Beichten im Schatten - Bernhard Unger - E-Book

Beichten im Schatten E-Book

Bernhard Unger

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Beschreibung

Traunkirchen, ein idyllischer Ort am Traunsee – friedlich, still, verschneit. Doch unter der Oberfläche ruht ein Netz aus alten Sünden, verdrängter Schuld und unbeantworteten Beichten. Matthias Rainer, einst Pfarrer des Ortes, lebt zurückgezogen in seiner kleinen Wohnung am See. Seine Tage verbringt er mit einer alten Kladde – Aufzeichnungen von Beichten, die nie vergessen wurden. Als ein Mann aus seiner Vergangenheit tot aufgefunden wird, gerät sein Glaube an das Gute ins Wanken. War es Zufall? Oder göttliche Gerechtigkeit? Kommissar Leitner, einst Gendarm in Traunkirchen, kehrt zurück, um die rätselhaften Todesfälle zu untersuchen. Je tiefer er gräbt, desto deutlicher zeichnet sich ein Bild aus Schuld, Schweigen und Selbstjustiz. Zwischen alten Freunden und neuen Feinden sucht er nach der Wahrheit – und stößt auf Matthias' Vermächtnis. Als der Schnee über den Glockenturm fällt, enthüllt sich die Wahrheit: Nicht jede Beichte führt zur Erlösung. Und Gerechtigkeit hat viele Gesichter. Ein stiller, eindringlicher Kriminalroman über Schuld, Glaube und das, was zwischen den Zeilen der Menschlichkeit verborgen liegt.

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Seitenzahl: 142

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bernhard Unger

Beichten im Schatten

Ein Salzkammergut Krimi

Texte: © 2025 Copyright by Bernhard Unger

Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Bernhard Unger

Bildnachweis

Titelbild: Johanneskapelle in Traunkirchen mit Traunstein im Winter

Foto: Wolfgang Glock – bearbeitet von Bernhard Unger

Lizenz: CC BY-SA 4.0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Das Schweigen am See

Kapitel 2

Der Wald brennt

Kapitel 3

Das Wasser schweigt

Kapitel 4

Das goldene Schweigen

Kapitel 5

Der Sturz

Kapitel 6

Ermittlungen im Schnee

Kapitel 7

Schatten der Schuld

Kapitel 8

Unter Schnee begraben

Kapitel 9

Flammen im Herzen

Kapitel 10

Das letzte Urteil

Epilog

Das Vermächtnis

Rechtlicher Hinweis

Die schönsten Geschichten sind die,die du dir in deinem inneren Auge bildlich vorstellen kannst!

Bernhard Unger

Beichten im Schatten

Ein Salzkammergut Krimi

Krimi

Vorwort

Traunkirchen. Ein Ort, an dem die Zeit langsamer zu vergehen scheint, wo der Traunsee im Sommer glitzert und im Winter schweigt. Wer hier lebt, kennt die Stille – und auch die Schatten, die sie bergen kann.

Die Geschichte, die Sie nun in Händen halten, ist frei erfunden. Und doch trägt sie die Spuren dieses Ortes, die Erinnerungen an Menschen, die ich gesehen, gehört oder mir ausgemalt habe. Manche Orte und Wege gibt es wirklich, andere sind in der Fantasie entstanden.

Dieses Buch ist nicht nur ein Kriminalroman. Es ist eine Erzählung über Schuld und Schweigen, über die Macht von Erinnerungen und die Suche nach Gerechtigkeit.

Und es ist auch eine Liebeserklärung an den Traunsee, dessen Wasser mehr Geheimnisse kennt, als wir ahnen.

Kapitel 1 – Das Schweigen am See

Der Morgen über Traunkirchen begann still, fast feierlich. Nebel hing schwer über dem Traunsee, so dicht, dass die gegenüberliegenden Berge nur als graue Schatten zu erahnen waren. Der Traunstein ragte wie eine drohende Wand aus dem milchigen Weiß, und der Kirchturm von Johannesberg stach als einziger klarer Umriss in den Himmel.

Matthias Rainer stand am Fenster seines Hauses in der Klosterstraße, unweit der alten Stiftskirche, und starrte hinaus. Der Atem malte kleine Wolken auf die Scheibe. Die Hand lag auf dem Fensterbrett, das vom Regen der letzten Jahrzehnte dunkel und rau geworden war. Er spürte das Holz, als wäre es Haut.

Seit drei Jahren war er nicht mehr Pfarrer von Traunkirchen. Er hatte die Soutane abgelegt, war offiziell in Pension – und doch blieb er für die Menschen im Ort der Pfarrer. Manche grüßten ihn ehrfürchtig, andere tuschelten, wenn er vorbeiging. Doch die Kirche schwieg. Und er schwieg mit ihr.

Nur er wusste, dass er nicht mit leeren Händen aus dem Amt gegangen war.In einem ledergebundenen Buch – seiner Kladde – hatte er über drei Jahrzehnte hinweg die dunkelsten Geheimnisse seiner Gemeinde notiert. Nicht Wort für Wort, sondern in Andeutungen, Erinnerungsfetzen, Symbolen. Doch er brauchte nur hineinsehen, und jede Stimme kehrte zurück: jedes Geständnis, jede Träne, jedes Zittern im Beichtstuhl.

Heute schlug er das Buch an einer jener Stellen auf, die er immer wieder las. Ein Eintrag aus dem Jahr 1997.

„Feuer. Stadel. Versicherung. Schuld: verschwiegen. Opfer: vergessen.“

Seine Finger glitten über die vergilbte Seite. Sofort stand das Bild wieder vor ihm, als wäre es gestern gewesen.

Damals hatte Johann Wiesinger, Bauer und Fischer, in der Beichte geflüstert, er habe das Feuer selbst gelegt. Der alte Stadel stand leer, sagte er. Es sei nichts als Holz und Heu gewesen. Doch in seiner Stimme lag etwas, das nicht zur Entschuldigung passte. Ein Bruch, ein Zögern.

Wenige Wochen später kam es ans Licht: Ein Knecht, ein stiller Bursche aus Ebensee, hatte in jener Nacht im Stadel geschlafen. Betrunken vielleicht, oder einfach zu müde vom Tagwerk. Er kam nicht heraus. Er verbrannte im Feuer.

Das Dorf schwieg. Man sprach von „Unglück“, von „Gottes Wille“. Wiesinger bekam die Versicherungssumme, kaufte neue Boote, und bald lachte er wieder auf dem Markt, schenkte großzügig beim Fischerfest und tat so, als habe er den Tod nicht auf dem Gewissen.

Nur Matthias wusste es besser. Er hatte es gehört. Er hatte ihn losgesprochen.Und seit jenem Tag trug er die Schuld mit sich herum – nicht nur die Schuld Wiesingers, sondern auch die eigene: die Absolution, die er nie hätte geben dürfen.

Er zog den Mantel über, trat hinaus in die morgendliche Kälte. Die Klosterstraße war noch still, nur ein paar Katzen huschten zwischen den Häusern. Er ging hinunter zum See, vorbei an der kleinen Kapelle am Johannesberg, deren Glocke matt im Nebel läutete. Unten am Fischerweg sah er die ersten Männer, die ihre Boote vorbereiteten. Netze wurden ausgebreitet, Taue geknotet, Stimmen hallten gedämpft über das Wasser.

Und da stand er: Johann Wiesinger. Breit, stark, derbe Hände, das Gesicht rot vom Alkohol der Nacht. Er lachte, laut und selbstbewusst, während er ein Tau über den Steg warf.

Matthias blieb stehen, beobachtete ihn. Erinnerungen drängten sich auf – nicht nur das Geständnis im Beichtstuhl, sondern auch die Gesichter derer, die unter ihm gelitten hatten.Der Knecht im Stadel.Die Witwe, die keine Versicherung sah, weil ihr Mann „nur ein Arbeiter“ gewesen war.Die Blicke, die sagten: Er ist einer von uns, und wir halten zusammen.

Wiesinger spürte den Blick und drehte sich um. Für einen Moment huschte ein Schatten über sein Gesicht, dann legte er das breite Grinsen auf.

„Grüß Gott, Herr Rainer“, rief er und stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Grüß Gott, Johann.“

„Ein schöner Morgen, nicht?“

„Für manche.“

„Sie schauen mich an, als hätten Sie was auf dem Herzen.“

„Vielleicht trage ich es schon zu lange“, sagte Matthias leise.

Wiesinger lachte. „Dann legen S’ es doch ab. Sie sind doch kein Pfarrer mehr.“

„Manches legt man nicht ab.“

Sie standen einander gegenüber, das Wasser zwischen ihnen, Nebel über dem See. Dann wandte sich Wiesinger ab, zog am Tau, als sei damit alles gesagt.

Matthias ging weiter, hinauf zur alten Linde am Johannesberg, wo man den ganzen Ort überblicken konnte. Dort stand Anna. Sie hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, der Wind spielte mit den losen Strähnen.

„Du bist früh unterwegs“, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

„Ich wollte sehen, wie der See heute atmet.“

„Und, atmet er?“

„Er hält den Atem an.“

Sie sah ihn an, die Augen hell, aber wachsam. „Du hast wieder nicht geschlafen.“

„Ich habe geschrieben.“

„Deine Kladde?“

Er nickte.

„Du schreibst Dinge hinein, die dich kaputtmachen.“

„Vielleicht schreiben sie mich frei.“

Sie trat näher, legte ihm die Hand auf den Arm. „Matthias … es gibt Dinge, die ändern sich nicht von allein. Manchmal muss jemand handeln.“

Ihre Worte blieben wie eine Spur in ihm zurück. Er schwieg, doch er spürte, dass sie ihn verstand – vielleicht mehr, als er sich selbst verstand.

Der Nebel hatte sich gelichtet, und Traunkirchen erwachte. Auf dem Marktplatz vor dem alten Kloster standen die Stände wie an jedem Samstag: Käse aus Altmünster, Brot aus Ebensee, Obstkörbe aus Gmunden. Frauen mit Körben an den Armen plauderten, Kinder rannten zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch. Die Luft roch nach geräuchertem Fisch und nach frischen Semmeln, die in der kleinen Bäckerei am Ortsplatz gebacken wurden.

Matthias ging langsam über das Pflaster, den Mantelkragen hochgeschlagen. Manche nickten ihm zu, andere wechselten die Straßenseite. Für die einen war er noch immer „Herr Pfarrer“, für andere war er ein Schatten aus der Vergangenheit, der sie an Dinge erinnerte, die sie lieber vergessen hätten.

Er blieb am Brunnen stehen. Dort, stand auch Maria Wiesinger, Johanns Frau. Eine kräftige, schweigsame Frau, die ihre Schürze eng um die Hüften gebunden hatte. Sie wirkte stark und souverän, doch ein müder Schimmer lag in ihrem Blick.

„Grüß Gott, Frau Wiesinger“, sagte Matthias.

Sie blickte auf, musterte ihn kurz. „Grüß Gott, Herr Rainer.“

„Viel Arbeit heute?“

„Wie immer.“ Ihre Stimme war knapp.

Ein Kind lief lachend vorbei, stolperte fast gegen sie, sie wich aus, ohne das Lächeln zu erwidern.

Matthias wollte weitergehen, doch da hörte er, wie eine ältere Frau am Brunnen flüsterte, kaum hörbar, aber nah genug:„Damals, bei dem Brand … weißt du noch? Einer ist drin geblieben …“

„Sei still“, zischte eine andere. „Das war ein Unglück.“

Matthias’ Nackenhaare stellten sich auf. Da war es wieder: Das verdrängte Opfer, das namenlos in der Erde lag, während Wiesinger weiterlachte und Geschäfte machte.

Er ging weiter, vorbei an den Ständen. Überall tuschelten die Leute, über Preise, über Ernte, über Krankheiten. Doch immer wieder fiel sein Name, halblaut, abgebrochen, wenn er näherkam. Er wusste, dass sie ihn für einen Fremdkörper hielten – nicht mehr Pfarrer, nicht mehr Teil der Gemeinschaft, aber auch nicht wirklich draußen.

Am Rand des Marktes stand Anna, mit einem Korb in der Hand. Sie winkte ihm.

„Du siehst unruhig aus“, sagte sie, als er bei ihr war.

„Die Stimmen hier sind lauter als die Glocken.“

„Stimmen sind wie Messer. Manche schneiden, ohne dass man’s merkt.“

Sie reichte ihm ein Stück Brot aus ihrem Korb. „Iss. Du siehst aus, als hättest du nichts gegessen.“

Er nahm es, biss hinein, schmeckte das Salz im Teig. Es erinnerte ihn an frühere Zeiten, an gemeinsames Mahl nach der Messe, als er noch sicher war, dass Worte Heilung brachten.

„Manchmal frag ich mich“, murmelte er, „ob ich damals das Falsche gesagt habe.“

„Du hast gesagt, was dein Amt verlangt hat“, erwiderte Anna ruhig. „Aber das Amt schützt niemanden. Worte schützen niemanden. Nur Taten tun das.“

Ihre Augen blieben an ihm hängen, und er spürte, wie sie in ihm las, als sei er ein offenes Buch.

Später, als der Markt sich leerte, ging Matthias hinauf Richtung Johannesberg. Der Weg zog sich zwischen alten Häusern hindurch, vorbei an niedrigen Steinmauern, an denen sich Efeu festklammerte. Von oben sah man den ganzen Ort: den Marktplatz, den Fischerweg, die Boote am Steg.

Er setzte sich auf eine Bank unter der alten Linde. Der Wind fuhr durch die Zweige, Blätter fielen, als wollten sie die Erde mit Goldstaub bedecken. Matthias schlug die Kladde auf.

„Johann Wiesinger.Feuer gelegt. Versicherung kassiert. Opfer: Knecht, verbrannt.Das Dorf schweigt. Ich habe vergeben. Ich habe versagt.“

Er hielt inne. Das Geräusch des Sees drang zu ihm herauf, dumpf, unaufhaltsam. Dann schrieb er weiter:

„Wenn Schweigen Schuld ist, dann ist Schuld hier allgegenwärtig.Wenn Vergebung Verrat ist, dann bin ich Verräter.Doch es gibt eine Gerechtigkeit, die nicht im Himmel wartet.“

Er legte die Feder nieder, atmete schwer. Sein Blick fiel auf die Häuser am Fischerweg, wo Wiesinger gerade einen Sack aus dem Boot wuchtete. Er lachte wieder, dieses breite, unbeschwerte Lachen, das im ganzen Dorf zu hören war.

Matthias schloss die Kladde. Ein Entschluss wuchs in ihm, wie ein Samen, der im Dunkel schon lange gelegen hatte.

Der Nachmittag legte einen Schleier aus blassem Licht über Traunkirchen. Die Sonne fiel schräg über die Dächer und ließ die Pflastersteine am Ortsplatz glimmen, als wären sie frisch poliert. Auf der Esplanade, der Uferstraße, die den Ort mit dem See verband, herrschte geschäftiges Treiben: Kinder fuhren mit ihren Fahrrädern, Fischer zogen Boote an Land, und Touristen hielten die Kameras auf den Traunstein, der im Dunst wie ein Koloss stand.

Matthias ging den Weg entlang, den er seit Jahren kannte. Jeder Schritt war Erinnerung. Dort, am alten Bootshaus, hatte er unzählige Male Taufen gefeiert. Dort, am schmalen Pfad zur Johannesberg-Kapelle, hatte er Trauungen begleitet. Und dort, an der Stelle, wo sich die Straße gabelte, hatte er einst Franz Höller im Beichtstuhl sitzen gehabt.

Die Erinnerung kam mit Wucht zurück.

Höller, breit wie ein Bär, der Atem nach Bier und Rauch, die Hände nervös auf den Knien. Er hatte geflüstert, kaum hörbar:„Es war ein Unfall, Herr Pfarrer. Sie ist ausgerutscht. Ins Wasser gefallen.“

Doch Matthias hatte die blauen Flecken gesehen, die sie Wochen zuvor verborgen hatte. Höllers Frau war ertrunken, ja. Aber nicht, wie man es offiziell nannte – ein tragisches Unglück. Es war ein Unglück, das schon in seinen Händen begonnen hatte.

Matthias blieb stehen, als er Höller jetzt tatsächlich sah. Der Mann kam vom Wirtshaus, schwankte ein wenig, lachte laut, schlug einem Bekannten auf die Schulter. Als wäre nichts gewesen. Als hätte er nichts verloren – außer eine Frau, die zu still gewesen war, um sich zu wehren.

Höller sah Matthias, blieb einen Moment stehen, die Augen schmal. Dann grinste er, schob die Mütze tiefer ins Gesicht und ging weiter.

Ein kaltes Gefühl kroch Matthias den Rücken hinauf.

Später am Abend ging Matthias den steilen Weg Richtung Hochsteinalm ein Stück hinauf, nur bis zum Waldrand. Von hier hatte man einen weiten Blick über den See und das Dorf, und in der Ferne konnte man die Lichter von Gmunden erkennen. Er setzte sich auf einen Stein, die Kladde auf den Knien.

Er blätterte zu einem anderen Eintrag.„Karl Steiner. Ladenbau. Lieferungen, die nie ankamen. Gelder, die verschwanden. Versprechungen, die gebrochen wurden.“

Steiner, der angesehene Geschäftsmann im Ort, hatte nie offen gestanden. Aber Matthias hatte genug gehört, um zu wissen: Seine Gier hatte Familien ruiniert. Ein Bankkredit hier, eine verspätete Lieferung da – er hatte sich bereichert, während andere in Schulden versanken. Und wenn einer nicht zahlen konnte, fand Steiner Wege, ihn öffentlich bloßzustellen.

Matthias sah sein Gesicht vor sich, glatt rasiert, stets freundlich, ein Mann, dem jeder die Tür öffnete. Doch hinter der Fassade steckte ein kaltes Kalkül.

Er schrieb langsam in die Kladde:

„Höller: Wasser.Steiner: Schuld und Gold.Wiesinger: Feuer, bereits gerichtet.“

Dann hielt er inne, als hätte er etwas zu früh ausgesprochen. Denn noch war nichts geschehen. Noch lebten sie, lachten, gingen durchs Dorf wie Könige.

Er legte die Feder beiseite, schloss die Augen. Das Abendlicht wurde schwächer, und das Summen der Grillen wurde lauter.

In der Nacht wälzte Matthias sich in seinem Bett. Die Bilder der drei Männer gingen ihm nicht aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er Flammen, Wasser, Gold. Er sah das Opfer im Stadel, das niemand benannte. Er hörte die Schreie einer Frau, die im See verschwand. Er sah die Tränen der Familien, die Steiner ruiniert hatte.

Und jedes Mal hörte er auch Annas Stimme. Nicht laut, nicht eindringlich – nur wie ein Echo.

„Manchmal reicht es nicht zu vergeben. Manchmal muss jemand handeln.“

Er setzte sich auf, griff nach der Kladde und las die Worte, die er am Nachmittag geschrieben hatte. Er wiederholte sie flüsternd, wie ein Gebet.

„Feuer. Wasser. Schuld.“

Doch statt Ruhe brachte es Unruhe.

Und tief in ihm begann etwas zu wachsen, das er nicht mehr aufhalten konnte.

Die Nacht legte sich wie ein schwarzer Mantel über Traunkirchen. Nur die Laternen entlang der Esplanade warfen schwaches Licht auf das Pflaster, und aus dem Wirtshaus „Zum Fischerwirt“ drang noch Gelächter. Die Stimmen klangen gedämpft, als hätte der Nebel sie geschluckt.

Matthias saß an seinem Tisch, die Kladde geöffnet vor sich, daneben eine Kerze, die flackerte und lange Schatten an die Wände warf. Er schrieb mit langsamen Strichen:

„Johann Wiesinger.Das Feuer nahm einen Menschen.Das Dorf nannte es Unfall.Ich nannte es Vergebung.Doch was ist Vergebung anderes als Verrat, wenn sie das Opfer verschweigt?“

Er legte die Feder beiseite, faltete die Hände. Aber es war kein Gebet, das kam – nur Bilder.

Er sah wieder den jungen Knecht, den er kaum gekannt hatte. Einen stillen Burschen, der für einen Hungerlohn auf den Feldern schuftete. Seine Augen, die stets gesenkt waren. Die Hände voller Schwielen. Niemand nannte später seinen Namen, niemand stellte ein Kreuz für ihn auf.

Und er sah Wiesinger, wie er nach dem Brand das neue Boot kaufte. Wie er auf dem Markt Freibier ausgab. Wie er sich feiern ließ.

Ein bitteres Lächeln huschte über Matthias’ Gesicht.

Die Kerze flackerte stärker, als eine Brise durch den Raum zog. Die Tür öffnete sich. Anna stand da, ein Tuch um die Schultern geschlungen.

„Du bist noch wach“, sagte sie.

„Schlaf ist mir fremd geworden.“

Sie trat ein, setzte sich ihm gegenüber. Ihr Blick fiel auf die Kladde. „Du schreibst wieder.“

„Ich schreibe, was mich nicht loslässt.“

„Und was lässt dich nicht los?“

Er schwieg einen Moment, dann: „Das Feuer. Der Mann, der darin gestorben ist. Und der, der weiterlebt, als wäre nichts geschehen.“

Anna legte den Kopf schräg, sah ihn lange an. „Manchmal fordert die Welt einen Preis. Und manchmal zahlt niemand ihn.“

„Dann ist die Welt ungerecht.“

„Oder sie wartet auf jemanden, der die Rechnung stellt.“

Matthias hob den Blick. Ihre Augen funkelten im Kerzenlicht, klar und ruhig. Kein Zittern, kein Zögern.

„Du glaubst, ich sollte…“ Er stockte.

„Ich glaube gar nichts“, unterbrach sie sanft. „Ich weiß nur: Manches ändert sich nie, wenn niemand es ändert.“

Sie stand auf, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Iss morgen etwas. Schreib nicht nur Schuld. Schreib auch deine Wahrheit.“

Dann ging sie, so leise, wie sie gekommen war.

Die Nacht verging in Etappen. Matthias legte sich, stand wieder auf, ging ans Fenster. Der See lag schwarz, nur einzelne Lichter spiegelten sich auf der Oberfläche.

Er stellte sich vor, wie Wiesinger betrunken nach Hause ging. Wie er schwankte, wie er durch den Wald abkürzte, wie das Laub unter seinen Schritten raschelte. Matthias sah sich selbst im Schatten, Schritt für Schritt hinter ihm. Er sah, wie er die Streichhölzer in der Hand hielt, den Funken, der die Nacht entzweite.

Er wachte auf. Der Gedanke war so stark gewesen, dass er nicht wusste, ob er geschlafen oder schon gehandelt hatte. Seine Hände zitterten. Er griff nach der Kladde und schrieb:

„Feuer löscht kein Feuer. Aber Feuer spricht.Und ich werde seine Sprache sprechen.“