Belchentunnel - Peter Hänni - E-Book

Belchentunnel E-Book

Peter Hänni

4,0

Beschreibung

Würden Sie eine Autostopperin mitnehmen, die vor dem Belchentunnel auf dem Pannenstreifen steht? Am 26. September 1983 steigt dort eine bleiche Frau ins Auto von zwei Studentinnen. Im Tunnel prophezeit die Frau, etwas Schreckliches werde passieren, dann verschwindet sie, ohne dass das Auto angehalten hätte. Am 11. September 2019 ist Tom mit seinem alten VW-Bus auf der Autobahn A2 unterwegs. Obwohl er nicht an Geister glaubt, versichert er sich vor dem Belchentunnel, dass alle Türen verriegelt sind. Eine Stunde später wird Tom, bisher ein unbescholtener Mann, in Hägendorf zum Doppelmörder. Brisante Themen in einen überzeugenden Krimiplot verpackt, lebensechte Dialoge, lakonischer Humor, viel Lokalkolorit, das zeichnet Peter Hännis Romane aus. Alle waren sie Bestseller, "Samenspende", "Freitod, der 13.", zuletzt "Boarding Time".

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Peter Hänni

Belchentunnel

Kriminalroman

Alle Rechte vorbehalten© 2021 by Cosmos Verlag AG, Muri bei BernLektorat: Roland SchärerUmschlag: Stephan Bundi, BollSatz und Druck: Merkur Druck AG, LangenthalEinband: Schumacher AG, SchmittenISBN 978-3-305-00433-1eISBN 978-3-305-00434-8

Das Bundesamt für Kultur unterstütztden Cosmos Verlag mit einem Förderbeitragfür die Jahre 2021–2024

www.cosmosverlag.ch

Inhalt

Mittwoch, 11. September 2019

Donnerstag, 12. September 2019

Freitag, 13. September 2019

Montag, 16. September 2019

Dienstag, 17. September 2019

Mittwoch, 18. September 2019

Donnerstag, 19. September 2019

Donnerstag, 26. September 2019

Freitag, 27. September 2019

Sonntag, 29. September 2019

Montag, 28. Oktober 2019

Donnerstag, 31. Oktober 2019

Mittwoch, 11. September 2019

1

Regen! Wie Trommelfeuer prasselten die Tropfen auf das Blechdach nieder und entfachten ein Stakkato, das akustisch mit der fetzigen Countrymusik aus dem antiquierten Radio verschmolz. Und während heftige Windböen den Oldtimer immer wieder durchrüttelten, gaben die Scheibenwischer alles, leisteten tapfer ihre Sisyphusarbeit, ohne dass es viel nützte. Die Sicht blieb miserabel, obschon Tom nur sehr langsam fuhr. Im Schritttempo höchstens. Nicht nur wegen der schlechten Sicht oder weil er wegen der Wassermassen nicht schneller gekonnt hätte. Aber er stand im Stau. In der letzten halben Stunde war er vielleicht fünfhundert Meter vorangekommen. Mehr bestimmt nicht.

Links oben, an der Dichtung der Windschutzscheibe, bildete sich zögerlich ein erster Wassertropfen. Sekunden später löste er sich von der Dichtung, lief abwärts – unbehelligt vom Scheibenwischer auf der anderen Seite des Glases – und zeichnete dabei eine Spur auf die mit Feuchtigkeit beschlagene Scheibe. Tom kannte das Leck. Es störte ihn nicht. Das Wasser kam immer an derselben Stelle. Und nur bei starkem Regen. Eine Kleinigkeit. Sonst war er dicht, der 40-jährige VW-Bus, den er wegen seiner gelb-weissen Farbe – unten gelb, oben weiss – Calanda getauft hatte. Calanda, nach seinem Lieblingsbier. Im Winter würde er die Dichtung wechseln. Mit dem Daumen streifte er den Wassertropfen sanft von der Scheibe ab, als würde er einem Kind eine Träne von der Wange wischen. Dann schaltete er die Heizung ein. «Bloss kein Hagel!», dachte er und sah besorgt zum Himmel hoch, obschon es dort ausser finsterer Nacht nichts zu sehen gab.

Eigentlich liebte er dieses Wetter, wenn er im Bus war. Nicht zum Fahren, natürlich! Aber zum Schlafen, irgendwo auf einem schönen Stellplatz! Das Prasseln des Regens, die Geräusche des Windes, das Rütteln am Bus … es wirkte beruhigend auf ihn, verschaffte ihm tiefstes Wohlbehagen. Und er mochte diesen charakteristischen Geruch, den Nässe und Wind mit sich brachten, wenn sie sich am Bus zu schaffen machten.

Er gähnte geräuschvoll, rieb sich die Augen und streckte die Arme. Dann sah er auf die Uhr und tastete nach dem Walkie-Talkie, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Er drückte die Sprechtaste.

«Carlo?» Keine Antwort. «Haaallooo, Carlo, hörst du mich?»

«Am Apparat. Was kann ich für Sie tun, mein Herr?» Carlos tiefe Bierstimme klang gut gelaunt.

Tom verdrehte die Augen. «Wo bist du?»

«Etwa zweihundert Meter vor dem Rastplatz Eggberg. Und du?»

Tom sah sich kurz um. «Dreihundert Meter hinter dir. Machen wir eine Pause? Bin müde, habe Hunger, muss schiffen, will rauchen …»

«Okay, okay … hab’s begriffen.» Carlo lachte. «Ich fahre raus … bis nachher.»

2

Der Rastplatz Eggberg war ziemlich vollgestellt, andere hatten offenbar die gleiche Idee gehabt. Tom und Carlo belegten mit ihren Bussen hintereinander einen Standplatz, der eigentlich für Lastwagen reserviert war. Sie stiegen gleichzeitig aus und liefen in strömendem Regen zum Toilettenhaus, welches Carlo als Erster und deshalb etwas weniger nass erreichte. Die rechte Hüfte machte Tom wieder mal zu schaffen, wie oft bei diesem Wetter. Die Hüfte und die 110 Kilo, die er mit seinen 185 Zentimetern herumzuschleppen hatte. Irgendwann würde er wahrscheinlich halt doch unters Messer müssen. Wohl oder übel. Und endlich runter mit seinem Gewicht!

Nachdem sie ihr Geschäft in der hygienetechnisch desolaten Anlage erledigt hatten, rauchten sie unter dem Schutz des Vordaches, wo sich schon zahlreiche Menschen drängten, wortlos zwei Zigaretten. Danach eilten sie zurück zu den Fahrzeugen. Beide stiegen durch die Schiebetür hinten in Toms Bus ein.

«Ist das ein Scheisswetter», fluchte Carlo, während er die Schiebetür schloss. Tom schwappte eine Wolke von Carlos preiswertem Aftershave entgegen. Aqua Velva, Ice Blue. Carlo öffnete den Reissverschluss seiner pitschnassen Regenjacke und schob die Kapuze nach hinten.

«Zieh das Ding aus und leg es dort auf den Boden», forderte Tom ihn auf und entledigte sich ebenfalls seiner Jacke. Dann rieb und behauchte er sich die klammen Hände. «Hunger?»

«Was steht auf der Speisekarte?»

Tom öffnete den kleinen Kühlschrank, den er unter dem Gasherd eingebaut hatte. «Sandwiches … Schinken … Schinken … oder … Schinken.»

«Dann nehm ich Käse.»

Tom reichte ihm wortlos ein in Cellophan verpacktes Schinkensandwich und nahm für sich auch eines heraus.

«Unglaublich, dieser Stau», grummelte Carlo und verlor dabei einige Krümel aus seinem vollen Mund. «Und das an einem hundsgewöhnlichen Mittwochabend.» Noch ein paar Krümel. Unter Toms strafendem Blick beugte er sich vor und klaubte das Gröbste vom Boden.

«Die Baustelle, oben vor dem Belchentunnel», konstatierte Tom mit einem Schulterzucken. «Ich schlage vor, wir warten hier noch einen Moment, vielleicht wird es bald besser.»

Carlo nickte. «Hast du ein Bier?»

Tom öffnete erneut den Kühlschrank und nahm zwei Dosen heraus. Die eine reichte er Carlo. «Pass auf beim Öffnen, dass du nicht alles vollspritzt.»

Dann assen sie schweigend weiter. Tom hatte den Radio abgestellt, man hörte nur das Prasseln des Regens. Und ab und zu das Vorbeifahren eines Fahrzeuges.

«Apropos Belchentunnel», sagte Carlo, als er fertig war mit Essen, und nahm einen Schluck aus der Dose. «Hast du schon mal von der Weissen Frau gehört?»

«Weisse Frau?» Tom schüttelte den Kopf. «Sagt mir nichts.»

«Doch, doch. Die soll da oben rumgeistern.» Carlo nickte Richtung Tunnel.

«Quatsch! Ich glaube nicht an Geister.»

«Jaaa … Ich eigentlich auch nicht … aber was man sich von da oben so erzählt … ich weiss nicht …»

Tom stellte seine Rückenlehne ein Stück nach hinten, legte den Kopf zurück, schloss die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. «Was?», fragte er unwirsch. «Was erzählt man sich von da oben?»

Carlo sah ihn von der Seite an. «Willst du das wirklich wissen? Hier und jetzt?» Er zögerte. «Ich kann dir auch nachher davon erzählen. Nachdem wir durch den Tunnel gefahren sind.»

«Mach nicht so ein Theater! Red schon! Aber Kurzfassung, wenn ich bitten darf!»

«Wie du willst! Also … vor ein paar Jahren – es war Herbst, wie jetzt – waren zwei junge Frauen zusammen in einem PW auf dieser Autobahn unterwegs.» Carlo deutete mit dem Zeigefinger auf die Fahrzeugkolonne, die sich langsam am Rastplatz vorbeischob. «Studentinnen. Gescheite und bodenständige Mädels, wohlgemerkt! Keine Junkies oder überdrehte Tussis. Die Frauen fuhren also Richtung Belchentunnel. Kurz vor dem Loch sahen sie, dass jemand am Rand der Autobahn auf dem Pannenstreifen stand. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass es eine Frau war. Weiss gekleidet und mit weissen Haaren. Sie schien irgendwie verwirrt und hilflos, so dass sich die Studentinnen veranlasst sahen anzuhalten.» Carlo nahm einen geräuschvollen Schluck aus der Dose, strich sich über den angegrauten Kinnbart und räusperte sich. «Ob man ihr helfen könne, fragten sie. Sie vielleicht mitnehmen. Die Frau stieg wortlos hinten in den Wagen.»

«Kannst du ein bisschen lauter sprechen? Ich verstehe dich kaum bei dem Lärm.»

«Eben …», wiederholte Carlo eine Spur lauter. «… die Frau stieg wortlos hinten ein. Dann fuhren sie los. Die beiden Studentinnen machten sich Sorgen. Wie es ihr gehe, fragten sie, als sie im Tunnel drin waren. Leider gar nicht gut, habe sie geklagt.» Carlo beugte sich leicht vor und rückte näher an Tom heran. «Und dann», fuhr er leise fort, «habe sie eine Prophezeiung ausgesprochen. Sie sagte: Etwas Schreckliches wird passieren! Etwas ganz Furchtbares!»

Tom starrte Carlo einen Moment lang ungläubig an. «So ein Quatsch», grummelte er schliesslich und machte ein verächtliches Gesicht.

«Und als die Studentinnen sich zu ihr umdrehten», fuhr Carlo mit gedehnten Worten fort, «war die Alte weg!»

«Wie … weg?»

«Weg! Verschwunden! In Luft aufgelöst. Ohne dass sie angehalten hätten! Ohne dass sie bemerkt hätten, dass eine Tür oder ein Fenster aufgegangen wäre.» Carlo wendete den Blick von Tom ab und sah nachdenklich in die Nacht hinaus. «Puff!» Er machte eine Geste, als wäre er ein Magier. «Einfach weg!»

Toms Blick blieb an Carlo hängen. «Bullshit!», raunzte er – und schluckte leer.

«Wenn du meinst … Auf jeden Fall sind die Studentinnen noch ein-, zweimal durch den Tunnel gefahren, aber sie haben die Frau nicht mehr gefunden. Sie sind dann ganz verstört zum nächsten Restaurant gefahren und haben die Polizei alarmiert. Man hat sie auch später nie gefunden – aber auch keine Erklärung für das Ereignis. Ja … und seither geistert die Alte da oben rum.» Er setzte die Bierdose an und leerte sie in einem Zug.

3

Weit war es nicht mehr bis zum Tunnel, vielleicht noch drei- oder vierhundert Meter. Aber noch immer ging es nur sehr schleppend voran. Carlo fuhr weiter vorne. Wo genau, konnte Tom nicht ausmachen, einige Lieferwagen hatten sich zwischen sie gedrängt und nahmen ihm die Sicht. Es regnete weiterhin sintflutartig und noch immer rüttelten Windböen wütend am Bus. Wegen der beschlagenen Windschutzscheibe lief die Heizung auf Hochtouren, aber sie produzierte mehr Lärm als Wärme. Und Tom wischte zum gefühlt hundertsten Mal das Rinnsal innen an der Scheibe weg.

Ohne dass er es wollte, kreisten seine Gedanken seit der Wegfahrt vom Rastplatz um die Geschichte, die Carlo erzählt hatte. Und er ertappte sich dabei, dass er durch die Dunkelheit und den Regen hindurch den Pannenstreifen absuchte. Niemand zu sehen … natürlich nicht. Er schüttelte den Kopf über sich selbst.

Vor ihm gab es wieder ein paar Meter Platz. Mit schleifender Kupplung schloss er langsam auf. Immerhin, das «Loch» rückte näher – bald würde er von ihm verschluckt werden. Leichte Kopfschmerzen machten sich bemerkbar.

War das ein Geräusch aus dem Walkie-Talkie? Er nahm das Gerät vom Beifahrersitz, stellte die maximale Lautstärke ein und hielt es sich dicht ans Ohr … Nichts zu hören. Er legte das Gerät wieder zurück. Dann, jetzt ohne Zweifel, ein kurzes Knacken vom Beifahrersitz.

«Tooooom!» Es klang irgendwie verzerrt. Weinerlich. Eine hohe Stimme.

Er griff erneut nach dem Walkie-Talkie, betrachtete es mit irritiertem Blick und wollte gerade die Sprechtaste drücken, als er es wieder hörte:

«Tooooooom! … Ich bin’s … Die Weisse Fraaaauuu … Hilf mir!»

Er liess das Ding fallen, als wäre es glühend heiss.

«Ich warte am Tunneleingang auf dich. Schreeeeckliches wird passieren.»

«Heilanddonner!» Noch während er den Fluch ausstiess, suchten seine Augen wieder den Pannenstreifen ab. Wütend über seine Reaktion, schlug er aufs Steuer. Dann bückte er sich ächzend und tastete den Boden nach dem Walkie-Talkie ab. Gerade als er es zu fassen kriegte, ertönte hinter ihm genervtes Hupen. Er schrak auf und schlug mit dem Hinterkopf ans Steuer.

«Himmelarsch! Was soll der Scheiss!», schrie er ins Walkie-Talkie, während er sich den kahlen Hinterkopf rieb. Dann schloss er die Lücke, die sich vor ihm in der Kolonne aufgetan und die den Fahrer hinter ihm zum Hupen veranlasst hatte.

Aus dem Walkie-Talkie ertönte Carlos schallendes Gelächter.

«Arschloch», antwortete Tom und warf das Gerät unwirsch auf den Beifahrersitz.

Noch etwa zweihundert Meter bis zum Tunnel. Dunkelheit. Regen. Windböen. Niemand auf dem Pannenstreifen zu sehen. Er hatte Lust auf eine Zigarette – aber im Bus hatte er sich ein striktes Rauchverbot auferlegt. Im Handschuhfach müssten doch noch Kaugummis sein. Er legte den Leerlauf ein, zog die Handbremse an und schnallte sich los. Dann rutschte er auf den Beifahrersitz und durchsuchte hektisch das Handschuhfach. Ha! Nikotinkaugummi! Hastig stopfte er sich einen in den Mund und begann geräuschvoll zu kauen. Handschuhfach zu. Zurück auf den Fahrersitz. Als er im Begriff war, sich wieder anzuschnallen, hielt er plötzlich inne. War da nicht etwas rechts am Bus vorbeigehuscht? Etwas Helles? Er hörte auf zu kauen und starrte angestrengt in die Nacht hinaus. Aber so weit die Sicht reichte, war nichts und niemand zu sehen. Vorne nicht und hinten nicht. Nur die Fahrzeugkolonne. Rote Lichter vorn, weisse hinten. Er verriegelte die Fahrertür, rutschte noch einmal auf die andere Seite, verriegelte auch die Beifahrertür und die Schiebetür hinten. Zurück am Steuer schnallte er sich an – und begann wieder zu kauen. Langsamer als zuvor, aber nicht weniger geräuschvoll! Und wieder ging es einige Meter vorwärts.

Plötzlich knackte es wieder und vom Beifahrersitz war ein kurzes Jammern zu hören. Hochfrequent, ein wenig schrill. Nach einigen Sekunden der Stille dann ein Geräusch, das Tom an das Wimmern oder Weinen eines Babys erinnerte.

«Idiot», dachte er, rollte die Augen, griff nach dem Walkie-Talkie und drückte die Sprechtaste. «Alter, es reicht jetzt, verdammt noch mal! Kannst mit dem Blödsinn aufhören. Es nervt!»

Carlos Antwort kam ohne Verzögerung: «Das war ich nicht!»

4

Carlo hatte es auch gehört. Es war nicht das erste Mal, dass ihnen jemand dazwischenfunkte – im wahrsten Sinne des Wortes. Vor drei Jahren hatten sie zusammen Schottland bereist und damals erstmals die Walkie-Talkies mitgenommen, um sich unterwegs unkompliziert und rasch verständigen zu können. Es war öfters vorgekommen, dass sie fremde Funksprüche empfangen hatten. Meistens von irgendwelchen Lastwagenfahrern. Aber auch von Kindern, die mit ihren Walkie-Talkies gespielt und zufällig die gleiche Frequenz eingestellt hatten. Aber ein solches Geräusch?

Die Lösung kam Augenblicke später aus dem Funkgerät. «Ach, mein kleiner Schatz, hast du schlecht geträumt? … Komm her … Haben wir ein Stinkerchen gemacht? … Oh jaaa, wir haben ein Stinkerchen gemacht …»

«Babyphone», konstatierte Carlos. «Lass uns den Kanal wechseln. Nummer zwei.»

«Okay. Nummer zwei. Wo bist du?»

«Zwanzig Meter vor dem Loch. Ich schalte jetzt um, habe dann aber im Tunnel vielleicht keinen Empfang mehr.»

Tom legte das Walkie-Talkie zur Seite. Seine Aufmerksamkeit war gefragt. Vor ihm in der Kolonne war ein Wagen liegengeblieben, der es nicht mehr ganz auf den Pannenstreifen geschafft hatte. Die nachfolgenden Fahrzeuge mussten links daran vorbeimanövrieren.

«So, mein Prinz, jetzt riechen wir wieder gut … Noch das Höschen, dann schauen wir mal, ob wir für den kleinen Joel einen leckeren Schoppen finden …»

Tom scherte vorsichtig aus der Kolonne aus und drängte sich auf die Überholspur, so dass er das Pannenfahrzeug in sicherem Abstand umfahren konnte. Sobald er es im Rückspiegel sehen konnte, schwenkte er wieder auf die Normalspur zurück.

«Schatz!» Es war mehr ein Schrei als ein gesprochenes Wort – und er kam von einem Mann! «Schatz, Schatz, Schatz! Das glaubst du nicht!» Dann dröhnte nicht enden wollendes Jubelgeschrei aus dem kleinen Ding auf Toms Beifahrersitz. «Ich drehe durch … unglaublich ist das … unglaublich!»

«Was schreist du so herum, mein Gott! Da bekommt man ja einen Herzinfarkt! Sieh, was du angerichtet hast … Jetzt weint er wieder.»

«Schau dir das an! Schau genau hin!» Wieder Jubelgeschrei des Mannes.

«Ein Lottoschein?»

«Ja! Ein Lottoschein! Mein Lottoschein!»

«Und … hast du etwas gewonnen?»

Ein irres Lachen war die Antwort. «Etwas gewonnen? Etwas gewonnen?» Wieder dieses Lachen. «Das sind sechs Richtige mit Zusatzzahl! Das ist der Jackpot, Madame! Vierundzwanzig Millionen – und es gibt keine anderen Gewinner! Vier-und-zwan-zig Mil-li-o-nen!»

Sekunden später stimmte auch die Frau in das Jubelgeschrei ein. Tom fürchtete, das Walkie-Talkie könnte nächstens explodieren. Nach etwa einer Minute ebbte das Geschrei ab, man hörte nur noch das Weinen.

«Bist du ganz sicher?», fragte die Frau.

«Zweihundertprozentig», versicherte der Mann. «Ich habe es mehrmals überprüft. Dieser kleine Scheisszettel ist ab sofort vierundzwanzig Millionen wert!»

«Um Gottes willen … mir wird ganz schwindlig.»

«Gib mir den Kleinen … Setz dich, Schatz, setz dich … Ich lege ihn in die Wiege, dann hole ich dir ein Glas Wasser. Zum letzten Mal – danach gibt’s nur noch Champagner. Auch zum Zähneputzen!» Wieder dieses irre Lachen.

Tom war fassungslos! Er konnte nicht glauben, was er zu hören bekam! Einen Augenblick hatte er gedacht, Carlo würde ihm wieder einen Streich spielen mit irgendeiner Aufnahme aus dem Internet oder so. Aber dann wurde ihm rasch klar, dass er tatsächlich gerade Zeuge eines extrem aussergewöhnlichen Ereignisses war.

«O Gott, o Gott … Ich muss telefonieren … Sofie, Nick, Daddy …»

«Bist du verrückt!», fiel der Mann ihr grob ins Wort. «Das behalten wir schön für uns. Kein Wort! Zu niemandem! Zumindest vorläufig. Später können wir dann in aller Ruhe überlegen, wen wir einweihen wollen!»

«Ja … aber wenigstens Sofie …»

«Nein, nein, nein! Zu niemandem, hörst du! Wenn das rauskommt, haben wir nullkommaplötzlich ein Riesenschlamassel, glaub mir! Dann kommen alle und wollen ein Stück vom Kuchen. Wie die Geier!»

Einen Moment lang hörte Tom wieder nur den Kleinen.

«Ja … wahrscheinlich hast du recht …»

5

Tom drückte aufgeregt die Sprechtaste.

«Carlo?»

Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal.

«Hallo Carlo!»

Nichts. Wahrscheinlich hatte er den Kanal bereits gewechselt. Tom tat es auch.

«Carlo?»

Wieder keine Antwort.

War Carlo schon im Tunnel? Hatte er die verrückten Szenen gar nicht mitbekommen?

Tom wechselte wieder auf Kanal 1. Stille. Er vergewisserte sich, dass er die volle Lautstärke eingestellt hatte und hielt sich das Walkie-Talkie dicht ans Ohr. Nichts!

Tom legte das Gerät wieder zur Seite. Gedankenverloren wischte er einmal mehr die Innenseite der Windschutzscheibe trocken. Dann der Blick zur Seite – der Pannenstreifen war menschenleer. Die Verriegelungshebel an den Türen waren unten. In fünf bis zehn Minuten würde er endlich den Tunnel erreicht haben.

Vierundzwanzig Millionen haben die gewonnen! Wahnsinn! Ein Drittel weg für Steuern, bleiben immer noch achtzehn Millionen. Er schüttelte ungläubig den Kopf! Was man damit alles anstellen könnte! Kredite zurückzahlen, den Job kündigen … vielleicht, vielleicht auch nicht. Zumindest könnte man einigen Leuten sagen, was sie für Arschlöcher sind. Neuseeland, Australien … so lange man Lust hatte. Auch für immer, wenn man wollte. Haus, Boot, neuer VW-Bus … Den letzten Gedanken bereute er, sobald er ihn gedacht hatte. «Nein, nein, keine Angst …» Er streichelte zärtlich über das Armaturenbrett. «Tut mir leid … aber ein wenig restaurieren müsste schon sein.»

Er blickte auf das Walkie-Talkie. Es war immer noch stumm. Schon ein schräger Zufall, dass er mit diesem Amateurding eine so aussergewöhnliche Botschaft empfangen hatte. Wie weit mochte die Reichweite eines Babyphones eigentlich sein? Die Glückspilze wohnten sicher ganz in der Nähe.

Noch wenige Meter bis zum Tunnel.

Er nahm sein Handy und googelte «Babyphone Reichweite». Auf dem Display erschien die Anzeige. Babyphone Vergleich – die zehn besten Babyphones. Er scrollte nach unten … voilà: Aussenreichweite: 300 Meter … 300 Meter … 250 Meter … 330 Meter … 330 Meter … 250 Meter … Keines der Produkte hatte eine Reichweite von mehr als 330 Metern! Verrückt! Er sah sich um. Rechts der Pannenstreifen – verlassen, notabene. Dahinter dichter Wald. Vor ihm der Berg. Links so eine Art Industriegebiet oder Baustelle. Möglicherweise der Werkhof des Tunnels. Mehr konnte er in der Dunkelheit und bei dem Sauwetter nicht ausmachen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er anlässlich der unzähligen Male, die er hier schon durchgefahren war, irgendwelche Wohnhäuser gesehen hatte. Aber er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie es jenseits der Leitplanken aussah.

Endlich im Tunnel! Und endlich ging es vorwärts!

Er kurbelte das Seitenfenster herunter, um die Feuchtigkeit rauszulassen. Mit einem kurzen Blick in den Innenrückspiegel versicherte er sich, dass alles in Ordnung war. Keine ungebetene Mitreisende mit weissen Haaren. Nach zwei-, dreihundert Metern kurbelte er die Scheibe wieder hoch und rutschte auf seinem Sitz in eine bequemere Position.

Vierundzwanzig Millionen! Drei- bis maximal vierhundert Meter von ihm entfernt! Ein kleiner, anonymer Zettel mit ein paar Zahlen! … schuldenfrei … Neuseeland … Haus … Boot … Er verscheuchte die Gedanken und versuchte sich auf die Strasse zu konzentrieren. Und auf das bevorstehende Fest in Wietzendorf.

Auf der anderen Seite des Berges war die Strasse trocken. Tom kurbelte das Fenster wieder herunter und genoss die frische und vor allem trockene Nachtluft. Am Himmel konnte er die Sterne sehen – vermutlich würde es trocken bleiben.

Rastplatz Mühlematt Ost stand auf dem Schild, das er eben passiert hatte. Er griff nach dem Walkie-Talkie. «Alter, wo bist du?»

«Wollte ich dich auch gerade fragen … Auf Höhe Tenniken. Du?»

«Soeben raus aus dem Tunnel, kurz vor dem Rastplatz Mühlematt Ost. Alles okay bei dir?»

«Alles bestens! Der Weissen Frau habe ich gesagt, sie könne mich mal … sie solle bei dir einsteigen.» Er lachte dreckig.

«Extrem witzig! Ehm … hast du noch mehr Radio Babyphone gehört?»

«Nein! Nichts!»

Tom kaute einen Moment auf der Unterlippe herum. Dann atmete er tief durch. «Hör mal … ich muss beim Rastplatz noch einmal kurz raus … kann mein Handy nicht finden.»

«Ich ruf dich an», sagte Carlo.

«Ja, mach das!»

Wenige Sekunden später klingelte das Handy auf dem Beifahrersitz. Tom stellte es auf «lautlos».

«Und?», wollte Carlo via Walkie-Talkie wissen.

«Nichts!», log er, setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt zum Rastplatz. «Hoffentlich habe ich das Ding nicht am Eggberg verloren … auf der Toilette oder so.»

«Super! Und jetzt?»

«Ich schau mich mal im Bus um, vielleicht liegt es ja irgendwo. Auf lautlos gestellt. Wenn nicht, muss ich zurückfahren.»

Aus dem Walkie-Talkie kam vorerst keine Antwort, aber Tom wusste genau, dass Carlo in ebendiesem Moment ziemlich deftig am Fluchen war.

«Muss ich mitkommen? Oder irgendwo warten?», meldete er sich Augenblicke später. Es klang nicht besonders freundlich.

«Nein. Fahr du ruhig weiter. Wir treffen uns spätestens in Bruchsal.»

«Wie du meinst! Dann bis später!»

Tom manövrierte den Bus auf ein freies Parkfeld, zog die Handbremse an und stellte den Motor ab. Dann ergriff er das Handy und öffnete Google Maps. Er zoomte auf die Region vor der Tunneleinfahrt und stellte die Satellitenansicht ein. Unmittelbar vor dem Tunneleingang gab es tatsächlich nur Industriegelände, keine Wohnhäuser. Aber etwa zweihundert Meter weiter südlich, auf der linken, also auf der westlichen Seite der Autobahn, entdeckte er eine kleine Häusergruppe, bestehend aus acht bis zehn Gebäuden, von denen die meisten aus der Vogelperspektive aussahen, als wären es Bauern- oder Einfamilienhäuser. Das Babyphone musste in einem dieser Häuser sein! Die nächsten Gebäude lagen weitere zwei- bis dreihundert Meter weiter südlich auf der Ostseite der Autobahn. Zu weit weg!

In einem dieser acht bis zehn Häuser lagen also vierundzwanzig Millionen herum. Unvorstellbar! Und irgendwie auch ungerecht! Unverschämt! Wer braucht schon vierundzwanzig Millionen! Eine oder zwei wären okay, vielleicht drei! Ist doch wahr! Die hatten nichts für das Geld getan, nur unglaubliches Glück gehabt. Und offenbar waren sie so egoistisch, dass sie niemanden an ihrem Gewinn wollten teilhaben lassen.

Er stieg aus dem Bus und zündete sich eine Zigarette an. Rauchend und mit gesenktem Blick tigerte er ziellos auf den Parkfeldern herum. Es war einfach nicht gerecht! Er hatte jahrelang geschuftet und verbissen um den Erhalt der Bäckerei gekämpft, die er von seinem Vater übernommen hatte. Trotzdem hatte er vor Jahren Konkurs anmelden müssen. Und es hatte ihn seine Ehe gekostet. Wobei … viel wert waren sie nicht gewesen. Die Ehe nicht und seine Ex nicht, die jetzt irgendwo in Frankreich lebte und die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Der einzige Kontakt zu ihr bestand in Form seiner monatlichen Banküberweisungen. Seit nunmehr fünfzehn Jahren arbeitete er in der Grossbäckerei der Migros, machte nie blau, war nie krank – und trotzdem konnte er sich nichts leisten. Nicht viel jedenfalls. Und es bestand keine Aussicht auf eine positive Veränderung. Im Gegenteil! Er musste froh sein, wenn er den Job behalten konnte. Heutzutage wusste man ja nie. Und in seinem Alter wäre es schwierig, etwas Neues zu finden. 54-jährige Bäcker wurden nicht gerade von Headhuntern gejagt.

Missmutig kickte er eine zerbeulte Aludose weg und schnippte den Zigarettenstummel ins Gelände.

Er griff wieder zum Handy. Google Maps. Zoom auf die Häusergruppe. «Eigentlich ganz schön abgelegen», dachte er.

Dann aktivierte er den Routenplaner.

6

Die nächste Ausfahrt war in Sissach. Dort konnte er auf die Gegenfahrbahn wechseln und umkehren. Erneut durch den Belchentunnel, bis Egerkingen. Danach musste er eine Schlaufe fahren, zuerst ostwärts Richtung Hägendorf, dann nach Norden, durch Hägendorf hindurch, um von hier aus weiter nordwestlich zu der isolierten Häusergruppe zu gelangen. 30 Minuten würde die Fahrt gemäss Routenplaner dauern. 33 Kilometer.

Schreckliches wird passieren! Etwas ganz Furchtbares! Vor der Einfahrt in den Belchentunnel vergewisserte Tom sich abermals, dass die Fahrzeugtüren verriegelt waren.

Auf der anderen Seite des Belchen regnete es immer noch. Als er aus dem Tunnel kam, war es, als würde er in eine Wasserwand hineinfahren. Wieder die überforderten Scheibenwischer, wieder das Rinnsal an der Innenseite der Windschutzscheibe. Er musste sein Tempo drosseln, um einigermassen sicher voranzukommen.

Die Häusergruppe musste jetzt rechts von ihm liegen, aber die Autobahn war von dichtem, zu nächtlicher Stunde schwarz imponierendem Buschwerk und von Bäumen gesäumt, so dass ihm die Sicht verwehrt blieb. Wahrscheinlich hätte er die Häuser auch bei Tageslicht und schönem Wetter nicht ausmachen können.

Das Walkie-Talkie blieb stumm. Dafür ertönte der Klingelton seines Handys. Carlos grinsendes Gesicht leuchtete auf dem Display. Tom ignorierte es. Carlo brauchte nichts von dem zu wissen, was er hier tat. Von dem, was er vorhatte. Ja, was zum Teufel hatte er eigentlich genau vor? Es war absolut idiotisch! Sinnlos! Er könnte es nicht erklären. Nicht einmal sich selber, geschweige denn Carlo! Der würde ausrasten! Nicht dass ihn, Tom, das einschüchtern würde, aber er hatte schlicht und einfach keine Lust, mit Carlo zu diskutieren. Er hatte nun einmal den unwiderstehlichen Drang, sich an den Ort zu begeben, wo diese Glückspilze wohnten. Vielleicht würde das Glück ja auch ein wenig auf ihn abfärben. Wenn er nur nahe genug daran herankäme. Vielleicht würde er auch etwas sehen, das seinen Neid, seinen grossen Neid, ein wenig abschwächen würde. Keine Ahnung, was das sein könnte … Wie auch immer. Zumindest würde er von seinem kleinen Abenteuer erzählen können. Wenn morgen im Blick stand, dass ein Unbekannter den Lottojackpot geknackt und vierundzwanzig Millionen gewonnen hatte, würde er sagen können: «Ich weiss! Und ich weiss, wo er wohnt.» Möglicherweise sogar: «Und ich stand gestern Abend vor seinem Haus.»

Nein, Carlo brauchte nichts zu wissen. Später würde er ihm vielleicht alles erzählen. Aber nicht jetzt.

Tom spielte seit Jahrzehnten selber Lotto. Immer den Mindesteinsatz. Seine Dauerzahlen. Einmal, vor langer Zeit, hatte er vier Richtige und bekam dafür fünfzig Franken. Unzählige Male drei Richtige, was jeweils ein paar mickrige Fränkli einbrachte.

Er war gut vorangekommen und hatte Hägendorf bereits durchquert. In der regnerischen Nacht schien der Ort wie ausgestorben. Nur zwei Personen hatte er am Strassenrand gesehen und unten im Dorf einen Velofahrer überholt, dem Dunkelheit und garstiges Wetter nichts auszumachen schienen. Jetzt fuhr er über eine unbeleuchtete, schmale, aber immerhin geteerte Strasse bergwärts auf die kleine Häusergruppe zu. Noch wenige Meter mit Buschwerk und Bäumen zu beiden Seiten, dann sah er linker Hand das erste Haus. Es war unbeleuchtet. Er hielt kurz an und schaute sich das Satellitenbild auf Google Maps genauer an. Die Strasse führte noch etwa hundert Meter weiter hangwärts bis zum obersten Haus, dann kam der Wald. Auf halbem Weg gab es noch einen Abzweiger nach links, wenn man diesem folgte, gelangte man zu drei weiteren Gebäuden. Er fuhr weiter, an allen Häusern vorbei hoch bis zum Wald. Dort wendete er den Bus und stellte den Motor ab. Dann das Licht. Was zum Teufel machte er hier? Er verharrte einen Moment reglos, lauschte dem Regen und versuchte das Pochen in seiner Brust zu ignorieren. Und das in seinem Kopf. Dann betrachtete er seine Hände, die er in der Dunkelheit gar nicht sehen konnte. Aber er wusste, dass sie zitterten.