und manchmal nahm sie, ohne es zu merken, einen Zug aus einer imaginären Zigarette, den Arm genau im richtigen Winkel, die Finger leicht gespreizt, den Blick theatralisch in die Ferne gerichtet. Wie auf einer Fotografie.

Ungefähr so musste es gewesen sein, als Ulrich Senta das erste Mal sah, in einem Moment der Selbstvergessenheit nach zwei oder drei Eierlikör, auf der Silvesterfeier im Marinefestsaal. Zwei Schulkameraden mit familiären Verbindungen zur Marine hatten Senta und Lotte mitgenommen, und ihre Mütter hatten nur schwach protestiert, mehr aus Prinzip als aus Überzeugung, denn es war ja nun Silvester und warum sollten sich zwei Mädchen nicht amüsieren, zumal in guter Gesellschaft. Sie hatten sich rausgeputzt, sich gegenseitig die Haare hochgesteckt und zu viel Rouge aufgetragen, hatten ihre beiden Begleiter schnell abgeschüttelt, die sich ohnehin lieber betrinken wollten, und lauschten nun der Kapelle, die Schlager spielte und von der es hieß, sie spiele auch Jazz, später vielleicht.

Eine ganze Weile schon hatten sie die dürftigen Balzversuche eines betrunkenen Jungen in Matrosenuniform ignoriert, als Ulrich auf sie zumarschierte, auf diese etwas gestelzte, soldatische Männerart, Brust breit, Kinn oben, und fragte, »ob die Damen belästigt« würden. Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern schob den Kerl einfach beiseite, der Lotte und Senta mit erfundenen Abenteuergeschichten aus dem Krieg gelangweilt hatte, für den er noch viel zu jung war. Ulrich dagegen, das war schnell klar, kannte den Krieg. Und nicht nur das. Er war einer seiner Helden, einer von denen, deren Dienst am Vaterland heller strahlte, als die Niederlage schmerzen konnte. Schnell schob sich die Gruppe aus jungen Männern und Frauen, die sich schon zuvor um ihn geschart hatte, hinter ihm her durch den Raum, nahm Senta und Lotte mit auf in ihren Kreis und forderte Ulrich lautstark auf, doch bitte noch mal zu erzählen, wie es denn nun gewesen sei, damals bei der Fliegertruppe, beim Richthofen-Geschwader, bei den großen Luftkämpfen über Flandern. Nur einmal winkte er kurz bescheiden ab, er wolle »die Damen nicht langweilen«, heiteres Gelächter, zu komisch, wen könnte es langweilen, wenn ein Fliegerheld, ein Kampfgefährte des »roten Teufels« Richthofen, von seinen Luftsiegen berichtete, von seinen mehr als dreißig Abschüssen und wie er noch als einer der Letzten aus der Hand des Kaisers den »Pulämmeritt« bekommen habe.

Und so erzählte Ulrich vom Fliegen, vom eisigen Wind im Gesicht, vom Trudeln und Abfangen der Maschine, von der Anspannung, wenn im Luftkampf das knarzende Rattern des gegnerischen MG‑Feuers hinter einem erklang, und von der Euphorie des Abschusses, wenn man den elenden Engländer oder Franzosen endlich vor der Flinte hatte, eine Hand am Steuerknüppel, die andere am Maschinengewehr seiner Fokker, das Dröhnen des Motors, wenn die gegnerische Maschine abschmierte, Feuer fing, unter ihm im Nichts verschwand, die Erleichterung, wenn er als Staffelführer alle seine Männer wieder heil auf den Boden gebracht hatte. »Ein Hoch auf unsere tapferen deutschen Soldaten«, rief einer der Zuhörer, und alle erhoben ihr Glas.

Lotte rollte ein paarmal dezent mit den Augen und versuchte Senta wegzuziehen, sie hatte keine Lust auf Soldatengeschichten. Doch Senta ignorierte sie, hatte sich berauscht am Likör und an Ulrichs kitschigen Fliegergeschichten vom Sonnenuntergang über den Wolken und den Sternen und den Lichtern der Städte beim nächtlichen Überflug, und dann tanzten sie und Senta genoss die Blicke der anderen Mädchen. Wieso die? Wieso durfte gerade die mit dem Fliegerhelden tanzen? Senta hatte sich gerade gemacht, wie ihre Mutter es ihr eingetrichtert hatte, hatte die Schultern nach hinten gedrückt und den Kopf gehoben, während sie sich von Ulrich etwas steif übers Parkett schieben ließ.

Erst als kurz vor Mitternacht alle vor die Tür gingen, um das Feuerwerk anzuschauen, bemerkte Senta, dass Lotte verschwunden war. Und im Rückblick schämte sie sich, wie egal ihr das gewesen war. Sie stand schließlich neben dem begehrtesten Mann des Abends, sie, die »schwatte Köhler«, und er legte den Arm um sie und begrüßte mit ihr das Jahr 1922 und bot dann an, sie im Auto nach Hause zu fahren.

»Können wir doch öfter machen, Kleene«, sagte er zum Abschied, und sie sagte »Gern«, und so war es dann gekommen.

Ulrich holte sie dann häufiger mit seinem Adler ab, grün, mit roten Ledersitzen, todschick und immer auf Hochglanz poliert, er war nach dem Krieg bei einem Rostocker Autohändler mit eingestiegen, denn klar, als Flieger kam nur die Marke Adler infrage und als Kaufmann musste man sich identifizieren mit seiner Ware.

Sie unternahmen lange Autofahrten ans Meer und küssten sich in den Dünen, und Senta vergaß Berlin und Lotte und ihren Plan und fand Gefallen an der Vorstellung, für jemanden wie Ulrich die »Kleene« zu sein. Zuerst fragte Lotte noch nach, wenn sie sich trafen, wie es denn so laufe mit dem »Fliegerhelden«, aber Senta missfiel ihr spöttischer Unterton und sie warf Lotte vor, sie sei ja nur neidisch, und danach ging Lotte ihr aus dem Weg. Das war ihr ganz recht, Senta hatte keine Lust auf Erklärungen und ein schlechtes Gewissen, sie wollte es genießen, wie alle große Augen machten, jedes Mal, wenn Ulrich mit seinem Auto vor ihrem Haus hielt und die Nachbarsfrauen die Köpfe zusammensteckten und sich bestimmt fragten, was der Herr Fliegerleutnant denn wohl an dem langen dürren Elend fand.

Und sie machten wieder einen Ausflug ans Meer, an einem der ersten wirklich warmen Frühlingstage, und sie fragte ihn, warum er sich ausgerechnet für die Fliegerei gemeldet habe, damals im Krieg. Da veränderte sich Ulrichs Blick, er räusperte sich ein paarmal, so als klammerten sich die Worte in seiner Brust fest und wollten nicht ins Freie. Aber dann erzählte er doch, von seinen ersten Monaten an der Front. Wie sie ihn erst nicht gewollt hatten beim Heer, weil er mit sechzehn eigentlich noch zu jung war, um fürs Vaterland zu kämpfen. Wie sein Vater interveniert hatte an oberster Stelle, damit sie ihn doch nahmen. Wie er als Feldartillerist im Schlamm gelegen hatte, durchnässt und die Füße offen und entzündet vom Marschieren. Wie überall die Ratten an den Toten genagt hatten, die unbegraben im Feld lagen, und wie er nachts beim Wacheschieben einmal einen verwilderten Hund beobachtet hatte, der einen Arm im Maul trug, da steckte noch ein Siegelring am Finger. Und wie er so bei sich dachte, hoffentlich verschluckt der sich nicht an dem Ring, der arme Hund. Und wie um ihn herum die jungen Männer im MG‑Feuer nach ihren Müttern schrien und ungläubig auf ihre aufgeplatzten Bäuche schauten und ihre Gedärme festhielten und wie er nichts anderes wollte als endlich weg aus dem ganzen Dreck und der Nässe und dem Gemetzel, am besten nach oben, in die Luft, so weit weg von dem ganzen schlammigen, blutigen, stinkenden Chaos wie nur möglich.

Und dann bot sich die Gelegenheit: Ein wohlmeinender Offizier, der seinen Vater kannte, empfahl ihn zur Fliegertruppe, und so sei er schließlich zum hochdekorierten Fliegerhelden geworden, dabei fühle er sich wie ein Feigling.

»Die, die unten im Dreck verrecken, das sind Helden, Kleene. Ich flieg da einfach drüber, und wenn es mich erwischt hätte, dann wär es schnell vorbei gewesen, und sie hätten mich mit militärischen Ehren begraben und nicht einfach nur irgendwo verscharrt.« Und dann war ihm die Stimme gebrochen, und er hatte ein Schluchzen durch die Kehle gewürgt, und Senta hatte sich ihm in die Arme geworfen und ihn festgehalten. Oh, wie sie sich im Nachhinein verachtete für diesen Impuls, für die klebrige, falsche Rührung, die sie ergriffen hatte, weil dieser scheinbar so starke Mann sich ihr geöffnet und Männertränen an ihrem Hals geweint hatte, von ihr getröstet werden wollte und schließlich seine Hände mit Bestimmtheit unter ihr Sommerkleid schob. Sie waren in den Dünensand gefallen, hatten umständlich an ihrer Kleidung herumgezogen, alles wurde warm und weich und dann eng, heiß und drängend, Senta fixierte die Halme des Strandhafers über sich, um nicht in Ulrichs verheultes, angestrengtes Gesicht schauen zu müssen, und fragte sich, ob es das nun also sei, diese Sache, um die alle so ein Aufhebens machten und die sich wenig überwältigend anfühlte, dafür, dass sie so ungeheuerlich und verboten war.

Als sie an diesem Abend die Haustür öffnete, bekam Senta von ihrer Mutter die allererste Ohrfeige ihres Lebens. Die schepperte so, dass kleine Ostseesandkörner aus ihrem zerzausten Haarknoten auf den Dielenboden rieselten, und Senta fragte sich, warum ihre Mutter ihr Gesicht lesen konnte wie ein schriftliches Geständnis.

Als Sentas Regel nicht kam und ihr langsam schwante, was das bedeutete, heulte sie zusammen mit Lotte hinterm Komposthaufen. Dumm, dumm, dumm war sie gewesen, und jetzt war es zu spät. Lotte hatte von Tränken gehört, die man sich brauen konnte, damit das Kind wegging, Rizinusöl, Scheuerpulver und Minze, aber in der richtigen Mischung, das war wichtig, sonst vergiftete man sich. Sie wusste auch von einer Engelmacherin, aber die verlangte viel Geld und am Ende verblutete man noch. Das war es nicht wert. Sie würde es Ulrich sagen müssen und wer weiß, vielleicht heiratete er sie ja. Nur aus Berlin, da würde eben nichts draus. Nach Berlin würde Lotte dann wohl allein gehen.

Als Senta Ulrich sagte, dass sie schwanger sei, drehte er sich wortlos um und ging. Er ließ sie stehen, mitten auf dem Doberaner Platz, über den sie zusammen spaziert waren, und das hatte sie nicht weiter überrascht. Sie würde eben doch nicht seine »Kleene« sein, und obwohl ein größeres Maß an Verzweiflung angemessen gewesen wäre, empfand sie nicht viel. Sie fühlte auch keine Erleichterung, als drei Tage später der grüne Adler mit den roten Ledersitzen vor ihrer Tür hielt und Ulrich ausstieg, ganz seriös, im Anzug, um Sentas Mutter seine Aufwartung zu machen und um Sentas Hand zu bitten.

»Na, wenn meine Tochter das will,« sagte Sentas Mutter. Ulrich antwortete: »Sie will!«, und Senta nickte stumm. Natürlich wollte sie, sie hatte ja kaum eine Wahl, jetzt, mit dem Kind in ihrem Bauch, von dem sie ihrer Mutter gar nicht hatte zu erzählen brauchen. Die hatte den Braten ohnehin gerochen und es unbewegt hingenommen. Sie hatte fünf Töchter allein großgezogen, mit ihrer schmalen Witwenrente, diversen Aushilfsarbeiten, und hatte mit einem Talent für Börsenspekulation noch alle einigermaßen satt durch die Jahre der Inflation bekommen, da käme es zur Not auf ein vaterloses Kind mehr oder weniger auch nicht an.

»Mein armes, dummes Mädchen«, nannte sie Senta abends beim Gute-Nacht-Sagen und streichelte dabei ihre Wange. »Biste denn wenigstens richtig verliebt?«

Aber das wusste Senta schon nicht mehr so genau. Sie war verliebt in Ulrichs Blick auf sie. Dass er sie gesehen hatte, so wie ein Teil von ihr sein wollte und sie doch eigentlich gar nicht war. Dass er in ihr kurz das Gefühl geweckt hatte, sie könne sich entscheiden zwischen zwei Leben. Einem mit Lotte in Berlin, frei und nur für sich selbst verantwortlich. Und einem Leben, in dem sie nur die Beifahrerin sein musste, weil sich um all die komplizierten und schwierigen Dinge der Mann an ihrer Seite kümmern würde. Jetzt hatte sie keine Wahl mehr und, schlimmer noch, sie würde ihm dankbar sein müssen. Für immer. Er hätte es besser treffen können, stattdessen verhielt er sich anständig und mannhaft, er übernahm die Verantwortung für sein Handeln, fügte sich in sein Schicksal. Was für ein Glück sie hatte. Mehr als sie verdiente. Und alle konnten es sehen. Sie, die »schwatte Köhler«, hatte sich einen Kriegshelden geangelt. Einen, der noch alle Gliedmaßen besaß und keine schlimmen Kriegswunden davongetragen hatte und der sie hier dekorativ in einen Strandkorb platziert hatte, sodass sie die freie Sicht auf ihn und seinen Kameraden genießen konnte. Zwei Männer, die vorn am Wasser Steine nach den Möwen warfen und herumalberten wie zwei Kinder.

Endlich drehte der Wind und kam von vorn. Senta schloss die Augen, schmeckte das milde Salz der Ostsee und dachte an Lotte, deren Zug längst in Berlin eingefahren sein musste. Lotte, die bald im Gewimmel der großen Stadt verschwinden und sich auflösen würde in dieser geheimnisvollen neuen Welt. Die sich in die Arbeit stürzen konnte und sicher nicht zu ihrer Hochzeit kommen würde, die schon in drei Wochen stattfinden sollte, schnell, bevor ihr Bauch nicht mehr zu kaschieren wäre. Lotte würde sie bald vergessen haben, und sie würden zwei unterschiedliche Leben leben, und niemand würde verstehen, wie sehr Senta Lotte um ihres beneidete.

Das Kind in ihrem Bauch fühlte sich an wie ein kleiner Goldfisch, der rechts und links an sein Glas stupste. Senta zog die Seeluft tief in ihre Lungen und kämpfte gegen eine weitere Welle aus Übelkeit und Trauer.

»Was machst du für ein Gesicht, Kleene?«, hörte sie Ulrich fragen, der fröhlich und außer Atem auf sie zugelaufen kam, barfuß, die Hose bis zu den Knien hochgekrempelt. »Es ist wegen dem Kleid, oder? Machst dir Sorgen um dein Hochzeitskleid, was? Wird schon alles rechtzeitig fertig, zerbrich dir nicht deinen kleinen Kopf. Und jetzt komm, wir fahren nach Hause.«

3.

Hannah hatte den Brief noch im Fahrstuhl aus dem aufgerissenen Umschlag genommen und war versehentlich bis runter in die Tiefgarage des Seniorenpalais’ gefahren. Erst der scharfe Geruch nach Gummi und Benzin, der durch die geöffnete Fahrstuhltür drang, ließ sie von dem Brief aufsehen, den sie eilig überflogen hatte und nun verständnislos anstarrte. Es war das Schreiben einer israelischen Anwaltskanzlei mit Sitz in Tel Aviv, das sich in gewähltem Englisch an Mrs. Evelyn Borowski richtete und in dem die Kanzlei ihre Dienste in einer Restitutionssache anbot. Sie seien bei Recherchen zu enteigneten jüdischen Kunsthändlern in Berlin auf den Kunsthandel Goldmann gestoßen, dessen Inhaber Itzig Goldmann 1942 von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet worden sei. Sie, Dr. Evelyn Borowski, sei die einzige lebende Erbin des konfiszierten und nunmehr verschollenen Kunstvermögens. Sofern sie – Dr. Evelyn Borowksi – den beigefügten Vertrag unterschreibe und die Kanzlei damit offiziell mit der Abwicklung des Restitutionsverfahrens beauftrage, würde man mit den Recherchen fortfahren. Die Kanzlei arbeite auf eigenes finanzielles Risiko, eine Provision würde nur dann fällig, wenn ein Kunstwerk tatsächlich gefunden und zurückgegeben werden könne.

With best regards,

Aaron Cohen.

Die Fahrstuhltür vor Hannah schloss sich, und sie drückte auf den Knopf, der sie ins Erdgeschoss befördern sollte. Kurz überlegte sie, mit dem Brief schnurstracks zurück zu ihrer Großmutter zu marschieren und sie zu fragen, ob das alles ein schlechter Witz sei. Jüdische Kunsthändler? Evelyn, Erbin von Naziraubkunst? Das alles konnte nur ein Scherz oder eine Verwechslung sein, andererseits: Hätte Evelyn den Brief dann nicht mit Sicherheit weggeworfen? Niemand nahm Evelyn auf den Arm, sie ließ sich nichts andrehen und für dumm verkaufen ließ sie sich erst recht nicht. Hannah war als Kind einmal mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in Marokko gewesen, eine Versöhnungsreise sollte es werden, Hannahs Mutter hatte sich ausbedungen, das Reiseziel auszusuchen, Evelyn hatte alles bezahlt. Und während Silvia und Hannah in den Souks von Marrakesch umlagert wurden von Händlern, die ihnen Tücher, Teppiche, Schmuck, Taschen und Gewürzmischungen andrehen wollten, schritt Evelyn vollkommen unbehelligt durch den engen Markt, mit der Aura einer Königin, die jedem persönlich den Kopf abbeißen würde, der es wagte, sie anzusprechen.

Wenn Evelyn diesen Brief aus Israel aufbewahrt und ihn Hannah nur widerwillig gezeigt hatte, dann, weil das, was darin stand, möglicherweise wahr war.

Im Bus Richtung Theodor-Heuss-Platz zog Hannah das Handy aus der Tasche, um nach Andreas zu sehen. Sie öffnete WhatsApp und tippte auf sein Profilbild, das nur einen abfotografierten Buchstaben zeigte, ein großes, mit der Schreibmaschine getipptes A. Ein bisschen ärgerte es Hannah, dass Andreas Sonthausen, ihr Doktorvater, eine Literaturtheorie-Koryphäe und einer der bekanntesten Germanisten des Landes, ein so affiges WhatsApp-Profilbild gewählt hatte.

A wie Andreas. A wie Anfang, wie Alphatier, wie »An mir kommt keiner vorbei!«.

Vor allem aber hätte Hannah gern ein Foto von Andreas gehabt, das sie unverfänglich betrachten konnte, während sie im Bus auf ihr Handydisplay starrte. Es wäre leichter gewesen, sich an sein Gesicht über ihrem zu erinnern, an das dünne grau-braune Haar, durch das sie mit den Fingern gefahren war und das er etwas zu lang trug, dafür dass es schon recht licht war. An ihre Verblüffung über die Jungenhaftigkeit seines Gesichts, das sie zuvor nie ohne die schwarz eingefasste Brille gesehen hatte, und über die Tatsache, dass sie wirklich mit ihrem Professor in dessen Hotelbett gestolpert war. Und dass es ihr gefallen hatte. Dass er ihr gefallen hatte, obwohl er optisch wirklich nicht ihr Typ war und mit Ende vierzig sowieso weit außerhalb ihres Altersspektrums. Kein Vergleich mit den Bar- und Club-Jungs, die sie sich manchmal mit in ihre aufgeräumte Wohnung nahm, um ein bisschen Körperchaos in die aseptische Atmosphäre zu bringen. Diese namenlosen, aber wohlriechenden Start‑up-Boys mit ihren Projekten und Illusionen und fein abgezirkelten Bärten, für die Sex eine Cardio-Einheit war und die hinterher noch ein paarmal Nachrichten schickten, bevor sie weiter an ihren Plänen arbeiteten, sich von Google kaufen zu lassen und sehr reich zu werden.

Andreas hatte genau eine Nachricht geschickt nach der Sache in Marbach vor zwei Monaten und die klebte nun wie eine kryptische Inschrift unter dem blöden »A«:

»na sowas«

Er hatte sie am nächsten Morgen geschickt, als Hannah längst wieder in ihrem eigenen Bett lag, und den Rest der Exkursion hatte er so getan, als wäre nichts passiert.

»Leck mich doch!«, dachte Hannah jedes Mal, wenn sie auf die »na sowas«-Sprechblase schaute. »na sowas«. Was sollte das denn heißen?

Huch, ich schlafe sonst ja nicht mit meinen Studentinnen, weiß auch nicht, wie das passieren konnte? (Wer’s glaubt …)

Hey, das war toll, lass uns das bei Gelegenheit wieder machen? (Hätte er dann ja aber auch genau so schreiben können.)

Haha, interessanter kleiner Zwischenfall gestern, aber auch nicht der Rede wert, bitte mach mir keine Szene? (Hätte sie ohnehin nicht, sie hatte ja nicht einmal geantwortet.)

Du, ich bin vollkommen überwältigt und muss das jetzt alles erst mal einordnen? (Ach, leck mich doch.)

Vom ersten Semester an hatte Hannah Andreas Sonthausen bewundert, ohne jeden Hintergedanken. Sie bewunderte ihn für seinen melancholischen Witz, die Art und Weise, wie er sich im Hörsaal in Rage reden konnte, überhaupt dafür, dass er ein Thema hatte, das ihn so brennend interessierte, und dass er in der Lage war, seine Zuhörer ebenso dafür zu interessieren. Sie bewunderte die amüsierte Herablassung, mit der er die üblichen Schleimer und Schwätzer in seinen Seminaren auflaufen ließ, sie mochte, wie er sich beim Nachdenken mit Mittel- und Ringfinger die Augenbrauen glatt strich. Und sie mochte sein freundliches Interesse an ihr. Sie hatte keine Ahnung, was sie nach ihrem Abschluss tun sollte, und hatte eher halbherzig über eine Promotion nachgedacht – und er hatte sie ermutigt. Dabei war Halbherzigkeit wirklich Gift für jedes Promotionsvorhaben, das wusste Hannah. Und Andreas, ihr Doktorvater, wusste es erst recht, hatte ihr aber trotzdem ein besonders freundliches Gutachten für ein Promotionsstipendium geschrieben. Sie hatte sich kaum Chancen auf die Mitarbeiterstelle bei ihm ausgerechnet, denn sie war nicht gerade eine seiner präsentesten oder besten Doktorandinnen – und sie hatte die Stelle trotzdem bekommen.

Nie war Andreas Sonthausen auch nur eine Spur zweideutig gewesen, nie hatte er Hannah in einer Weise angesehen, die ihr merkwürdig vorgekommen wäre, nie hatte sie sich zweideutige Gedanken über ihn gemacht. Alles war gut und vollkommen normal gewesen. Bis sie Andreas auf diese Reise nach Marbach begleitet hatte, wo er Archivmaterial sichten und einen Vortrag halten sollte und Hannah gefragt hatte, ob sie nicht mitkommen wolle, ein Kollege aus dem Fachbereich habe abgesagt und das zweite Hotelzimmer sei nicht zu stornieren und schließlich müsse sie für ihre Diss ja sicher auch ins Archiv.

Und dann hatten sie an der kleinen Hotelbar noch etwas getrunken, nachdem Andreas den ganzen Tag schweigsam und abwesend gewirkt hatte. Er hatte ein bisschen was erzählt von seinem neuesten Buch, mit dem er nicht so recht vorankam, von Förderanträgen für Forschungsprojekte, die viel zu viel Zeit beanspruchten, und wie sehr er manchmal seine Frau beneidete, die eine Galerie in der Auguststraße hatte und dort junge, angesagte Künstler ausstellte, sich also mit dem Leben und den Lebenden beschäftigte und nicht mit Theorie.

Hannah hatte ihm nach drei Gin Tonic noch geholfen, Unterlagen auf sein Hotelzimmer zu bringen, und dann hatte Andreas Sonthausen sie eben doch so angesehen. Anders angesehen. Mit einem Blick, der bodenlos und traurig war und den sie viel zu lang erwidert hatte. Und als er einen Schritt auf sie zugemacht hatte – oder vielleicht auch nur einen Schritt vage in ihre Richtung, um ihr die Zimmertür aufzuhalten, so ganz sicher war sie sich hinterher nicht mehr, hatte sie ihn geküsst. Oder er sie. So genau war das nicht mehr zu sagen, sie waren irgendwie ineinander gestolpert, und es hatte sich gut genug angefühlt, um kurz zu vergessen, dass das alles keine gute Idee war.

Sie hatten eine Weile knutschend im Hotelzimmerflur gestanden, und dann hatte Hannah begonnen, ihm das schwarze Hemd aufzuknöpfen, und er hatte ihr den Pullover über den Kopf gezogen, und dann mussten sie lachen, weil Hannah vergessen hatte, sich ihre Chucks auszuziehen, bevor sie versucht hatte, aus ihrer Hose zu schlüpfen, und nun hing sie fest, ein Hosenbein auf links gedreht, und Andreas kniete sich vor sie und knüpfte ihr die Schnürsenkel auf. Sehr fürsorglich.

Warum das mit dem spontanen Sex in Hotelzimmern nicht so laufen konnte wie im Film, fragte sich Hannah, wo sich beide Schauspieler auf dem Weg vom Fahrstuhl bis ins Hotelbett so locker und selbstvergessen ihrer Kleidung entledigten und nie an Schuhen hängen blieben oder sich die Fingernägel an Gürtelschnallen abbrachen. Aber nun war auch alles egal, sie hatten es beide halbwegs nackt aufs Bett geschafft, im Badezimmer rauschte die Belüftung und im Fernsehen lief ein Bildschirmschoner mit Fotos von der Hotellobby und dem Frühstücksbuffet. Hannah lag auf dem Rücken, der Gin machte alles angenehm luftig in ihrem Kopf, und Andreas tat irgendwas rund um ihren Bauchnabel, was sich gut anfühlte.

In den Wochen nach der Nacht in Marbach hatte Andreas Sonthausen sie mit dem gleichen freundlich-distanzierten Interesse bedacht wie zuvor. Als wäre überhaupt nichts geschehen. Kein wissender Blick, keine Andeutung, er hatte sie noch nicht einmal gemieden. Diese verfluchte »na sowas«-Nachricht in ihrem Handy war der einzige Beleg dafür, dass sich Hannah die Sache mit Andreas nicht komplett eingebildet hatte, und das machte sie wahnsinnig. Sie hatte angefangen, ihn heimlich zu stalken, nicht physisch, eher im Verborgenen. Sie checkte, wann er bei WhatsApp online ging, sie googelte seinen Namen auf der Suche nach Spuren, mied dabei die Berichte über Ausstellungseröffnungen in der Galerie seiner Frau. Sie besorgte sich längst vergriffene Texte aus der Frühphase seiner akademischen Laufbahn, sie blieb länger als notwendig in ihrem kleinen Büro in der germanistischen Fakultät, in der Hoffnung, er könnte noch einmal den Kopf zur Tür reinstecken, was er nie tat. Sie gab sich doppelte Mühe bei ihren Colloquiumsvorträgen und versuchte, in Andreas’ Kommentaren irgendeine Anspielung oder eine Botschaft herauszuhören – vergeblich.

Hannah hasste sich für die zunehmend obsessive Art, mit der sie an ihn dachte. Abends beim Einschlafen, in der U‑Bahn, in der Bibliothek, zu Hause, wo sie am Küchentisch vor ihrem leeren Word-Dokument saß und nicht anfangen konnte zu schreiben. Sogar samstagnachts, wenn sie allein in die Schraube ging, den Club am Spreeufer zwischen Jannowitzbrücke und dem alten Heizkraftwerk der Stadtbetriebe, um sich den Kopf mit Bass zu füllen und an nichts zu denken. Selbst dann schob sich Andreas in ihr Bewusstsein.

Und jetzt, im Bus, dann in der U1 in Richtung Kreuzberg, auf dem Weg vom Kotti in ihre Wohnung im zweiten Stock in der Oranienstraße, reifte ein Plan in ihr. Sie hatte nun diesen Brief in der Tasche und bevor sie Evelyn damit konfrontierte, musste sie mit irgendjemandem darüber sprechen, am besten jetzt sofort. Einem Erwachsenen. Oder Erwachsenerem. Ihren Vater hatte sie zuletzt bei ihrer Einschulung gesprochen, ihrer Mutter was an den Grabstein zu quatschen würde nicht ausreichen, diesmal brauchte sie Antworten. Einen Rat. Sie schloss die Wohnungstür auf, nahm ihr Handy aus der Manteltasche, lief über die weiß lackierten Dielen ins Wohnzimmer, zog die Vorhänge zu, so als könnte sie jemand bei etwas Verbotenem beobachten. Setzte sich auf ihr weißes IKEA-Sofa, atmete tief durch, sagte noch einmal laut und für sich »Leck mich doch!« und drückte auf den grünen Hörer neben Andreas’ Nummer.

Na sowas, na sowas, na sowas.

4.

Rostock 1926

Das Schönste am Morphium war nicht unbedingt der Rausch. Das Schönste war die Vorfreude. Die Minuten, bevor Trude die Spritze setzte, das Wissen, dass sie sich nun mit Wonne in den Abgrund ihres Unglücks werfen durfte. Noch einmal all die schlimmen Gedanken denken, den Schmerz fühlen, sich suhlen in der Vergeblichkeit ihrer unerfüllbaren Sehnsucht – wissend, dass sich kurz vor dem Aufschlag der rettende Fallschirm der Droge aufspannen würde.

Die Spritze hatte Trude schon aufgezogen und zusammen mit dem Stauschlauch neben die Schüssel gelegt, in der die anderen Instrumente sterilisiert werden mussten. Die leere Morphiumampulle hatte sie in die Tasche ihres Schwesternkittels gleiten lassen, um sie später auf dem Nachhauseweg heimlich hinter irgendeine Hecke zu werfen. Noch war es nicht so weit, noch hatte sie zu tun, aber die Spritze wartete dort auf sie wie der Nachtisch nach einem faden Essen.

Doktor Klausen war längst gegangen und hatte ihr die Praxis überlassen, damit sie in Ruhe aufräumen konnte. Saß jetzt sicher zu Hause bei seiner Frau, die er nicht verlassen würde. Niemals, er hatte es gerade heute wieder gesagt. Aber das hatte er schon so oft. Hatte schon so oft in seinem gestärkten weißen Arztkittel vor ihr gestanden und ihr gesagt, dass das alles aufhören müsse, dass sie beide damit aufhören müssten, mit dem Morphium und allem, was es in ihnen auslöste, die selbstvergessenen Momente im Behandlungszimmer nach dem Ende der Sprechstunde, wenn ihnen beiden alles so irritierend gleichgültig war.

Trude wusste ganz genau, dass das alles nicht aufhören würde, sie und er, das war etwas Besonderes. Sie hatten eine gemeinsame Bestimmung und eine Geschichte. War seine Frau etwa an seiner Seite gewesen, im Lazarett in den Masuren? Hatte sie ihn etwa nachts getröstet, wenn er vom vielen Amputieren zu aufgewühlt war, um zu schlafen? Hatte sie ihm das verkrustete Blut aus den Haaren gewaschen, nach einem Tag am Operationstisch? Hatte sie etwa die Schreie und das Stöhnen gehört und die Hoffnungslosigkeit der jungen Männer gespürt, die entweder starben oder wieder notdürftig zusammengeflickt an die Front geschickt wurden, wenn sie nicht zu Zitterern geworden waren?

Trude war ein Engel gewesen, an ihrer weißen Schwesterntracht klebten unsichtbare Flügel. Sie hatte so viele Hände gehalten und Schwüre abgenommen und so getan, als würde sie letzte Worte notieren, um sie irgendwelchen Verlobten oder Müttern zu schicken. Vor allem aber war sie der Engel mit der Spritze. Der rettenden Morphiumspritze, die den Schmerz nahm und den Frieden brachte und diese unschuldige Euphorie. Wer hätte es ihnen beiden verdenken sollen, dass sie in all dem stinkenden Elend nicht auch einmal ein bisschen Frieden finden wollten, zumal er so einfach zu haben war: Ein Schlüssel zum Medizinschrank, eine gute Vene, und binnen Sekunden fühlte man sich, als sei man im Innersten mit Samt ausgeschlagen.

Doktor Klausen war bei alldem disziplinierter gewesen als sie, das musste Trude zugeben. Er hatte Prinzipien, das liebte sie ja so an ihm, er spritzte niemals selbst. Er ließ sich lieber von Trude verarzten, einmal die Woche, an ihrem verabredeten Tag, wenn sie beide länger in der Praxis im Rostocker Westen blieben. Da durfte sie wieder der Engel sein, erst für ihn, dann für sich selbst. Eine Stunde warmweiche Lust, bevor er nach Hause ging zu seiner Frau und den Kindern und sie zu sich, wo niemand wartete, außer dem Geist ihrer Mutter, der sie aus der Zimmerecke anstarrte. Bis dahin hatte die Wirkung des Morphiums in der Regel nachgelassen, gerade noch hatte sie Doktor Klausen in fröhlicher Gleichgültigkeit mit einem langen Kuss verabschiedet, in ihrem Zimmer im ersten Stock ihres Elternhauses musste sie sich dann so schnell wie möglich schlafen legen, um die beißende Einsamkeit nicht zu lange zu spüren.

Heute war nicht ihr gemeinsamer Tag, heute gehörte das Morphium Trude ganz allein. Eine Weile hatte sie sich an die Regel gehalten: Einmal in der Woche, keinesfalls öfter, man konnte sonst irgendwann nicht mehr verzichten. Aber verzichtete sie nicht schon auf so viel anderes? Inzwischen spritzte sie sich einmal am Tag, immer abends nach der Sprechstunde. Die Nadel war steril, und sie achtete darauf, dass sich die Stiche nicht entzündeten, sie hatte das im Griff, sie war schließlich vom Fach. Sie war nicht wie die Krüppel, die versuchten, Doktor Klausen die Rezeptblöcke vom Schreibtisch zu stehlen. Die bettelten und jammerten und kaltschweißig zitterten, weil sie ohne Morphium nicht mehr sein konnten. Die neben Gliedmaßen im Krieg auch noch Ehen und Besitz verloren hatten. Nein, eine von diesen ehrlosen Kreaturen war sie nicht, sie hatte alles unter Kontrolle.

Trude zog die Laken von der Behandlungsliege und holte neue aus dem Schrank, steckte ihre Nase dabei in Doktor Klausens Ersatzhemden, die dort aufgereiht auf hölzernen Kleiderbügeln hingen und nach einer Mischung aus Waschmittel, Pfeifentabak und Formaldehyd rochen.

In einer halben Stunde würde ihr Bruder da sein, um sie abzuholen, weil er etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen hatte. Konnte ja nur um Senta gehen. Wie immer, wenn Trude ihrem Bruder Ulrich ein Ohr leihen musste, weil er mit keinem seiner Freunde darüber sprechen konnte.

Ulrich war das beste Beispiel dafür, wie die falsche Frau aus einem Mann eine Witzfigur machen konnte, und Trude hatte es von Anfang an gewusst. Dieses Mädchen, das sich ihrem Bruder an den Hals geworfen und sich von ihm ein Kind hatte machen lassen, seine Arglosigkeit ausgenutzt und auf seinen Edelmut gebaut hatte. Jeder hätte verstanden, wenn er sie nicht geheiratet hätte, die dunkle Bohnenstange ohne nennenswerte Familie. Keine Partie für einen wie ihn. Er hätte jede haben können und war doch dumm genug gewesen, hier den Ehrenmann zu spielen. Trude bekam sofort feuchte Augen bei dem Gedanken an die Hochzeit, hastig arrangiert, bevor man den Bauch zu deutlich sah. Senta mit ihren dämlich glotzenden Schwestern und der stillen Mutter, die sie so durchdringend angesehen hatte, als könnte sie Trudes Gedanken lesen. Alle in selbst genähten Kleidern aus billigem Tuch. Die sich an den Pasteten und den Spanferkeln satt gefressen hatten, die Ulrich spendiert hatte, schließlich gab es ja keinen Brautvater, der das hätte übernehmen können. Lumpenpack. Das nun zur Familie gehören sollte.

Kein halbes Jahr nach der Hochzeit war Mutter gestorben, zu groß war der Kummer über das Unglück des Sohnes, der so viel geopfert hatte fürs Vaterland und nun gebunden war an ein Mädchen, das nicht mal einen Haushalt führen konnte. Die die ungewaschene Wäsche aufbügelte und zurück in den Schrank legte, Trude hatte es selbst gesehen. Senta, wie sie mit erloschenem Blick und nachlässig hochgebundenen Haaren das Bügeleisen auf Ulrichs Hemden presste, als wollte sie jemanden bestrafen. Die nichts von dem rosigen Glimmen an sich hatte, das schwangere Frauen sonst umgab. Die in der Küche in Tränen ausbrach, weil ihr nichts gelang, nicht mal ein simples Schmorfleisch, und weil hinterher Töpfe und Pfannen verbrannt und verkrustet waren und alles in größter Unordnung war.

Und dann die Geburt. Da hatte ihr Ulrich ein Kind geschenkt und diese dumme Gans weigerte sich, es zu gebären. Trude hatte wirklich versucht, mit Senta schwesterlich zu sein, ihr Sympathie und Geduld und Großmut entgegenzubringen. Und natürlich hatte sie sich der Bitte ihres Bruders nicht verweigert, bei der Geburt zu helfen und der Hebamme zur Hand zu gehen, die sich alle Mühe gab, Senta zum Pressen zu bewegen. Aber nein, das Mädchen wimmerte und schrie sich lieber die Seele aus dem Leib, kein bisschen Würde und Anstand wahrte sie, so als wäre sie die erste Frau auf der Welt, die ein Kind bekam. Diesen völlig natürlichen Vorgang durch übertriebene Wehleidigkeit zu erschweren, das war typisch für Senta. Nach sieben Stunden in den Wehen hatte Trude durchgreifen müssen und Senta angeschrien, jetzt sei es aber mal gut, jetzt müsse sie eben etwas arbeiten für ihr Glück, verdammt noch mal, wo ihr doch sonst alles buchstäblich in den Schoß gefallen sei, und dann endlich, nur vier oder fünf Presswehen später, kam Evelyn.

Rot und schrumpelig und mit heiseren Schreien, die fast wie Fauchen klangen, hatte sie in Trudes Armen gelegen, während sich die Hebamme um die Nachgeburt kümmerte und Senta mit leeren Augen an die Wand guckte. Trude hatte das Mädchen gebadet und in ein Handtuch gewickelt und dabei ein altes Schlaflied gesummt. Das Kind hatte sie mit seinem milchigen Blick fixiert, und Trude hatte zurückgeschaut und gedacht: »Du solltest mir gehören«, bevor sie ihren Bruder aus der Küche holte. Der hatte dort nervös rauchend am Tisch gesessen und gewartet, und als Trude ihm sagte, dass es ein Mädchen sei, nahm er noch einen tiefen, resignierten letzten Zug.

Drei Jahre war das nun her. Drei Jahre, in denen Trude Senta beim Scheitern zusehen musste. Senta hatte erst zu wenig Milch, dann eine Brustentzündung, Evelyn schrie viel und Senta weinte stumm. Schaute ihr Kind an, als wüsste sie auch nicht, was ihr da nun eigentlich widerfahren war. Senta wickelte und badete und fütterte die kleine Evelyn zwar nicht lieblos, aber doch abwesend, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders. Und wenn Ulrich in der Nähe war, zwang sie sich zu freundlicher Heiterkeit, die ihr sofort aus dem Gesicht fiel, sobald er das Zimmer verließ. Senta spielte das Ehefrau- und Muttersein, so wie man als Kind »Familie« spielte. Sie verbarg sich. Nur einmal hatte Trude ihre Schwägerin so richtig gelöst gesehen und das war, als sie zufällig dabei war, als das Telefon klingelte und Senta mit roten Wangen und zitternder Stimme mit einer Freundin in Berlin gesprochen hatte, die da wohl schon seit einer Weile lebte – unter welchen Umständen, das mochte Trude sich gar nicht vorstellen, man hörte ja so einiges.

Evelyn dagegen war Trudes Augenstern. Optisch schlug sie mit ihren schwarzen Haaren zwar nach der Mutter, aber das Gemüt, den starken Charakter, den hatte sie vom Vater. Wie sie sich stundenlang friedlich in einer Ecke sitzend mit ihrer Puppe beschäftigen konnte, diese aber entschlossen verteidigte, wenn der Nachbarshund auf der Straße danach schnappte. Knapp drei Jahre alt und schon eine Kämpferin. Trude war absolut davon überzeugt, dass sie dem Kind die bessere Mutter gewesen wäre. Gut, das war nicht schwierig. Aber es war ja nun mal auch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass Senta all das häusliche Glück so gar nicht zu schätzen wusste. Sondern seit drei Jahren mit dieser sauertöpfischen Dumpfheit durch den Tag ging. Und keine Anstalten machte, erneut schwanger zu werden, so langsam wäre es ja nun an der Zeit.

Apropos Zeit: Der Hunger und die innere Unruhe waren nun nicht mehr zu leugnen, und länger aufschieben würde sie die Spritze nicht können, Ulrich würde sicher bald hier sein. Die Praxis war aufgeräumt und vorbereitet für den nächsten Tag, Trude hatte sich ihre Medizin mehr als verdient. Der schwere Sessel hinter Doktor Klausens Schreibtisch war der beste Platz, um den Stauschlauch festzuziehen und die Spritze zu setzen und den Kopf für eine Weile nach hinten in die Mulde zwischen Rückenlehne und Sesselohr zu schmiegen. Trude drückte sich die gelbliche Flüssigkeit in die linke Armbeuge, löste den Schlauch, den sie fest um ihren Oberarm gezogen hatte, und ließ sich in die Umarmung des Sessels fallen. Samtweiches goldenes Glück schwappte durch ihren Körper, nur kurz die Augen zumachen, dachte sie …

 

… nur kurz …