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Nie zuvor ist die Deutsche Allgemeine Zeitung in den Besitz solch brisanter Informationen gelangt: Ihr fällt die geheime Krankenakte des Ex-Präsidenten der Vereinigten Staaten in die Hände, der zu entnehmen ist, dass der einst mächtigste Mann der Welt an einem potenziell tödlichen Gendefekt leidet. Das ist eine Sensation angesichts der Tatsache, dass Adam Rycart verkündet, zur Wiederwahl antreten zu wollen. Für die Zeitung geht es um alles: Auf der einen Seite steht die Sensationsstory, auf der anderen droht infolge der Enthüllungen der wirtschaftliche Ruin. Denn es zeigt sich schnell, wie gefährlich es ist, den Ex-Präsidenten zum Gegner zu haben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Achim Zons
Von Schafen und Wölfen
Thriller
C.H.BECK
Cover
INHALT
Textbeginn
Titel
INHALT
Widmung
Motto
PROLOG
Die Entscheidung | Donnerstag, 18. Februar 2021, 8 Uhr
ERSTER TEIL – Zehn Tage zuvor
Entdeckt | Montag, 8. Februar, 21:33 Uhr
Die Explosion | Montag, 23:40 Uhr
Der Anruf | Dienstag, 9. Februar, 7 Uhr
Camp Nikolaus | Dienstag, 8 Uhr
Irina Semková | Dienstag, 8:30 Uhr
ZWEITER TEIL – Drei Monate zuvor
Piran | Mittwoch, 14. Oktober 2020, 13 Uhr
New York | Dienstag, 20. Oktober 2020, 10 Uhr
Lennart Forsberg | Montag, 8. Februar 2021, 8 Uhr
Alte Freunde | Montag, 8. Februar, 12 Uhr
Die Kladde | Montag, 13 Uhr
Ein Drink zu viel | Montag, 21 Uhr
DRITTER TEIL
Kopfschmerzen | Dienstag, 9. Februar 2021, 8 Uhr
Brandon Lee | Dienstag, 10 Uhr
Bilanz im Rycart Tower | Dienstag, 12 Uhr
The Factory | Dienstag, 19 Uhr
VIERTER TEIL
Bobby Meyer tobt | Mittwoch, 10. Februar, 16 Uhr
Die Erstürmung des Kapitols | Mittwoch, 18 Uhr
Der Hund | Mittwoch, 19 Uhr
Corpus & Anima | Mittwoch, 20:30 Uhr
Hoffnung | Mittwoch, 22 Uhr
FÜNFTER TEIL
Abducken | Donnerstag, 11. Februar, 7:30 Uhr
Das Leben auf der Straße | Donnerstag, 11 Uhr
Irinas Haus | Donnerstag, 12 Uhr
Tod in Washington | Donnerstag, 16 Uhr
Jenseits der roten Linie | Donnerstag, später Abend
SECHSTER TEIL
Spurensuche | Freitag, 12. Februar, 7 Uhr
Dr. Cahoj | Freitag, 12 Uhr
Piran | Freitag, 14 Uhr
Das Angebot | Freitag, 15 Uhr
Luka, der alte Freund | Samstagmorgen
SIEBTER TEIL
Überraschende Begegnung | Samstag, 13. Februar, 15 Uhr
Wo ist Brandon? | Samstag, 16 Uhr
Helens Quittung | Samstag, 17 Uhr
Unter der Reichenbachbrücke | Samstag, 18 Uhr
Der Fehler | Samstag, 19 Uhr
Anruf in der Nacht | Samstag, 23 Uhr
ACHTER TEIL
Aufräumen in New York | Montag, 15. Februar, 10 Uhr
Straße vor One Madison | Montag, 11 Uhr
Im Botanischen Garten | Montag, 12 Uhr
Alles vorbei | Montag, 16 Uhr
NEUNTER TEIL
Ein Baum wird gefällt | Dienstag, 16. Februar, 9 Uhr
Emma gesteht ihr Scheitern | Dienstag, 11 Uhr
Letztes Aufbäumen | Dienstag, 14 Uhr
ZEHNTER TEIL
Maddox’ Irrtum | Mittwoch, 17. Februar, 16 Uhr
Rebecca | Mittwoch, 16:30 Uhr
Begrüßung | Mittwoch, 18 Uhr
Der Tote am See | Mittwoch, 20 Uhr
Einbrecher | Mittwochnacht, 0 Uhr
ELFTER TEIL
Helens Entscheidung | Donnerstag, 18. Februar, 9:30 Uhr
Vor Helens Villa | Donnerstagabend, 20:30 Uhr
Erstarrt | Donnerstag, 21 Uhr
Das Gespräch | Donnerstag, 22 Uhr
Helens Läuterung | Donnerstag, 23:30 Uhr
ZWÖLFTER TEIL – Die Tage danach
Gretas Geheimnis | Sonntag, 28. Februar, 23 Uhr
Vergraben und Vergessen | Montag, 1. März, 11 Uhr
DANK
Zum Buch
Vita
Impressum
Für Rosi
Dies ist eine wahre Geschichte.
Nichts davon ist wirklich passiert.
Als Helen und David das Eckbüro betraten, war es Punkt acht. Dicht an dicht saßen die Ressortleiter und leitenden Mitarbeiter des Verlags auf Stühlen, auf dem Sofa, den Sesseln, zum Teil auf Fensterbänken und Heizkörpern. Helen Christensen, die Eigentümerin des Verlags, hatte hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen, David Jakubowicz, der Chefreporter, und Alex Khan, der Chefredakteur, rahmten sie ein.
Unverzüglich begann Helen Christensen mit ihren einführenden Bemerkungen. «Vielen Dank, dass Sie trotz des kurzen Vorlaufs zu dieser frühen Stunde hergekommen sind. Ihnen dürfte bekannt sein, dass wir eine Sache von äußerster Dringlichkeit verhandeln. Da morgen Nachmittag der Fusionsvertrag unterzeichnet werden soll, läuft uns die Zeit davon. Bedenken Sie das bitte bei allem, was Sie gleich sagen möchten.»
Helen war bekannt dafür, knapp und klar zu formulieren, weshalb ihre Konferenzen in der Regel nicht lange dauerten. Es war daher nicht überraschend, dass sie auch jetzt gleich zur Sache kam.
«Zunächst die Tatsachen. Wir sind seit gestern Abend im Besitz von Informationen, denen zufolge Adam Rycart, der abgewählte US-Präsident, an einer Erbkrankheit leidet, die bereits kurz vor seinem Amtsantritt vor vier Jahren im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchung entdeckt wurde. Rycart hat damals den Gendefekt nicht öffentlich gemacht. Die Beweise deuten nun darauf hin, dass er jetzt, vier Jahre später, seine Patientenakte mit den ihn belastenden Untersuchungsergebnissen verschwinden ließ. Und zwar aus dem Geheimarchiv des Kapitols just am 6. Januar, als der Mob das ehrwürdige Gebäude stürmte. Ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen gibt, wissen wir nicht. Noch nicht.»
Da David, ihr ältester Freund und Berater, den Anschein machte, etwas sagen zu wollen, legte Helen ihre Hand auf seinen Arm und fuhr fort: «Besonders wird Sie wohl interessieren, dass bei den gewalttätigen Aktionen am 6. Januar ein Mann eine zentrale Rolle spielte, hinter dem wir nun seit fast zwei Wochen her sind. Es handelt sich um den Zeugen, den Emma Bricks unter dem Namen Brandon Lee kennengelernt hat.» Sie blickte zu der jungen Frau, die sie kurz vor der Konferenz angerufen und hergebeten hatte. «Ohne Emma wären wir nicht im Besitz des brisanten Materials.»
Alle schauten zu der jungen Frau, die hinten auf einer Fensterbank saß. «Bisher sind wir davon ausgegangen», fuhr Helen fort, «dass uns dieser Brandon Lee einige bislang unbekannte Informationen über den Sturm aufs Kapitol liefern könnte. Jetzt aber haben wir Beweise, dass er in dem Chaos offenbar under cover einen ganz anderen Plan verfolgt hat: den Diebstahl der Krankenakte des Ex-Präsidenten. Nach unserer Kenntnis ist dieser Lee derjenige, der die Originalakte gestohlen und dann seinen Auftraggebern übergeben hat.»
Ruhig blickte sie in die Runde. «Woher wir das wissen?» Die Antwort gab sie sich selbst. «Brandon Lee ist am gestrigen Abend im Haus von David Jakubowicz gefunden worden. In seinem Hauswirtschaftsraum. Tot.»
Im Raum herrschte für ein paar Sekunden eine tiefe Stille. Dann entlud sich die Spannung, und alle redeten gleichzeitig. Und schon prasselten die Fragen auf Helen ein.
«Weiß Rycart von den Beweisen in unserem Besitz?»
«Ist die Polizei eingeschaltet?»
«Wo ist der tote Amerikaner jetzt?»
«Hat Bobby Meyers Ermordung etwas mit der Sache zu tun?»
Helen hob eine Hand, und sofort kehrte wieder Ruhe ein. «Ich weiß, die Elemente der Geschichte sind unwiderstehlich: im Zentrum der unberechenbare, irrlichternde Adam Rycart, dessen Karriere wir ein Ende setzen könnten. Darüber hinaus das persönliche Drama, dass er offenbar die Erbkrankheit an mindestens zwei seiner Kinder vererbt hat. Dann noch zwei Frauen, die Mütter dieser Kinder, die vermutlich nicht wussten, in welche Gefahr sie sich gebracht haben, als sie sich mit diesem Mann einließen. Und jetzt am Ende ein doppelter Wettlauf mit der Zeit. Rycart hat nur noch eine Chance, wiedergewählt zu werden. Und wir haben nur noch bis morgen Zeit, eine kluge, zukunftsweisende Entscheidung zu treffen. Und trotzdem …»
Sie ließ den Satz in der Schwebe, warf einen Blick in die Runde, und das Schweigen im Raum verdichtete sich. «Und trotzdem leitet mich letztlich die Frage, ob jeder hier die Lage vollständig begriffen hat.»
Alle schauten sie ernst an. Sie hatten den zweifelnden Unterton wahrgenommen.
«Denn meine Entscheidung, ob wir die geschilderten Informationen öffentlich machen oder nicht, hat Konsequenzen. Gravierende Konsequenzen.»
Sie räusperte sich. «Noch in der vergangenen Nacht habe ich mit Anthony Zara gesprochen. Er hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass es die Fusion nicht geben wird, wenn wir das Material verwerten.»
Jetzt schwoll das Gemurmel an. Und der eine oder andere sagte leise, dass das doch nicht die schlimmste Lösung des Dramas wäre.
Aber Helen war noch nicht fertig. «Zur ganzen Wahrheit gehört leider auch, dass in zwei Monaten der Dispositionskredit des Verlags für das Alltagsgeschäft ausläuft, was bedeutet, dass wir von da an die Gehälter nicht mehr zahlen können. Unsere Bank hat klargemacht, den Kredit ohne die Sicherheiten der Amerikaner nicht zu verlängern.»
Augenblicklich war es ruhig.
Aber nur für einen kurzen Moment. Denn Alex Khan, der Chefredakteur, ergriff das Wort. «Könnte eine Sensationsstory den Verlag retten?»
Helen nickte. «Die Vermarktung der Story könnte uns vielleicht retten. Aber nur, wenn wir absolut sicher sind, eventuelle Schadensersatzklagen nicht zu verlieren. Deshalb bitte ich ganz ernst um Ihren Rat. Kurz: Was sollen wir tun?»
Alle sammelten sich. Jedem war klar, dass es um viel ging, denn es gab keine Blaupause für diesen Moment.
Da hob Justitiar Mackenroth, ein Brillenträger in den Fünfzigern mit einem zarten, blassen Gesicht, höflich die Hand. «Dürfte ich …?»
«Selbstverständlich», rief Helen.
«Worin … Worin besteht konkret Rycarts Verfehlung?»
«Er hat die Bürger seines Landes über seinen Gesundheitszustand getäuscht und damit seine Wähler willentlich in die Irre geführt», antwortete David Jakubowicz.
Mackenroth faltete die Hände: «Wir müssen also unterscheiden zwischen dem Gendefekt des Ex-Präsidenten, der bei ihm bisher nicht zu einem schlimmen Ausbruch geführt hat. Und auf der anderen Seite der Erbübertragung auf einen oder mehrere Nachkommen.»
Helen bemerkte mit Genugtuung, wie Fritz Rosental, der Geschäftsführer, diskret mitschrieb.
«Genau», sagte sie.
Mackenroth fuhr fort. «Bleiben wir einen Moment bei der Falschaussage in Bezug auf den eigenen Gesundheitszustand. Diese Falschaussage ist, denke ich, juristisch unerheblich und lediglich moralisch fragwürdig, denn ein an einer Erbkrankheit leidender Präsident nimmt ja in Kauf, eine Amtszeit nicht durchhalten zu können. Das ist unverantwortlich. Aber … Aber wohl nicht strafbar.»
«Tatsächlich?», meldete sich Khan mit hochgezogenen Brauen.
«Ja. Denn es ist das fundamentale Recht eines jeden, medizinische Behandlungen zu verweigern. Einen Erwachsenen gegen seinen Willen zu behandeln, ist sogar strafbar. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass er eine Krankheit verschweigen darf.»
«Politisch allerdings wäre eine solche Führungsfigur so gut wie tot», warf Khan ein.
Irrelevant, dachte David reflexartig. Laut aber sagte er: «Wir müssen uns somit fragen: Wusste Rycart von dem in ihm schlummernden Gendefekt? Denn wenn er es nicht wusste, wäre auch er nur ein unwissendes Opfer.»
«Bis zur Untersuchung vor der Inauguration wäre er das vielleicht gewesen», sagte Mackenroth. «Aber danach war ihm bekannt, was er anrichtet. Das Untersuchungsergebnis war ja eindeutig.»
«Ist das juristisch von Belang?», ließ sich wieder Helen vernehmen.
Mackenroth reckte seinen Oberkörper. «Wenn Rycart über sich und seine Erbkrankheit Bescheid gewusst und trotzdem leichtfertig Nachkommen gezeugt hat, kann man von grober Fahrlässigkeit sprechen.»
«Dann müssten wir ihm aber nachweisen, dass ihm zum Zeitpunkt der Zeugung die Gefährlichkeit seines Handelns klar war.»
Alle nickten.
«Was ein Problem ist», vollendete Helen ihren Gedanken. «Denn all seine Nachkommen sind vor der Untersuchung und Entdeckung des Erbdefekts durch die Ärzte entstanden. Da frage ich mich doch, welchen Sinn es überhaupt haben könnte, dass wer auch immer die Dossiers verschwinden ließ?»
«Ganz einfach», sagte David. «Die Krankenakte enthält den Beweis, dass in Rycarts Körper eine Zeitbombe schlummert, wenn ich das mal so sagen darf. Denn wenn bekannt würde, dass er Träger des Huntington-Gens ist, könnte er seine Zukunftspläne begraben.»
Mackenroth nickte. «Und genau das bringt uns zum Kernpunkt aller Überlegungen: Reicht dieser logische Schluss als Beweis?»
Niemand rührte sich. Das war der Moment der Wahrheit, und alle schauten auf Helen. Es war ihr Verlag, ihr Geld, ihre Verantwortung. Und niemand konnte ihr jetzt helfen.
David räusperte sich, er hatte das längst erkannt. «Die Entscheidung liegt bei dir, Helen. Ich für meinen Teil … Ich wüsste, was ich mache.»
Zehn Tage zuvor
Meist ist ja vieles am Anfang einer Geschichte unklar, selbst der Zeitpunkt, an dem sie beginnt. Doch für Tilda Hansson, die angesehene Leiterin der Anti-Terror-Abteilung des BND, lässt sich der Beginn des Abenteuers auf die Minute genau bestimmen: Es begann am 8. Februar 2021 um 21:33 Uhr, als Minou, ihre beste Freundin, ein Stück Fugu-Sashimi aufschnitt.
Die beiden Frauen standen nebeneinander in Tildas Küche. Tilda beobachtete aufmerksam, wie Minou konzentriert drei Portionen auf die Teller drapierte, nachdem sie die giftigsten Körperteile der Kugelfische entfernt hatte.
Eigentlich war schon alles gesagt, aber sie wiederholten es noch einmal.
«Es geht also blitzschnell?»
«Nach zwanzig Minuten, ja.»
«Und es trifft alle?»
«Ein einziger Kugelfisch enthält genug Gift, um dreißig Menschen zu töten.»
«Oh.»
Minou nickte. «Wenn du merkst, dass etwas nicht stimmt, ist es zu spät.»
«Gegenmittel?»
«Es gibt keins, Tilda. Aber keine Sorge, das Gift greift nur die Nerven im Körper an, nicht das Gehirn.»
«Und ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen.»
Tilda ging ins Wohnzimmer zu Paul, Minous Freund, einem französischen Fotografen, der kulinarisch vor nichts zurückschreckte. Sie balancierte ein Tablett mit Gläsern und bat ihn, die Weinflasche zu öffnen, die in einem Kühler auf dem Tisch stand. Am Nachmittag hatte sie ein paar Flaschen eines sehr guten Grauburgunders besorgt und hoffte, dass dies nicht der letzte Wein sein würde, den sie zu sich nahm.
Es war keine gute Idee gewesen, ihren 44. Geburtstag mit einem kleinen Essen zu feiern, das war ihr jetzt klar. Und es war waghalsig gewesen, das Angebot ihrer Freundin anzunehmen, ihr zu Ehren einen Kugelfisch zuzubereiten. Ausgerechnet während einer geheimdienstlichen Operation. Denn Frieda, eine Mitarbeiterin aus Tildas Abteilung, hatte wenige Minuten, bevor Minou und Paul eingetroffen waren, angerufen und durchgegeben, dass sie den Aufenthaltsort ihrer Zielperson eingekreist hätten.
Frieda und Niklas bildeten eines der Beschatterteams, die im Moment rund um die Uhr beschäftigt waren. Seitdem sie einen Tipp aus Langley bekommen hatten und Tildas Anti-Terror-Abteilung Irina Semková observierte, waren drei Teams ständig im Einsatz. Tilda fürchtete manchmal, dass ihre Zielperson etwas gemerkt haben könnte, denn die plötzlichen Ortswechsel waren nicht normal für eine Frau, die als Fotomodell arbeitete. Doch zwischen Irinas Wohnung im Süden Münchens, ihrer Agentur in der Innenstadt und verschiedenen Shootings an pittoresken Orten des Voralpenlandes war Irina Semková immer wieder für ein paar Stunden von der Bildfläche verschwunden. Aber sie hatten sie stets wiedergefunden. Nicht zuletzt, weil sie ein paar Tage zuvor unter ihrem Sportwagen einen Transponder angebracht hatten. Der ermöglichte es ihnen, ihren Aufenthaltsort über den parkenden Wagen einzukreisen. Wo ihr Wagen war, da war auch Irina in der Nähe.
Tilda hoffte, dass man ihr die Anspannung nicht ansah. Der Anblick von Paul aber, der eben einen Schluck von dem Weißwein kostete und sich ganz offensichtlich auf einen unbeschwerten Abend freute, ließ sie an ihrem Timing zweifeln. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass sich ihre Operation ausgerechnet an diesem Abend zuspitzen würde.
«Hast du so was eigentlich schon öfter probiert?», fragte sie ihn. Er stand am Fenster ihrer Wohnung und blickte auf die erleuchteten Stände des Elisabethmarkts im Herzen Schwabings.
Er wusste sofort, was Tilda meinte. «Mach dir keine Sorgen. Minou war in Tokio mit einem Koch liiert, der eine Lizenz für Fugu hat. Es ist délicieux. Wirst du nie vergessen.»
Wenn es danach noch ein Erinnern gibt, dachte sie.
Da klingelte das Telefon in ihrem Arbeitszimmer. Paul sah ihr nach. Sah, wie sie sich an den Schreibtisch lehnte, auf dem Akten, Einsatzpläne und Landkarten lagen. Tilda verspürte eine flüchtige innere Unruhe. Neugier und Argwohn hielten sich die Waage, als sie auf das Telefon blickte und schließlich den Hörer abnahm.
«Ich glaube, wir haben sie», hörte sie Frieda sagen. «Moment», unterbrach sie sich. «Ich ruf gleich noch mal an. Ich seh nichts mehr.»
Tilda legte auf, blieb aber an ihrem Platz. Am Morgen hatten sie Irinas Alfa in dem Waldgebiet zwischen Wieskirche, Oberammergau und dem Forggensee geortet, Frieda und Niklas waren sofort hingefahren. Der Wagen stand in der Nähe eines Gebirgsflusses, nicht weit von einer Insel entfernt, um die ein Seitenarm des Lech herumfloss. Frieda und Niklas hatten in der Nähe des Wagens nicht nur eine einfache, ungesicherte Holzbrücke entdeckt, sondern auch einen Fußweg aus Kies und Felsen, der zu der Insel führte.
Als die beiden die Furt überquert hatten, waren sie auf ein paar Rumänen gestoßen, die in einem halb verfallenen Haus lebten. Die beiden Beschatter hatten ihre Ausweise gezeigt. Hatten Zimmer, Scheune und Keller inspiziert. Niklas hatte sogar ein altes Radio eingeschaltet und an den Knöpfen herumgedreht. Sie hatten nichts Ungewöhnliches gefunden und hatten sich wieder auf ihren Beobachtungsposten im Wagen zurückgezogen.
Das Telefon klingelte erneut.
«Und?», sagte Tilda.
«Der alte Rumäne hat sich gemeldet», sagte Frieda. «Sein Enkel hat einen Mann in den Wald hineingehen sehen.»
«Sicher, dass es ein Mann war?»
«Ja.»
«Prüft es nach. Ihr könnt mich jederzeit erreichen.»
Hoffentlich, dachte sie und blickte auf die offene Küchentür. Sie würde hinübergehen und Minou helfen müssen.
Doch da trat die schon in den Raum. Sie hatte drei Teller in der Hand, die sie auf den schön gedeckten Tisch stellte, auf dem Kerzen brannten. Auf den Tellern lag der Fisch, roh aufgeschnitten. Dazu ein einfacher Salat. Es sah überaus einladend aus.
Paul und Tilda setzten sich. Minou blieb stehen.
«Et voilà», sagte sie. «Wer mag anfangen?»
Er sah aus wie ein Waldarbeiter mit seiner tarnfarbenen Bundhose, den zahlreichen Taschen, der dunklen Weste und den Arbeitsstiefeln. Sein Motorrad, eine alte NSU, hatte er auf der anderen Seite des Flusses zurückgelassen. Die Nummernschilder hatte er unterwegs auf einem Schrottplatz geklaut, das Motorrad selbst hatte er am Nachmittag gestohlen. Es stand tief versteckt im Unterholz am Rand des Flusses.
Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht und absolut finster, denn der Mond hatte sich hinter tief hängenden Wolken versteckt. Mit dem Vollbart, der dunklen Spezialbrille und dem schwarzen Rollkragenpullover war der Mann schon aus wenigen Metern nicht mehr von den ihn umgebenden Bäumen zu unterscheiden.
Sein Name war Malik. Malik, der Farmer. Obwohl er auf einer Ranch in Wyoming aufgewachsen war, hatte seine Mutter ihm einen arabischen Namen gegeben. Es hatte sich ihm nie erschlossen, warum sie, die einfache Frau eines Ranchers, so fasziniert war von der arabischen Welt, die sie nie persönlich kennengelernt hatte. Schon im vorislamischen Arabien ließen sich Stammeschefs Malik rufen, hatte sie gelesen. Und dass in Armenien, wo immer das liegen mochte, Malik ein Adelstitel war. Als ihr Sohn in die Schule kam, nannten sie ihn deshalb den Araber. Doch das währte nur kurz, denn er war schon mit acht kräftiger als Gleichaltrige, sodass sie ihn bald in Ruhe ließen. Seine Größe, seine körperliche Überlegenheit waren so eindrucksvoll, dass er nie die Fähigkeit entwickeln musste, irgendwem etwas vorzumachen. Wenn man groß genug ist, kann man immer die Wahrheit sagen.
Malik war mittlerweile ein Mann mit vielen Namen, Gesichtern und Tarnungen. Und einer erstaunlichen Erfolgsquote. Natürlich hatte er einen Pass mit einem falschen Namen, und er war stolz darauf, dass seine Auftraggeber ihm zur Tarnung den Namen eines Generals gegeben hatten, der im amerikanischen Bürgerkrieg ein Held gewesen war und den man noch heute verehrte.
Zu Maliks Qualitäten zählten Geduld und Besonnenheit. Er strahlte etwas Fürsorgliches, Tapsiges aus. Seine Stimme überraschte viele, die eher helle Tonlage wirkte freundlich und entgegenkommend, doch ohne jede Spur von Unterwürfigkeit. Obwohl er ein Hüne war, hatten die Menschen keine Angst vor ihm. Was ihm stets geholfen hatte, schnell zuzuschlagen und keine Spuren zu hinterlassen.
Lautlos glitt er ein paar Bäume weiter nach vorn, näher an das Wohnmobil heran. Nicht das geringste Geräusch verriet ihn. Selbst der Hund, den er erst wenige Minuten zuvor unter dem Wohnmobil entdeckt hatte, hatte ihn nicht bemerkt. Durch ein kleines Infrarot-Fernglas hatte er gesehen, dass der Hund an einer Kette hing und keine Gefahr sein würde, solange er nicht bellte. Vorsichtig tastete er nach seiner Waffe. Wenn das Tier anschlug, musste er schnell reagieren.
Aufmerksam blickte er über die grasbewachsene Lichtung auf das nur zwanzig Meter entfernte Wohnmobil mit den beiden schwach erleuchteten Fenstern. Irina Semková befand sich darin, Malik hatte ihren Kopf kurz in einem der halb zugezogenen Fenster gesehen. Sie war eine schöne Frau mit einem offenen, sympathischen Gesicht, unter anderen Umständen hätte es ihm leidgetan, was sie zu erwarten hatte. Aber er hatte sich anerzogen, Gefühle auszublenden. Je weniger er sah, je weniger nah ihm die Zielperson kam, je weniger er sich mit ihr als Person beschäftigen musste, umso leichter war es für ihn, den Job professionell zu vollstrecken. Auch in den anderen Fällen, in denen er zu Hilfe gerufen worden war, hatte er nicht wissen wollen, warum seine Zielperson den Tod verdiente. Es reichte ihm, wenn seine Auftraggeber ihm versicherten, dass das Urteil unvermeidlich sei. Gefällt von Menschen, die sich die Entscheidung nicht leicht gemacht hatten.
Die Frau war nicht alleine, doch wer bei ihr war, das wusste er nicht. Vermutlich ein Mann, was er aus dem dunklen Gemurmel schloss, das zu ihm herausdrang. Das machte alles komplizierter. Denn dass es einen Zeugen geben würde, erschwerte den Auftrag. Wie er das Problem lösen würde, hatte er noch nicht entschieden. Vielleicht ergab sich ja eine Situation, in der er ohne Kollateralschaden zum Ziel kommen konnte. Er hasste es, wenn es Opfer außerhalb seines Auftrags gab. Das hieß, er musste geduldig sein und den richtigen Moment abpassen.
Ohne den Kopf zu bewegen, blickte er auf seine Armbanduhr. 23:47 Uhr. In den nächsten Minuten würde etwas passieren, was der Nullpunkt auf einer Zeitachse sein würde. Die Tat würde lange nachwirken und das Leben vieler verändern, nicht nur der Menschen, die er kannte, sondern auch das von anderen, die er nicht kannte. Der lange Weg hierher in die Einsamkeit, die Entbehrungen, das geschickte Einfädeln seiner Tarnung, das Zurechtfinden in einem ihm fremden Land in kürzester Zeit – das alles hatte er auf sich genommen, weil er akzeptierte, was andere ihm sagten. Außerdem war es sein Beruf. Ein sehr gut bezahlter Beruf.
Das Gemurmel in dem Wagen war lauter geworden. Gläser klirrten, eine Flasche zerbarst auf dem Boden, sie schien dem Mann aus der Hand geglitten zu sein. Reglos verharrte Malik hinter dem Baumstamm, den er sich als letzten Stützpunkt ausgesucht hatte, das dichte Unterholz um ihn herum gab ihm eine perfekte Deckung. An den Druck der Waffe – einer.22er Automatik mit aufgesetztem Schalldämpfer, die er in einem Holster unter dem Arm trug – hatte er sich gewöhnt.
Beides – Waffe und Schalldämpfer – hatten andere nach Deutschland gebracht, dafür hatte sein Auftraggeber gesorgt. Es waren auch andere gewesen, die Straßenkarten, Zeichnungen, Verhaltensregeln, gefälschte Papiere, Werkzeuge, Kleidungsstücke sowie Gegenstände wie das Fernglas und ein Navigationsgerät der neuesten Generation in verschiedenen Schließfächern im Hauptbahnhof eingeschlossen und ihm die Schlüssel dafür im Vorübergehen hatten zukommen lassen auf seinen ziellosen Wegen durch die Landeshauptstadt. Er war schließlich der Spezialist für die letzten Meter, der Zielläufer dieses sorgfältig geplanten Staffellaufs. Die Zuarbeit erledigten andere. Zuträger, die er nicht kannte und an die er sich bald nach den Begegnungen selbst dann nicht mehr erinnerte, wenn er sie flüchtig gesehen hatte.
Malik zog die Waffe heraus. Er musste die beiden herauslocken, er konnte nicht ewig warten.
Mit einem dumpfen Knall krachte eine Kugel in die Seitenwand des Wohnmobils, die schmutzige, weiße Haut des Wagens platzte auf. Und da sich noch immer niemand im Inneren des Fahrzeugs rührte, feuerte Malik zwei weitere Kugeln hinterher. Augenblicklich fing der Hund an zu bellen und zerrte an der Kette.
Da endlich ging die Tür des Wohnmobils auf, helles Licht fiel auf den Bereich vor der Treppe. Ein Mann stolperte heraus, er schien betrunken zu sein. Er war abgemagert, seine Kleidung schlotterte an seinem Körper, eine Brandwunde zog sich auf einer Seite seines Gesichts hinauf bis über den halben, kahlen Schädel. Malik hörte eine Frauenstimme. Die Frau rief dem Mann nach, er solle hereinkommen und sich nicht wie ein Kind benehmen, der Hund werde sich schon wieder beruhigen.
Doch der Mann torkelte weiter, beruhigte den Hund, bückte sich, öffnete hinten an dem Wohnmobil eine Klappe und zog einen Gartenschlauch aus einer Vertiefung – neugierig beobachtet von dem Tier, das jetzt erwartungsvoll jaulend um Aufmerksamkeit bettelte. Mit einer rüden Geste wehrte der Mann den Hund ab und schob das Ende des Schlauchs in das Auspuffrohr. Dann befestigte er das andere Ende in dem Lüftungseingang des Wagens, der sich unter dem Heckfenster befand. Anschließend ging er mit schweren Schritten nach vorne, kletterte hinter das Lenkrad, startete den Wagen, ließ den Motor laufen und torkelte mehr, als dass er ging, zurück zum Eingang an der Seite. Er verschwand und zog die Tür von innen zu.
Versonnen schaute Malik auf die Waffe in seiner Hand. Machte da jemand seinen Job? Sollte er einfach warten? Das Kohlenstoffmonoxid würde in kürzester Zeit seine Wirkung entfalten. Kaum hatte er begonnen, nach Erklärungen zu suchen, da schlug die Tür des Mobils erneut auf, und Irina Semková sprang heraus. Sie hatte das Kohlenmonoxid bemerkt.
Umgehend zog sie den Schlauch aus dem Auspuff und rief: «Du bist verrückt, Lennart. Ich werde dir nicht helfen. Heute nicht, und morgen auch nicht.»
Irina setzte sich in einen der einfachen Klappstühle und starrte trotzig in die Nacht, während man aus dem Wageninnern das Klappern von Flaschen vernahm.
Dann herrschte Stille.
Malik blickte auf die Uhr. Es war drei Minuten vor Mitternacht. Geduckt schlich er um das Mobil herum, doch als er es fast geschafft hatte, bellte der Hund erneut, diesmal, weil er ihn bemerkt hatte. Blitzschnell wirbelte Malik herum und feuerte zwei Kugeln, kaum zu hören wegen des Schalldämpfers, in die schwarze Kuhle unter dem Wagen. Das helle Splittern von berstendem Plastik war zu hören, offenbar hatte er den Hund nicht direkt getroffen, aber verletzt, denn der wimmerte nur noch leise.
Jetzt spürte Malik auch den Stich in der Wade. Bei seiner schnellen Drehung hatte er seinen Unterschenkel gegen einen Eisenstab gerammt, der aus dem Fahrgestell herausstand. Er achtete nicht weiter darauf, sondern schlich gebückt weiter, um die Fahrerkabine herum und sah Irina jetzt von hinten. Sie saß ungerührt auf einem der Campingstühle und schien darauf zu warten, dass der Mann im Inneren des Mobils wieder Ruhe gab.
Malik setzte das Ende des Schalldämpfers an den Hinterkopf der Frau und drückte zweimal kurz ab. Ihr Kopf sackte nach vorn. Dann bebten ihre Hände, und die Füße zuckten. Aus der Ferne sah es so aus, als habe sie der Schlaf übermannt. Sie wirkte wie eine Museumsbesucherin, die mit geneigtem Kopf andächtig die erste Baumreihe am Rande der Lichtung betrachtete.
Keine fünf Minuten später hatte Malik sein Werk vollendet. Er war in das Wohnmobil eingedrungen, hatte eine Kugel auf den Mann gefeuert, der schnarchend auf der Eckbank saß. Der Kopf, der am Fenster lehnte, rutschte langsam seitlich nach unten, bis er auf dem Tisch lag.
Malik schraubte den Schalldämpfer ab und verstaute die Waffe in dem Holster. Dann hievte er die Frau in das Wohnmobil, setzte sie neben den toten Mann, holte aus dem Kofferraum den Benzinkanister und verteilte dessen Inhalt im Wagen. Schließlich zog er eine aufgewickelte Zündschnur aus der Außentasche seiner Hose und steckte das eine Ende der Lunte von außen in den Tank des Mobils. Das andere schob er in den Reservekanister, in dem sich noch ein Rest Benzin befand. Den Kanister stellte er neben die Toten.
Ruhig ging er die vier Stufen hinunter. Nach ein paar Schritten drehte er sich um, zündete sein Feuerzeug an, drehte die Flamme hoch – und warf es durch die geöffnete Tür ins Innere des Wagens.
Blitzschnell breitete sich das Feuer aus, während Malik auf die schützenden Bäume zulief. Kaum war er hinter den ersten Stämmen angekommen, explodierte der Benzinkanister, und eine Feuersäule schoss in den Himmel. Kurz darauf explodierte der Tank des Wagens und wieder einige Sekunden später waren die Gasflaschen dran. Sie zerbarsten wie Bomben. Selbst über die hundert Meter, die Malik mittlerweile zurückgelegt hatte, spürte er die glühende Hitze und die brennenden Partikel auf seiner Haut. Ein glühendes Bruchstück traf seine Stirn. Kurz darauf bemerkte er neben dem kurzen, heißen Schmerz, wie etwas Feuchtes in die rechte Augenbraue lief. Offenbar Blut, das er achtlos wegwischte.
Als er unten an der Furt war, sah er, wie die Rumänen aus dem Haus stürzten und in Richtung Wald rannten, über dem der Widerschein der Flammen den Himmel erhellte.
Malik drehte sich um und schlug den Kragen seiner Weste hoch.
Dann lief er los.
Hohenried, am nächsten Morgen. Nasskaltes, diesiges Februarwetter, ein Tagesbeginn, der nichts Gutes versprach. David Jakubowicz stand mit einer Tasse Kaffee an der Fensterfront seiner Terrasse und schaute hinaus in Richtung der Berge. Nichts war von ihnen zu sehen, der Frühnebel hing tief, der See war nur zu erahnen. Er fühlte sich schlecht, die Bilder vom vergangenen Tag, Bilder des verletzten, verzweifelten und dennoch selbstbewusst auftrumpfenden ehemaligen Freundes, hatten ihn in der Nacht immer wieder hochschrecken lassen.
Gerade jetzt, an diesem Dienstagmorgen, lag es am allerwenigsten in seiner Absicht, zu spät zur Arbeit zu erscheinen. Doch die Mächte des Alltags schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. In der Nacht war sein Wecker stehen geblieben, und dann hatte er sich auch noch beim Rasieren am Kinn geschnitten. Als er auf die Uhr schaute, hatte er nur noch zwölf Minuten, um die Fähre zu erreichen, die ihn auf die andere Seite des Sees bringen würde.
Eilig verließ er das Haus. Vor dem Auftauchen des Besuchs aus New York musste er unbedingt noch mit Helen Christensen sprechen wegen der ungeklärten Punkte in dem Vertrag, den sie unterschreiben wollte. Der Tag selbst würde mit Arbeit vollgestopft sein. Der Tag, der, wie sich bald herausstellen sollte, sein Leben verändern würde.
Jakubowicz war stellvertretender Chefredakteur und Chefreporter der in München ansässigen Deutschen Allgemeinen Zeitung. Obwohl das Blatt eines der wichtigsten seriösen Medien des Landes war, kam es nicht aus seiner finanziellen Notlage heraus: zu viele hoch bezahlte Korrespondenten, zu streng der Maßstab, der an die Qualität der Texte angelegt wurde, zu hoch die Ansprüche an die Recherche und zu teuer die Dokumentationsabteilung, die mittlerweile jede zum Druck freigegebene Information einem kompromisslosen Faktencheck zu unterziehen hatte. Nicht zuletzt, weil Adam Rycart, der gerade abgewählte US-Präsident, die Welt mit seinen ständigen Lügen immer und immer wieder in Unruhe versetzte. Die Kehrseite all dieser zusätzlichen Bemühungen und Investitionen in Verlag und Redaktion waren wachsende rote Zahlen. Und nicht wenige fragten sich, ob die Zeitung noch zu retten sein würde.
Seit ein paar Wochen allerdings überschlugen sich die Ereignisse. Der New Yorker Medienkonzern Maddox Corporation des kanadischen Tycoons Rupert Maddox war bereit, die Hälfte des Verlags zu kaufen. Es wurde geraunt, dass das Angebot einzigartig sei, das frische Geld würde alle Sorgen auf einen Schlag vertreiben. Aber, verdammt – es war Rupert Maddox, von dem es kam. Ausgerechnet von dem Mann, der … –
In diesem Moment wurde Davids Gedankengang vom Klingelton seines Smartphones unterbrochen. Er schaute auf das Display und erkannte sofort, wer da anrief. Eine Person, die er sehr schätzte und doch gleichzeitig auch fürchtete. Und die er seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesprochen hatte.
«Nicht böse sein, Tilda», sagte er und tat so, als seien sie in einem ständigen Dialog. «Ich würde gern mit Ihnen reden. Aber ich gehe gerade an Bord einer Fähre. Gleich werden die Dieselmotoren lostuckern. Es wird laut werden.»
Er hörte ihr Lachen, das ihn sofort an Aufregendes erinnerte. Er hatte Tilda Hanssons Lachen immer sehr gemocht.
«Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich eine Überraschung für Sie habe», sagte sie. «Bei Ihrer Ankunft auf der anderen Seite des Sees wird ein Wagen auf Sie warten. Er wird Sie zu mir bringen. Ist das okay? Ich möchte Sie bitten, mir ein paar Minuten Ihrer Zeit zu schenken.»
«Tut mir leid, Tilda. Ich muss ins Büro. Ich bin eh schon spät dran.»
«Ich habe dort bereits angerufen und gesagt, dass Sie erst mittags kommen. Eine Frau Rösner war am Apparat.»
«Sind Sie … wahnsinnig? Sie können doch nicht einfach …»
«Doch, David, ich kann. Uns beschäftigt ein Fall von großer Tragweite. Und nach meiner Kenntnis sind Sie im Moment der Einzige, der helfen kann, ein größeres Unglück zu verhindern.»
«Was für ein Unglück?»
«Wir suchen eine Person, die Sie kennen.»
«Das hört sich verwirrend an.»
«Lassen Sie uns bitte nicht am Telefon darüber reden.»
«Ich befürchte, Sie sind diesmal auf dem Holzweg, Tilda. Mein spannendes Leben mit Diktatoren und Freiheitskämpfern liegt hinter mir.»
«Wir machen es diesmal eine Nummer kleiner, versprochen. Wir würden uns gerne mit Ihnen über Ihren Auftritt in der Buchhandlung Rauch & Kaiser am vergangenen Samstag unterhalten. Als Sie aus Ihrem neuen Buch gelesen haben … Wie war noch mal der schöne Titel? Die Erfindung der Wahrheit, richtig …?»
Sie hörte nichts mehr.
«David? Sind Sie noch dran?»
Sie hörte lediglich ein Rauschen. Und dann aus der Ferne ein undeutliches «Ja».
«Es wird ein kurzes Gespräch werden, David. Zwei, drei einfache Fragen von unserer Seite. Zwei, drei kurze Antworten von Ihnen. Und schon lassen wir Sie wieder in Ruhe und bringen Sie so schnell wie möglich in die Redaktion.»
«Tilda, Sie sind verrückt. Ich habe seit zwei Jahren nichts von Ihnen gehört – und jetzt plötzlich dieser Überfall.»
Sie lachte. Wieder dieses schöne Lachen. «Ja», sagte sie. «Ich bin auch erstaunt, dass wir wieder miteinander zu tun haben.»
Sie hielt eine Hand über ihr Telefon, und man hörte ihre und eine andere Stimme gedämpft im Hintergrund, sie schien kurz mit jemandem zu reden. «David», fuhr sie fort, «damit Sie es nachher leichter haben: Der Mann, der Sie abholt, trägt unter einem hellen Mantel einen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte. Bitte, seien Sie nett zu ihm. Er wird es auch sein, solange Sie das tun, was er von Ihnen verlangt. Und sagen Sie ihm auf keinen Fall, dass wir uns schon länger kennen.»
Als David kurz darauf die Fähre verließ, bemerkte er den Mann erst, als der ihn in seinem Rücken ansprach.
«Herr Jakubowicz?»
David fuhr herum. Ein Mann Mitte dreißig in einem hellen Regenmantel schaute ihn freundlich aus einem runden, glatt rasierten Gesicht an.
«Ich soll Ihnen einen schönen Gruß bestellen von der Frau, mit der Sie eben gesprochen haben.»
David betrachtete ihn von der Seite. Es war nicht zu erkennen, ob der Mann unter dem hellen Regenmantel einen schwarzen Anzug trug. Sie gingen die leicht schaukelnde Gangway hinunter. Beide machten am Ende einen kleinen Sprung, dann hatten sie festen Boden unter den Füßen.
David blieb stehen und zeigte zurück. «Waren Sie an Bord? Ich habe Sie gar nicht gesehen.»
«Das war Absicht», sagte der Mann. «Unser Wagen steht dort neben der Litfaßsäule. Sind Sie so nett und begleiten mich?»
Er wollte das Rätsel seiner Allgegenwart nicht auflösen, der Omnipräsenz oder Ubiquität, wie man etwas gewählter sagen könnte. Okay, dann eben nicht. Das war wohl das Spiel, das diese Leute vom Geheimdienst gerne spielten. Immerhin hatte Tilda einen luxuriösen Wagen geschickt. Eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben und einer Frontsichtkamera. Was natürlich nicht nur ein Akt der Höflichkeit war, wie David sich dachte, sondern ihrem Streben nach Kontrolle entsprach. Tilda und ihre Helfer hatten offenbar seinen Tagesablauf recherchiert. Wann er aufstand. Welche Fähre er nahm. Wann die Fähre auf der anderen Seite des Sees anlegen würde. Und sie wussten – vor allem Tilda wusste es –, dass David leichter zu überzeugen sein würde, etwas zu tun, was er nicht tun wollte, wenn er kaum Zeit zum Nachdenken hatte. Denn dann musste er improvisieren, was er hasste.
Als er es sich auf dem Rücksitz der Limousine bequem machte, bat ihn der Mann, sein Handy auszuschalten. Überraschenderweise war er so freundlich, nicht zu kontrollieren, ob David seinem Wunsch auch entsprach. Er schien darauf hingewiesen worden zu sein, dass der Besucher wohl eher als Freund kam denn als Feind.
«Haben Sie keine Angst, dass ich mir den Weg merke?», fragte David.
«Nein», sagte der Mann und steuerte vorsichtig aus der Parklücke.
«Meinen Sie nein, dass Sie keine Angst haben? Oder nein, dass ich mir den Weg merken könnte?»
«Wir haben generell keine Angst.»
«So wie Sie generell an zwei Orten gleichzeitig sein können?»
Der Mann schaute in den Rückspiegel und suchte Davids Augen. «Herr Jakubowicz, Sie gehen in Ihren Überlegungen von einer Gleichzeitigkeit aus. Das ist in diesem Fall nicht die klügste Prämisse. Ich habe vor ziemlich genau siebzig Minuten den Wagen neben der Litfaßsäule geparkt. Dann bin ich mit der Fähre um halb neun hinüber auf Ihre Seite des Sees gefahren und habe vom Schiff aus gesehen, wie Sie an Bord gehetzt kamen. Auf dem Weg zurück habe ich Sie dann in aller Ruhe beobachtet. Sie wirkten, wenn ich das sagen darf, etwas angespannt.»
«Kann sein, ja. Ich habe nicht die angenehmste Nacht hinter mir. Und der Tag davor war auch nicht besser.»
David ärgerte sich, dass ihm das Naheliegende nicht eingefallen war. «Ihre Chefin war offenbar überzeugt, dass ich bei Ihnen einsteige, noch bevor sie mich angerufen hat.»
«Bekommt sie nicht immer ihren Willen?»
David neigte zustimmend den Kopf. «Sie scheinen sie zu kennen.»
Dann beugte er sich nach vorn. «Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?» Da er keine Antwort bekam, fuhr er gleich fort. «Haben Sie sich eben nicht wenigstens kurz überlegt, mich wie in der guten alten Zeit niederzuschlagen und mir eine Kapuze über den Kopf zu ziehen? So was trainiert ihr doch. Es wäre gefahrlos gewesen. Ich bin nicht der Typ Mensch, der so etwas als Beleidigung empfindet.»
Der Chauffeur verzog keine Miene bei Davids im Plauderton vorgebrachter Bemerkung, es war also nicht zu erkennen, ob er keinen Humor hatte. Oder vielleicht sogar besonders viel. Also lehnte sich David wieder zurück und registrierte unauffällig die Strecke. Sie fuhren in Richtung Isar, in Grünwald ließen sie die Alte Brennerei links liegen, nicht lange danach bogen sie in einen kleinen, unbefestigten Weg, den er vermutlich nicht wiederfinden würde, denn es gab kein auffälliges Merkmal an der Abzweigung, lediglich ein paar verkrüppelte Bäume. Anschließend ging es auf unbefestigten Waldwegen ein paarmal nach links und dann wieder nach rechts, sodass auch die Himmelsrichtung nicht mehr zu erkennen war. Plötzlich bremste der Wagen, ein massives Eisentor in einer lang gezogenen Mauer öffnete sich wie von Geisterhand, und der knirschende Kies einer baumbestandenen Auffahrt kündigte das Ende ihrer Reise an. Genug Informationen, um diesen geheimen Ort mit ein wenig Geduld wiederzufinden, dachte David und stieg aus. Aber warum sollte er sich die Mühe machen? Die Turbulenzen im Verlag machten ihm mehr zu schaffen als dies hier. Denn dort hätte er jetzt sein müssen. Aber da sah er auch schon Tilda Hansson, die strahlend auf ihn zukam. Sie schien sich tatsächlich zu freuen, ihn wiederzusehen.
Als sie bei ihm angelangt war und er noch überlegte, ob sie sich bei ihrer letzten Begegnung umarmt hatten, hielt sie, die Chefin der Anti-Terror-Abteilung, David ihre schmale Hand hin.
«Ein hübsches Plätzchen haben Sie hier», sagte er und wies, nachdem er ihre Hand ergriffen hatte, mit einer ausladenden Geste auf die efeubewachsenen Mauern der alten Villa und die schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern.
«Damit Sie nicht allzu lange ahnungslos sind», antwortete sie lächelnd, «weise ich lieber gleich darauf hin, dass Sie historischen Boden betreten.»
«Nichts anderes habe ich erwartet.»
«Na ja, ich weiß nicht. Hitlers Privatsekretär Martin Bormann hat hier häufig übernachtet. Und nach dem Krieg hatte Reinhard Gehlen sein Büro im ersten Stock.»
«Oh», sagte David und blieb abrupt stehen. «Dann würde ich die Neuigkeiten lieber hier draußen erfahren. Wir könnten bei einem Spaziergang miteinander reden.»
«Nein, nein, das ist doch alles längst Geschichte, David. Kommen Sie. Immerhin hat die unrühmliche Vergangenheit dafür gesorgt, dass diese Villa nicht abgerissen wurde, als der gesamte Geheimdienst umzog.»
«Dann hat das Anwesen bestimmt auch einen Tarnnamen.»
«Ja. Camp Nikolaus.»
«Sehr schön. Und heute?»
«Heute finden Sie hier offiziell die Bundesvermögensverwaltung, Abteilung Sondervermögen.»
«Toller Name. Und wo ist der Luftschutzbunker? Für den Fall, dass die Chinesen uns überfallen?»
«Das haben wir Xi Jinping schon verraten, Sie brauchen es also nicht mehr zu wissen.»
«Wie aufmerksam.»
«Nicht wahr? Ich denke aber, wir werden ein gemütlicheres Zimmer finden, wo wir es uns bequem machen können», sagte sie und geleitete ihn ins Haus.
Keine zehn Minuten später war der entspannte Ton verschwunden. Dass es ernst wurde, erkannte David, als sie auf eine große Tür zugingen, durch die er Stimmengemurmel hörte. Sie betraten ein holzgetäfeltes Bibliothekszimmer, in dem zwei Männer und eine Frau auf sie warteten. Tilda zeigte kurz auf ihren Gast, der seinen Mantel an einen Garderobenständer hängte, sagte zu den anderen gewandt «David Jakubowicz» und wies auf einen Sessel inmitten des Raums. Offensichtlich war das der Platz, der für ihn reserviert war.
Während er sich setzte, nannte sie die Namen der Anwesenden, die David sofort wieder vergaß. Er war noch nie gut darin gewesen, sich Namen zu merken. Die Frau – sportlich, freundlich, Typ Verkäuferin in einem Fachgeschäft für Leuchtmittel – und ein Mann in Jeans und grauem Hoodie saßen seitlich an einem einfachen Tisch. Der andere Mann – er trug eine dunkle Krawatte und einen unauffälligen Anzug – lehnte an der Fensterbank und verschränkte die Arme, während Tilda hinter einem modernen Schreibtisch Platz nahm. Es war offenbar ihr Büro, das mit Ausnahme des Schreibtischs so wirkte, als sei es in den zurückliegenden Jahrzehnten kaum verändert worden.
Es herrschte Stille, während sie einander neugierig betrachteten. Schließlich hob David fragend die Hände und sagte: «Das alles meinetwegen?»
Tilda nickte. «Ja. Heute sind Sie unser wichtigster Gast.»
Sie zog eine Art Fernbedienung aus einer Vertiefung und drückte auf einen Knopf. «Ist es okay, wenn ich kurz die Eckdaten festhalte? Sie kennen das Prozedere ja …»
«Mikrofone? Kameras?» Er schaute suchend um sich.
Lächelnd nickte sie. «Ein paar Geheimnisse müssen Sie uns schon noch lassen.»
Sie zog ein Mikrofon heran und murmelte: «Dienstag, 9. Februar. Gespräch mit dem Journalisten David Jakubowicz im Büro von Tilda Hansson. Anwesend: Walter von der Abteilung 10/2 sowie Frieda und Niklas von der externen Exekutive. Beginn: 8 Uhr 45.»
Sie griff nach einem DIN-A4-Blatt und legte es vor sich. Kurz überlegte sie, wie sie beginnen sollte.
David nahm ihr die Entscheidung ab. «Hatten Sie nicht gesagt, das werde nur ein kleines Gespräch?»
«Wird es, David. Wird es.»
«Sie und drei Leute. So viel Sachverstand für ein paar Fragen?»
«Was haben Sie denn erwartet, über was wir mit Ihnen reden wollen?»
«Über Bücher?»
«Weil ich am Telefon Ihre Buchvorstellung erwähnt habe?»
«Haben Sie das?» Er tat so, als könnte er sich nicht erinnern.
«Okay. Fangen wir ruhig damit an. Begeben wir uns gedanklich in die Buchhandlung Rauch & Kaiser gegenüber dem S-Bahnhof. War irgendetwas an diesem Abend vor drei Tagen ungewöhnlich?»
Er schüttelte den Kopf. «Vielleicht nur, dass ich nicht mit so vielen Menschen gerechnet hatte. Ich glaube, es waren rund dreißig gekommen.»
«54. Es waren 54. Und in der zweiten Reihe, von Ihnen aus links, saß eine ausnehmend schöne Frau. Groß, schlank, kurzer Rock. Eine auffällige Erscheinung. Erinnern Sie sich?»
«Tut mir leid. Vielleicht habe ich sie nicht bemerkt, weil ich die ganze Zeit überlegt habe, ob es eine gute Idee sein würde, ausgerechnet das erste Kapitel zu lesen. Das ist an solchen Abenden so erwartbar.»
Tilda Hansson betrachtete ihn nachdenklich. «Sagt Ihnen der Name Irina Amalija Semková etwas?»
David zögerte einen Moment. «Nie gehört.»
«Sicher nicht?»
«Ihrer Beschreibung nach sollte ich das bedauern.» Er zuckte mit den Schultern. «Woher kommt diese Frau?»
«Aus Slowenien.»
Tilda blickte auf ihre Notizen und fuhr dann fort: «Nach der Lesung kam sie zu Ihnen mit einem Exemplar Ihres Buchs und bat Sie um eine Widmung.»
«Sie formulieren das als Faktum. Haben Sie das gesehen?»
«Nicht direkt.»
«Also hat es Ihnen jemand erzählt.» Er schaute Tilda herausfordernd an. «Bitte verzeihen Sie, aber es war viel los an dem Abend. 54 Leute waren da, wie Sie sagten. Es hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ich habe die Leute einzeln kaum wahrgenommen, sondern immer nur kurz aufgeschaut und gefragt, für wen die Widmung sein sollte. Es kamen sehr viele mit ähnlichen Wünschen. Gott sei Dank waren es viele, möchte ich hinzufügen.»
«In dem Buch, das diese Irina Ihnen hinüberschob, lag ein Zettel im DIN-A5-Format, auf dem handschriftlich etwas notiert war. Nach allem, was wir wissen, standen dort unter zwei, drei Zeilen ein Name und mehrere Zahlen. Eine Telefonnummer? Ein Datum? Ein Geldbetrag? Wir sind uns ziemlich sicher, dass Sie einen Blick auf dieses Blatt geworfen haben, bevor Sie Ihr Buch signiert haben. Ohne eine Widmung oder Ähnliches hinzuzufügen.»
«Tut mir leid. Habe ich leider nicht.»
«Was?»
«Einen Blick draufgeworfen.»
Tilda stand auf, trat an eines der Sprossenfenster und schaute hinaus. Sie wollte ihm Gelegenheit geben, sich den Moment vor drei Tagen noch einmal zu vergegenwärtigen. Dieser störrische Mann, der dort von allen Seiten beäugt auf dem Stuhl saß, weckte noch immer ihr Interesse, und es machte ihr durchaus etwas aus, jetzt strenger vorgehen zu müssen. Unter den Männern, die sie kannte, war dieser Jakubowicz einer der wenigen, der sich etwas von dem Menschen bewahrt hatte, der er einmal hatte sein wollen. Und dazu gehörte auch, nicht leicht greifbar zu sein und sein Innerstes zu verbergen. Seine Außendarstellung war verführerisch. Er hatte Humor, konnte ironisch sein, und wer ihn nur auf seine lässige Körpersprache reduzierte und dabei die Flinkheit seiner Blicke übersah, würde ihn leicht unterschätzen. David Jakubowicz war unorthodox im Aussehen wie im Auftreten, aber im Kern war er ein nüchterner Denker, der meist einige Züge im Voraus prüfte. Es half nichts: Sie musste versuchen, seinen Panzer zu durchbrechen.
Langsam drehte sie sich wieder zu ihm um und lächelte, als wäre das Gespräch mit ihm ein Vergnügen. «Ich will Sie ja nicht drängen, David – aber erinnern Sie sich jetzt ein wenig?»
Er schüttelte den Kopf, kategorisch und stur, allem Drängen gegenüber unempfänglich. Sie betrachtete ihn mit einem verstohlenen Blick. «Ich war überzeugt, dass Sie uns helfen würden. Warum lügen Sie uns an? Warum lügen Sie mich an?»
Sie wandte ihm erneut den Rücken zu, öffnete das Fenster und atmete die frische, kalte Februarluft ein. Es wirkte, als wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das war offenbar das Signal für den Mann mit den verschränkten Armen. Er trat vor, schob die Hände in die Hosentaschen und ging zu dem Schreibtisch, während Tilda seinen Platz an der Fensterbank einnahm.
«Mein Name ist Walter», sagte er mit einem osteuropäischen Tonfall. Ich würde gern Ihre Aufmerksamkeit auf ein Ereignis lenken, das ein bisschen zurückliegt. Genauer: das zwanzig Jahre zurückliegt.»
David nickte zuvorkommend. «Wenn es Sie weiterbringt.»
«Herr Jakubowicz, ist es richtig, dass Sie früher für das Feuilleton Ihrer Zeitung gearbeitet haben?»
«Ja.»
«Erinnern Sie sich noch an die französische Schriftstellerin Marguerite Duras und deren Roman L’Amant? Er wurde vor knapp dreißig Jahren verfilmt. Haben Sie das noch vor Augen?»
«Vage. Sehr vage … Der Film löste einen Skandal aus. Es ging, wenn ich das noch richtig zusammenbekomme, um ein junges Mädchen, das mit einem sehr viel älteren, wohlhabenden Hongkong-Chinesen eine leidenschaftliche Affäre hatte.»
«Wissen Sie noch, was den Skandal auslöste?»
«Die Sex-Szenen.»
«Was war mit ihnen?»
«Na ja, es war ein französischer Film. Sie waren sehr freizügig.»
«Haben Sie den Film gesehen?», übernahm wieder Tilda.
«Nein.»
«Er war in aller Munde.»
«Wissen Sie, ich war damals gerade auf dem Sprung, meine erste Korrespondentenstelle anzutreten. Ich hatte wohl anderes im Kopf.»
«Wie alt waren Sie da?»
«29? Ja, mit 29 bin ich nach Paris gegangen. Dann bin ich weitergezogen nach Afrika, nach Nairobi. Die letzten Jahre vor meiner Rückkehr nach München war ich dann in Hongkong und habe das schreckliche Ende des Afghanistan-Kriegs miterlebt. Aber das wissen Sie ja alles.»
Walter räusperte sich. «Zurück zu dem Film L’Amant und den Sex-Szenen. Weil die Nahaufnahmen dieser Szenen überaus echt wirkten, wurde vor allem von der britischen Presse spekuliert, dass die beiden Hauptdarsteller den … äh … Geschlechtsakt tatsächlich vor der Kamera vollzogen hätten.»
David runzelte die Stirn. «Haben Sie mich deshalb hierher entführt, um mit mir darüber zu reden?»
«David», mischte sich Tilda begütigend ein, «ahnen Sie wirklich nicht, worauf wir hinauswollen?»
«Ehrlich gesagt, nein. Es war eine schreckliche Geschichte für die junge Schauspielerin, eine richtige Hetzjagd. Es ging nur noch um diese Frage. Also ob sie den Akt nur gespielt – oder tatsächlich, real und voller Leidenschaft vollzogen hätte. Das Grauenvolle war, dass jedes Lob eines Kritikers für das überzeugende, realitätsnahe Schauspiel des Paars als Beweis dafür herangezogen wurde, dass beide Akteure ihrer Lust freien Lauf gelassen hätten. Für die Frau war diese Diskussion eine Katastrophe. Ich glaube, sie hat nicht lange danach versucht, sich umzubringen.»
Während David sprach, war sich Tilda mit dem Daumen über die Lippen gefahren, fast liebkosend, eine häufige Geste bei ihr, wenn sie konzentriert zuhörte.
Sie ließ die Hand sinken. «Der Chinese in dem Film war sehr alt», sagte sie schließlich. «Und das junge Mädchen war 15.»
«Im Film war das Mädchen 15. Die Schauspielerin, die die Rolle spielte, war 18.»
«Das wissen Sie?» Tilda tat erstaunt.
David zuckte mit den Schultern. «Hieß es damals.»
«Wie war noch mal der Name der Schauspielerin?»
«Ich kann mich nicht mehr erinnern.»
«Wie fanden Sie die junge Frau denn?», fragte Walter.
«Keine Ahnung. Wie gesagt: Ich habe den Film nie gesehen. Ich denke, der Film selbst und diese intimen Details haben mich nicht interessiert.»