Beim Schrei des Falken - Achim Zons - E-Book

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Achim Zons

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Beschreibung

In Damaskus wird der Leibarzt von Baschar al-Assad erschossen, er ist schon das vierte Opfer aus dem engsten Umkreis des Diktators. Aber auch auf den Anführer der syrischen Opposition wird ein Anschlag verübt. Filmaufnahmen zeigen, dass sich der Journalist David Jakubowicz in nächster Nähe aufgehalten hat. Da ein deutsches Sicherheitsunternehmen in die Vorgänge involviert ist, beginnt Tilda Hansson, die Chefin der kleinen Anti-Terror-Abteilung des BND in Pullach, die Fäden zu entwirren. Denn alle Spuren deuten auf seinen Freund, einen untergetauchten Militärfotografen mit Decknamen Caesar.
Hansson findet Jakubowicz in einer Klinik in der Schweiz, wo der traumatisierte Journalist Heilung sucht. Was weiß er von den Anschlägen in Syrien? Und welche Interessen verfolgt der BND? Geht es nur darum, Oppositionelle zu schützen und Zeugen für die Verbrechen Assads zu finden? Oder gibt es noch ein anderes Kalkül? Während zwischen Jakubowicz und Hansson, die fasziniert voneinander sind, ein Katz-und-Maus-Spiel um die Wahrheit beginnt, geschieht das nächste Attentat, diesmal in der Schweiz ...
Von Hongkong über Damaskus und München bis in die Schweiz: Achim Zons erzählt mitreißend von Rache und Gerechtigkeit, Geldgier und Verrat. Und von der Liebe in kriegerischen Zeiten.

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Schrei des

Falken

Thriller

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Zum Buch

In Damaskus wird der Leibarzt von Baschar al-Assad erschossen, er ist schon das vierte Opfer aus dem engsten Umkreis des Diktators. Aber auch auf den Anführer der syrischen Opposition wird ein Anschlag verübt. Filmaufnahmen zeigen, dass sich der Journalist David Jakubowicz in nächster Nähe aufgehalten hat.

Da ein deutsches Sicherheitsunternehmen in die Vorgänge involviert ist, beginnt Tilda Hansson, die Chefin der kleinen Anti-Terror-Abteilung des BND in Pullach, die Fäden zu entwirren. Sie findet Jakubowicz in einer Klinik in der Schweiz, wo der traumatisierte Journalist Heilung sucht. Was weiß er von den Anschlägen in Syrien? Alle Spuren deuten auf seinen Freund, einen untergetauchten Militärfotografen mit Decknamen Caesar. Und welche Interessen verfolgt der BND? Geht es nur darum, Oppositionelle zu schützen und Zeugen für die Verbrechen Assads zu finden? Oder gibt es noch ein anderes Kalkül? Während zwischen Jakubowicz und Hansson, die fasziniert voneinander sind, ein Katz-und-Maus-Spiel um die Wahrheit beginnt, geschieht das nächste Attentat, diesmal in der Schweiz …

Von Hongkong über Damaskus und München bis in die Schweiz: Achim Zons erzählt mitreißend von Rache und Gerechtigkeit, Geldgier und Verrat. Und von der Liebe in kriegerischen Zeiten.

Über den Autor

Achim Zons arbeitete viele Jahre in verantwortlichen Positionen bei der «Süddeutschen Zeitung», schreibt Drehbücher für Fernsehspiele und Krimis und lebt in München. Bei C.H.Beck erschien sein Thriller «Wer die Hunde weckt» (2016).

Inhalt

ERSTER TEIL: Montag

Bucht am Mittelmeer

Psychiatrische Klinik

Emmas Hilfe

Wahrheit oder Lüge?

Hongkong, Stanley Prison

Achmed und Harun Tamimi

Emma Bricks

Das Dossier

Überwachung

Alex Khan

ZWEITER TEIL: Dienstag

Dr. Khalil

Birrfeld, Schweiz

Was ist richtig?

Emmas Auftrag

Helen Christensen

Hohenegg

Panda Books

Grausame Entdeckung

Eckkneipe

Der Anschlag

Abschied von Hongkong

DRITTER TEIL: Mittwoch

Pirgos

Spaziergang zum See

Saidnaya

Schrottplatz

Annäherung

Falsches Spiel

Martin Bruchhagen

Lynn Bramke

VIERTER TEIL: Donnerstag

Emma wacht auf

Triest

Krankenhaus

Tilda will es wissen

Im Bootshaus

Die Rettung

Abtauchen

Nacht der Entscheidung

FÜNFTER TEIL: Freitag

Genf

Interlaken

Schüsse

In den Bergen

SECHSTER TEIL: Samstag

Wengen

Turm

Hochsitz

Die Nachricht

Berlin

Im Zug

SIEBTER TEIL: Die Tage danach

Paul Jacoby

Letzte Ehre

Giesing

Verräterische Spuren

Der verletzte Hund

Tarnen und Täuschen

Comer See

Tilda & Emma

ACHTER TEIL: Finale

Der Kampf beginnt

Zeugenschutz

Babbila

Nichts geht mehr

Die Todesliste

Sylt

Nr. 11

Trügerischer Irrtum

Die ganze Wahrheit

Nachbemerkung

Danksagung

Für Rosi

ERSTER TEIL

Montag

Bucht am Mittelmeer

Das Geräusch eines auffliegenden Vogels ließ David Jakubowicz zu den Dünen blicken, zu einer Gruppe knorriger Bäume, unter denen der Junge verschwand, auf dem alle Hoffnungen ruhten. Obwohl ihn die Sonne blendete und er gerade dabei war, Yaras Töchtern die Rettungswesten anzulegen, hatte David gesehen, dass es Can war, Yaras vierzehnjähriger Sohn. Yara stand bereits unten am Wasser und beobachtete, wie die Ersten in das Boot stiegen, das unruhig schaukelte, während einer der Helfer den Tank füllte. Als David sich wieder umdrehte, war der Junge wie vom Erdboden verschluckt. Dabei hatte sich Can nur geschickt unter der freiliegenden Wurzel eines Christusdorns hindurch in eine Kuhle gekauert, sodass nichts mehr von ihm zu sehen war. Und wieder einen Blick später hatte der Junge bereits die winzige Nische mit Strauchwerk und Zweigresten verdeckt.

David schüttelte den Kopf. Was für ein sturer Kerl. Sie alle hatten in der zurückliegenden Woche mitbekommen, dass Can in Tadamon bleiben wollte, in seiner Heimat und bei Aleyna, seiner ersten Freundin, einer langhaarigen Schönheit mit schwarzen Augen. Dabei hing doch so viel von ihm ab. Von Tag zu Tag hatte er sich heftiger gesträubt, zuletzt nur noch geschwiegen, nichts mehr gegessen und sich in seinem Zimmer in der Nesrin Straße eingeschlossen, und je näher der Augenblick kam, an dem sie zu dem Strand nördlich von Tartus fahren wollten, umso wilder wurde Cans Gegenwehr. Am Ende schrie und kämpfte er, und nur weil Amir, sein Onkel, stärker war, saß er schließlich mit den anderen in Caesars klapprigem Toyota. Can fühlte sich als Mann, und als Mann wollte er zu Hause kämpfen, so wie die anderen Männer der Familie seit Jahren gegen die Ungerechtigkeiten in ihrer Heimat kämpften. Flucht war das Letzte, was für ihn infrage kam.

David schaute auf die Uhr, die Zeit wurde knapp. Die Boote hätten längst auf dem Meer sein müssen, die einheimischen Helfer drängten zur Eile. Sie wussten, was die Menschen erwartete. Der Weg hinüber nach Zypern war bei gutem Wetter in ein paar Stunden zu schaffen, aber in der Ferne sammelten sich dunkle Wolken. Laut Wetterbericht näherte sich eine Regenfront, lange Wellen trieben bereits schräg gegen den Strand. Aber noch waren nicht alle mit Schwimmwesten versorgt, die erst in letzter Minute von den Blackhawk-Leuten gebracht worden waren.

David hörte laute Rufe und erregte Stimmen unten am Wasser, wo sich die Ersten mit ihrem schmalen Gepäck bereit machten, in eins der beiden Boote zu klettern. Die hinten standen, drängelten sich vor, während die vorne von den Helfern und zwei westlich aussehenden Männern in Khakihosen und schusssicheren Westen zurückgehalten wurden. Alles war in Bewegung, Neuankömmlinge wollten sehen, was los war, Kinder schrien, die überwiegend jungen Männer schoben überreizt und aggressiv junge Frauen zur Seite, und ein alter Mann mit weißem Haar, der offenbar kaum etwas sah, wurde von einem Jungen durch das flache Wasser zu dem Boot geführt, wo ihm andere schließlich an Bord halfen.

Es war allerhöchste Zeit. David ging hinauf zu den flatternden Zelten aus Nylon und Segeltuch, zwischen denen Yara voller Ungeduld nach Can rief. Und während David durch den Sand zu dessen Versteck eilte, beobachtete er, wie oben ein Landcruiser über die Sandpiste näher kam. Er kannte den Wagen. Und auch den Fahrer, der langsam die Scheibe herunterließ und mit seinen Männern sprach. Es war Boris Renko.

David erstarrte. Renko? In dieser geheimen, versteckten Bucht? Düstere Gedanken bedrängten ihn, doch ihm fehlte die Zeit, ihnen nachzuhängen. Auf dem ersten Boot warteten die Menschen bereits. Sie waren so weit. Einer der Helfer warf dem Mann am Außenbordmotor die Leine zu, und das Boot löste sich vom Strand, während ein bärtiger, schwarzhaariger Mann mit einer verkrüppelten Hand die Köpfe der immer erregter werdenden Menschenmenge zu zählen versuchte.

David schob die Äste von Cans Versteck beiseite.

«Der Rucksack, Can. Wo ist er?»

Verstockt drückte sich der Junge in die Kuhle.

«Du solltest ihn doch keinen Moment aus den Augen lassen.»

Der Junge schüttelte den Kopf. «Ich komm nicht mit.»

«Du musst, Can. Du musst.»

Mit festem Griff zerrte David den Jungen unter der Wurzel hervor und schob den Widerspenstigen die Düne hinunter zum Wasser, wo Yara ihm eine Schwimmweste reichte. Der Junge schüttelte trotzig den Kopf, gab seinen Widerstand jedoch auf, als Yara sein Gesicht in die Hände nahm und ihn an sich zog. David hielt Cans Rucksack, auf dem eine Yogarolle befestigt war. Eine präparierte Yogarolle, in der eine McMillan steckte. Eine McMillan Tac-50. Ein Scharfschützengewehr, zerlegt und in Plastik eingeschweißt, elf Kilo schwer. Mit Tränen in den Augen zog Can die Weste an und legte den Rucksack mit der Rolle über seine Schulter. Kräftig, wie er war, spürte er das Gewicht kaum, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und sah aufs Meer hinaus.

«Beeilt euch!», rief David.

Sie liefen los, Yara, die drei Mädchen und Can, ihr Ältester. David mit weitem Schritt hinterher, als ob er die kleine Familie nach hinten absichern wollte. Doch hinter ihnen war niemand mehr. Und schon von Weitem konnte er erkennen, dass nichts leicht sein würde an diesem Tag. Als sie bei den Männern am Wasser ankamen, reckte der mit den schwarzen Haaren seine verkrüppelte Hand in die Höhe.

Zu spät. Das Boot war voll.

Yara stellte die Plastiktasche mit dem Allerwichtigsten für die Flucht in den Sand und erklärte mit flatternden Händen, dass sie zu den Ersten gehört hätten, die das Fluchtgeld bezahlt hatten. Dass sie aus Tadamon stammten. Dass sie zum Clan der Tamimis gehörten, zu der Familie, die bis vor wenigen Jahren selbst als Fluchthelfer in diesem Abschnitt des Landes gearbeitet hätte.

Das wirkte. Doch anders, als Yara es gedacht hatte.

«Fünfhundert Dollar», sagte der Mann.

«Wofür», fragte Yara mit zornfunkelnden Augen.

«Wir müssen fünf wieder aus dem Boot holen – oder wollt ihr, dass es bei der ersten Welle kentert?»

Yara erstarrte. Ihre Jüngste fing an zu weinen, und Can ballte die Fäuste.

David trat vor und hielt dem Mann fünfhundert Dollar hin, den größten Teil des Geldes, das er mit ins Land gebracht hatte. Wortlos wandte sich der Mann an seine Leute und zeigte auf das Boot, das sich unruhig auf den Wellen bewegte.

«Nehmt welche auf unserer Seite», rief er. Es war ein Kampf, denn die Ausgesuchten wehrten sich, doch am Ende waren fünf Plätze frei.

David rührte sich nicht vom Fleck, selbst als das Boot Fahrt aufnahm und langsam kleiner wurde. Yara winkte ihm zu, er konnte sehen, wie erleichtert sie war. Sie stieß ihre Töchter an, und da hoben auch die Mädchen ihre Hände. Nur Can blickte nicht zurück, trotzig starrte er nach vorn auf die endlose Weite des Wassers. Trotz des unberechenbaren Windes arbeitete sich das Boot durch die weißen Kämme, ein zweites, leeres Boot an einer Leine hinter sich her ziehend.

David stapfte den Strand hoch zu Amir und dessen Freunden. Renko und seine Leute waren verschwunden.

Dankbar schlug Amir David auf die Schulter und nahm ihn, den Fremden, der kein Fremder mehr war, in die Arme.

Es war gut, dass er mitgekommen war in diese einsame Bucht, dachte er und spürte einen Kloß im Hals. Er hatte sein Versprechen gehalten. Das war er Achmed schuldig gewesen.

Erleichtert atmete David auf.

Doch es war keine Erleichterung. Es war ein elendiges Stöhnen, das aus seiner Kehle drang.

Es war so laut, dass er schweißgebadet aufwachte.

Wieder einmal.

Psychiatrische Klinik

Drei Stunden später blitzten die bedrückenden Bilder noch immer durch seinen Kopf. Er sah wild um sich schlagende Arme, sah gelbe Schwimmwesten, die für immer im Dunkel des Wassers verschwanden, hörte die erbärmlichen, gurgelnden Schreie, sah den Brecher auf sich zurollen, der das kleine Mädchen und Can, den Jungen, gegen den Felsen schleuderte, blickte in die starren, leblosen Augen der beiden Kinder, die ihn anschauten, unbewegt … Er schüttelte den Kopf. Würde das jemals ein Ende haben?

Die Uhr zeigte auf fünf an diesem Montagmorgen, als er merkte, wie Olga, die Nachtschwester, in sein Zimmer blickte, das letzte Mal während ihrer Schicht. Ihr war das Licht unter seiner Tür aufgefallen, und das Bild, das sich ihr bot, festigte einmal mehr ihr Urteil über die Unvernunft dieses Patienten. Das Zimmer war dunkel, nur die Schreibtischlampe brannte und erleuchtete das Krankenhaus-Briefpapier, das vor David lag. Ein prüfender Blick in die Schale am Bett zeigte, dass der Patient wieder einmal seine Medikamente nicht genommen hatte. David Jakubowicz lag auch nicht im Bett, wie er sollte, sondern saß im Bademantel an dem Tisch am Fenster und hatte, so wie es aussah, die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sie hörte das leise schabende Geräusch eines Bleistifts. Offenbar bemühte sich der Mann, zu Papier zu bringen, was ihn hierhergebracht hatte. Das war einer von denen, die dachten, sie könnten sich selbst helfen. Kopfschüttelnd schloss sie leise wieder die Tür.

Als es hieß, dass die Leute vom Auslandsgeheimdienst mit ihm sprechen wollten, hatte David den diensthabenden Arzt gebeten, ihm einen Stapel Papier zur Verfügung zu stellen, und umgehend damit begonnen, seine Darstellung der Ereignisse um den Anschlag in Damaskus niederzuschreiben. Er wollte gewappnet sein, wenn die Besucher nach Namen, Daten und Zusammenhängen fragten – und möglicherweise wissen wollten, warum es ihn ausgerechnet von Hongkong nach Damaskus verschlagen hatte. Die Aktion auf dem Märtyrerplatz hatte zu insgesamt siebzehn Toten geführt, ein weltweiter Aufschrei war die Folge gewesen – und was dann geschah, hatte David so schwer traumatisiert, dass er sich erst jetzt, nach zwei Wochen Klinik, wieder zutraute, die vergangenen Monate gedanklich Revue passieren zu lassen. Vielleicht würde ja seine Version der Geschichte, unterschrieben und mit Datum versehen, irgendwann einmal von offizieller Stelle als Beweis gewertet werden, dass er, David Jakubowicz, absolut unschuldig war und von Anfang an nur gute Absichten gehabt hatte.

Nachdenklich blätterte er durch die Seiten, die er bereits beschrieben hatte, und fragte sich ein weiteres Mal, was genau sie wohl wollten, die Herrschaften aus Pullach und Berlin. Er war gelernter Journalist, kein Ermittler. Er hatte in Syrien keine Fakten recherchiert, hatte keine weltbewegenden Informationen gesammelt und schon gar keinen Einfluss auf das politische Geschehen genommen. Wie ein unbedarfter Tourist war er in die Geschichte hineingestolpert, hatte in Damaskus lediglich ein paar Menschen besucht, die mit einem Mann namens Achmed Tamimi zusammenhingen, den er unter ungewöhnlichen Umständen in Hongkong kennengelernt hatte – wegen einer alten Sache hatte er dort eine Gefängnisstrafe absitzen müssen. Warum also ließen sie ihn nicht in Ruhe? Gerade jetzt, wo er versuchte, Abstand zu finden von seinem Schmerz, seiner Wut, seiner Trauer?

Er warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Die Veränderungen waren nicht zu übersehen, die Zeit im Gefängnis war hart gewesen. Schmal war sein Gesicht geworden, was der um Mund und Kinn wuchernde Bart nicht zu verbergen vermochte. Die Ringe unter den Augen und die Furchen in den Augenwinkeln waren jedoch erst in den letzten Wochen hinzugekommen. Was er erlebt hatte, war die bislang härteste Prüfung seines Lebens gewesen. Die Folge: zu viel Alkohol gegen die Dämonen. Zu viele Aufputschmittel gegen die Erschöpfungszustände. Zu viele Drogen, um möglichst wenig zu empfinden.

David zog ein frisches Jeanshemd über sein hellgraues Unterhemd, schob eine Schachtel Zigaretten in die Tasche des Hemds, drückte wegen des heftigen Regens das Fenster seines Eckzimmers zu, krempelte die Ärmel hoch und fuhr sich durch die fast schulterlangen, grau durchwirkten schwarzen Haare. Dann verließ er das Zimmer. Die Tür schloss er nicht ab. Das Wichtigste, seine Aufzeichnungen, hatte er in einer braunen Mappe dabei.

Um Punkt zehn – draußen entlud sich gerade ein Gewitter mit heftigem Donnerschlag – betrat er das Büro des Verwaltungsdirektors der Klinik, das die Geheimdienstleute zu einem Verhörraum umfunktioniert hatten. Sie hatten die Lamellen vor der Glasfront zum Gang hin geschlossen und in dem winzigen Geviert von vielleicht sechzehn Quadratmetern drei Tische so angeordnet, dass jede Regung in den Gesichtern und auch geflüsterte Sätze wahrgenommen werden konnten. Zwei der Tische standen auf der einen Seite vor einem halbhohen Regal, auf dem Bücher, Ablagekästen und ein alter Drucker abgestellt waren. Darüber hing eine Pinnwand. Der dritte Tisch stand ihnen gegenüber. Auf allen Tischen waren Mikrofone aufgebaut und seitlich daneben eine Kamera, die auf einem Stativ steckte. Sie hatte den einzeln stehenden Stuhl im Fokus.

An den Tischen vor dem Aktenregal saßen ein Mann und eine Frau. Beide standen auf, als David hereinkam. Die Frau war schmal, blond und blass. Sie hatte farblose Wimpern und auf Nase, Wangen und Stirn Sommersprossen, ihre Haare hatte sie nachlässig hochgebunden, vorne fiel eine Strähne übers Auge. Etwas an ihr zog ihn gleich an.

«Herr Jakubowicz?», fragte sie. «Schön, dass Sie sich uns zur Verfügung stellen. Aber bei dem schrecklichen Wetter, denke ich, kann man ja eh nichts Besseres machen.»

Machte sie sich über ihn lustig? Er sah sie an: ein strenges, ebenmäßiges Gesicht, die Augen klar, das Kinn kräftig. Sie strahlte eine souverän wirkende Autorität aus in ihrem schlichten, schwarzen Strickkleid, das oberhalb des Knies endete. An dem Haken neben der Glastür hing ein heller Mantel. Nein, kein bisschen Spott in ihren Augen, sie schien wirklich der Ansicht zu sein, dass es ein Vergnügen für ihn war, hier in der Klinik verhört zu werden.

«Ich mag Regen», sagte er ein bisschen unsicher. Er hatte lange keine unbefangene Konversation mehr geführt.

Sie gab ihm die Hand mit einem zuverlässigen Händedruck. «Mein Name ist Tilda Hansson, ich bin die Leiterin einer Abteilung, die sich vor allem mit Verbrechen deutscher Staatsbürger im Ausland befasst. Und das ist Jonas Boldt, ein Verhörspezialist aus Berlin. Er ist gelernter Psychologe, was vielleicht von Nutzen sein kann.»

David nahm auch seine Hand, und er sah mit einem kurzen Blick, dass sie perfekt manikürt war. Der Druck war nicht so kräftig wie bei ihr.

«Von welcher Regierungsorganisation?», fragte er.

«Wir pflegen zu sagen, dass wir im weitesten Sinn für das Kanzleramt und das Außenministerium arbeiten», antwortete sie.

«Manchmal auch für das Verteidigungsministerium», fügte Jonas Boldt lächelnd hinzu. Beide schienen sehr entspannt zu sein.

David ging zu seinem Platz und legte die braune Mappe neben das Mikrofon. «Wo wollen wir anfangen?», fragte er, während er sich setzte.

Tilda zog eine Augenbraue hoch. «Meine Art ist es gewöhnlich, am Anfang zu beginnen.»

«Sehr schön», sagte er lächelnd. «Gute Strategie.»

Leichthin zeigte Tilda auf einige Warmhaltekannen, die an der Seite auf einer Anrichte standen. Über ihnen hing ein großer Flachbildschirm. «Dort sind Kaffee, Tee, heiße Milch. Nehmen Sie sich, was Sie wollen.»

«Später.»

«Sind Sie damit einverstanden, dass wir das Gespräch aufzeichnen?» Sie blickte ihn eine Spur zu lange an, fast ein wenig spöttisch.

David zuckte mit den Schultern. «Ich habe nicht erwartet, dass Sie fragen.»

«Natürlich fragen wir. Wir wollen Ihre Auskünfte ja verwerten.»

Sie ging hinüber zur Kamera, kontrollierte, ob sie David erfasste, und drückte auf den Startknopf. Ihre Schultern waren breiter, als David beim ersten Blick wahrgenommen hatte, auch ihr Gang betonte die Tüchtigkeit ihres Körpers. Sie war die mächtigste Person im Raum. Deshalb war es verblüffend, dass Jonas Boldt als Erster das Wort ergriff.

«Ähm, Herr …» Er konsultierte zur Sicherheit das vor ihm liegende Blatt. «… Jakubowicz. Was haben Sie gedacht, als dieser Fotograf Sie am Flughafen abholte?»

David hob abwehrend die Hände. «Noch einmal.»

«Erinnern Sie sich nicht mehr?»

«Ehrlich gesagt, nein.»

Tilda Hansson legte ihre Hand auf Boldts Arm.

«Kurz nur fürs Protokoll: Aussage von David Jakubowicz. 15. September, Privatklinik für Psychiatrie in Hohenegg am Zürichsee. Anwesend außerdem: Jonas Boldt und Tilda Hansson.»

Sie blickte David mit einem gewinnenden Lächeln an.

«Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht.»

Er zuckte mit den Schultern. «Es ist ein gutes Haus. Sie geben sich Mühe.»

«Fortschritte?»

«Wie man’s nimmt.»

«Was belastet Sie am meisten?»

«Die Schlaflosigkeit. Die aufblitzenden Bilder im Halbschlaf. Die unausweichliche Aussicht, dass alles noch schlimmer kommen wird.»

Tilda Hansson räusperte sich. «Darf ich schnell das Persönliche abhaken?»

«Wird nicht alles irgendwie persönlich sein?»

Sie ließ sich nicht beirren.

«David J. J. Jakubowicz, Alter 48, Journalist …», rasselte sie herunter. Sie zögerte. «Wofür steht das J. J.?», fragte sie, und ihre Neugier war offenbar echt.

«Eine Laune meines Vaters. Es ist zu albern.»

Tilda ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Verheiratet?»

«Vor langer Zeit einmal. Müssten Sie in Ihren Unterlagen haben.»

«Kinder?»

«Eine Tochter.»

Boldt und Hansson warfen sich einen kurzen Blick zu. Das war ihnen neu.

Tilda fuhr sich mit dem Zeigefinger über die rechte Augenbraue und schob langsam die Haarsträhne hinters Ohr, wo sie aber nicht lange verweilte.

«Name und Adresse der Tochter – nur der Vollständigkeit halber?»

«Kein Name, keine Adresse.»

Wenn diese ruppige Abwehr sie getroffen haben sollte, ließ sie es sich nicht anmerken.

David blickte sie bedauernd an. «Tut mir leid, Frau Hansson. Aber wir sind übereingekommen, das nicht öffentlich zu machen.»

«Wer ist wir?»

«Die Person und ich.»

«Das ist ungewöhnlich.»

David schüttelte den Kopf.

Sie wartete einen Moment, sah ihn an. Ein interessanter Mann, dachte sie, auf widerborstige Weise gut aussehend, hochgewachsen, schlaksig, wenn auch etwas verwahrlost. Aber wenn er die Haare geschnitten hätte, könnte man sich mit ihm sehen lassen. Sie wartete weiter. Obwohl die Pause wie eine Aufforderung wirkte, reagierte er nicht.

«Sie wohnen in Hongkong …» Erneut blickte sie ihm ohne Scheu direkt in die Augen. «Aber wir haben keine Adresse ermitteln können.»

«Ich bin nach meinem Gefängnisaufenthalt auf einem Hausboot untergekommen. Auf der westlichen Seite von Aberdeen Harbour.»

Sie hob fragend die Hände. «Sie kennen da jemanden?»

«Ja.»

«Darf ich …?»

«Nein. Hat nichts mit dieser Geschichte hier zu tun.»

«Eine Frau?»

«Schon möglich … Eine Frau, ein Mann, wenn wir noch mehr Geschlechter hätten, würde ich auch die aufzählen.»

Boldt lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er wirkte, als kümmere ihn Davids abwehrende Haltung nicht im Geringsten, seine Lässigkeit hatte fast etwas Provozierendes. Der eine Arm lag auf der Lehne, der andere war ausgestreckt. In der Hand hielt er einen Stift, mit dem er sachte auf den Tisch tippte.

«Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein, Herr Jakubowicz: Wir haben im Moment mit einem sehr … speziellen … äh … internationalen Problem zu kämpfen, bei dem es ein paar unerfreuliche … wie soll ich sagen … Lücken gibt …»

David schaute erwartungsvoll.

«… die Sie uns helfen könnten zu schließen.»

«Wenn Sie mir das zutrauen.»

Tilda blickte aufmerksam von Boldt zu David und wieder zurück zu Boldt. Sie hatte kein Problem damit, dass er die Ouvertüre bestritt.

«Haben Sie eine grobe Vorstellung», fuhr Boldt fort, «welche Lücken wir meinen könnten?»

«Ich kann nur raten: die Ereignisse in Damaskus?»

«General Shabaan sagt Ihnen also was?»

«Nein, tut mir leid.»

«Und Ali Khallouf oder Bouthaina Jawad? Haben Sie die Namen schon mal gehört?»

David hob bedauernd seine Hände und zuckte mit den Schultern. «Wird das eine Rätselstunde?»

Boldt verlor für einen kurzen Moment seinen freundlichen Gesichtsausdruck. «Haben Sie sich während Ihres Aufenthalts in Syrien wirklich keine Gedanken gemacht über die seltsamen Todesfälle im engsten Umkreis des Staatspräsidenten?»

«Nein, hab ich nicht. Welche Todesfälle?»

Boldt machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann sagte er: «Welche Ereignisse in Damaskus meinten Sie denn eben?»

«Den Anschlag in der Nähe des Märtyrerplatzes, bei dem der syrische Widerstandskämpfer Ismail Dscherba zu Tode kam.»

Boldt nickte bestätigend. Er war ein attraktiver Mann Ende dreißig in einem gut sitzenden Anzug. David schätzte, dass Boldt für seinen Anzug mehr als tausend Euro und für den Friseur mehr als hundert Euro ausgegeben hatte.

«Was meinen Sie, Herr Jakubowicz: Warum könnten Sie für uns in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein?»

«Ich weiß es nicht.»

«Die an den Brückenpfeilern baumelnden verstümmelten Männer haben Sie nicht gesehen, als Sie dort waren? Die Menschen haben in der Nacht nach dem Anschlag johlend und jubelnd getanzt.»

«Tut mir leid. Ich hatte keinen Handyempfang, habe also nicht mitbekommen, dass die Bilder von dem Mob um die Welt gingen. Ich habe mir die Sehenswürdigkeiten angesehen. Die Zitadelle, die Umayyaden-Moschee, die unglaublich eindrucksvolle Altstadt. Damaskus ist eine der ältesten Städte der Welt. Das kulturelle und religiöse Zentrum des Orients ist …»

«Ja, ja», unterbrach ihn Tilda Hansson und gab mit ihrem gedehnten Tonfall zu verstehen, dass sie keinen Wert auf weitere touristische Ausführungen legte. «Ich würde gern bei dem Anschlag verweilen. Ist das in Ordnung?»

«Nein.» David sah sie ruhig an. «Ich hatte Ihnen am Telefon gesagt, dass ich nur Zeit für Sie habe, wenn Sie mir sagen, worum es konkret geht. Was das Ziel dieser Befragung sein soll.»

«Später», sagte sie.

«Nein, Frau Hansson. Nicht später. Ich mag zwar nicht im allerbesten Zustand sein, aber so viel Kraft habe ich noch, darauf zu achten, dass wir fair miteinander umgehen.»

«Absolut, Herr Jakubowicz, absolut. Aber wir müssen erst wissen, was wir von Ihnen erwarten können, dann können wir Ihnen sagen, was uns zu Ihnen führt.»

David verharrte einen Moment unschlüssig, zog langsam seine braune Mappe zu sich und stand auf.

«Dann müssen wir das beenden.»

Die beiden sahen sich betroffen an. Für den Bruchteil eines Moments wussten sie nicht, wie sie reagieren sollten. Als Tilda jedoch merkte, dass Jakubowicz es ernst meinte, griff sie nach einem Foto in dem vor ihr liegenden Ordner.

«Moment noch, bitte», sagte sie, erhob sich und heftete das Foto an die Pinnwand über dem Sideboard. Auf ihm war ein trainierter Mann mit tätowierten Armen, militärisch kurz geschorenen Haaren und Dreitagebart zu sehen. Er hatte einen selbstbewussten Blick. Um den Hals trug er ein weißes Handtuch, so als käme er gerade vom Sport.

«Ich muss Ihnen nicht sagen, wer der Mann ist.»

David, der noch immer stand, schüttelte den Kopf. «Boris Renko, der Chef von Blackhawk Security.»

«Sie haben ihn nur wenige Tage nach dem Anschlag in Damaskus getroffen, nicht wahr?»

«Frau Hansson, bitte. Ich bin hier abgeschottet von der Außenwelt. Was ist passiert?»

Hansson blickte Boldt an und vergewisserte sich, dass auch er der Ansicht war, es nicht weiter darauf ankommen zu lassen.

«Herr Jakubowicz, haben Sie schon einmal etwas von der War Crimes Unit in Karlsruhe gehört?»

«Nein», sagte er und setzte sich langsam wieder.

«Gehört zur Bundesanwaltschaft. Diese Unit, dieses Referat, kümmert sich um die Aufklärung von Völkermorden und Menschheitsverbrechen. Das dortige Team ist, gemessen an der Aufgabe, eher klein. Deshalb sind wir um Mithilfe gebeten worden.»

«Um was genau herauszubekommen?»

«Können Sie sich das nicht denken? Jeder in Syrien, nein: die ganze Welt weiß, dass dort auf abscheulichste Weise gefoltert und gemordet wird. Aber beweisen kann man das den Schergen von Assads Polizei nicht, bisher wenigstens nicht. Die Folterknechte verbinden ihren Opfern die Augen und nutzen falsche Namen. Alles geschieht hinter hohen Mauern und verschlossenen Türen.»

«Und Sie wollen jetzt versuchen, die Folterer zu enttarnen? Aus 4000 Kilometern Entfernung?» Die Zweifel in Davids Worten waren unüberhörbar.

«Ja.» Tilda nickte ernst. «Wir sind vor allem hinter den obersten Verantwortlichen her. Um aber an die Chefs der Geheimdienstabteilungen zu gelangen, reichen keine Organigramme. Wir brauchen Beweise. Fotos. Namen. Dokumente. Befehle. Tatzeitpunkte. Bilder von Tatorten. Wir müssen die Verbrechen den Personen direkt zuordnen.»

David schaute skeptisch. «Das syrische Regime behauptet, die Fotos, die es von verstümmelten Menschen gibt, seien gestellt, die Gefolterten geschminkt, die Leichen Schauspieler. Alles sei ein Fake der Regimegegner.»

«Deshalb sind wir hier.» Tilda ließ David nicht los mit ihren kühlen grauen Augen. Warum zögerte dieser Mann, mit fliegenden Fahnen auf ihre Seite zu wechseln? Das, was sie und ihr Team vorhatten, musste ihm doch aus dem Herzen sprechen.

David blickte ungerührt. Schließlich fragte er: «Was macht Renko in diesem Zusammenhang?»

«Gegen Renko läuft in Berlin ein Ermittlungsverfahren», sagte sie. «Offiziell wegen Steuerhinterziehung. Wir … Wir denken aber, dass er von dem Anschlag am Märtyrerplatz wusste – und nichts dagegen unternommen hat. Renko hätte das Leben vieler Menschen retten können, hat es jedoch aus persönlichen Motiven nicht getan.»

«Tatsächlich?» David schaute zu Boldt, der nicht glücklich wirkte.

Tilda fuhr ungerührt fort. «Sie haben sicherlich von dem Verdacht gehört, dass General Faris al-Assad, Assads Halbbruder, nicht nur hinter dem gesamten Foltersystem steckt, sondern auch hinter dem Anschlag. Dscherba war schließlich der gefährlichste Gegner des Regimes. Und jetzt ist er tot.»

Sie pinnte das Foto von Dscherba rechts von Renko an die Wand. Es zeigte einen Mann Anfang sechzig mit randloser Brille und weißem Haarkranz um eine Halbglatze. Dann griff sie in ihre Mappe und entnahm ihr die Fotos von Baschar al-Assad und seinem Halbbruder Faris, dessen Gesicht etwas Rattenhaftes hatte. Beide Fotos heftete sie links neben Renko.

«Hier sehen wir das ganze Dilemma der syrischen Politik: Links die höchsten Vertreter der verhassten Diktatur, die definitiv zu den Hauptverantwortlichen der Verbrechen zu zählen sind. Rechts der Hoffnungsträger Ismail Dscherba, dem man eine Erneuerung des Landes zugetraut hat. Und in der Mitte ein deutscher Staatsbürger mit zweifelhaftem Ruf: Boris Renko.»

Boldt beugte sich zu seiner Nachbarin und sagte leise: «Tilda, wir sollten wieder mehr Fragen stellen.»

«Gleich.» Sie fixierte David. «Ich muss Ihnen nicht erklären, was das für das Ansehen Deutschlands bedeutet. Wie Sie wissen, nimmt Renkos Sicherheitsfirma in Syrien auch Aufgaben wahr, die früher klassische militärische Aufgaben waren. Wir suchen also nicht nur nach den obersten Hauptverantwortlichen, sondern es geht uns auch um Blackhawk.»

Boldt versuchte es noch einmal. «Tilda, bitte!»

Sie schüttelte den Kopf. «Es müsste also für jeden Deutschen absolut unzumutbar sein, wenn eine deutsche Sicherheitsfirma sich zum Instrument des Regimes und seiner Folterer machen lässt.»

Boldt biss die Zähne zusammen.

Jetzt schwieg auch Tilda.

David schob nach: «Und? Was bedrückt Sie da noch?»

«Wie kommen Sie darauf, dass uns noch was …?» Boldt schüttelte den Kopf.

«Na, wenn Sie das alles wissen, haben Sie diesen Renko mit seinem Dreitagebart doch an den Eiern.»

Tilda schüttelte den Kopf. «Leider ist der Zeuge verschwunden, der alles beweisen könnte. Es handelt sich um einen Militärfotografen. Der Name wird Ihnen geläufig sein: Harun Tamimi. Besser bekannt unter dem Decknamen Caesar.»

David hob die Hände. «Warum sollte er mir geläufig sein?»

«Wir wissen von ihm nichts außer seinem Namen …», begann Boldt.

«… das heißt, wir brauchen schnell ein möglichst genaues Profil von ihm», übernahm Tilda. «Unter Berücksichtigung seines beruflichen und privaten Werdegangs. Herkunft, Ausbildung, Charaktereigenschaften, Umfeld, Lebensumstände, Freunde, das ganze Programm. Wir brauchen Ansatzpunkte, anders haben wir keine Chance, ihn rechtzeitig ausfindig zu machen.»

«Rechtzeitig in Bezug auf was?»

«Caesar wird in seinem Heimatland als Verbrecher eingestuft», schnitt jetzt Boldt Tilda das Wort ab. «Das syrische Regime hat ein Kopfgeld von fünfhunderttausend Dollar auf ihn ausgesetzt. Ihm droht die Hinrichtung, falls man ihn erwischt.»

«Und da bin ich Ihnen eingefallen. Warum ich?»

«Weil wir Erkenntnisse haben, dass Sie in den Wochen vor Ihrem Nervenzusammenbruch mit ihm in Damaskus zusammen waren.»

David lehnte sich zurück. «Wann ist er Ihrer Meinung nach verschwunden?»

«Vor fünf Tagen», sagte Tilda. «Am Tag, bevor wir ihn über den Libanon nach Deutschland holen wollten. Ich war unten, in Anjar, sechzig Kilometer südöstlich von Beirut. Wir waren an der Grenze verabredet, ich hatte alles dabei. Papiere, Pass, Tickets. Einen Tag habe ich gewartet. Er kam nicht.»

«Und dann haben Sie noch ein paar Tage gebraucht, bis Sie auf mich gestoßen sind.»

«Ja. Bis wir jemanden gefunden haben, der uns sagen konnte, wo Sie sind.»

«Emma Bricks?»

Tilda nickte.

David schaute kurz nachdenklich auf seine Hände, dann drückte er sein Kreuz durch und machte Anstalten aufzustehen.

«Können wir kurz unterbrechen? In circa fünfzehn Minuten bin ich wieder hier – ist das okay?»

Tilda sah ihn ernst an. «Helfen Sie uns?», rief sie ihm nach.

«Ja», sagte er.

Emmas Hilfe

David verließ den Trakt der Klinikleitung und beschleunigte seine Schritte. Gleich zur Linken lagen die Gesellschaftsräume, in die er im Vorübergehen hineinsah. Sie waren leer. Zur Rechten, zwischen den Therapieräumen und dem großen Speisesaal, befand sich der weitläufige, dreigeschossige Teil des Gebäudes, in dem die Hausgäste unterkamen, bei denen sich die Klinikbetreiber auf einen längeren Aufenthalt einstellten. Die Zimmer waren geräumiger und komfortabler, außerdem hatten sie einen Blick auf den Park, der sich bis zur Straße am See erstreckte. Als David an einer Art Concierge-Loge vorbeikam, tauchte dort plötzlich ein Bediensteter auf, den David noch nie gesehen hatte. Der Mann hinkte leicht und hielt eine Zeitung in der Hand, und er wäre David nicht weiter aufgefallen, wäre er bei seinem Anblick nicht wie vom Donner gerührt stehen geblieben. Als sie aneinander vorbeigingen, besann sich der Mann und fragte: «Suchen Sie etwas Bestimmtes?»

«Sollte ich?»

«Entschuldigung», sagte der Mann und zog sich wieder in die Concierge-Loge zurück.

Geräuschlos eilte David über den Kokosläufer des breiten Korridors. Runde Milchglaslampen sandten warmes Licht von der Decke. Die Wände schimmerten cremig, was die weiche Atmosphäre unterstrich. Eine Krankenschwester zeigte sich in einer halb geöffneten Tür, war aber nicht diejenige, die David suchte. Keine zwei Minuten später hatte er Olga, die Nachtschwester, jedoch gefunden. Sie saß im Schwesternzimmer über einem Papierstapel und blickte ihn erstaunt an.

«Olga, könnte ich für fünfzehn Minuten Ihr Handy haben? Meine Batterie ist leer, und ich muss dringend ein Gespräch führen.»

Er legte einen Zehn-Euro-Schein vor sie auf den Tisch.

«Nicht nötig», sagte sie. «Ich habe eine Flatrate.»

«Dann nehmen Sie’s als Anzahlung für den nächsten Whisky, okay?»

«Okay», sagte sie lächelnd.

Er eilte den Gang hinunter, nahm auf dem Weg hinauf in den dritten Stock jeweils zwei Stufen auf einmal und betrat sein Eckzimmer. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, wählte er auch schon.

«Emma Bricks», hörte er. Die Stimme klang munter und aufgeweckt. Er schüttelte den Kopf. Emma weigerte sich nach wie vor, zuerst den Namen der Zeitung zu nennen, bevor sie sich zu erkennen gab. Andere mochten sich mit der Wichtigkeit und der Macht des Blattes aufwerten. Sie nicht.

«Ich bin’s», sagte er.

«Ah, David. Alles okay?»

«Kannst du mir einen Gefallen tun? Oder musst du gerade…?»

«Nein, leg los.»

«Schau doch mal über deinen Archivzugang, ob du was herausfinden kannst über einen Mann namens Jonas Boldt. Soll als Psychologe und Verhörspezialist in Berlin arbeiten, vermutlich beim Auslandsgeheimdienst. Mich würde interessieren, in welcher Abteilung. Welche Funktion er hat, wie lange er dort ist und in welchem Konkurrenzverhältnis er möglicherweise zur Leiterin der Anti-Terror-Abteilung in Pullach steht.»

«Hat diese Leiterin einen Namen?»

«Tilda Hansson.»

«Spezielle Wünsche?»

«Such nach Persönlichem. Nach Hintergründen. Nach Verbindungen zum Nahen Osten. Die beiden tun so, als ob sie ohne mich aufgeschmissen wären. Irgendetwas stimmt da nicht.»

«Willst du mir sagen, um was es geht?»

«Nein, Sweetheart. Zu gefährlich. Halte dich da bitte raus.»

«Ist mein Name gefallen?»

«Ja.»

Sie machte eine Pause, doch David sagte nichts weiter. Emma hatte längst begriffen, dass man eine Freundschaft am besten bekräftigte, indem man Abstand wahrte und akzeptierte, was der andere sagte. Bei David hatte sie zudem gelernt, sich umzudrehen und fortzugehen, wenn er ihr die Tür vor der Nase zumachte.

«Wissen die beiden, wie wir zueinander stehen?», fragte sie zögernd.

«Nein. Das geht sie auch nichts an.»

«Ist gut, David, ich leg los.» Er hörte, dass sie bereits tippte.

«Hast du eine neue Telefonnummer?», fragte sie in das Getippe hinein.

«Nein, das Handy ist geliehen.»

«Wie viel Zeit habe ich?»

«Bin noch knapp fünfzehn Minuten im Zimmer.»

«Okay.»

Er legte auf und trat an das Fenster, von dem aus er den Eingangsbereich der Klinik überblicken konnte. Das andere wies zum Park, der von alten, hohen Bäumen beherrscht wurde. David ging zum Nachttisch, öffnete die Schublade, drückte zwei Tabletten aus einer Aluminiumfolie in seine linke Hand und schluckte sie ohne Wasser. Einen Moment betrachtete er eine Spritze, die neben den Tabletten in der Schublade lag. Für Notfälle. Er holte sie heraus, betrachtete sie, zögerte und kämpfte einen Moment mit seinem Verlangen. Dann legte er sie zurück, zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett.

Er musste eingedöst sein, denn er schrak auf, als das Telefon klingelte. Emma legte sofort los. Das Ergebnis ihrer Blitzrecherche: Jonas Boldt war keineswegs nur irgendein Psychologe des BND, sondern der stellvertretende Leiter der Anti-Terror-Abteilung in Berlin, der mit achthundert Mitarbeitern mächtigsten Abteilung des Auslandsgeheimdienstes. Einer internen Quelle zufolge sollte Boldt zum Jahreswechsel die Leitung der Abteilung übernehmen, der bisherige Chef, ein Mann namens Luc Santer, gehe in Ruhestand.

«Wo kommt Boldt her?», unterbrach David ihren Redefluss.

«Geboren in der Nähe von Hamburg, im Alten Land. Boldt soll ein smarter Bursche sein. Ihm traut man alles zu, auch den Weg bis ganz nach oben. Und das in seinem Alter. Er ist erst achtunddreißig. Intelligent, skrupellos und überaus charmant.»

«Privat?»

«Lebt mit einem Mann zusammen.»

«Das findest du oft beim Geheimdienst.»

«Beim englischen vielleicht, aber beim deutschen?»

«Du hast recht, Emma. Und diese Tilda Hansson?»

«War lange die Kronprinzessin der Abteilung, zumindest, solange der Geheimdienst in Pullach residierte – bis Boldt ihr den Rang abgelaufen hat. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Sie blieb in Pullach, als der Laden insgesamt nach Berlin zog.»

«Was macht sie?»

«Sie leitet eine Abteilung, die offiziell zur Nachrichtenauswertung gehört, in Wirklichkeit aber in Konkurrenz steht zu Boldts Truppe. Offenbar ist es den obersten Kontrolleuren nicht ganz geheuer, die Macht komplett in Berlin zu bündeln.»

«Wer… wer sind die?»

«Vor allem Paul Jacoby, der Kanzleramtsminister, der die Geheimdienste koordiniert. Natürlich hat auch der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ein Auge auf den BND. Das Ziel ist mehr Transparenz durch Dezentralisierung. Du weißt schon, gegenseitige Kontrolle.»

«Also sind Boldt und Hansson nicht unbedingt beste Freunde.»

«Könnte man sagen, ja.»

«Hast du was Persönliches herausgefunden?»

Emma zögerte. «Hansson scheint einer dieser Menschen zu sein, über die man viel hört, von denen man aber nichts Genaues weiß. Drängt sich nicht nach vorne, hasst das Scheinwerferlicht. Eine Frau, die lieber hinter den Kulissen bleibt, wenn du weißt, was ich meine.»

«Du meinst, sie hat mehr Macht und Einfluss als viele, von denen man glaubt, dass sie Macht haben?»

«Ja. Scheint keine einfache Frau zu sein. Schreckt wohl auch nicht vor Gewalt zurück, wenn es sein muss. Hat offenbar eine Menge von dem, was man männliche Eigenschaften nennt.»

«Sieht man ihr nicht an.»

«In einem Bericht steht, dass sie zurückgeschlagen hat, als ein Mann sie tätlich angriff. Und sie wusste, wie. Er musste danach ins Krankenhaus.»

David hörte zu, wortlos.

«Sie soll sogar kein Problem damit haben, eine Flasche Whisky auf einmal zu trinken. Aber das, denke ich, ist mal wieder eine der üblichen Übertreibungen.»

David schwieg.

«Stand in der Bild.»

David schwieg noch immer.

«Bist du noch da?»

«Ja.»

«Und weil diese Tilda Hansson offenbar sehr fähig ist, hat man ihr einen eigenen Etat und ein paar Leute gegeben.»

«Wie viele?»

«Ich habe was von zwölf gelesen.»

«Was? Zwölf? Zwölf gegen achthundert?»

«Sieht so aus. Richtig luxuriös sind die nicht ausgestattet. Arbeiten in einer Art Baracke, direkt neben dem zentralen Kontrollraum des BND, dem technischen Hochleistungszentrum.»

«Warum das?»

«Die Abteilungen mit Ausnahme derjenigen, die was mit der technischen Überwachung zu tun haben, werden alle von Pullach abgezogen. Die meisten Gebäude sind schon platt gemacht. Nur noch diese Baracke und das IT-Zentrum stehen da. Also der sogenannte Signal-Intelligence-Kontrollraum. Von dort kann diese Hansson allerdings noch immer ihre Aktionen weltweit steuern, wenn sie will.»

«Sie war in Beirut, hast du gesagt?»

«Insgesamt zwölf Jahre. Dann war sie noch in Bagdad, Teheran, Damaskus, überall hat sie Informanten und Agenten gewonnen. Das scheint sie wirklich gut zu können: Menschen ausfindig machen, ihre Schwächen erkennen und sie dann umdrehen. Hängt wohl auch damit zusammen, dass sie Arabisch spricht.»

«Wie alt?»

«Einundvierzig.»

«Sie ist also nicht nur zuständig für zwielichtige deutsche Staatsbürger, die im Ausland krumme Geschäfte machen?»

«Vermutlich auch. Aber wie willst du das trennen, David? Die bösen Buben der nahöstlichen Diktaturen und die bösen deutschen Buben, die dort von den Kriegen profitieren.»

David schwieg einen Moment.

«Danke, Emma. Kann sein, dass ich dich noch mal brauche. Ich werde mir ein Prepaid-Handy besorgen und mit ständig neuer SIM-Karte anrufen. Wenn schriftlich, dann unter meinen früheren Mail-Adressen.»

«Kein Problem.»

«Klappt das mit dem Wagen?»

«Ich arbeite daran.»

«Sehr gut. Und bitte sei nicht irritiert, wenn ich dir was schicke mit der Bitte, es irgendwo sicher zu speichern. Machst du das?»

«Klar.»

«Bei dir sonst alles in Ordnung? Hast du viel zu tun?»

«Geht so. Heute Abend ist Bruchhagens Abschied. Wird also ein langer Abend.»

«Grüß ihn von mir. Er ist ein guter Mann.»

«Mach ich.»

Wahrheit oder Lüge?

Tilda Hansson schenkte sich gerade einen Kaffee ein, als David zurückkehrte. Auf den ersten Blick schien er unverändert zu sein, äußerlich war ihm nicht anzusehen, warum er das Gespräch unterbrochen hatte. Boldts Vermutung war gewesen, dass er ein Beruhigungsmittel brauchte. Oder etwas, um sich besser konzentrieren zu können. Vielleicht hatte er ja auch nur einen Termin mit einer Therapeutin abgesagt. Für sie zählte, dass er seine Bereitschaft angedeutet hatte, ihre Fragen zu beantworten.

Tilda schlenderte mit dem Kaffeebecher zu ihrem Platz, setzte sich und öffnete die vor ihr liegende Akte.

«Können wir?», fragte sie und trank einen Schluck, während sie David musterte. «Oder sollen wir noch etwas …?»

«Nein», sagte David. «Sie wissen, dass ich Ihnen nur bis Donnerstag zur Verfügung stehe.»

«Hat uns die Ärztin gesagt, ja.»

Boldt übernahm. «Herr Jakubowicz …»

«David.»

«Okay, David. Als Sie am 8. August in Damaskus landeten, wurden Sie am Flughafen von Harun Tamimi abgeholt, richtig?»

«Schon wieder meine Ankunft in Damaskus. Wer hat Ihnen diesen Unsinn erzählt?»

David griff in die Tasche seines Hemds, holte seine Zigaretten heraus und steckte sich eine in den Mund. Nahezu zeitgleich reagierten die beiden. «Würden Sie das bitte unterlassen», sagte Boldt. «Bitte nicht», sagte Hansson.

David zeigte auf die Zigarette und schüttelte den Kopf. «Tut mir leid.» Er entzündete ein Streichholz und ließ es kurz brennen, einige Zentimeter von der Zigarette entfernt. «Kommen Sie. Versauen Sie nicht gleich am Anfang die Stimmung.»

Er hielt die Flamme an die Zigarette und nahm einen kräftigen Zug. Dann stand er auf, ging zur Anrichte und griff nach einem Kaffeebecher, an dessen Rand er die Asche abklopfte. «Abgeholt hat mich ein Mann namens Samuel Rifka», sagte er dabei.

Tilda machte sich eine Notiz. «Hatten Sie diesen Samuel Rifka zum Flughafen bestellt?»

«Ich habe Sam vor vier Jahren bei meiner vorletzten Syrienreise kennengelernt, über Émile Dausset, einen Chirurgen. Sam ist mit Daussets Frau verwandt – ein furchtloser Typ, was sehr hilfreich ist in einem Land, in dem jeden Moment etwas in die Luft fliegen kann und sich die Grenzen in den Stadtvierteln täglich zwischen noch nicht gefährlich, gefährlich und absolut lebensgefährlich verschieben.»

David zog an seiner Zigarette und sah dem Rauch nach. «Sam war mal syrischer Landesmeister im Gewichtheben, und so sieht er auch aus: untersetzt, stämmig, muskulös. Spricht sehr gut Englisch und ist politisch gebildet, was ihn für einen Journalisten wie mich sehr wertvoll macht. Vor ein paar Jahren kannte ihn jeder im Land, weil er auch international erfolgreich war. Sam konnte sich immer mehr erlauben als andere, selbst nach der Dopingkontrolle, die seine Karriere beendet hat.»

«Weil sie positiv war», murmelte Tilda Hansson.

«Hhm.» David streifte die Asche am Rand des Bechers so ab, dass die Zigarette vorne spitz zulief. «Hat mich nie gestört. Auf der Liste der häufigsten Todesursachen steht der Anabolikamissbrauch in seinem Land eher weiter unten.»

«Was hat er gesagt, als er Sie sah? Hat er Sie gewarnt?»

«Salam, David.»

«Was?»

«Salam hat er gesagt, Salam, David. Und ich habe gesagt: «Wa alaikum assalam, Sam.»

«Und dann?» Boldt hatte eine steile Falte zwischen den Brauen.

«Erst was essen und dann ins Hotel?»

«Hat er gefragt», sagte Boldt.

«Ja.»

«Und Sie haben geantwortet?»

«Erst mal nichts essen, und erst mal auch nicht ins Hotel. Erst mal losfahren.»

«Hat wer gesagt?»

«Ich.»

«Und er dann?»

«Wohnst du wieder im Al Mamlouka?»

«Das sagte er als Nächstes?» Boldt schüttelte den Kopf.

«Was ist daran so ungewöhnlich? In nahezu jedem Krisengebiet, in dem ich als Auslandsreporter war, gibt es ein Hotel, in dessen Bar sich Journalisten, Waffenhändler, Entwicklungshelfer, Spione und Schwindler treffen, um mahagonifarbene Whiskys zu kippen. In Saigon ist es …»

«… das Continental», fiel Tilda ihm ins Wort.

David grinste bestätigend. «Und in Phnom Penh…?»

Sie hob die Arme. In Kambodscha war sie noch nicht gewesen. «Das Phnom?»

David nickte. «Für mich schon, ja. Und in Damaskus ist es eben das Al Mamlouka.»

Tilda beugte sich vor. «Und was haben Sie auf Rifkas Frage geantwortet?»

«Heute nicht, Sam. Heute will ich direkt nach Tadamon. In die Nesrin Street.»

«Wo schon seit Monaten die Frontlinie verläuft zwischen den Rebellen und Assads Elitetruppen?»

«Genau dahin, ja.»

Tilda legte den Kopf schräg. «Warum, David? Sie arbeiten seit Ihrem Afghanistan-Abenteuer nicht mehr als Journalist. Was wollten Sie in dem Rebellenviertel?»

«Die Situation erkunden, Bekannte besuchen, vielleicht sogar Freunde.» Er hielt inne, und die Pause wurde länger und länger. Offenbar hofften sie, dass da noch mehr kommen würde, wenn sie nur Geduld zeigten.

«In der Nesrin Straße», sagte Tilda schließlich.

David nickte.

«Wo Sie auch waren.»

«Ja.»

«Aber nicht mit Sam Rifka.»

«Nicht mit Sam, nein.»

«Sondern?»

David zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel und entzündete sie an der alten, deren Reste er noch zwischen den Lippen hielt. «Wollen wir nicht endlich zu Renko kommen? Ist er nicht der, über den Sie etwas hören wollen?»

«Später», sagte Tilda Hansson, und da sie merkte, dass Boldt etwas sagen wollte, hob sie leicht die Hand. Sie sah David aus ihren grauen Augen an und wiederholte: «Sondern?»

«Wir gingen durch die Ankunftshalle auf den Haupteingang zu, als Sam unvermittelt die Richtung änderte. So als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. Wir verließen das Flughafengebäude durch einen Seitenausgang, von dem aus wir rechts das Ende der Taxischlange sehen konnten. Sam sah nach links, wo eine Reihe Autos parkte. Er drückte auf seinen Autoschlüssel, und ich sah das Licht eines Wagens aufleuchten. Wir gingen hin, er öffnete mir die Beifahrertür, und ich setzte mich hinein. Sam blieb draußen.»

«Er gab Ihnen den Schlüssel und wollte, dass Sie den Wagen schon mal anließen?», sagte Boldt.

David musste grinsen. «Sam ist ein Freund. Das würde er nie verlangen. Außerdem blieb er neben dem Wagen stehen.»

Sie starrten ihn an. Aber sie wollten ihn nicht drängen.

«Hinten saß ein Mann, den ich schon beim Einsteigen bemerkt hatte. Er stieg wortlos aus, kam nach vorne, setzte sich hinters Steuer, startete den Wagen, und wir fuhren davon, nachdem wir Sam zum Abschied kurz zugewinkt hatten.»

«Harun Tamimi», sagte Tilda.

David nickte. «Der geheimnisvolle Harun Tamimi, ja. Caesar. Der Mann, auf den Sie offenbar vor ein paar Tagen an der libanesisch-syrischen Grenze gewartet haben. Ich sah ihn dort am Flughafen das erste Mal.»

David hielt inne. Er spürte die Aufregung, die Tilda erfasst hatte.

«Und Sie hielten das nicht für riskant?», fragte sie. «Sich ungefragt einem fremden Mann anzuvertrauen?»

«Nein. Ich kannte ihn ja gewissermaßen. Ich hatte viel von ihm gehört. Nächtelang, in meiner Zelle in Hongkong.»

«Wo Sie eine Strafe wegen Fahrerflucht abgesessen haben.»

David nickte. «Ich war sehr gespannt auf diesen Mann und sehr neugierig.»

«Was hat er gesagt?»

«Er ist in Damaskus, hat er gesagt. Es könnte klappen. Ich habe mit ihm gesprochen.»

Boldt schaute fragend zu Tilda. Die zuckte die Schultern.

«Wen … äh … meinte Caesar damit?»

«Na, Renko. Ich hatte Caesar von Hongkong aus gebeten, für mich einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Caesar war fünf Jahre bei Blackhawk, bevor er anfing, als Fotograf für das Assad-Regime zu arbeiten. Bei Blackhawk war er Übersetzer, Scharfschütze und am Ende Assistent und Fahrer des Chefs. Also von Renko. Eigentlich hat er dort alles gemacht. Caesar spricht fünf Sprachen.»

«Das wussten Sie?»

«Das wusste ich, ja.»

«Woher?»

«Wollen Sie das wirklich wissen?»

Hongkong, Stanley Prison

Der Tag, an dem David Jakubowicz in Hongkong Achmed Tamimi kennenlernte, schien ein Tag wie so viele zuvor zu sein. Erst am Nachmittag wurde ihm bewusst, dass er am folgenden Tag achtundvierzig Jahre alt werden würde. Am Abend dann, kurz nachdem er heruntergewürgt hatte, was in Stanley Prison für essbar gehalten wurde, tauchte Achmed Tamimi auf. Niemand hatte David gesagt, dass er einen Zellengenossen bekommen würde, und so war er völlig überrascht, als sich plötzlich die Stahltür öffnete und Tamimi, ein zweiunddreißigjähriger Mann aus Damaskus, die Zelle betrat. Mit ruckartigen Kopfbewegungen sah sich der Neuankömmling in der vier mal fünf Meter großen Gefängniszelle um, wobei sein Blick David nur streifte, als wäre er gar nicht anwesend. Er tat das so sorgfältig und mit einem so erstaunten Gesichtsausdruck, als hätte er sich eine Zelle völlig anders vorgestellt. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Ohne David zu beachten, schlich Tamimi zu seiner Pritsche, legte sein Bündel ab und kniete sich davor hin.

Davids Zelle lag im Zentraltrakt von Stanley Prison, dem ältesten und größten Gefängnis Hongkongs, dem Trakt, in dem vor allem Ausländer untergebracht werden. Neun Monate hatte David zu diesem Zeitpunkt von seiner Strafe bereits verbüßt, drei hatte er noch vor sich, und tief in seinem Inneren hatte er gehofft, diese restliche Zeit ohne einen Zellengenossen verbringen zu können. Diese Hoffnung war nun dahin, und am nächsten Morgen, nach den ersten gemeinsamen Stunden auf engstem Raum, war David der Verzweiflung nahe.

Von Anfang an kniete Tamimi mit dem Rücken zu David vor dem Bett und murmelte mit wiegendem Oberkörper Koranverse. Immer in der gleichen Tonlage. Die ganze Nacht über kniete er wie in Trance da und betete so laut, dass David fast wahnsinnig wurde. Er presste sich sein Kopfkissen auf den Kopf und versuchte, dem Gemurmel zu entgehen, um ein wenig schlafen zu können. Es ging nicht. Vorsichtige Versuche, seinen neuen Zellengenossen anzusprechen, blieben erfolglos, weshalb er innerlich Gott, Allah, den Weltenlenker oder wen auch immer verfluchte. Reichte es nicht, dass er, David Jakubowicz, für etwas in diesem Drecksloch saß, das er nicht getan hatte?

Um kurz nach sechs am nächsten Morgen – Achmed Tamimi kniete nach wie vor, den Kopf hatte er mittlerweile auf den Armen –, quälte sich David endlich hoch, um den Tag wie üblich damit zu beginnen, nach den beiden Spatzen zu sehen, die sich im toten Winkel der Überwachungskamera zwischen den Gitterstäben vor dem Fenster ein Nest gebaut hatten. Dieser achtundvierzigste Geburtstag war sein erster Geburtstag hinter Gittern, und David wollte gerade mit seinem morgendlichen Training beginnen – Kniebeugen, Liegestütze und zum Abschluss fünfzehn Minuten Schattenboxen –, als er aus den Augenwinkeln sah, wie Achmed aufstand, zum Spiegel am Waschbecken trat und sich minutenlang betrachtete. Zentimeter für Zentimeter schienen seine Augen das eigene Gesicht abzutasten. Zwischendurch neigte er langsam den Kopf zu der einen Seite, dann zur anderen, so als habe er sich selbst noch nie gesehen. Dann zog er mehrmals eine Grimasse, streckte seine Zunge hinaus, zog an seinem dichten, krausen, schwarzen Haar und drehte seine Ohrläppchen so heftig nach hinten, bis sie rot leuchteten.

David hielt inne, ließ die Arme sinken und starrte den anderen an.

«Bin ich das?», fragte der Mann und zeigte auf sein Gesicht im Spiegel. Er sprach Englisch.

«Wer sonst?»

«Ist der dort der, der gestern Abend hier zu dir gesperrt wurde?»

David schüttelte den Kopf. «Ist alles in Ordnung?»

Der Mann drehte sich zu ihm, und seine Augen tasteten mit erstauntem Ausdruck Davids Gesicht ab. Es war merkwürdig. Er sah David zwar unverwandt an, schien aber dessen Züge nicht als Ganzes wahrzunehmen. Er neigte den Kopf in verschiedene Richtungen, fixierte den vor ihm stehenden Mann mit abrupten Bewegungen, blickte auf dessen Nase, die Ohren, auf das Kinn und hinauf zu dessen rechtem Auge. Und da erkannte David den Unterschied: Achmed schien ihn nicht auf einmal zu sehen, sondern Stück für Stück, in Abschnitten.

«Darf ich?», fragte der Mann, streckte seine Hand aus und betastete die Haare an Davids Kinn.

«Ein Bart?», fragte er.

David wich zurück. «Was sonst?»

Der Mann griff nach Davids langen Haaren.

«Sind die immer so?»

David schlug die Hand weg. «Ja.» Er trat zurück und lehnte sich an seine Pritsche. Wenn man nur lange genug irgendwohin starrt, sieht am Ende alles seltsam aus, das wusste er. Aber das, was er da gerade erlebte, war anders.

«Was ist mit dir?», fragte er schließlich. «Kannst du nicht richtig sehen?»

Der Mann zuckte mit den Schultern. «Meine Augen sind in Ordnung. Aber mit meinem Sehzentrum scheint etwas nicht zu stimmen.»

Es war noch nicht Abend, da waren Davids sämtliche Mordgelüste verschwunden und sämtliche ausgedachten Todesarten vergessen. David hatte zwar seinen Frieden verloren, aber die Störung wurde mehr als wettgemacht durch die Abwechslung, die der neue Mithäftling ihm bot. Denn Achmed Tamimi, so sein Name, stellte sich als ein freundlicher Mann heraus, dessen melancholische, leicht verwirrte Züge Beschützerinstinkte bei David weckten. Achmed war gelernter Automechaniker, doch das war nicht der Beruf, von dem er spannend zu erzählen wusste, nachdem die ersten Berührungsängste überwunden waren. Er verdiente sein Geld mit einer Arbeit, die er meist bei Nacht und immer geheim erledigt hatte.

«Du bist ein Schlepper», sagte David, «einer dieser Menschenschmuggler…»

Achmed nickte. Er hatte in Syrien einer Bande von Schleusern angehört, die, wie meist in dieser Gegend, je nach Bedarf fünf bis acht Personen umfasste. Alle hatten zum Clan der Tamimis gehört. Ihr Einsatzbereich war – auf dem Landweg – die syrisch-türkische Grenze und – auf dem Seeweg – die Schmuggelroute von Syrien über Zypern bis hinauf nach Griechenland. Zweitausend Euro bekamen sie pro Kunde für den Seeweg, dreihundert für den Landweg. Das ernährte sie und ließ sie gut leben. Sogar ein Boot hatten sie sich anschaffen können, mit dem sie die Flüchtlinge in ihren Schlauchbooten bis nach Zypern begleiteten. Eine einträgliche Sache, jahrelang. Bis General Faris al-Assad auch Chef der syrischen Küstenwache wurde und ihnen das Leben zur Hölle machte.

Achmed hatte, während er das erzählte, auf seinem Bett gelegen. Jetzt richtete er sich auf, um seine Schuhe anzuziehen. Er schwang die Füße auf den Boden, bückte sich und tastete nach seinem Fuß. Dabei rutschte ihm das rechte Hosenbein herauf, und David sah eine großflächige Tätowierung aus arabischen Zeichen auf seinem Unterschenkel. Die Schuhe, die nur wenige Zentimeter entfernt standen, schien er nicht wahrzunehmen.

«Links», sagte David. «Da stehen sie.»

Irritiert suchte Achmed mit abrupten Bewegungen weiter, blieb aber immer wieder mit dem Blick an seinem rechten Fuß hängen.

«Ist das der Schuh?», fragte er.

«Nein, das ist dein Fuß. Dort ist dein Schuh.»

Spielte Tamimi diese Unbeholfenheit? War er verrückt? David stand auf und half dem jungen Syrer. Sehen konnte er, daran lag es nicht, denn als David ihm die Schuhe hinhielt, griff er entschlossen danach und zog sie an. Selbst die Schnürbänder waren kein Problem, seine Bewegungen waren flüssig und sicher. Es war offensichtlich: Achmed sah die Gegenstände, wusste aber nicht, was er sah. Irgendetwas in seinem Gehirn schien den üblichen, in Millisekunden ablaufenden Prozess der Zuordnung zu verhindern. Das Bild, das er sah, und das angereichert wurde mit dem, was er ertastete – dieses Bild vermochte er nicht mit den Bildern in seinem Gehirn abzugleichen. Er hatte in dem Bereich seines Gehirns, in dem die Umsetzung visueller Eindrücke stattfindet, offenbar kein Bild von einem Fuß oder einem Schuh in seiner Gesamtheit, sondern nur eine vage Vorstellung, die sich aus Einzelteilen und individuellen Details zusammensetzte.

«Wie lange hast du das schon?», fragte David. «Ich meine, diese Schwierigkeiten, Gegenstände zu erkennen?»

«Seit unserer letzten Aktion. Da haben sie mich erwischt.»

«Wer?»

«Die Grenzpolizei.»

Das Wort hallte in der dunklen Zelle nach, doch Achmed machte keine Anstalten, eine Erklärung nachzuschieben. David war geschickt genug, ihn in Ruhe zu lassen. Erst am Nachmittag, ein paar Stunden später, fragte er, so als sei ihm die Frage gerade eingefallen.

«Syrische Grenzpolizei?»

Achmed schwieg einen Moment, dann rappelte er sich hoch, schob ein Kissen zwischen Wand und Rücken und lehnte sich zurück.

«Wir brachten eine Gruppe von Flüchtlingen in der Nähe von Kasab über die türkische Grenze. Einsames, zerklüftetes Berggebiet, Wälder, Täler, Flüsse, keine festen Pfade, unmöglich in seiner Gesamtheit zu kontrollieren. Zwei Tage beobachteten wir, so wie wir es immer taten, die verschiedenen Fluchtwege und entschieden uns schließlich für einen in der Nähe der Küste. Von dort ist es nicht ganz so weit bis in den türkischen Ort Denizgören, wo ein paar Leute für uns arbeiteten. Alle Fluchthelfer haben Leute auf der anderen Seite, die Geld dafür bekommen, dass sie wegschauen oder helfen. In Denizgören sollten unsere Kunden von türkischen Schleppern übernommen und an die türkische Riviera gebracht werden, von wo sie versuchen konnten, auf eine griechische Insel zu gelangen.»

«Und da bist du ihnen in die Hände gefallen.»

«Moment, David. Du musst wissen, dass es wichtige Regeln gibt, die unsere Kunden beachten müssen, wenn wir bei Nacht die Grenze überqueren. Wir brauchen völlige Stille während der gesamten Operation. Absolute Stille. Dann darf es kein Licht geben. Ist alles nicht einfach, denn wir verteilen uns auf dem gesamten Weg und sind auf Handys angewiesen. Nur so können wir einander warnen.»

Achmed schwieg. Er rutschte nach vorne an die Bettkante, faltete die Hände, legte den Kopf darauf und schloss die Augen.

«Belastet wurde die Aktion dadurch», fuhr er schließlich fort, «dass wir eine schwangere Frau mit einem Kind dabeihatten, die in den Stachel eines Kaktus getreten war und wegen der entzündeten Wunde am Fuß nicht mehr mitkam. Ich blieb zurück, um ihr zu helfen. Normalerweise brauchen wir für den Weg fünf Stunden, doch wir drei – das Kind war fünf – waren nach sechs Stunden noch immer nicht in der Türkei. Es war schon hell, als wir endlich zu den anderen aufschlossen.»

«Waren deine Freunde weg?»

Er schüttelte den Kopf. «Wir haben unsere Kunden übergeben und sind zusammen zurück, natürlich auf verschiedenen Wegen. Zwei kamen durch, zwei wurden von türkischen Grenzbeamten erschossen, mich haben sie geschnappt, als ich einen Fluss durchquerte.»

«Also waren es syrische Grenzpolizisten.»

Er nickte. «Sie brachten mich nach Saidnaya. Dort wollten sie wissen, wer die anderen Mitglieder der Gruppe waren. Immer und immer wieder haben sie mich gefragt, tagelang.»

«Sie haben dich gefoltert.» Davids Worte klangen wie eine Feststellung und nicht wie eine Frage.

Achmed starrte vor sich hin. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Dann nickte er langsam.

«Kennst du diese alten Werkbänke, die Schreiner benutzen?», sagte er leise. «In die man Hölzer einklemmt, wenn man sie bearbeiten will? Da hinein spannten sie meinen Kopf, drehten an der Eisenstange und pressten die Wangen so weit zusammen, bis mein Schädel zu brechen drohte. Dann gingen sie weg.»