Bella mia - Donatella Di Pietrantonio - E-Book

Bella mia E-Book

Donatella Di Pietrantonio

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Beschreibung

Als »Bella mia« besingt ein Volkslied die Stadt L'Aquila in den Abruzzen – 2009 legt ein Erdbeben sie in Schutt und Asche, tötet Menschen, reißt Familien auseinander. In einer der Behelfsunterkünfte, die bald die einzige Normalität darstellen, versuchen drei Menschen, den Weg zurück ins Leben zu finden: die Erzählerin Caterina, deren Zwillingsschwester Olivia umkam, als sie noch kurz in das einstürzende Haus zurücklief, Marco, Olivias heranwachsender Sohn, der nach dem Verlust niemanden mehr an sich heranlässt, und die alte Mutter, die sich um alle kümmern will und doch selbst am meisten Hilfe braucht. Wie soll man einem schweigsamen, störrischen Jugendlichen plötzlich Ersatzmutter sein, wie den eigenen Gefühlen wieder trauen und die Sicherheit finden, sich auf Neues einzulassen? Behutsam, über kleine Gesten und auf ganz unterschiedlichen Wegen finden die drei allmählich aneinander Halt und den Mut, der Willkür und Vernachlässigung durch die Behörden zu trotzen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ein eindringlicher Roman über Verlust und verschüttete Gefühle, aber auch über die Kraft, sich neu zu erfinden.

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Seitenzahl: 237

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Donatella Di Pietrantonio

Bella mia

Roman

Aus dem Italienischenvon Maja Pflug

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Für Piera und Anna Rita, für ihre Kinder

Einst war ich sehr leicht, ich wog wenige Kilo. Einst gab es nur drei oder vier Kilo von mir, nur wenige Kilo von mir, nur wenige Kilo trugen meinen Namen.

MARIANGELA GUALTIERI, Fuoco centrale

1

Den Wuschelkopf über den Teller gebeugt, sitzt er an seinem Platz, und der Dampf der Brühe weitet die Poren seiner Pickel, ringelt die langen, feinen Härchen, die in der Erwartung, ein Bart zu werden, noch planlos sprießen. Nach dem Geräusch des Bestecks zu urteilen, strengt er sich an, aber er isst zu wenig. Lange rührt er mit dem Löffel um und führt ihn dann halb leer zum Mund. Er weicht unseren Blicken aus, er weiß, dass wir ihm zuschauen und die Proteine zählen, die er zu sich nimmt, ebenso wie die, die er im Teller lässt.

Er kaut Schweigen.

Es gelingt mir nicht, ihn ganz zu lieben, diesen Jungen. Groß, mager, ein Körper mit abgebrochenen, nirgends runden Linien, und unter dem Knie wird die Zeichnung der Beine plötzlich unscharf. Die Großmutter behandelt ihn immer noch wie ein Kind, doch ich weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll. Er ist schon fast ein junger Mann, manchmal wirkt er noch jünger, als er ist.

Als er ein Baby mit dunklen Locken und Herzmund war, hatte ich keine Mühe, Zärtlichkeit für ihn zu empfinden, damals besaß er die Anmut, die den Kleinen für die Erhaltung der Art mitgegeben ist, im Übermaß. An den endlosen Nachmittagen, an denen ich auf ihn aufpassen sollte, überschüttete ich ihn mit Küssen. Er roch nach Welpe, jetzt hängt ihm manchmal ein strenger Geruch nach ungewaschenen Achselhöhlen an, und seine Haare wirken fettig, während er stumm herumgeht. Wenn er sein T-Shirt auszieht, sieht man vorn eine Landschaft hervorstehender Rippen und Wirbel im Rücken. Er krümmt sich wie einer, den gerade ein Ball in die Magengrube getroffen hat. Nicht immer erkenne ich ihn von hinten, wenn ich ihn von weitem sehe, er ist so schnell gewachsen.

Wir sitzen um diesem neuen Tisch, der keinem von uns gehört. Vorher hatte jeder seinen eigenen, die verwitwete Großmutter in ihrem Haus im Dorf, ich in meiner Wohnung im Stadtzentrum und er mit seiner Mutter ganz in der Nähe; als es passierte, wohnten die beiden seit eineinhalb Jahren wieder hier. Jetzt leben wir drei allein zusammen, in dieser uns zugewiesenen Wohnung. Er ist mein Neffe, für meine Mutter der Enkel.

Das Erdbeben hätte es nicht gebraucht; schon vorher hatte jeder seinen eigenen Schmerz. Doch meine Schwester war froh, dass sie mit ihrem Sohn wieder nach Hause gezogen war, als Notlösung war das akzeptabel, sagte sie. Sie eignete sich die Orte wieder an, frischte unterbrochene Beziehungen auf, gewöhnte sich wieder an die verlangsamte Zeit. Das milderte den Schmerz der Trennung.

Im Winter tranken wir an den Sonntagnachmittagen bei unserer Mutter Kaffee unter der niedrigen Hängelampe im Esszimmer. Sie verwöhnte uns mit einer Praline, die wie zufällig neben dem dampfenden Tässchen lag; später stellte eine unsichtbare Hand uns dann eine Schale mit geschältem Obst hin, während sie uns unter dem Vorwand, sie müsse im Hof die Wäsche abnehmen, allein ließ, damit wir zwei uns freier austauschen konnten.

Wenn er nicht mit seinen Freunden wegging, begleitete er uns im Schutz seiner Kopfhörer. Er schloss uns aus. So macht er es auch jetzt manchmal, wenn er morgens den Bus verpasst hat und ich ihn im Auto zur Schule fahre. Er nutzt die Musik, mit der er sich die Ohren volldröhnt, als Stacheldraht zwischen uns. Um diese Zeit ist er wahrscheinlich noch verletzlicher, noch stärker darauf bedacht, Abstand zu wahren. Er verkriecht sich völlig in seiner Winterjacke, stellt den Kragen hoch, verschanzt sich und macht sich unerreichbar. Hartnäckig starrt er aus dem Fenster oder auf seinen Hosensaum, seine Schuhe. In den Rechtskurven klammert er sich fest, bis die Fingerknöchel weiß hervortreten, um nicht zu mir zu rutschen. In den Linkskurven klebt er mit Gesicht und Schultern am Fenster, wendet mir für den Fall, dass ich mich in seine Richtung lehne, nur seine spitzen Knochen zu, die Hüfte, den Ellbogen. Seinen Gruß beim Aussteigen höre ich kaum, aber die Tür schließt er überraschend sanft.

Vor einigen Tagen trafen wir uns vor der Haustür, er mit seinem Rucksack und ich mit schweren Einkaufstaschen. Er ging einige Schritte vor mir, brummte halblaut Ciao über die Schulter und ließ die Tür offen, als er hinaufging. Doch dann lud er seinen Ballast vor der Wohnung ab und kam die Treppe wieder herunter, um mir zu helfen, nahm mir die Tüte mit Kartoffeln und die Packung Mineralwasser ab, die ich am inzwischen blau angelaufenen Zeigefinger hielt. Ich habe mich bedankt, keine Antwort.

2

Gott hat meiner Mutter vom ersten Augenblick an geholfen, mit der Macht seiner Stimme hat er sie durchdrungen, um ihrer Qual einen Sinn zu geben. Er flößte ihr auch den Mut ein, jemanden zu suchen, der die Todesanzeigen druckte, und den Wahnsinn, die Plakate an zwei oder drei Stellen des begehbaren Rings rund um die Altstadt anbringen zu lassen. Nichts sollte ihrer Tochter fehlen, auch nicht im Tod.

An manchen Tagen fuhr ich im Auto daran vorbei und schämte mich, auf dem grauen Zement ihren Namen zu sehen. Eines Abends hielt ich an, kratzte mit dem Fingernagel an einer Ecke des Plakats, aber es war fest angeklebt und wollte nicht abgehen. Sofort hielt ich inne. Mit der flachen Hand streichelte ich den Namen, Vokale und Konsonanten, sie war meine Schwester.

Sie zersetzen sich nur sehr langsam, diese angeklebten Plakate. Zuerst schwindet der Glanz des Klebstoffs, dann beginnt die Druckerschwärze zu verblassen, und oben löst sich eine Ecke. Wind und Regen dringen zwischen Gemäuer und Papier, klappen die weiße Rückseite über den Text, verdecken ihn. Eines Morgens war nichts mehr da.

Meine Mutter fleht zu ihrem Gott und tröstet sich damit. In meinem schnöden Unglauben stelle ich mir vor, ich würde ihn auf der Erde wiedererkennen und an seinem himmelblauen Mantel, mit dem die Kinder ihn in ihre Katechismushefte malen, zu einer Führung durch die Stationen der Katastrophe schleifen. Sie betet mit dezenter Inbrunst für die Tote wie für die Lebenden. Zur Großmutter ist unser Junge recht freundlich, er sieht sie sogar an und hebt leicht die Mundwinkel, versucht zu lächeln, wenn sie mit ihm spricht.

Alle drei verlassen wir morgens das Haus; er geht zur Schule, ich zur Arbeit, und sie räumt auf und nimmt dann den Bus zum Friedhof. In einer großen Tasche hat sie die Utensilien dabei, die sie für die Grabpflege braucht, ein Putzmittel und ein Tuch aus Mikrofaser. Die Blumen kauft sie am Stand vor dem Eingang, die halbe Rente lässt sie dort. Für sie ist jeder Tag Allerseelen. Sie verrichtet immer die gleichen, minuziösen Handgriffe, wirft die alten Gerbera fort, die in Wirklichkeit noch frisch sind, und vertauscht sie gegen neue in einer anderen Farbe, die sie behutsam in der Vase arrangiert, damit der Strauß gut aussieht. Sie poliert den weißen Grabstein, das Lächeln auf dem Foto, das sie unbedingt anbringen wollte. In regelmäßigen Abständen dreht sie sich hilflos zu unserer Nachbarin um, die auf dem Grabstein kauert, unter dem ihr Kind liegt.

Sechs Jahre alt war es in der Nacht des Erdbebens.

Mein Vater liegt in einem anderen Teil des Friedhofs, neben ihm war kein Platz mehr. Meine Mutter vernachlässigt ihn ein wenig, die jüngste Trauer hat ihn in ihrem Herzen überschattet. Sie lässt ihm einige Tage Staub auf seinem Porträt; die Blumenkronen beugen sich der Schwerkraft, bevor sie ausgetauscht werden.

Sonntags begleite ich sie manchmal. Ich halte mich abseits, während sie arbeitet. Ab und zu muss ich ein Stück weggehen, weil mir irgendwie übel wird. Wenn der Schwung oder die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen eine gewisse Grenze überschreiten, werde ich seekrank. Ich sage nichts, wenige Schritte nach rückwärts genügen. Ich überlasse sie ihrer gewohnten Beschäftigung, sie braucht sie. Nur am Anfang habe ich schwach protestiert, wegen der Plakate, dem Foto auf dem Grabstein. Wie befriedigt tritt sie durch das Tor und plaudert ein wenig mit der Blumenfrau, sie duzen sich seit geraumer Zeit.

»Morgen früh müsste ich rosa Gerbera geliefert bekommen, soll ich dir einen Strauß aufheben?«

»Ja, die hattest du schon lange nicht mehr, wieso eigentlich?«

»Keine Ahnung, bei diesen Lieferanten weiß man nie. Aber morgen ist es fast sicher. Ich lege dir welche beiseite.«

»Dann nehme ich gleich ein paar mehr und wechsle auch bei meinem Mann die Blumen aus, seine vertrocknen allmählich.«

»Wenn du zwei Sträuße nimmst, kriegst du Rabatt. Gehst du bei dieser Kälte zum Einkaufen?«

Ja, an Werktagen geht sie gewöhnlich einkaufen. Gemüse und frisches Obst für uns, vom Bauernstand, und dann rasch nach Hause zum Kochen, mit dem Bus um halb zwölf, denn danach fährt keiner mehr.

Sie hat sich an die Wohnung gewöhnt, benutzt sie, soweit es nötig ist. Am Anfang konnte auch sie den Gestank nach Neuem kaum ertragen. Im Lauf eines Monats hat sie die Räume dann mit den zarten Gerüchen ihrer gesunden Küche erfüllt. Beim Einzug vor mehr als zwei Jahren wussten wir schon, dass wir im Kühlschrank den Spumante der Regierung vorfinden würden. Meine erste Tat war, die Flasche ohne Schütteln zu öffnen, indem ich den Korken mit Daumen und Zeigefinger herausdrehte, damit er ja nicht knallte. Dann kippte ich den Inhalt ins Spülbecken und hielt dabei den Flaschenhals direkt über den Abfluss. Während das Rohr noch gluckerte, warf ich die Flasche in den Abfalleimer. Meine Mutter sah mir respektvoll zu und verfolgte alle meine Bewegungen.

Einige alte Männer aus den Wohnblöcken vier und fünf versuchen inzwischen, das Brachland rund um die C.A.S.E.* zu bebauen, sie säen zur richtigen Zeit, legen einen Gemüsegarten an; zur Straße hin gibt es mehrere davon, eine Reihe akkurater Rechtecke. Zur Erntezeit gehen die Alten mehr oder weniger alle auf einmal hinunter, unterhalten sich von Tomatenstrauch zu Tomatenstrauch, kommentieren das Wetter und zeigen dem Nachbarn den Parasitenbefall auf den Schalen. Am Sonntagmorgen, dem grausamsten der Woche, beobachte ich sie, während ich am Fenster eine Zigarette rauche. Sie bewegen sich langsam zwischen ihren Pflanzen und dem leichten Dunst, der von der erschütterten Erde aufsteigt. Wenn sie wieder heraufkommen, mustere ich auf der Treppe verstohlen die Farben des Gemüses in den Körben, die sie ihren Frauen bringen. Mich erstaunt diese Treue zu dem verräterischen Boden.

Im Herbst kehren sie sorgfältig das Laub zusammen, obwohl der boshafte Wind die Blätter mit ihren kratzigen eingerollten Rändern sofort wieder auf den betonierten Platz zurückweht. Sie können nützliche von unnützen Beschäftigungen unterscheiden und wechseln in beiden ab in dem unaufhörlichen Bemühen, die Zeit auszufüllen. Zum Schneeschippen benutzen sie die modernen leichten Schaufeln aus Plastik mit breitem Blatt. Sie stoßen bei der Arbeit Dampfwolken aus, die Kälte lässt die tiefen Falten auf ihren von Herzbeschwerden geröteten Gesichtern erstarren.

Meine Mutter macht sich ihren grünen Daumen hier nicht zunutze, wir gehen sowieso bald wieder, sagt sie, und es würde ihr leidtun, die gewachsenen Gottesgaben zurückzulassen, wie sie es nennt. Auf unserem Balkon gibt es im Sommer bloß blühende Geranien, denn die können wir mitnehmen. Sie gießt sie täglich, lockert die Erde oder schneidet verdorrte Triebe ab. Geranien duften nur, wenn man sie berührt.

Sie will sich nicht an das provisorische Quartier gewöhnen; ich merke, wie vorsichtig sie die Beziehungen zu den Nachbarn dosiert, damit sie ja nicht zu eng werden. Nur an die Mutter, die ihr Kind überlebt hat, wendet sie sich mit zurückhaltender, mitfühlender Zuneigung, wenn die Frau manchmal den Kopf aus dem Abgrund hebt.

Die Wohnung hat drei Räume; ein Schlafzimmer habe ich Marco abgetreten, als er vor zwei Jahren zu uns gezogen ist, das andere ist für mich und meine Mutter. Sie hält alles sauber und in Ordnung, zeigt aber die Distanziertheit dessen, der mit überirdischer Geduld darauf wartet, das Haus im Dorf herzurichten. Ein seltsamer Traum für einen Menschen, der nicht mehr jung ist; sie sagt, das sei sie Papa schuldig, seine Familie wohnte seit Generationen dort, und er hatte das Haus vor ihrer Hochzeit allein restauriert. Vorsichtig erinnere ich sie daran, dass Papa schon lange tot ist, dass er nichts von dem Erdbeben weiß und auch nie etwas von dem eventuellen Wiederaufbau erfahren wird. Ach was, von da oben sieht er alles, antwortet sie streng, mit dem gleichen Blick wie damals, als ich zu ihr sagte, dass ich nicht zur Firmung gehen würde. Nach einer Weile setzt sie sich, schließt beinahe die Augen und öffnet im Geist die alte, mit dem Lappen geölte Haustür, tritt in den engen, leicht nach Moder riechenden Flur und setzt den Fuß auf die erste Stufe der steilen Treppe, die nach oben führt, wo unsere Zwillingsstimmen kreischen, die von Olivia höher und fröhlicher. Damals, als wir alle lebendig waren.

 

 

 

* Complessi Antisismici Sostenibili ed Ecocompatibili – Erdbebensichere, nachhaltige und umweltverträgliche Wohnblöcke

3

Ich begegne einer der Patrouillen, die die gesperrte Rote Zone bewachen, und gehe zwischen den vereinzelten morgendlichen Passanten ein paar Häuserblöcke weiter. Dann muss ich nicht einmal das Absperrgitter beiseiteschieben, sondern drücke mich nur flach an die Wand und tauche in den Schatten der verbotenen Gasse ein. Ich gehe bergauf, schon schwer atmend. Ab und zu weht von den vom nächtlichen Regen noch durchnässten Stützbalken ein übler Geruch nach faulendem Holz herüber. Als ich in die Via Mezzaluna einbiege, nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, etwas Dunkles, Haariges, vielleicht ein kleines Tier, das plötzlich davonhuscht. Um zu meiner alten Werkstatt zu gelangen, muss ich an dem Haus entlanggehen, das seine Fassade verloren hat und das übrig gebliebene Innere zeigt, Konserven und Nudelpackungen in der Küche, im Bad den zerbrochenen Spiegel, der kubistische Variationen des Himmels einfängt, im weit offen stehenden Schrank die Kleider, die noch auf den Bügeln hängen und ihre Ärmel von der beharrlichen Sonne bleichen lassen. Ein Lichtschalter ohne Wand baumelt an einer Leitung. Übelkeit steigt auf, ich schlucke sie runter. Es ist dieses leichte Schwanken, ich muss nur den Blick abwenden und weitergehen.

Ich arbeitete im Erdgeschoss eines nun unzugänglichen Palazzos, Kategorie E. Ich schließe das eiskalte Schloss auf, das die beiden Hälften des Tors zusammenhält, doch dann muss ich den scheinbar nachgiebigeren Flügel mit beiden Händen aufstoßen, auch das genügt nicht, ich muss mit der Schulter, mit dem Knie nachhelfen, um die Reibung des Nussholzes am Boden zu überwinden. Überlaut hallt das Quietschen in der unfassbaren Stille. Instinktiv strecke ich die Hand aus, um rechts das Licht anzuknipsen, das nicht aufleuchten kann. Vorsichtig gehe ich ein paar Schritte weiter hinein, warte, bis ich mich an das Halbdunkel gewöhne. Die Schuhe stoßen klirrend gegen Tongefäße und wirbeln Staub auf, ich kann es riechen. Auswendig finde ich das einzige Fenster, und diesmal gehen die Läden willig auf.

Nach dem Erdbeben war ich nie wieder hier. Als ich mich entschlossen hatte, meine Tätigkeit anderswo wieder aufzunehmen, habe ich jemanden beauftragt, den Brennofen und einige andere Sachen abzuholen, das Allernötigste. Bei einer Manufaktur in Castelli habe ich neue Halbfabrikate zum Bemalen gekauft und auch neue Pinsel, Glasur und Farben, auch ein paar Schmuckelemente. Auf dem Markt der Piazza d’Armi habe ich eine große Plastikwanne zum Mischen der Glasur und einen langen Holzlöffel zum Umrühren erstanden.

Nur die fertigen, in Kartons verpackten Stücke sind heil geblieben, dort hinten stehen sie, ich könnte sie mitnehmen und den Inhalt verkaufen. Aus den großen Regalen an den Wänden dagegen sind fast alle Gegenstände herausgefallen, von den durch das Erbeben schrägen Brettern heruntergerutscht. Am Boden haben die Scherben gestrichelte Linien gezogen, die genau die Umrisse des großen Raums nachzeichnen, nur etwas enger. Auf der einen Seite liegen die Bruchstücke der Schrühware, weiter vorn die glasierten Flaschen, die noch trocknen mussten, und auf der anderen Seite, schon fertig zum Brennen, die Teller mit den Hähnen und die Apothekengefäße mit Motiven aus dem 16. Jahrhundert. Diese Arbeiten sind verloren.

Ich hebe eine Scherbe auf und lese unter einer Beere meine nach dem E abgebrochene Signatur. Wie durch ein kleines Wunder finde ich dann ein unbeschädigtes Glöckchen, das in einer meiner Gummilatschen gelandet ist. Ich puste es ab, während ich es langsam drehe und aus nächster Nähe die Einzelheiten des Blumenfrieses verfolge. Es war für Ostern 2009 bestimmt. Ich prüfe, ob der winzige Klöppel noch funktioniert. Das leise Geklingel wirkt wie ein Wecker, ich verliere Zeit, dazu bin ich nicht hergekommen. Ich stecke das Glöckchen ein und suche nach den Zeichnungen.

Die Ordner liegen in der Mitte des Tisches neben den Dosen und Farbproben auf den Ausschussziegeln. Einer davon ist bis ans Ende der Platte gerutscht und schwebt auf der Kante, halb in der Luft. Ich bringe ihn neben den anderen wieder in Sicherheit, im Staub bleibt seine saubere Spur zurück. Die Zeichnungen auf den von der Feuchtigkeit gewellten Blättern sind in gutem Zustand, ich werde sie noch verwenden können. Nur die Tinte ist an manchen Stellen leicht verwischt. Ich will schon hinausgehen, die Ordner unter dem Arm, doch dann gebe ich der Versuchung nach, auch den alten Kittel voller Kleckse mitzunehmen, den ich hier benutzte. Ich nehme ihn von seinem Haken, beschwert vom abgebröckelten Putz.

Der Tag draußen ist so klar, dass es schmerzt. Vom Hang des Monte Sirente fegt der Wind herunter und schlüpft in die vor ihm liegenden Gassen wie Finger in einen Handschuh. Er riecht nach Schnee und nach Harz, das an den Stämmen getrocknet ist. Ich muss meine Augen abschirmen, um das von blauen Stützbandagen zusammengehaltene Haus gegenüber zu betrachten. Aus der offen stehenden Balkontür im ersten Stock flattert träge der schmutzig-weiße Vorhang heraus, tanzt eine Runde und verschwindet, dann erscheint er wieder, je nach Laune der Luft, die ihn bewegt. Von dort duftete es nachmittags nach den Kräutertees von Signora Leda. Sie war sympathisch und litt an Arthrose, allerdings ein wenig geschwätzig. Wenn ihre Beine es erlaubten, kam sie herunter und überquerte mit einer vollen, auf dem Tellerchen zitternden Tasse die Straße, andernfalls rief sie durchs Fenster, um mich nach oben einzuladen. Ich stieg in die warme, dampfige Küche hinauf, und sie zählte mir gern die stets verschiedenen Namen der Mischungen auf, aus denen sie ihre Tees braute: Kaminfeuer, Wintergarten, Zauberwald. Wenn ich keine Lust hatte, ihr zuzuhören, schützte ich eine heikle Arbeitsphase vor und blieb unten. Für sie habe ich eine Teekanne bemalt mit den Früchten und Blüten der Zutaten und ihren Initialen L B über den Heidelbeeren. Auch die wird zerbrochen sein.

Ich denke fast nie an Leda. Doch jetzt reiße ich das Unkraut aus, das ungestört vor ihrer Tür in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen wuchert. Es hat schon seine Samen ausgestreut, der Winter hat es verdorren lassen, aber es leistet zähen Widerstand und schneidet mir in die Handflächen. Zu spät bemerke ich dabei das Motorengeräusch, das unten auf der Via Cascina näher kommt. Ich habe keine Zeit, mich zu verstecken, halte mir die Ohren zu und warte. Es dauert nur einen Augenblick, der Panzerwagen der Armee fährt schnell vorbei; flüchtig sehe ich die zwei Soldaten im Tarnanzug, sie reden und lachen, schauen nicht in meine Querstraße hinein.

Zurück bleibt ein Zittern und Schaudern, dann verhallt der Lärm in der Ferne, und über das Viertel legt sich wieder eine tödliche Stille. Auf dem Rückweg zum Parkplatz mache ich einen weiten Bogen um die Via del Drago, erfinde ich einen langen, gewundenen Umweg. Zum Verlassen der Roten Zone wähle ich einen Durchgang, der als sicher gilt, wo die Patrouillen nie vorbeikommen. In der Scheibe meines wartenden Autos spiegeln sich die schmutzigen Rückseiten aller Mauern, an denen ich entlanggeschlichen bin.

4

Am Anfang waren wir zwei dunkle Zellklümpchen, die unsere Eltern noch für eines hielten. Wir wuchsen heran im sanften mütterlichen Ozean, der rund um uns ganz langsam weniger wurde. Im neunten Monat schob sich der Fötus Olivia eines Tages mit der raumgreifenden, ruhigen Bewegung eines kleinen Körpers, der sich im Schlaf herumdreht, nach vorne, direkt unter die elastische Bauchdecke. Dort drang eine Ahnung von Sonnenlicht herein und undeutlich, gedämpft, der Klang der Welt. In jenem Bereich konnte man sich noch ausdehnen, den Umfang der unvollkommenen Kugel und die Spannung der mütterlichen Haut erhöhen. Das hat Olivia getan. Ich war dahinter in meiner Hülle zwischen ihr und den harten Knochenringen der Wirbelsäule eingezwängt. Ich habe die verbleibende Zeit in der Enge, im Dunkeln, in der Stille verbracht. Meine Schwester fing äußere Schwingungen und Einflüsse auf und behielt sie für sich. Sie genoss die kreisenden Liebkosungen der gewölbten Hände, die Rundung, hinter der sie lag, war den Blicken ausgesetzt. Ich konnte mich nur über die Nabelschnur und das Blut versorgen.

So malte ich mir, als ich ungefähr acht Jahre alt war, unser Leben in der Gebärmutter aus. Ich war überzeugt, einen Urnachteil erlitten zu haben, der alle meine Schwächen rechtfertigte. Daheim wollte ich immer wieder die Geschichte unserer Geburt hören, wie viel Gramm und wie viele Zentimeter mehr ihr zugefallen waren, von ihrem helmförmigen dichten Haarschopf und den Extra-Mahlzeiten, die sie unserer Mutter durch ihr unerträgliches Wimmern abtrotzte. War mein geringer Hunger gestillt, kam ich wieder in die Wiege, und sie wurde erneut am Busen angelegt für diese zusätzliche Ration Milch, die ich mir dicker, gehaltvoller, auch gelber vorstellte. Als Kinder trugen wir die gleichen Kleider in verschiedenen Größen, meine immer eine Nummer kleiner. Oft nannten sie uns Olivia und ihre Zwillingsschwester oder, noch schlimmer, Olivia und die andere.

»Du heißt nach einer Königin, das schüchtert die Leute ein bisschen ein, deswegen sagen sie nie deinen Namen«, tröstete mich unsere Mutter, wenn ich sie nach dem Grund fragte.

In der fünften Klasse Grundschule sah ich, wie ein Gassenjunge aus dem Dorf mich, als ich vorbeiging, seiner Bande zeigte, etwas sagte und alle losprusteten. Sie gingen schon auf die Mittelschule. Meine Schwester beobachtete sie finster und stumm. Als wir eines Nachmittags lässig aus dem Kommunionsunterricht kamen, saß er auf einer Gartenmauer an unserer Straße. Er musterte uns schon von weitem, Olivia ging in der ungewöhnlichen Junischwüle einige Schritte vor mir. Zu ihr hat er nichts gesagt, doch als ich auf der Höhe seiner baumelnden Beine ankam, trällerte er dreimal: Da ist ja die miese Kopie, und streckte den Fuß aus, bis er mich anstieß. Olivia drehte sich um, musterte ihn von unten, bevor sie ihn am Hosensaum herunterzerrte und auf den Boden warf. Wie versteinert, den Kopf zwischen den Händen, sah ich bewundernd zu, während sie ihn verprügelte wie ein Junge, ohne ihn zu kratzen oder an den Haaren zu ziehen. Mit Fäusten schlug sie zu und bekam durch den Überraschungseffekt selbst wenig ab. Schließlich richtete sie sich auf, ließ ihn geifernd im Staub liegen und versetzte ihm einen letzten Tritt in den Hintern. Sie sammelte auch unsere auf den Steinen verstreuten Katechismusbüchlein ein, ich weiß nicht, wie sie mir heruntergefallen waren. Dann, auf dem Heimweg, strich sie mir mit ihrer vom Raufen schmutzigen Hand sanft über die Wange. Als Entschuldigung für die zu meiner Verteidigung eingesetzte Gewalt und als Versprechen, mich lebenslang zu beschützen, auch vor ihrer eigenen Überlegenheit.

Später tat unsere Mutter so, als machte sie ihr Vorwürfe; gewisse Dinge, mahnte sie, müssten ihr oder Papa mitgeteilt und nicht mit Fäusten geregelt werden.

»Schließlich seid ihr nicht allein auf der Welt«, setzte sie noch hinzu. Schonend betupfte sie Olivias Wunden mit einem Desinfektionsmittel und versicherte sich ab und zu, dass ich noch hinter ihr stand, um ihr sauberen Verbandsmull zu reichen. Wie immer sorgte sie sich mehr um mich als um Olivia und die Schwellungen in deren Gesicht.

Am nächsten Tag sollten in der Schule die Klassenfotos gemacht werden, aber man konnte sich auch einzeln ablichten lassen. Der Fotograf zögerte kurz, als Olivia sich selbstbewusst in die Bank vor der Tafel setzte, auf der »Es lebe die 5b« stand.

»Du willst auch ein Einzelbild?«, fragte er mit einem Blick auf ihre blauen Flecken.

»Eins allein und eins mit meiner Schwester«, erwiderte sie und fuhr sich durch die Haare. Bevor sie zum Stift griff, um sich in Schreibhaltung in Positur zu setzen, zog sie aus der Schützentasche eine wer weiß wo ergatterte Sonnenbrille, mit der sie ihr blaues Auge und das angeschlagene Lächeln kaschierte. Im Objektiv eine zehnjährige Diva, heldenhaft und draufgängerisch.

Die Episode mit der Schlägerei erwies sich bei späterer Betrachtung als treuer Spiegel der ungleichen Beziehung zwischen uns Zwillingsschwestern. Aus Angst, uns zu verlieren, sind wir nie aus diesem Rahmen herausgetreten. Und in meinem inneren Album ist das Foto ihres kämpferischen Gesichts aus der fünften Grundschulklasse im Lauf der Jahre auf den ersten Platz vorgerückt und hat andere Momentaufnahmen unseres gemeinsamen Lebens in den Schatten gestellt.

Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher. Einige Millimeter Unterschied im Augenabstand genügten, ein etwas wärmerer Hautton, am Mund eine leichte Betonung des Amorbogens. Beim Malen erfahre ich jeden Tag, wie wenig es braucht.

Auf dem Gymnasium gingen wir in verschiedene, aber nebeneinandergelegene Klassen, doch ab der Hälfte des Vormittags durchdrang ihre Gegenwart die Wand, und ich spürte, wie sie sich, für die anderen unsichtbar, in meinem Klassenzimmer ausbreitete. So breitet sich jetzt, während ich arbeite, ab der Hälfte des Vormittags ihre Abwesenheit aus. Ich beschließe, eine Pause einzulegen, so sehr zieht sich die Kraft aus den Händen zurück in die Handgelenke, die Arme, zum Herzen. Ich trete an das große Fenster, das auf die Felder hinausgeht. Im Vorübergehen streichle ich den runden Mahagonitisch, der in meinem Wohnzimmer stand. Olivia und ich hatten ihn vor Jahren auf einer Antiquitätenmesse erworben, es sei ein englisches Stück aus dem 19. Jahrhundert, ein echtes Schnäppchen, hatte uns der Verkäufer versichert. Nach dem Erdbeben habe ich ihn gesäubert und vorerst auf seinen Messingrollen hier abgestellt. Ich weiß nicht, ob ich mir früher oder später wieder eine Wohnung um diesen Holztisch schaffen werde, der sich so angenehm anfühlt durch die ausgelöschten Spuren der anderen, die ihn vorher besessen haben.

Von draußen kommt auch an diesen kurzen Wintertagen immer viel Licht herein. Häufig genügt mir zum Malen der Sonnenschein, der durch die Fenster fällt. Und ich friere nie, der alte gusseiserne Ofen heizt den ganzen Raum, der Besitzer hatte recht. Gegen eine geringe Miete hat er mir das Erdgeschoss seiner Villa überlassen, dazu Berge von Brennholz und einen verrotteten Tisch an der Außenmauer, damit ich in der warmen Jahreszeit im Freien arbeiten kann. Es muss sich um eine Erbschaft handeln, aber ich weiß nichts darüber, ich werde mal die Briefträgerin fragen. Er lebt in Bologna und kommt einmal im Monat übers Wochenende, außerdem vierzehn Tage zu Weihnachten und den ganzen August. Innerlich nenne ich ihn den Professor; ich weiß, dass er an der Universität lehrt. Beim letzten Besuch vor den Feiertagen kauft er einen großen Karton voller Sachen von mir zum Verschenken, er wirkte ehrlich oder will mir einfach helfen.

Olivia würde dieser Ort hier gefallen, seltsam, dass er uns auf unseren endlosen Autofahrten entgangen ist. Jetzt würde sie mit dem Rücken zum Fenster sitzen und mir beim Malen zusehen. Wenn ich daran denke, fängt die Farbe an zu spinnen. Sie wird zäh und weigert sich eigensinnig zu fließen, oder aber sie wird zu flüssig und tropft auf die getrocknete Glasur. Der Pinsel stolpert über die mikroskopischen Unebenheiten der geschrühten Keramik.

Ich bin auf einer Insel gestrandet, die unversehrt geblieben ist, keine Bruchlinie führt hier vorbei, und außerdem war die Villa schon länger restauriert. Doch am Hang gegenüber kann man ein Dörfchen sehen, das durch eine Laune des Erdbebens zerstört wurde, und in der anderen Richtung, ganz unten dieser undeutliche Fleck, das ist L’Aquila. Von hier aus gesehen, könnte sie noch immer die sagenhafte Stadt der neunundneunzig Kirchen und neunundneunzig Brunnen sein. Ich könnte mich für heute Abend mit jemandem an der Fontana Luminosa verabreden und nach einem Film im Rex noch bis spät in die Nacht in einem Bierkeller in der Altstadt sitzen. Am nächsten Morgen würden mich um sieben die Glocken von San Pietro wecken, und ich könnte zu Fuß zur Arbeit gehen, quer durch die gewohnten Gassen.

5

Marco kam eines Nachmittags, als es in Strömen regnete.