Bella Stella - Brigitte Pasini - E-Book
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Bella Stella E-Book

Brigitte Pasini

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Beschreibung

Nach dem Tod der Eltern strandet die junge Stella orientierungs- und mittellos auf St. Pauli, wo sich Huren, Tagelöhner und Kriegsversehrte tummeln. Hier begegnet sie auch Lorenzo, der vor den Faschisten in Italien geflohen ist. Lorenzo verliebt sich in Stellas blaue Augen und erfindet sternförmige Nudeln für sie. Durch die Rezepte seiner Familie gewinnt er Stellas Herz. Gemeinsam entwickeln sie einfache Pastagerichte und gründen später das erste italienische Feinkostgeschäft Deutschlands. Doch als Lorenzo in seine Heimat reist, um Lieferanten zu gewinnen, ahnt Stella, dass der Preis zu hoch sein wird … Eine packende deutsch-italienische Liebesgeschichte im Hamburg der 1920er Jahre - voller Zeitkolorit, dramatischer Wendungen und großer Gefühle.

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EPUB
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Seitenzahl: 588

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Brigitte Pasini

Bella Stella

Eine deutsch-italienische Familiensaga

 

 

 

Über dieses Buch

Eine packende deutsch-italienische Liebesgeschichte im Hamburg der 1920er Jahre – voller Zeitkolorit, dramatischer Wendungen und großer Gefühle.

 

Holstein, 1922: Stella liebt das Leben auf Gut Friederkamp, wo ihr Vater als Verwalter arbeitet. Und sie liebt Carsten, den Sohn des Gutsbesitzers. Doch Carsten heiratet eine standesgemäße Frau. Und Stella wird nach dem Tod des Vaters einfach vom Hof gejagt. Mit gebrochenem Herzen und völlig mittellos strandet sie im Hafen von Hamburg.

 

Romagna, Italien: Lorenzo verdingt sich als Landarbeiter. Seine große Liebe gilt Giuseppina, der Tochter eines ehrgeizigen Kaufmanns. Als die Faschisten die Macht übernehmen, muss Lorenzo fliehen. Nach einer Odyssee durch etliche Länder landet er schließlich bei seinem Onkel in Hamburg.

 

Im sündigen St. Pauli erfahren Stella und Lorenzo große Armut, aber auch Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Doch werden sie auch ihre Herzen heilen können?

Vita

Hinter dem Pseudonym Brigitte Pasini verbirgt sich Brigitte Kanitz, die bereits zahlreiche erfolgreiche Romane publiziert hat. Sie lebt seit Jahrzehnten in Italien, hat aber noch einen Koffer in ihrer Heimatstadt Hamburg. Mit ihrer deutsch-italienischen Familiensaga «Bella Stella» verknüpft sie auch die spannende Geschichte ihrer eigenen Familie.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Carlos Westerkamp

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Ildiko Neer/Trevillion Images; Eduardo Mueses/EyeEm/Getty Images; ullstein bild – histopics

ISBN 978-3-644-40594-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

In Gedenken an meinen Schwiegervater Andrea D’Orazio (1910–1992), der es mit viel Mut und Einfallsreichtum geschafft hat, seine Familie durch die dunklen Jahre von Faschismus und Krieg zu bringen, und an meine Großmutter Martha Geilenberg (1896–1987), die zwei Weltkriege erlebte, zweimal alles verlor, zweimal flüchtete, zweimal bei null anfing.

Sie sind einander nie begegnet, waren jedoch aus ähnlichem Holz geschnitzt. Dank Menschen wie ihnen, einfachen Leuten, die es schafften, alte Feindschaften zu vergessen und neu aufeinander zuzugehen, leben wir heute in einem vereinten und friedlichen Europa.

Teil I

1922–1923

1. Kapitel

Gut Friederkamp, Holstein, März 1922

Die Mamsell fuchtelte mit dem großen Holzlöffel in der Luft herum. Es sah aus, als wolle sie die Dampfschwaden umrühren, fand Stella.

«Das Fräulein ist sich wohl zu fein geworden?», stieß Florentine Köpke zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. «Dem Fräulein ist mein Eintopf nicht mehr gut genug?»

Stella unterdrückte ein Seufzen und blieb zur Sicherheit in der offenen Küchentür stehen. Hätte sie bloß nichts gesagt! Mit der Mamsell war nicht gut Kirschen essen. Besonders nicht an nasskalten Tagen, wenn das Rheuma ihr zu schaffen machte. Das wusste jeder auf Gut Friederkamp, vom Gutsherrn höchstpersönlich bis hinunter zur einfachsten Magd.

Stella mochte Florentines Liebling sein, aber selbst sie durfte nicht am Essen herummäkeln. Doch als sie die Küche im Souterrain betreten hatte, da hatte sie nicht anders gekonnt, als zu sagen: «Igitt! Steckrüben!» Woraufhin sie sich die Mamsell zur Todfeindin gemacht hatte. Mindestens.

«Das ist ein saftiger Eintopf mit Kartoffeln, Zwiebeln, Hackfleisch und den zartesten Rüben», erklärte Florentine jetzt. «Hat noch keinem geschadet, herzhaft und gesund zu essen.»

Stella nickte, als würde sie ihr zustimmen. Trotzdem drehte sich ihr der Magen um. Dieser süßliche Geruch versetzte sie zurück in die Kriegsjahre, in denen es selbst auf einem großen Hof wie Friederkamp oft genug nichts anderes gegeben hatte, um die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Die Rüben, die eigentlich als Viehfutter angebaut worden waren, hatten nun für die Menschen herhalten müssen.

Zwar hatte die Mamsell damals versucht, hie und da etwas abzuzweigen von den Eiern, dem Fleisch und den guten Kartoffeln, die an die darbende Stadtbevölkerung abgeliefert werden mussten, und niemand auf Friederkamp bekam einen aufgeblähten Leib oder glasige Augen. Niemand starb an einer Grippe oder einem schwachen Allgemeinzustand – was nichts anderes gewesen war als der Hungertod.

Zuletzt jedoch war es immer schwieriger geworden. Es fehlten die männlichen Arbeitskräfte, es fehlten die Pferde als Zugtiere. Felder blieben unbestellt, das meiste Vieh war längst geschlachtet worden, und die Mamsell kochte Rüben – tagein, tagaus.

Stella rieb sich über den Bauch, so wie sie es damals oft getan hatte. Sie hatte nie besonders viel Appetit gehabt, und das war bis heute so geblieben – zum Kummer Florentines, die sich seit nunmehr neunzehn Jahren abmühte, dieses kleine Kind, dieses dünne Mädchen zu mästen.

«Es schmeckt bestimmt sehr gut», sagte Stella friedfertig. Zum Glück überdeckte jetzt der würzige Duft nach Zwiebeln und Hackfleisch den süßlichen Geruch der Rüben. Sie hatte schon befürchtet, schnell nach draußen laufen zu müssen.

«Denn ist ja gut», erwiderte die Mamsell, drehte sich zu dem riesigen Kohleherd um und tauchte den Löffel wieder in den Eintopf. «Und ich dachte schon, du willst von mir was Ausländisches zu essen haben. Vielleicht so ein blutiges Steak.»

Sie sagte «Schteg», doch Stella hütete sich davor, Florentine zu berichtigen. In der Schule hatte sie ein wenig Englisch lernen dürfen, und sie liebte die Sprache.

«Aber das brauche ich dir ja nicht zu kochen. Kannst du dir selbst aus den Rippen der Kuh schneiden. Blutig genug ist es dann.»

Herrje!, dachte Stella. Die Mamsell hatte wirklich einen schlechten Tag. Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen in der Hoffnung, ihr würde etwas einfallen, womit sie ihre alte Freundin und Beschützerin versöhnlich stimmte.

Das Gutshaus Friederkamp war ein zweckmäßiger, aber dennoch schöner Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit hohen Räumen, Kristalllüstern, edlen Teppichen, teuren antiken Möbeln und Jagdstichen sowie Trophäen an den Wänden. Stella fühlte sich dort oben immer ein wenig fremd und eingeschüchtert. Aber das Souterrain war nach dem Verwaltergebäude ihr zweites Zuhause. Sie kannte jeden Riss in der tiefen, weiß getünchten Decke, sie mochte den halbrunden Schwung der Fenster, sie kuschelte sich an kalten Tagen auf die Bank am Kachelofen, der neben dem Herd für wohlige Wärme sorgte.

Auf der Suche nach einer freundlichen Bemerkung starrte Stella so lange auf die Fliesen, dass das Schachbrettmuster vor ihren Augen zu tanzen anfing.

Sie rieb sich die Schläfen und sah schnell wieder hoch.

«Du kriegst doch nicht etwa einen Anfall?», erkundigte sich Florentine. Sie war immer noch gereizt, aber in ihrer Stimme klang auch die alte Sorge um das kränkliche Kind mit.

Stella wusste, dass Florentine sie mindestens genauso liebte, wie ihre eigene Mutter sie geliebt hätte, wenn sie nicht bei ihrer Geburt gestorben wäre. Deswegen sagte sie schnell: «Nein. Mir geht es gut. Du weißt, dass ich schon lange keine Atemnot mehr hatte.»

Das stimmte nicht ganz, denn Stella litt immer mal wieder unter dieser schrecklichen Enge in der Brust, aber die Mamsell musste das nicht wissen. Außerdem war es wirklich besser geworden. Meistens.

Als Kind war ihr Asthma viel schlimmer gewesen, und kein Arzt hatte helfen können. Einzig der heiße Dampf mit dem Duft nach Kamillenblüten, den Florentine ihr hier in der Küche regelmäßig vorgesetzt hatte, war wohltuend gewesen.

Während sie der Köchin treu in die Augen schaute, ging Stella zu dem großen Tisch und setzte sich.

«Ist dir schwindelig?», fragte Florentine prompt.

«Nein, bestimmt nicht.»

«Was willst du dann? Ich habe viel zu tun.»

Stella hätte ihr gern gesagt, dass sie einfach mal eine Pause brauchte. Nicht von der Arbeit im Stall oder im Verwalterhaus. Die tat sie gern. Sie fütterte die Kälber, streute Boxen ein, brachte den Schweinen die Reste aus der Küche. Nicht genauso gern, aber immer bereitwillig hielt sie das Haus sauber, machte die Wäsche, bügelte Vaters Hemden und ihre wenigen Kleider. Alles, was an diesem Sonntag zu tun war, hatte sie schon in den frühen Morgenstunden erledigt.

Nein, das war es nicht. Sie brauchte vielmehr eine Pause von ihrem Vater. Olaf Eriksen wurde immer mehr zum Griesgram. Seit er im Krieg ein Bein verloren und sich eine Herzschwäche zugezogen hatte, war er eigentlich nicht mehr fähig, seinen Posten als Verwalter auszufüllen. Dennoch hatte Gutsherr Wilhelm Friederkamp ihn nicht ersetzt, sondern ihm nur einen jüngeren, kerngesunden Mann an die Seite gegeben. Dieser hieß Peer Jentzen und war Olaf ein Dorn im Auge. Von morgens bis abends schimpfte er auf seinen Stellvertreter, der die Arbeit erledigte, die er selbst nicht mehr schaffen konnte. Das Geschimpfe hörte nie auf. Und es traf einzig und allein Stella. Niemand sonst wollte Olaf Eriksen mehr zuhören.

Wenn sie abends in der kleinen Stube beisammensaßen, knurrte er vor sich hin und ließ seinen Ärger an ihr aus. Durfte sie nicht einmal in Ruhe in einer Zeitschrift blättern, die Fotos von diesen modernen jungen Frauen in den Städten bewundern, die sich die Haare zu einem frechen Bubikopf schneiden ließen und unerhört kurze Kleider trugen?

Musste immer die Stimme des Vaters ihre Träume zerreißen?

Heute Vormittag war es besonders schlimm gewesen. Ähnlich wie Florentine bei nasskaltem Wetter ihr Rheuma spürte, so litt Olaf Eriksen an solchen Tagen schlimme Schmerzen an einem Bein, das gar nicht mehr da war.

Stella verstand das nicht, und sie hatte so gehofft, sie könnte ein paar Stunden für sich haben. Friedliche Stunden an einem Sonntagvormittag nach dem Gottesdienst, in denen sie ein bisschen lesen oder einfach nur aus dem Fenster schauen würde.

Aber nein. Ihr Vater war hereingeplatzt, hatte angefangen, über Peer Jentzen herzuziehen, und sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht den Stumpf gerieben. Deswegen war Stella fortgelaufen. Sie hatte es nicht mehr hören können. Und dann hatte sie hier im Souterrain der Geruch nach Steckrüben wie ein Schlag ins Gesicht getroffen.

«Hat es dem Fräulein die Sprache verschlagen?»

«Bitte, Florentine, nenne mich nicht so. Ich bin einfach nur dein Sternchen.»

Augenblicklich wurde das hagere Gesicht der Köchin weich. Früher einmal war sie mollig gewesen, und sie hatte immer ein Lächeln im Gesicht getragen. Der Krieg hatte sie verändert. Obwohl es längst wieder genug zu essen gab, blieb ihre Figur knochig, und das Lächeln war so selten geworden wie ein warmer Sonnentag im März. Aber jetzt brach es sich Bahn, hob ihre Mundwinkel, ließ die Augen leuchten und erhellte die Küche bis in die letzte Ecke. «Ich mache mir nur Sorgen um dich.»

«Das weiß ich. Aber es geht mir gut, wirklich. Ich … wollte dich nur mal sehen.» Das war wenigstens nicht vollends gelogen.

«Und dem Brummbären Olaf entkommen, nehme ich an.»

Stella nickte. Der Mamsell konnte sie nichts vormachen. «Es ist schwer mit ihm.»

«Glaube ich gern. Er hat es schwer mit sich selbst.»

Das Lächeln erlosch so schnell, wie es aufgeflammt war. Als hätte es verlernt zu bleiben.

Stella erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen gehofft hatte, ihr Vater und Florentine würden einander heiraten. Dann hätte auch sie ganz normale Eltern gehabt, wie die Kinder auf den anderen Bauernhöfen. Erst viel später hatte sie gelernt, dass Menschen keine Puppen waren, die das taten, was ein Kind sich wünschte. Florentine Köpke und Olaf Eriksen hatten sich nie besonders gut leiden können. Sie kamen miteinander aus, und sie teilten die Liebe zu Stella, aber sie mochten sich eben nicht.

«Meinst du, es wird noch mal besser?», fragte sie die Mamsell.

«Da mach dir man lieber keine großen Hoffnungen, Kindchen. Der Mann ist stur wie ein holsteinischer Ochse. Der ändert sich nicht mehr.»

Stella senkte den Blick auf ihren langen grauen Rock. Sie musste schnell an etwas anderes denken, bevor ihr der Kummer um den Vater den ganzen Sonntag verdarb.

«Ich hätte so gern ein neues Kleid», murmelte sie mehr zu sich selbst.

«Soso.» Florentine legte den Kochlöffel auf einen Teller neben dem Herd und setzte sich ächzend zu ihr an den zerkratzten Tisch. «Und denkst du dabei etwa an diese neumodischen Dinger, die glatt runterhängen und jede schöne weibliche Rundung verstecken?»

Stella spürte, wie sie rot wurde. Ja, genau so ein Kleid wünschte sie sich. Modern, luftig, nicht mehr so einengend wie früher. Sie hatte Fotos davon gesehen. Es hieß, immer mehr Frauen würden der Mode folgen und die Fesseln der Vergangenheit abstreifen. Genau so hatte es dort gestanden. Die Fesseln der Vergangenheit. Stella wusste, wie die sich anfühlten.

«Und wo man die Waden oder sogar die Knie sieht?» Florentines Miene wurde immer ärgerlicher.

«Ähm, ja.»

«Also, da brauchst du kein Geld für ausgeben. Im Keller liegen ein paar Kartoffelsäcke rum. Ich schneide dir einfach oben drei Löcher für den Hals und die Arme rein.»

Stella wollte lachen, aber zu ihrem eigenen Entsetzen brach sie in Tränen aus.

«Ach Gottchen, Deern! Musst nicht gleich losheulen, bloß weil die olle Florentine einen Witz gemacht hat.»

Die Mamsell stand auf, kam um den Tisch herum und drückte Stellas Kopf fest an ihren Busen. Allerdings nur kurz, denn im Grunde mochte sie keinen allzu engen Körperkontakt. «Tut mir leid. Ich dachte, du findest das lustig.»

Stellas dicker Zopf verhedderte sich in Florentines Schürze. Es ziepte heftig auf ihrer Kopfhaut.

Sie machte sich frei und stand auf. «Weiß ich ja. Aber ich bin noch jung, nächstes Jahr werde ich zwanzig. Ich will mal modern sein. Und diese schweren Haare will ich auch loswerden!»

Stella fand sich selbst hässlich. Alles an ihr war blass oder farblos. Die Haut bleich, die Haare mausbraun, die blauen Augen so hell wie der Mittagshimmel über Holstein an einem heißen, flirrenden Sommertag. Ohne richtige Farbe darin. Mit einem flotten Schnitt und einem schicken Kleid, so dachte sie, würde sie vielleicht aufregender aussehen.

Florentine hob den Blick flehend zur Küchendecke. «Etwa abschneiden? Willst du am Ende auch noch eine Frisur wie ein Mann? Das überlebe ich nicht!»

Sie blickte so ehrlich entsetzt, dass Stella nun doch lachen musste. «Keine Angst. Ich tue es ja nicht. Ich behalte meine langweiligen Kleider, Röcke und Blusen, und ich lasse die Haare, wie sie sind.»

Insgeheim wünschte sie sich aber wirklich einen Bubikopf.

Die Mamsell wirkte beruhigt. «Das kommt alles aus dem Ausland. Aus Amerika oder aus Frankreich. Sind alles verrückte Leute da.»

Im Grunde ihres Herzens hatte Florentine nie verwunden, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Stella hegte sogar den Verdacht, dass die Mamsell noch immer eine Anhängerin von Kaiser Wilhelm war, obwohl dieser dem deutschen Volk so viel Leid gebracht, längst abgedankt hatte und im holländischen Exil wohnte. Auch dass er sich nicht um die Leiden seiner einstigen Untertanen scherte, übersah Florentine.

Die Fesseln der Vergangenheit.

Stella wollte nur noch weg. Erst ihr Vater, der sich selbst einen Kriegskrüppel schimpfte, nun Florentine, die alles Neue ablehnte, die sogar Steckrübeneintopf gekocht hatte.

Übelkeit machte sich wieder in ihrer Magengegend breit, und sie wandte sich ab.

«Wo willst du hin?», fragte die Mamsell. «In zehn Minuten gibt es Essen.» Schon immer hatten die Leute aus dem Verwalterhaus mit den Bediensteten des Gutshauses gespeist. Das ersparte Arbeit und war praktisch für alle.

«Ich sage Vater Bescheid.»

Das war eine richtig große Lüge, und Florentine durchschaute sie natürlich, sagte aber nichts. Denn Olaf Eriksen kam gar nicht mehr ins Souterrain. Er behauptete, das laute Gerede bei Tisch schade seinem angegriffenen Herzen, und er ließ sich von seiner Tochter jeden Tag etwas von dem Essen ins Verwalterhaus bringen.

Stella zog sich ihren Mantel über und schlüpfte durch die hintere Tür nach draußen in den Gemüsegarten. Sodann wandte sie sich nach links und lief an der Rückseite des Gutshauses entlang bis zu einem Feldweg, der den Hügel hinauf direkt in ein kleines Kiefernwäldchen führte. Der Nieselregen hatte aufgehört, und hinter der Wolkendecke lugte eine tapfere Märzsonne hervor.

«Na, mein Fräulein, wo soll es denn hingehen?»

Der alte Jost Claasen war so schnell aus dem Wäldchen aufgetaucht, dass Stella einen kurzen Schreckensschrei ausstieß.

Er hob begütigend die Hände. «Tut mir leid, min Deern, ich wollte dich nicht erschrecken.»

Stella atmete flach, beruhigte sich jedoch schnell. Florentine hatte ihr stets eingeschärft, ein junges Mädchen dürfe sich nicht allein herumtreiben. Es laufe zu viel Gesindel herum, besonders in diesen harten Zeiten. Aber Jost war ein guter Freund. Seit vielen Jahren war er der Chauffeur des Gutsbesitzers, und Stella verbrachte gern Zeit bei ihm in dem zur Garage umgebauten Ochsenstall. Seit langem schon sagte Jost, er werde zu alt für diesen Beruf. Die neumodischen Autos seien ihm zu schnell, und er stehe Todesängste aus, wenn Wilhelm Friederkamp ihn aufforderte, das Gaspedal durchzutreten.

«Achtzig verdammte Stundenkilometer», schimpfte er.

«Wie bitte?» Stella war mit ihren Gedanken noch ganz woanders.

Jost stieß ein Knurren aus. «Mit achtzig Sachen musste ich vorhin über die Landstraße jagen. Ich dachte, der gute alte Phaeton bricht in der Mitte durch, aber der Herr Friederkamp hat nur gelacht.»

«Ach so.»

Jost war noch nicht fertig. «Unsere kleinen holsteinischen Straßen mit den vielen Bäumen rechts und links sind für so was nicht geschaffen. Wir sind ja hier nicht auf der AVUS-Rennstrecke in Berlin. Und nun träumt Herr Friederkamp von einem Bentley. Der soll noch viel schneller fahren. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass dieses Automobil in England gebaut wird und er praktisch vom Feind kaufen würde. Aber das hat ihn nicht interessiert. Falls er die nötigen Mittel beschaffen kann, will er sich unbedingt so einen Wagen zulegen. Tja, für mich wird’s dann wohl Zeit, meinen Hut zu nehmen.»

Noch so einer, dachte Stella. Noch so einer, der nur im Gestern lebt. Sofort dachte sie jedoch, dass sie dem alten Jost unrecht tat. Immerhin war er schon über sechzig, da fiel es bestimmt schwer, sich umzustellen.

Sie lächelte ihm freundlich zu, und er grinste zurück.

«Ein kleiner Waldspaziergang hat mich wieder beruhigt», sagte er. «Und du hast wohl denselben Wunsch?»

«Ja, ich brauche ein bisschen frische Luft.»

Wie alle auf dem Hof wusste auch Jost Claasen um Stellas Asthma. Früher hatte er sie oft zum Arzt nach Eutin und einmal sogar nach Lübeck gefahren. Also nickte er, lüftete seine Schirmmütze und ging an ihr vorbei.

Stella schaute ihm kurz nach.

Das Verwalterhaus und die Wirtschaftsgebäude waren von hier aus nicht zu sehen, und so bestand auch keine Gefahr, dass jemand Stella entdeckte. Wobei ich gar nichts Verbotenes tue, sagte sie zu sich selbst. Aber ein müßiger Spaziergänger wurde auf dem Land schief angeguckt. Auch am Tag des Herrn. Jost würde sie nicht verraten, wie auch sie ihn nicht verpfeifen würde.

Erst als sie schon ein Stück gegangen war, konnte sie wieder frei und tief atmen. Der würzige Duft der Kiefernnadeln vermischte sich mit dem satten, erdigen Geruch des Waldbodens und verdrängte jede Erinnerung an Steckrüben.

Nach einer Weile gelangte Stella zu ihrem Lieblingsplatz, einer umgestürzten Kiefer am Waldrand, und setzte sich auf den Stamm. Von hier aus hatte sie einen weiten Blick über das sanft hügelige Land Holsteins, über Äcker und Koppeln, über Wälder und Seen und über die typischen Knicks. Das waren niedrige, mit Hecken und Sträuchern wie Holunder, Haselnuss, Schlehdorn und Brombeeren bepflanzte Wälle, die nicht nur den Grundbesitz der Bauern festlegten, sondern auch das Vieh daran hinderten, zum Nachbarn überzulaufen. Zudem boten sie den scharfen Winden Einhalt, bevor diese den wertvollen Ackerboden mit sich forttragen konnten.

Der Himmel lag mit seinen Regenwolken schwer und tief über dem Land, aber mit etwas Glück würde er sich bald in den blauen Frühlingshimmel verwandeln, der sich weit und hoch bis in die Unendlichkeit dehnte. Stella liebte dieses Land zwischen den Meeren. Es war ihre Heimat. Zugleich jedoch spürte sie eine brennende Sehnsucht nach Veränderung, nach etwas Neuem. Ob alle jungen Menschen so hin- und hergerissen waren? Oder waren die Leute in der Stadt glücklicher mit ihrem Leben?

In weiter Ferne sah sie einen Reiter über die brachliegenden Felder preschen.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als er rasend schnell näher kam. Schon bemerkte sie das satte Dunkelbraun des Pferdes, und in der nächsten Sekunde erkannte sie Carsten Friederkamp, den Sohn des Gutsherrn. Zu seinen hohen Reitstiefeln und den Knickerbocker-Hosen trug er bloß ein halboffenes Hemd. Er würde sich wahrscheinlich den Tod holen. Es waren kaum über fünf Grad.

Stella stand von ihrem Baumstumpf auf, um Carsten auszuschimpfen, sobald er sie erreicht hatte, aber dann sah sie sein breites Grinsen, ihr Herz raste, und sie brachte kein Wort mehr heraus.

2. Kapitel

Die braune Stute war nass geschwitzt, so sehr hatte Carsten sie gejagt. Lorelei vereinigte in sich die besten Anlagen eines Holsteiner Pferdes. Sie war fast so groß und massig wie ein Kaltblüter, besaß aber mehr Temperament und Schnelligkeit als diese Arbeitstiere, die seit jeher in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Vom Charakter her war sie nervenstark und zuverlässig.

Carsten behauptete trotzdem immer, Lorelei sei ihm viel zu langweilig. Er brauche ein wirklich feuriges Ross, am besten ein Englisches Vollblut, um die schwere Rasse der Holsteiner zu veredeln.

Auf diese Weise zog er sich regelmäßig den Zorn seines Vaters zu. Ob er denn keine anderen Sorgen habe, hieß es dann. Es sei schwer genug, die Zucht wiederaufzubauen, nachdem so viele Pferde im Großen Krieg eingezogen worden und verendet waren. Man könne von Glück sagen, dass überhaupt noch genug Zuchtstuten vorhanden seien. Es sei schon schlimm genug, dass man auf fremde Deckhengste zurückgreifen müsse.

Damit spielte Wilhelm Friederkamp natürlich auf Landknecht an, Loreleis Vater, der nicht mehr zum Beschäler taugte, weil er sich nie von den Schrecken seines Kriegseinsatzes erholt hatte. Er war das verstörte, ja bösartige Pferd geblieben, als das er heimgekehrt war, und konnte nie mehr in die Nähe einer Stute gelassen werden, da er sogar nach Artgenossen austrat oder ihnen schwere Bisswunden zufügte. Wenigstens hatte er vor dem Krieg für Nachkommen gesorgt, und ein paar seiner Söhne und Töchter waren prächtig geraten.

Landknecht bekam sein Gnadenbrot auf Gut Friederkamp, aber niemand außer seinem alten Freund Olaf Eriksen traute sich noch in seine Nähe.

Stella schon gar nicht.

Während Carsten jetzt behände aus dem Sattel sprang, befühlte sie instinktiv die lange, mit den Jahren verblasste Narbe an ihrem Haaransatz. Dort hatte sie damals ein Vorderhuf des Hengstes getroffen, als sie so dumm gewesen war, in seine Box zu schlüpfen. Das war an jenem Tag passiert, an dem Gutsherr und Verwalter aus dem Krieg zurückerwartet worden waren. Stella, zu dem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt, wollte den wildgewordenen Hengst bändigen, um ihrem Vater eine Freude zu machen. Aber gerade als Landknecht an dem Apfel in ihrer Hand schnupperte, hatte es draußen einen Knall gegeben, eine Fehlzündung des Adler Phaetons, und das Pferd war hochgegangen. Hätte Carsten sie nicht in letzter Sekunde aus der Box gezogen, wäre sie wohl von den Hufen erschlagen worden.

«Hallo, Lütte», sagte er jetzt, und sein Grinsen wurde noch um einiges breiter. «Bist du mal wieder vor deinem Vater auf der Flucht?»

Er ragte über ihr auf, auch nachdem er abgestiegen war. Carsten war fast eins neunzig groß, ein Baum von einem Mann, mit kräftigen Schultern und muskelbepackten Oberarmen. Seine Haare besaßen die Farbe von reifem Sommerweizen, und die blauen Augen waren so dunkel wie Kornblumen. Außerdem nannte Carsten eine Selbstsicherheit sein Eigen, die fast schon an Arroganz grenzte. Wenn er einen Raum betrat, so nahm er diesen vollkommen ein. Stella hingegen verschmolz mit dem Hintergrund.

«Na, bist du stumm geworden? So schlimm heute?» Seine Stimme klang weich, und er lächelte freundlich auf sie herab.

Dennoch nickte sie nur. Noch immer war sie unfähig, einen Ton von sich zu geben. Stella hielt sich selbst für kindisch, weil Carsten sie allein durch seine Nähe regelmäßig in Verlegenheit brachte. Früher war sie völlig ungezwungen mit ihm umgegangen. Als Kinder waren sie die besten Freunde gewesen, fast wie Bruder und Schwester, schließlich hatten sie dieselbe Ziehmutter gehabt. Stella hatte es sogar genossen, dass er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste wegen ihres Asthmas, wie es sämtliche Erwachsenen taten. War sie mit ihm zusammen, dann fühlte sie sich beinahe gesund und normal.

Aber mit der Zeit hatten sich ihre Gefühle für Carsten gewandelt, sie traute sich jedoch nicht, sie ihm zu zeigen. So verlor sie jegliche Leichtigkeit im Umgang mit ihm und schwieg meistens in seiner Gegenwart.

Carsten schien von alldem nie etwas zu bemerken. Er ging noch immer mit ihr um wie mit einer guten Freundin oder einer kleinen Schwester. Wenn sie sich begegneten, war er zuvorkommend und immer gleichbleibend nett. Manchmal neckte er sie, andere Male schaute er sie mit einem Lächeln an, das beinahe zärtlich wirkte. Aber er kam offenbar gar nicht auf die Idee, zwischen ihnen könnte sich etwas geändert haben.

Der junge Friederkamp hatte es auch nicht nötig, auf die Liebe der Verwalterstochter zu warten. Er war einundzwanzig Jahre alt und galt als Schwarm aller Mädchen im weiten Umkreis. Ein wahrer Prachtkerl, zudem der Erbe eines großen Hofes. Jede Familie in Holstein und darüber hinaus hätte ihn mit Handkuss zum Schwiegersohn genommen. Daher machte sich Stella keinerlei Hoffnungen. Doch einfach vergessen konnte sie ihre Gefühle auch nicht. So blieb ihr nur die Liebe in der Stille.

«Gehen wir zusammen zurück?», fragte er jetzt. Ihr Schweigen machte ihm nichts aus. Wahrscheinlich, so dachte Stella halb amüsiert, halb bedrückt, war er ganz froh, wenn ein Mädchen mal nicht so viel plapperte. «Ich muss Lorelei ohnehin führen, damit sie nicht erhitzt im Stall ankommt. Mein Vater stellt mich sonst vor ein Erschießungskommando.»

Die Stute warf den Kopf auf und nieder, wobei kleine weiße Schaumflocken von ihrem Maul davonflogen. Ihre nassen Flanken zitterten, und die Hufe scharrten unruhig auf dem Waldboden. Obwohl zu massig für ein elegantes, modernes Pferd, war sie wunderschön, fand Stella. Trotzdem wollte sie dem großen Tier nicht zu nahe kommen.

Sie wusste, im vergangenen Jahr war Lorelei nicht trächtig geworden. Deshalb hatte Carsten die Erlaubnis erhalten, sie für seine Ausritte zu nehmen. Alle anderen fünf Stuten auf Friederkamp trugen inzwischen schwer an ihren sich rundenden Bäuchen. Im April und Mai würde es wieder Fohlen geben, und eine neue Generation von Holsteiner Pferden würde heranwachsen. Für Stella war dies die schönste Zeit des Jahres, denn sie brachte Hoffnung mit, auf Glück, auf Veränderung.

«Nun, kommst du mit, Lütte?», hakte Carsten nach. Er wurde langsam ungeduldig.

«Gern», sagte sie. Immerhin. Ein Wort.

«Na, denn mal los.» Er legte sich die Zügel kurz um den Arm, damit er die Hände frei hatte, um sich eine filterlose Zigarette anzuzünden. Das Rauchen hatte er sich schon vor ein paar Jahren angewöhnt. Stella mochte den Geruch nicht, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Carsten deswegen zu kritisieren.

Als die Zigarette brannte, nahm er die Zügel wieder fest in die Hand und marschierte vorneweg. Im Wald musste Stella hinter ihm und Lorelei bleiben und ließ einen gehörigen Sicherheitsabstand zur Stute, aber auf dem Feldweg, der zunächst noch am Waldrand entlangführte, konnte sie neben ihm laufen. Das Pferd hielt Carsten auf seiner anderen Seite fest am Zügel, und Stella fühlte sich beschützt.

Die Regenwolken brachen nun endgültig auf, und ein paar schwache Sonnenstrahlen tasteten sich zögerlich zu Boden.

«Ein Glück», meinte Carsten. «Wenigstens bin ich nicht klatschnass geworden.»

«Du hättest dir trotzdem eine Jacke anziehen sollen.» Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Carsten lachte. «Jetzt klingst du beinahe wie unsere strenge Florentine.»

Wie Stella war auch er ohne Mutter aufgewachsen. Margarethe Friederkamp war an einer Lungenentzündung gestorben, als ihr einziges Kind fünf Jahre alt gewesen war. Sein Vater hatte nicht wieder geheiratet. Es hatte andere Frauen im Leben des Gutsherrn gegeben, wunderschöne Frauen, doch sie kamen und gingen. Keine hinterließ einen bleibenden Eindruck auf dem Hof, keine wurde geheiratet, keine war gut genug, Margarethes Platz einzunehmen. Das Schicksal, Halbwaisen zu sein, hatte Carsten und Stella miteinander verbunden. Und sie beide hatten in der Mamsell eine Art Ersatzmutter gefunden, obwohl Carsten sich einige Jahre früher als sie von deren Rockzipfel gelöst hatte.

Stella schwieg wieder. Sie wollte weder mit Florentine verglichen werden, noch schätzte sie es, von ihm Lütte, also Kleine, genannt zu werden. Er sollte sie einmal, nur ein einziges Mal, als junge, schöne und liebenswerte Frau wahrnehmen.

Aber nicht in diesem langen grauen Rock, schoss es ihr durch den Kopf. Und nicht mit diesem dicken Haarzopf. Sie fand selbst, sie sah aus wie eine alte Jungfer aus dem vorigen Jahrhundert.

Carsten achtete nicht weiter auf sie, sondern sprach über sein Lieblingsthema, die Pferdezucht. Zwar war Gut Friederkamp nach wie vor ein Mischbetrieb mit Getreideanbau, Schweinemast und Milchviehhaltung, aber das Gestüt liebte Carsten am meisten. Seinem Vater erging es nicht viel anders, doch Wilhelm Friederkamp wusste, wo seine Verantwortung lag. Auch vier Jahre nach Kriegsende hatte sich die Landwirtschaft noch nicht vollends erholt, und die Menschen in Kiel, Lübeck und Hamburg brauchten Brot und Milch, Wurst, Kartoffeln und Eier – keine teuren Reitpferde für ihr Vergnügen.

Genau darin gipfelte der größte Streit zwischen Vater und Sohn. Wilhelm war durchaus gewillt, die Zucht in kleinem Rahmen weiterzuführen, aber es sollten Holsteiner der alten Art gezüchtet werden. Robust, arbeitswillig, vielseitig einsetzbar auf jedem Bauernhof.

Carsten hatte andere Pläne. Große Pläne. Er träumte von einem modernen Reitpferd. Der neue Holsteiner-Typ sollte schlanker und eleganter und temperamentvoller sein als seine Vorfahren; ein Pferd, das auch im Sport eine gute Figur machte.

Stella hatte ihm schon oft stundenlang zugehört, wenn er davon schwärmte. Nichts wünschte er sich mehr, als nach England zu reisen und einen edlen Deckhengst zu kaufen, der ihn seinem Ziel näher bringen sollte. Doch insgeheim teilte Stella die Meinung von Wilhelm Friederkamp, der das Ganze als Hirngespinst abtat. Kein Mensch brauchte ein Springpferd oder gar ein Dressurpferd. Die Zeiten so kurz nach dem verlorenen Krieg waren hart. Das deutsche Volk wollte das Elend hinter sich lassen, satt werden und vielleicht zu ein wenig Wohlstand kommen. Nur Dummköpfe bauten Luftschlösser. Aber natürlich behielt sie ihre Gedanken für sich. Niemals wäre es ihr in den Sinn geraten, Carsten zu widersprechen.

Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass er verstummt war und sie aufmerksam von der Seite her ansah.

Augenblicklich wurde sie rot. «Was ist?»

«Willst du es nicht mal wieder versuchen? Nur einmal? Nur ganz kurz?»

Sie wusste sofort, was er meinte, und schüttelte heftig den Kopf. «Nein!»

Seit dem Unfall mit Landknecht hatte sich Stella nicht mehr in die Nähe der Pferde getraut und schon gar nicht auf deren Rücken. Früher waren Carsten und sie auch ohne Sattel laut juchzend über die Hügel galoppiert, querfeldein über die abgeernteten Felder und manchmal auch verbotenerweise über einen blühenden Rapsschlag oder über eine Heuwiese kurz vor der Ernte. Das hatte dann mächtig Ärger gegeben mit ihren Vätern, aber Carsten hatte nur gelacht, und Stella hatte ihr schlechtes Gewissen verborgen.

Mit dem Reiten war es vorbei. Ein für alle Mal. Sie liebte die Pferde noch immer, aber sie traute sich nicht mehr in ihre Nähe.

«Ach komm, sei keine Bangbüx. Ich führe die Lorelei fest am Zügel. Sie ist jetzt ordentlich müde und brav wie ein neugeborenes Lämmchen. Wir werden nur Schritt gehen. Versprochen.»

Stella mochte es nicht, von ihm als Feigling bezeichnet zu werden, aber sie gab nicht nach. Unzählige Male hatte er es schon versucht, immer hatte sie sich geweigert.

«Nun, ich kann dich nicht dazu zwingen», brummte er jetzt, warf die nur zur Hälfte gerauchte Zigarette zu Boden und trat sie aus. «Aber irgendwann werden wir es schaffen.»

Es tat ihr leid, ihn verärgert zu haben, doch selbst ihre Liebe war nicht groß genug, um diese Angst zu überwinden. Trotzdem wärmte es ihr Herz, dass er nach wie vor an sie glaubte.

«Manchmal denke ich, es ist meine Schuld, was dir damals passiert ist.»

Erschrocken sah Stella ihn an. «Aber das ist doch Unsinn. Ich bin ganz allein auf den dummen Einfall gekommen, zu Landknecht in die Box zu gehen.» Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Keine Spur mehr von Sprachlosigkeit. «Du hast mich gerettet. Ohne dich hätte ich das nicht überlebt.»

Seine Miene blieb düster. «Ja, aber ich hätte das verhindern müssen. Irgendwie war ich ja für dich verantwortlich, und Vater hat mir später die Hammelbeine lang gezogen.»

Das überraschte Stella. Sie hatte davon nichts gewusst. Aber sie sagte sich, dass der Gutsherr wahrscheinlich mehr um die Nerven des Hengstes besorgt gewesen war als um die Gesundheit der Verwalterstochter.

«Lass uns nicht mehr davon reden», bat sie. «Es ist alles so lange her.»

Er nickte. «Wie du willst.»

Schweigend gingen sie weiter, bis sie schließlich den Waldrand verließen und nun einen freien Blick auf das weitläufige Anwesen hatten. Hier blieb Carsten stehen, und Stella tat es ihm gleich, während die Stute den schön geschwungenen Kopf senkte und zu grasen begann.

«Prächtig, prächtig», sagte Carsten mit Besitzerstolz in der Stimme. Seine Laune besserte sich schlagartig. Mochte er auch manches Mal gegen seinen Vater rebellieren, Stella wusste, er liebte jedes Tier, jeden Stein, jeden einzelnen Strohhalm auf Gut Friederkamp.

Tatsächlich bot das Gut von hier oben ein eindrucksvolles Bild. Das Haus selbst war kein pompöser Herrensitz, sondern lediglich ein größeres, langgezogenes Bauernhaus aus rotem Backstein mit einem hellen, tiefgezogenen Schindeldach.

Der Erbauer, ein Vorfahre der Familie, hatte Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nichts übriggehabt für prunkvolle Freitreppen, Türmchen oder verzierte Erker.

Dass das Anwesen über ein weitläufiges Souterrain verfügte, in dem die Dienstbotenzimmer und die große Küche lagen, sah man ihm von außen nicht an. Auch die elegante Ausstattung der Wohnräume, für die zweifelsohne die Gattin des Vorfahren verantwortlich gezeichnet hatte, blieb hinter den schlichten Mauern wie ein gutgehütetes Familiengeheimnis verborgen.

Was jedoch wirklich Eindruck machte, war die Anlage in ihrer Ganzheit. Das Verwalterhaus ein Stück den Hügel hinunter sah aus wie eine Miniaturausgabe des Hauptsitzes, die Wirtschaftsgebäude und die Stallungen in der Talsohle waren zwar zum Teil Holzbauten, fügten sich aber dennoch harmonisch in das Gesamtbild ein.

Eine lange, von Pappeln gesäumte Zufahrt schlängelte sich zur Landstraße hinunter. Der Hof wirkte wie frisch gefegt, und die Misthaufen hinter den Ställen sahen aus, als wären sie mit dem Lineal ausgerichtet worden. Sogar die mächtige Eiche, die schon hier gestanden hatte, bevor ein erster Bauer das Land gerodet hatte, und sich zwischen den Wirtschaftsgebäuden und dem Verwalterhaus behauptete, wirkte sauber und ordentlich.

Stella wusste, dies alles war das Verdienst des zweiten Verwalters Peer Jentzen und nicht ihres Vaters. Kummer zog durch ihr Herz.

Schnell richtete sie ihren Blick weiter in die Ferne, wo Pferde auf Koppeln grasten und die typischen Kühe Holsteins, die Schwarzbunten, auf einer Weide das junge Frühlingsgras ausrupften. Alles war schön, so wie es war. Carsten jedoch schien etwas anderes zu sehen.

«Eines Tages», sagte er, «brauchen wir keine Kühe, keine Schweine, keine Weizenfelder und keine Kartoffeläcker mehr. Auch keinen Raps. Eines Tages, wenn ich hier das Sagen habe, wird Friederkamp ein reines Gestüt sein. Stell es dir einmal vor: So weit das Auge reicht nur moderne Stallgebäude, Koppeln und eine große Herde edelster Holsteiner, die in ganz Deutschland – ach, was sage ich, in der ganzen Welt berühmt sind. Wäre das nicht wundervoll?»

«Und wozu hast du die Landwirtschaftsschule besucht, wenn du nur Pferdezüchter werden willst?», wagte Stella zu fragen.

Carstens schönes, kantiges Gesicht, das eben noch so hell gestrahlt hatte, verdüsterte sich mit einem Schlag. «Ich musste meinen alten Herrn zufriedenstellen. Er hatte damit gedroht, mich sonst in die Lehre auf einen Bauernhof irgendwo in Niedersachsen zu schicken.»

Stella erschrak heftig. Carsten so weit weg von ihr? Das wollte sie sich nicht einmal vorstellen.

«Welch ein Glück, dass du auf ihn gehört hast», erwiderte sie leise.

«Glück! Pah!» Er bedachte sie mit einem flammenden Blick. «Ich habe gehorcht, als er mir verboten hat, mich zum Kriegsdienst zu melden, und ich habe nun erneut gehorcht. Aber das wird das letzte Mal sein.»

Für den jungen, stolzen Mann war es eine Schmach gewesen, als er nicht hatte Soldat werden dürfen. Sein Plan war damals, Anfang 1918, gewesen, sein Alter zu fälschen, um sich rekrutieren zu lassen. Ein noch nicht siebzehnjähriger Bengel wäre gleich wieder nach Hause geschickt worden. Vielleicht auch nicht, hatte Stellas Vater mal gesagt. Im vierten Kriegsjahr sei das deutsche Kaiserreich wahrscheinlich verzweifelt genug gewesen, um auch Jungen in die Schlacht zu werfen. Stella, die damals von Carsten eingeweiht worden war, hatte nächtelang wach gelegen und gebetet, es möge ihm nicht gelingen.

Ihre Gebete waren erhört worden.

Obwohl Wilhelm Friederkamp fern der Heimat an der Westfront kämpfte, waren ihm die Pläne seines Sohnes zu Ohren gekommen, und er hatte in mehreren Telegrammen ein kategorisches Verbot ausgesprochen. Vielleicht wäre Carsten noch fortgelaufen, aber bis er die Courage dazu gefunden hatte, war der Große Krieg vorbei gewesen. Verloren.

Diese Schmach hatte er bis heute nicht verwunden.

«Und du, Stella? Wovon träumst du?»

Offenbar wollte er auf andere Gedanken kommen. Aber was sollte sie ihm antworten? Ich träume von einem flotten Bubikopf? Von einem leichten, luftigen Kleid mit tiefer Taille? Sie hätte sich dumm gefühlt. Oder sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Dass sie davon träumte, ihn zu heiraten?

Oh, das wäre wunderschön: liebende Gattin und Herrin auf Gut Friederkamp. Wie oft hatte sie sich insgeheim die Zukunft so vorgestellt. Würde Carsten sie nur ebenso lieben wie sie ihn, dann wäre sie zufrieden hier, dann stürbe dieser Drang, fortzugehen, hinaus in die Welt. Dessen war sie sich ganz sicher. Sie musste nur Geduld haben und warten, bis er seine wahren Gefühle entdeckte.

Natürlich sagte sie ihm nichts dergleichen. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und erklärte: «Ach, wovon soll ein armes Mädchen wie ich schon träumen. Ich bin mit meinem Leben ganz zufrieden, so wie es ist.»

Aber Carsten hatte bereits das Interesse verloren. Energisch zog er Lorelei am Zügel und ging schnellen Schrittes voran. «Komm, Lütte. Ich will nachsehen, wie weit die Lotte ist. Das Fohlen ist bestimmt bald da. Gestern hatte sie schon Harztropfen an den Zitzen.»

In dem Fall, das wussten sie beide, stand eine Geburt unmittelbar bevor. Lotte war die jüngste Tochter von Landknecht. Sie entsprach schon ein wenig mehr dem eleganten, modernen Pferdetyp, von dem Carsten träumte.

«Hoffentlich wird es ein Hengst», fügte er hinzu. «Ich habe große Pläne.»

Stella musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. So liefen sie schweigend den Hügel hinab.

Als sie das Verwalterhaus erreicht hatten, hob Carsten zum Abschied nur kurz eine Hand und zog mit der anderen Lorelei hinter sich her.

Traurig wandte Stella sich ab und trat in die Diele. Hier roch es wie immer ein wenig muffig. Stella wusste nicht, woher dieser Geruch kam. Sie lüftete täglich und putzte einmal in der Woche das ganze Haus. Aber wenigstens roch es nicht nach Steckrüben.

Sie fuhr sich schnell durchs Haar, glättete ihren Rock und betrat dann die gute Stube. Früher hatten sie und ihr Vater sich selten darin aufgehalten. Meistens nur an Feiertagen, manchmal an Sonntagen. Doch seit Olaf Eriksen schwer verletzt aus dem Krieg heimgekehrt war, bezog er hier Posten. Das Fenster führte zum Hof hinaus, und er hatte einen guten Blick auf alles, was vor sich ging. So saß er oft den ganzen Tag in einem Ohrensessel und schaute der Betriebsamkeit draußen zu, die Zeitung ungelesen auf dem Schoß. Dabei rieb er stundenlang über sein Holzbein – eine Angewohnheit, die Stella schier verrückt machte.

Es gab inzwischen viel bessere, moderne Prothesen aus leichtem Metall, aber Olaf Eriksen wollte nichts davon hören. Er müsse ja nicht mehr umherspringen wie ein Füllen, meinte er nur, wenn sie ihn darauf ansprach. Was er habe, genüge ihm völlig. Außerdem solle sie ihm mal einen anderen Mann zeigen, der es schaffte, ohne Krücke auszukommen. Das sei nämlich eine wahre Kunst, und das vermöge nur, wer einen so ausgezeichneten Gleichgewichtssinn wie er besitze. Dabei konnte er sogar lächeln und für einen kostbaren Augenblick der stolze Vater von einst sein. Dann kam es vor, dass er ihr übers Haar strich und ihr einen liebevollen Blick schenkte. Meistens jedoch war er übel gelaunt.

«Wie geht es dir, Vater?», fragte Stella nun versöhnlich. Sie war fest entschlossen, die schlechte Stimmung vom Morgen nicht wieder aufleben zu lassen. Er war alles, was sie hatte an Familie. «Soll ich dir einen Teller Eintopf von Florentine holen?»

Olaf Eriksen wandte langsam seinen Kopf, und als sie seinen stahlharten Blick bemerkte, erschrak sie bis ins Mark.

«Ich verbiete dir den Umgang mit dem jungen Friederkamp!»

«Aber … warum? Wir sind Freunde … schon immer. Und er ist der einzige andere junge Mensch auf dem Hof, mit dem ich mal reden kann.»

«Das ist unerheblich! Entweder du hältst dich von ihm fern, oder du kommst weg. Es gibt genügend Anstalten für ungezogene Mädchen wie dich!»

Ein altbekanntes Gefühl der Enge überfiel Stella. Es war, als ob sich ein Eisenring um ihre Brust schlösse. Tausend bunte Lichter tanzten vor ihren Augen. Im nächsten Moment wurde alles schwarz um sie herum, und sie sackte wie leblos in sich zusammen.

Nur aus weiter Ferne hörte sie ihren Vater noch ihren Namen rufen.

3. Kapitel

St. Pauli, Hamburg

Als die kleinen blechernen Glöckchen über der Eingangstür klingelten, hockte Luna Schuster hinter der mannshohen Ladentheke aus dunklem Mahagoni und prüfte, wie viele Päckchen Kaffee in dem geheimen Fach noch übrig waren.

Fünf nur.

Verflixt wenig.

«Hallo?», erklang eine gestelzte Frauenstimme. «Ist niemand da?»

«Doch», sagte Luna. «Momentchen.»

Sorgfältig schloss sie das Fach. Die Ladentheke besaß vier solcher Schubladen, eine über der anderen. Aber in den restlichen drei befand sich derzeit nichts als Luft. Da brauchte sie nicht nachzusehen.

Piet hatte das Monstrum, wie Luna die Theke insgeheim nannte, Anfang Januar zusammen mit einem Kumpel aus dem Hafen angeschleppt.

«Ist ’nem Kahn aus Brasilien von Deck gefallen, sozusagen», hatte er gemeint.

Er und sein Freund hatten das Monstrum erst mal in seine Einzelteile zerlegen müssen, um es in den kleinen Kellerladen zu schaffen, sonst wären sie damit gar nicht hineingekommen. Was Luna nicht unbedingt bedauert hätte. Denn als es endlich aufgebaut war, da war der Raum plötzlich nur noch halb so groß gewesen. Zwei Regale passten noch rein, fest an die mintgrün gestrichenen Wände gedrückt. Die Farbe hatte auch Piet organisiert, und mit der war Luna sogar einverstanden gewesen. Mit der Ladentheke nicht. Aber einem geschenkten Gaul glotzte man bekanntlich nicht ins Maul, und so hatte sie ihrem Piet einen dankbaren Schmatzer auf den Mund gedrückt.

«Hallo? Fräulein? Wo sind Sie denn?» Die Stimme klang jetzt höchst erbost.

«Bin ja schon da.» Luna krallte ihre Hände um die Kante der Theke und zog sich mit einiger Mühe hoch. Dann stand sie kerzengerade und staunte über das fremdartige Wesen, das ihr ein frischer Wind von der Elbe in den Kellerladen geweht hatte. «Nanu?»

Die Frau war schlank, mittelgroß und schien etwas älter als Luna zu sein. Vielleicht sechs, sieben Jahre. Anfang dreißig, maximal. Sie sah aus wie ein amerikanischer Filmstar. Luna kam nur nicht auf den Namen. Nackenlange, ondulierte dunkle Haare unter einem feinen Topfhut, dezent geschminkte Augen, ein wadenlanger Pelzmantel, Seidenstrümpfe und hochmodische Halbschuhe mit Absatz. Dazu eine flache Tasche unter dem Arm und helle, aus dünnem Kalbsleder gefertigte Handschuhe. Die Frau stand nur ein bisschen schief, aber Luna fand diese Tatsache hilfreich. Sonst hätte sie wirklich geglaubt, sie wäre in einem Film gelandet.

Die Fremde schien mindestens genauso über das Ladenfräulein zu staunen.

Kein Wunder, dachte Luna, die ihre Wirkung auf Menschen kannte. Sie war ebenfalls nur mittelgroß, dafür aber ausgesprochen mollig. Im Krieg war sie zwar mal dünner gewesen, aber kaum gab es wieder mehr zu futtern, da tauchten auch ihre Rundungen wieder auf. Ihr meist lächelndes Gesicht wurde von einer Flut schwarzer, krauser Haare eingerahmt, und ihre unglaublich großen Augen waren von einer seltsamen tiefvioletten Farbe. Die Haut war dunkler, als es nach einem norddeutschen Winter angemessen war. Da konnte Luna machen, was sie wollte. Mit Kernseife schrubben oder mit Kreide einreiben. Sie war zu ihrem großen Bedauern immer ein bisschen zu braun. Und es war ihr gleich, dass eine schöne Sonnenfarbe bei den Frauen jetzt in Mode kam. Sie sehnte sich nach vornehmer Blässe. Zum Glück waren ihre Gesichtszüge europäisch, und jeder, der es wagen sollte, sie eine Negerin zu nennen, konnte was erleben!

Ja, sie sah ein bisschen ungewöhnlich aus, aber der entgeisterte Blick der Dame fing an, sie zu ärgern.

«Womit kann ich dienen?»

«Wie bitte?»

«Was kann ich für Sie tun?»

«SIE?»

Kein Filmstar, dachte Luna. Eher eine Bankiers- oder Kaufmannsgattin aus Harvestehude, die den elend langen Krieg bestimmt auf einer vornehmen Pobacke abgesessen hatte. Und was wollte die überhaupt auf St. Pauli? Hierher in die Taubenstraße, kaum zehn Minuten zu Fuß von den neuen Landungsbrücken entfernt, verirrten sich normalerweise keine Besucher. Schon gar nicht am helllichten Tag. Nachts konnte es durchaus mal vorkommen, dass jemand auf der Reeperbahn oder am Spielbudenplatz falsch abbog und diese eher langweilige Seitenstraße entlangschlenderte. Wo es keine Theater, keine Nachtlokale und keine einschlägigen Etablissements für die Herren gab. An einem Montagvormittag war das hingegen noch nie passiert.

«Ja, ich», entgegnete Luna. «Sie befinden sich ja in meinem Geschäft.»

Die Dame schien mit sich zu ringen, sagte endlich: «Mein Absatz.»

«Hä?» Am Ende war’s eine Verrückte.

«Haben Sie Schwierigkeiten, mich zu verstehen?» Sie beugte sich hinunter – sehr leicht und elegant, wie Luna neidisch feststellte –, zog ihren linken Schuh aus und hielt ihn hoch. «Sehen Sie?»

Feinstes rotes Leder, zwei Riemchen und ein schiefhängender niedriger Blockabsatz. Womit die krumme Haltung erklärt wurde. Der Rest auch.

«Ich bin kein Schuster», sagte Luna freundlich, aber bestimmt.

Die Dame hob zwei perfekt gezupfte Augenbrauen. «Das steht aber draußen groß auf Ihrem Schild. Mein Chauffeur hat es eben entdeckt, deswegen haben wir hier überhaupt nur gehalten.»

Luna staunte. Sie kannte niemanden, der einen eigenen Chauffeur hatte. «Er hat leider nicht alles gelesen.»

«Das verstehe ich nicht. Wir haben uns verfahren, müssen Sie wissen. Ich bin ein wenig blutarm, und mein Arzt hat mir dreimal die Woche kräftigende Spaziergänge am Hafen empfohlen. Aber es ist nicht einfach, alles unter einen Hut zu bringen.»

Luna machte ein interessiertes Gesicht und bat den lieben Gott um Geduld. Vielleicht geschah ja ein Wunder, und die Frau kaufte am Ende noch was bei ihr. Ein Päckchen Kaffee zum Beispiel, wobei sie den Preis rasch kräftig anheben würde.

«Doch dann ist der Absatz gebrochen», fuhr die Dame fort. «Und ich dachte eben noch, es wäre ein Glück, dass mein Chauffeur die falsche Abzweigung genommen hat. Nun ersuche ich Sie, dieses Malheur zu beheben.»

Und bei der Gelegenheit, dachte Luna bei sich, konnte die Frau ein bisschen verruchte Halbweltluft schnuppern. Ein kleines pikantes Geheimnis vor dem langweiligen Gatten. Bloß schwierig, wenn die Halbwelt noch schlief.

Ob die Fremde womöglich deshalb so viel redete, weil sie sonst niemand hatte, der ihr geduldig zuhörte? War wohl einsam, das Leben in der schicken Villa am Alsterufer, wenn der Herr des Hauses den ganzen Tag in der Bank verbrachte. Oder im Kontor.

«Ich bedaure», erklärte Luna. «Vor dem ‹Schuster› da draußen über der Tür steht ganz deutlich das Wort ‹Feinkost›. Ist ein bisschen verwaschen, weil ich es nur mit weißer Farbe draufgepinselt habe. Wie auch immer. Das ist hier mein Laden, und ich heiße zwar Schuster mit Nachnamen, bin aber keiner.»

Sie hatte diesen Kellerraum mit der halben Treppe, die vom Bürgersteig nach unten führte, tatsächlich von einem echten Schuster übernommen und das Schild einfach behalten. Gustav Kölle war blind aus dem Krieg heimgekommen und hatte sein Handwerk nicht mehr ausüben können. Jetzt saß er irgendwo in so einer Anstalt in Alsterdorf und fabrizierte Besen. Tagein, tagaus nur Besen. Armes Schwein, der Gustav.

Aber diese traurige Geschichte interessierte die Dame vor ihr bestimmt nicht. Also hob Luna nur die runden Schultern. «Es gibt keinen Schuster hier unten für Ihren kaputten Absatz.»

Die Augenbrauen wurden zusammengezogen. «Höchst bedauerlich. Und sonst im Haus vielleicht?»

Also entweder war sie ausgesprochen dumm oder naiv. Wahrscheinlich beides.

Das schmucklose rote Klinkerhaus, in dessen Keller das Geschäft lag, verfügte über sechs Wohnungen in drei Stockwerken. Plus der Mansarde, in der Luna mit ihrer Mutter hauste. Handwerker lebten hier nicht. Es sei denn, man bezeichnete den Kalle als einen solchen. Der musste schon mal handgreiflich werden bei seiner Tätigkeit. Ob das als Handwerk galt?

«Nö», sagte sie. «Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.»

Die Dame schaute sich nun aufmerksam um. Sie betrachtete das leere Regal an der einen Wand und die wenigen haltbaren Lebensmittel auf dem zweiten. Etwas Mehl, Grieß, Haferflocken, getrocknete Bohnen. Dazu noch die Kiste mit schrumpeligen Kartoffeln und die holzigen Äpfel in einem Korb auf der protzigen Theke. Offenbar erkannte sie erst jetzt, wo sie gelandet war – in einem armseligen Laden mit verschmutztem Kellerfenster und einer alten, zischenden Gaslampe an der niedrigen Decke. Ein Laden, in dem ein halbvolles Fass Sauerkraut auf dem steinernen Fußboden kaum den alten Geruch nach Leder und Schuhwichse überdeckte.

Verlegen senkte sie den Blick. «Es tut mir leid.»

«Tja», meinte Luna gnadenlos. «Wer in einer Villa am Harvestehuder Weg in Saus und Braus lebt, ist wahrscheinlich den puren Luxus gewöhnt. Austern, Kaviar und so ’n Zeugs.»

Die Dame zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden. «Sie irren sich. Ich wohne in Eppendorf. Am Leinpfad.»

Nicht minder vornehm, dachte Luna. Und auch mit Blick aufs Wasser.

Sie kannte sich gut aus im reichen Hamburg. In ihren wenigen freien Stunden fuhr sie gerne mit der Hochbahn in die schicken Stadtviertel, um dort spazieren zu gehen, wo andere Leute sorglos lebten. Sie stellte sich dann vor, ihr gehöre eines der vornehmen Häuser, aber so ganz wollte ihr das nie gelingen.

Die Dame räusperte sich. «Mein Name ist Verena van Houten.»

Was sollte das werden? Eine Verbrüderung mit dem einfachen Volk? Luna nickte nur leicht und hoffte, sie würde nun endlich gehen.

«Darf ich fragen …»

«Nein!», fiel Luna ihr ins Wort.

«Aber die große Not ist doch langsam vorbei. Es gibt wieder Lebensmittel. Warum …?»

Lunas Blick hätte ein Dutzend Hafenarbeiter töten können, aber diese Verena van Houten ließ sich nicht einschüchtern. Stand da wie angewachsen, ein Fuß unbeschuht, und erwartete allen Ernstes eine Antwort. Luna empfand fast so etwas wie Respekt.

Doch was hätte sie sagen sollen? Dass sie zwar selbst genug zu essen hatte, weil ihr Verlobter sie immer mit den Armen voller leckerer Sachen besuchte? Dass sie aber keine Waren einkaufen konnte, weil jedes bisschen Geld, das sie einnahm, sofort an einen alten Chinesen drüben in der Schmuckstraße ging?

Das hätte nur noch mehr Fragen aufgeworfen.

Warum geben Sie einem Chinesen Geld?

Tja, wissen Sie, der besorgt das Opium für meine Mutter.

Luna stellte sich das entsetzte Gesicht der Dame vor. Beinahe hätte sie gelacht.

«Ich kann Ihnen Bohnenkaffee anbieten», sagte sie schnell. «Aus Brasilien. Garantiert echt. Ein Pfund für zehn Mark.»

Das war Wucher, viermal so teuer wie in jedem anderen Geschäft.

Verena van Houten schüttelte stumm den Kopf.

Immerhin, dachte Luna. Sie kennt sich mit Preisen aus und überlässt nicht alles der Köchin.

Doch dann schien es sich die Dame anders zu überlegen. Sie nickte langsam. «Den Kaffee nehme ich gern. Zwei Pfund, bitte.» Sie fischte aus ihrer Handtasche einen Zwanzig-Mark-Schein.

Luna bekam ein schlechtes Gewissen. Aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, war ihr Verena van Houten sympathisch. «Ich gebe Ihnen vier Päckchen dafür.» Womit sie immer noch prima verdient hätte.

«Zwei Pfund genügen, danke schön.»

Die beiden Frauen tauschten ein Lächeln. Es schien, als wüsste jede so ziemlich genau, was die andere dachte. Keine nahm es der anderen übel.

Luna holte zwei Päckchen Kaffee hervor und legte sie auf die Theke. Verena van Houten nahm sie, als hätte sie einen ganz normalen Einkauf getätigt und nicht eine gute Tat begangen.

«Wissen Sie, mein Mann Ferdinand ist Bankier von Beruf», sagte sie.

Aha, dachte Luna und lächelte in sich hinein. Habe ich ja gut geraten.

«Er meint, es wird alles bald noch viel teuer werden. Deutschland erholt sich nicht vom Krieg, und das Geld wird immer weniger wert sein. Ein Liter Milch könnte bald tausend Mark kosten.»

«Tausend Mark!», wiederholte Luna ungläubig. Sie hätte gern noch mehr dazu gesagt, zum Beispiel, dass das eine ganz und gar verrückte Vorstellung war. Sie war aber zu höflich, um einen Gatten namens Ferdinand zu beleidigen, den sie nicht persönlich kannte. Jedoch spürte sie, wie die kalte Hand der Angst nach ihr griff. Was, wenn der Herr Bankier recht behalten sollte? Wie, um Gottes willen, sollten sie und Mutter überleben?

Einen Moment lang schwiegen beide, dann ergriff Verena van Houten wieder das Wort: «Nun möchte ich Ihnen nicht länger die Zeit stehlen. Zudem werde ich bereits in einer halben Stunde in Friedrichsberg erwartet.» Sie schlüpfte wieder in den kaputten Schuh. «Leben Sie wohl, Frau Schuster.»

«Auf Wiedersehen», sagte Luna.

Im nächsten Moment stutzte sie. Friedrichsberg?

«Meinen Sie etwa die Irrenanstalt in Eilbeck?», fragte sie. Hatte sie am Ende doch eine Verrückte vor sich? Lunas Gedanken flogen zu Piet, und ein Schatten legte sich auf ihr Herz.

Die Besucherin schaute sie aufmerksam an. «In der Tat. Allerdings heißt sie nicht mehr Irrenanstalt. Nach Kriegsende hat sie den Namen Staatskrankenanstalt Friedrichsberg erhalten.»

«Das wusste ich nicht.»

«Nun, der Name ist sehr viel zutreffender, zumal bei uns die Kranken nach modernsten Methoden behandelt werden. Sie werden nicht als Gefahr für die Allgemeinheit gesehen, hinter Gittern weggesperrt und in Zwangsjacken gesteckt, sondern dürfen sich frei bewegen und erhalten allen Respekt, den sie verdienen.»

«Verstehe.» Luna bemerkte, wie eine Veränderung in Verena van Houten vorging. Von der gelangweilten Dame der Gesellschaft verwandelte sie sich in eine überaus engagierte Frau.

«Kennen Sie dort jemanden?»

Luna schüttelte den Kopf. «Nein.» Knapp, abweisend.

«Demnach sind Sie nur überrascht, weil jemand wie ich dort arbeitet?»

Sie war heilfroh, dass ihre wahren Gedanken nicht erraten wurden.

«Sind Sie Ärztin?», fragte sie.

«Nein.» Ein kleines bescheidenes Lachen hinter einer behandschuhten Hand folgte. «Nur eine freiwillige Pflegerin. Eine von vielen. Ich habe während des Krieges dort angefangen, weil ich etwas Nützliches tun wollte. Und bis heute habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden. Die meisten Insassen sind zurzeit ehemalige Soldaten.»

«Oh», machte Luna nur. Sie schämte sich für ihre schlechte Meinung von der Dame. Courage hatte die jedenfalls, und das bewunderte sie.

«Diese armen Hamburger Jungs», fuhr Verena van Houten mit leiser Stimme fort, und nun war in ihrem Auftreten gar nichts mehr von der vermeintlich sorglosen Bankiersgattin zu erkennen. «Sie haben ihren Verstand irgendwo in den Schützengräben verloren, wie andere einen Arm oder ein Bein. Das Höllenfeuer geht ihnen nicht mehr aus den Ohren – und die toten Kameraden nicht mehr aus dem Sinn.»

«Ja», murmelte Luna nur.

Aber Verena van Houten schien sie ohnehin nicht zu hören, sie redete schon weiter: «Es ist so furchtbar für sie. Und das Schlimmste ist, dass sie zu spät gelernt haben, dass der Feind dort im Schlamm hinter dem Stacheldraht auch nur ein junger Mann war, genau wie sie selbst. Jemand, der in einer anderen Zeit ein Freund hätte werden können, der vielleicht dieselbe Musik mochte, der auch Arzt oder Ingenieur werden wollte, der ein Mädchen liebte. So etwas zerbricht die Menschen. Dieses Wissen, dass alles sinnlos war.»

«Ja», sagte Luna wieder. «Ich weiß.»

Sie musste erneut an Piet denken und an das große Zittern, das ihn manchmal überkam. Aber Friedrichsberg? Niemals! Er war nicht verrückt! Mochte das Krankenhaus einen neuen Namen haben, für sie blieb es doch die Irrenanstalt. Und tief in ihrem Innern steckte noch der alte Aberglaube, dass die Menschen dort vom Teufel besessen waren.

Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Piet musste nur mal gründlich untersucht werden und eventuell ein paar Pillen schlucken. Manchmal fürchtete sie nämlich, er sei vor allem deshalb ganz wild darauf, sich in Gefahr zu begeben, weil er sich dann stark und lebendig fühlte.

Verena van Houten schien auf einmal Gedanken lesen zu können. Sie griff wieder in ihre Handtasche, holte eine Visitenkarte hervor und reichte sie Luna. «Dort steht meine Telefonnummer. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn ich etwas für Sie tun kann. Ich kenne die Ärzte dort ziemlich gut.»

«Vielen herzlichen Dank», gab sie inbrünstig zurück. «Auf dem Postamt gibt es bestimmt ein Telefon.» Und um von sich selbst abzulenken, fragte sie: «Arbeiten Sie dort in dieser feinen Kleidung?»

Verena van Houten stieß ein kurzes Lachen aus. «Natürlich nicht! Ich trage einen Kittel, eine Haube und bequeme flache Schuhe.»

«Da kann kein Absatz kaputtgehen.»

«Ganz recht.»

Wieder lächelten sie einander an. Und Luna stellte sich vor, wie es wäre, mit Verena befreundet zu sein. Es fühlte sich gar nicht so falsch an.

«Nun muss ich wirklich aufbrechen», sagte die Besucherin.

Sie drehte sich auf dem heilen Absatz um und schickte sich an, den Laden zu verlassen. Mit einem Fuß ging sie dabei auf Zehenspitzen. Unwillkürlich bewunderte Luna sie um ihre Haltung. Ob die Töchter der Hamburger Pfeffersäcke wohl lernen mussten, wie man in allen Lebenslagen den Rücken gerade hielt?

Verena van Houten wollte gerade die Tür öffnen, als diese von außen aufgerissen wurde und Pepita hereinstürmte. Sie lief direkt in die Dame hinein, landete zum Glück aber weich im Pelz.

«Dunnerlittchen!»

«Hoppla!», rief Verena van Houten. Sie schob die kleine Person sanft von sich weg und sagte zu Luna: «Ein ganz schön wildes Kind haben Sie.»

Luna spürte, dass sie rot wurde, was angesichts ihrer dunklen Hautfarbe jedoch nicht weiter auffiel.

«Das ist nicht mein Kind», erklärte sie, und sie war froh, dass ihre Freundin Pepita den Kommentar einfach überhörte. In Wahrheit hieß sie Petra Pinnetal, hatte ihren Namen aber schon vor Jahren abgekürzt.

Pepita interessierte etwas ganz anderes. «Sie sehen aber bannig vornehm aus. Ist das ein Bärenpelz?»

«Zobel», erwiderte Verena van Houten geistesabwesend. Dann stieß sie einen kurzen Laut der Überraschung aus. Genau in dem Moment nämlich, in dem Pepita zwei kurze Schritte zurücktrat und sie von unten nach oben musterte.

«Wer sind Sie denn?», fragte Pepita. «Ist das etwa Ihre protzige Kutsche da draußen? Und der Mann in der Uniform ist Ihr Kutscher?»

«Das ist ein Automobil», erwiderte Verena van Houten mit einem amüsierten Ton in Stimme. «Oder haben Sie Pferde davor gesehen?»

Pepita brach in ein heiseres Lachen aus. «Das weiß ich selber! Ich bin ja nicht dumm. Aber der Mann da draußen guckt so mucksch aus der Wäsche. Dem fehlen bestimmt zwei edle Gäule.»

«Aha.» Verena van Houten schien langsam überfordert.

Luna überlegte, ob sie ihr beistehen sollte, aber mit Pepita musste schon jeder selbst fertigwerden. Die junge Frau besaß das größte Mundwerk auf St. Pauli. Alles andere an ihr war klein. Sehr klein.

«Sie sind eine Zwergin», sagte Verena van Houten langsam. Es klang gar nicht mal beleidigend, nur wie die Feststellung einer Tatsache, aber Pepita war in diesem Punkt außerordentlich empfindlich.

«Und Sie sind eine eingebildete Pute im Bärenfell!»

«Gut getroffen!» Verena lachte, doch Pepita lachte nicht mit.

Luna mischte sich immer noch nicht ein. Niemand nannte Petra Pinnetal eine Zwergin und kam ohne Strafe davon. Sie selbst bezeichnet sich als kleine Frau. Die Zwerge und Liliputaner, das waren ihrer Meinung nach die anderen, die im Zirkus oder im Menschenzoo bei Hagenbeck auftraten.

«Sie sollten sich was schämen!», erklärte ihre Freundin jetzt. Dabei machte sie sich so groß wie möglich, was bei einem Meter und achtundzwanzig Zentimetern Körperlänge nicht viel war.

«Aber Sie sind hübsch.» Verena versuchte es mit einem Kompliment.

«Was Sie nicht sagen. Und Sie halten sich wohl für eine zweite Pola Negri.»

Luna musste grinsen. Das war der Filmstar mit den dunklen Haaren und dem ausdrucksstarken Blick, der ihr vorhin nicht eingefallen war. Verena van Houten hätte tatsächlich die Zwillingsschwester sein können.

Aber auch Pepita war bildschön, mit blonden Locken, seelenvollen braunen Augen, einem Kussmund und einer wunderschönen Figur. Nur eben im Miniaturformat. Auf ihre Art hatte sie das Beste aus ihrem Schicksal gemacht. Auf die unverschämte Frage, ob sie im Varieté arbeite, antwortete Pepita immer: «Mehr oder weniger.»

Luna beeilte sich, zu ihr nach vorn zu kommen. «Na, schon ausgeschlafen?»

«Nee. Aber ich habe … äh … gleich einen Termin. Beruflicher Art.»

«Am Montagmorgen», sagte Luna überrascht. «Wie ungewöhnlich.»

«Tja, ist ausnahmsweise dringend. Und die Zeiten sind schlecht. Mein … ähm … Geschäftspartner muss in ein paar Stunden abreisen. Kann ich Sophia vorbeibringen?»

Pepita wohnte im selben Haus, direkt unter Luna und ihrer Mutter.

Und Sophia war Pepitas Tochter. Fünf Jahre alt und kleiner als andere Kinder ihres Alters. Aber Pepita glaubte fest, dass Sophia nicht zu klein war.