Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Es ist 1999. Im Norden Indiens kommt es zu gefährlichen Grenzstreitigkeiten mit Pakistan. Während die indische Armee entlang der Grenze auf 730000 Mann erhöht wird, sterben keine 200 km südlich davon einige weiße Touristen in einem herrlichen Urlaubsort in den Bergen. Dirk Löffler, ehemaliger Kriminalkommissar in Hamburg, versucht hier, im Dorf Old Manali, zu vergessen. Mit Bergwanderungen, seiner einheimischen Geliebten und, manchmal, zu vielen joints. Inspector Dilip Kumar ist eher unsportlich, isst gerne ungesund, und hat den Hang, sich immer wieder bei seinen Vorgesetzten unbeliebt zu machen. So ist er in Manali gelandet, einer Kleinstadt auf 2000 m Höhe - weit entfernt von Delhi...Wo er sich jetzt aufs neue behaupten und diesen Fall schnellstens lösen muss. Der erste Fall führt die beiden zusammen. Im Wald, weit oberhalb von Dirks Haus, wurde ein altes Ehepaar ermordet aufgefunden. Ein Fund führt zurück in die frühen 70er Jahre und die Sternstunde der deutschen Rockmusik. Hier treffen wir u.a. die Band "Kasbah Temple", den LSD-Apostel Dr. Simon Leachy, Lalle Goltermann, das Sternenmädchen, und ihren Seelenverwandten Claus Ulrich Törner, den visionären Labelchef und Veranstalter des ersten deutschen Rockfestivals. Zwischen Ziegen, betrunkenen Bergtouristen, Schuhputzern, Schamanen und Göttern auf Viertausendern kommen ein kiffender deutscher Ex-Polizist und sein indischer Kollege Inspector Kumar ganz schön aus der Puste. Die beiden ungleichen Kriminalisten müssen das Geheimnis des weissen Bären lösen, sonst.....
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impressum
Texte: Copyright by Cord Rehren
Umschlag: Copyright by Cord Rehren
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Hauptpersonen:
Dirk Löffler - deutscher ex-Polizist
Inspector of Police - Dilip Kumar
Anju - Putzfrau und Geliebte
Lalle Goltermann - Sternenmädchen
Claus Ulrich Törner - Journalist, Musikproduzent
Johannes Kreidler - Bassist und Ziegenhirte
Andy - Säufer
Dr. Simon Leachy - Drogenprophet
Raju - Schuhputzkönig
Alpe Ram – Schamane
Prolog
Ein fensterloser Raum, in Schulterhöhe schräg zulaufend. Darin Verstärker, Kabel, Effektgeräte und mehrere langhaarige Musiker, die hochkonzentriert über ihre Instrumente gebeugt einen mal mäandernden, wabernden, dann wieder apokalyptisch kreischenden Sound erzeugen, angetrieben vom gnadenlosen Maschinenbeat des Schlagzeugers.
Hinter einer fenstergroßen Glaswand drei Tontechniker, die konzentriert an Reglern drehen und schieben. Poster an den Wänden mit Autogrammen zeigen bekannte Künstler, die hier schon aufgenommen haben. Im Aufnahmeraum ganz links sitzt die einzige Frau unter all den Männern an einer Farfisa Fast 3 Combo, eine elektrische Orgel, die vor einigen Jahren auf den Markt gekommen ist. Neben jedem Musiker steht eine Flasche mit Mineralwasser. Die session läuft schon seit einer guten Stunde ohne Unterbrechung. Es läuft gut, im Jargon der Zeit grooven die Musiker. Der süßlich-herbe Geruch von Marihuana liegt in der Luft. Die Bitte-nicht-Rauchen-Schilder hatten sie gleich am ersten Aufnahmetag umgedreht.
Es ist warm im Aufnahmeraum und immer wieder nimmt einer der jungen Musiker einen hastigen Schluck aus einer Flasche, um danach gleich wieder einzusteigen. Die junge Frau spürt, dass etwas in ihrem Rücken hinabfließt. Keine Schweißtropfen außen auf der Haut, sondern etwas ihr Unbekanntes, elektrisierendes, in ihrem Inneren. Eine kribbelnde Spannung scheint mit einem Mal im Raum zu herrschen, sie kann es fast riechen. Auf ihren Armen bildet sich Gänsehaut.
Die Frau schaut sich verwundert um. Ihr Blick bleibt mal hier, mal da hängen, an den wallenden goldenen Haaren des Gitarristen, dem chromblitzenden Schlagzeug, den Paisley Mustern der Teppiche. Ihre Hände, die über die Tasten gleiten, das Glas Wasser, das auf der Orgel steht, die Tasten selbst, alles verdoppelt sich, pulsiert im Rhythmus der Musik, von einem gelblichen Licht umrandet.
Sind das ihre Hände, die sich dort unten bewegen?
Woher kommen die Töne?
Sie spielt nicht mehr, es spielt sie, es fließt durch sie hindurch, aus ihr heraus, mühelos, und, ja, richtig, wenn sie genau hinsieht, kann sie den dünnen, gleißenden Energiestrom sehen, der aus ihren Fingern in die Tasten fließt.
Oder, eher, wenn sie nicht genau hinschaut, so ein klein wenig daneben, eher so unaufmerksam beobachtend.
Es erstaunt sie nicht, dass jede Note, die sie spielt, vor ihr erscheint, ein zitterndes durchsichtiges Stück Plasma, wie eine wunderschöne Qualle, die aus ihrem Blickfeld davon schwebt und durch die nächste ersetzt wird. Ihr Kopf bewegt sich jetzt wie ein Metronom. Sie schwitzt. Ohne es zu merken, ihre Kiefer pressen sich aufeinander, die Zähne mahlen. Ihr Pullover berührt die feinen Härchen an ihrem Hals. Kleine unendlich zarte Explosionen rasen durch ihre Wirbelsäule. Sie bemerkt Farbunterschiede in den Quallen, spielt damit herum, erzeugt Töne von tiefem Rot und Blau. Das Wort Farbton steigt in ihr auf, sie muss leise darüber lachen. Farbton, natürlich: Beide: Farben und Töne, waren eine Einheit, gehörten zusammen. Statt A-Dur könnte es genauso Grün heißen, einen C-Dur Akkord könnte man dagegen Rot nennen.
Ihre Gedanken springen jetzt zu der Farbe "Drometenrot", das im "Meister des jüngsten Tages" eine gewichtige Rolle spielt. Leo Perutz’ Buch hatte sie vor einiger Zeit beeindruckt gelesen.
Eine Weile spielt sie mit dem Namen Perutz herum. Was konnte ein Perutz sein? Ein kleines behaartes Tier vielleicht? Konnte man es in die Hand nehmen und streicheln oder würde es einen beißen?
Immer schneller kommen die Gedankenketten. Schon lange war von ihrer Orgel kein Ton mehr gekommen. Fiebrig jagen Bilder durch ihren Kopf. Vertraute Dinge werden mit geheimnisvoller Bedeutung aufgeladen.
Der Teppich ist nicht mehr das bekannte Ding, auf dem man wohligweich stehen kann, sondern hat wahrhaftig Tiefe und betont dies auch noch, indem das Muster in einem sanften Rhythmus vor- und zurückschwingt. Fremdartige Gesichter werden darin sichtbar, die sie an Azteken- oder Hindugötter erinnern.
Sie winken ihr zu, fordern sie auf, sich zu ihnen zu gesellen und mitzumachen beim Großen Tanz.
Dann Verlangsamung, Mitschwingen, Verstehen, danach aber gleich weiter, die nächste Gedankenkette und jetzt sehen,
genau sehen,
nach unten sehen.
Die Tastatur der Orgel gleicht einer galoppierenden Herde Zebras, auf die sie aus großer Höhe herabsieht. Ihre Hände fallen von der Klaviatur auf die Jeans, dann hebt sie sie langsam vor das Gesicht. Zum allerersten Mal betrachtet sie ihre Hände wahrhaftig, so scheint es ihr. Die Falten an den Gelenken, die winzigen goldenen Härchen, selbst kleinste Hautfetzen der Nagelhaut kann sie nur mit einer Art überwältigender, Ehrfurcht gebietender Klarheit und Schärfe betrachten. Ein plötzliches Gefühl tiefer Liebe für diese ihre Hände breitet sich in ihr aus. Sie möchte jauchzen vor Glück.
Sind dies nicht wunderschöne, eigenständige Tiere, mit zwei winzigen Herzen, die deutlich dicht unter ihren Handflächen pochen? Einzigartig und voll tiefer Bedeutung.
Sie sind so…heilig.
Sie führt eine Hand an die rechte Wange und streichelt sich langsam, während Tränen ihre Wangen hinab laufen.
Was…? Ein Flüstern, Knacken und Sirren im Ohr, wie von fern hört sie Stimmen, ein unangenehmes Geräusch, das an der Schönheit und Reinheit des Augenblicks kratzt und Einlass begehrt. Zwei besorgt aussehende, aber grotesk verdrehte Gesichter kommen auf sie zu. Kommen zu nah, viel zu nah. Vergessen ist alles Heilige.
Gefahr!
Fort mit euch, denkt sie, und lenkt ihre ganze gedankliche Kraft auf die abscheuliche Gnome, mit ihren krummen Nasen, den hervorquellenden Augen und dem Gestrüpp am Kinn.
Und wirklich, wie auf ihren Befehl hin weichen die langhaarigen Störenfriede mit beruhigenden Gesten und aufgerissenen Augen zurück und lassen endlich von ihr ab. Stehen dann aber immer noch, die Köpfe zusammengesteckt, bedrohlich im verbogenen Raum.
Wenn sie doch nur einen Raum ganz für sich allein hätte. Etwas Ruhe, das musste jetzt einfach sein, das hatte jetzt oberste Priorität.
Die Tür, auf der die bedeutungsvollen Buchstaben WC schweben, verspricht Ruhe und Sicherheit, aber der Weg dahin scheint zuerst unüberwindbar weit und mühsam. Das, was zwischen den Dingen ist, die Luft, der Raum, fühlt sich an wie eine dicke Decke frischgefallenen Schnees. Sie muss die Beine hoch anheben, um vorwärts zu kommen.
Es vergehen Ewigkeiten, bis sie endlich die Tür erreicht. Und überall Ablenkung. Überall gibt es etwas Wunderbares zu sehen.
Eine Fliege, die sich hartnäckig ihren Hals als Landeplatz aussucht. Die überraschende Entdeckung, wie fantastisch und gleichzeitig komplex Gehen ist. Seltsame Lichtblitze bei geschlossenen Augen. Das Muster des Teppichs, das vom aztekischen Fries in einem Atemzug zur gefährlichen, wirbelnden Tiefe wird, die droht, sie zu verschlingen, mit sich zu reißen in das Dunkel. Das Muster, ein schwingendes Netz, das alles verbindet und Alles ist. Konzentration auf das Muster. Es betrachten, ohne es zu bewerten. Es betrachten, ohne sich von seiner unermesslichen Schönheit und unaussprechlichen Bedeutsamkeit überwältigen zu lassen...
Moleküle, Sonnenstrahlen, Schnörkel, Wellen, Knoten, Fasern, alles einzig und alles eins, das allumfassende AUM, Samen, Skelette, Muscheln, Kapillaren, Maschendraht….eine Bilderflut strömt in ihr Bewusstsein, ein Baum, Herbststurm, Berge in Flammen, Lagerfeuer, Funkenflug, das Karussell auf dem Jahrmarkt, die Schule, ihr Cousin Robert, ein Tag am Meer, der Vater, groß, immer in schwarz. Mond, Sterne, schwebend auf dem Netz, sie selbst darin, ein Stern, ein kleines Feuer im Unfassbaren, Unnennbaren.
Sie hat keine Fragen mehr, alles ist jetzt klar, ist so klar. Sie kann voll innerer Ruhe dies alles nur bewundern und dankbar weinend anbeten.
Jetzt. Nicht zu weit nach links gehen, von dort kommen böse Farben, schlechte Vibrationen.
Jetzt. Eine Klinke. Eine Erinnerung formt sich. Dieses Metall muss man niederdrücken.
Jetzt. Hier war Ruhe. Und Sicherheit.
Sicherheit?
Sie tritt ein, drückt auf den Lichtschalter und lehnt sich mit dem Rücken an die Tür. Sie hat sich geirrt. Die Angst kommt ohne Vorwarnung, wie ein großes, schweres Kissen, das jemand nach ihr wirft. Ein Kissen, dass sie erdrückt und klein und hilflos macht.
Sie sieht die Fugen zwischen den Kacheln: Gitterstäbe. Sieht die Rippen der Heizung: noch mehr Gitter. Der Raum ist zu klein, beengt sie. Sie will rufen, aber was?
Irgend etwas. Aber es kommen nur kleine traurige Laute. Es gibt keinen Weg nach draußen, wohin sie auch schaut, nach links, nach rechts, geradeaus, keine Tür.
Kein Entkommen.
Sie sieht vor sich im Spiegel ein Gesicht, es ist ihr Gesicht und doch auch ganz fremd. Während sie hinschaut, zerfließt es, als würde jemand eine Kerze darunter halten. Haut und Muskeln werden zu einer zähflüssigen Masse, die Augäpfel gleiten darin nach unten.
Darunter kommt ihr blanker Schädel hervor. Nun verschwinden Kleid, Haare, Haut und Uhr und jedes Ich und der Totenschädel öffnet seinen Mund zu einem nicht enden wollenden Schrei........
1
Ein mächtiger Greifvogel, ein selten gewordener Indiengeier mit einer Flügelspannweite von über zwei Metern, verlässt die Felsen im breiten Tal, das zum Rohtang-Pass hochführt. Vergeblich hat er hier gehockt, in der Hoffnung, sich an einer verendeten Kuh, einem Schaf oder einem gestürzten Wasserbüffel den hungrigen Bauch voll schlagen zu können.
Es ist ein später Nachmittag im Himalaya und es ist an der Zeit, zu seinem Horst in einem Seitental weiter südlich zurückzukehren. Nach kurzem Suchen findet er einen der Luftströme, die ihn mühelos zu seinem Ziel bringen werden.
Kothi, das letzte Dorf vor dem viertausend Meter hohen Pass, gleitet unter ihm hinfort. Mit einer kleinen, kaum sichtbaren Veränderung der Flügelspitzen biegt er nach links ab, lässt schnell die Dörfer Palchan, Burua, Goshal und die weißen Sägezähne der Berge von Solang hinter sich.
Als nächstes steuert er den Grat an, der vom Berg Kunzum zum Dorf Old Manali hinabfällt. Hier führt ihn sein Kurs zum ersten Mal dicht an die Vegetation heran, und fast scheint er die Rhododendronbüsche zu berühren, die auf dem Grad wachsen. Etwas zu spät sieht er den Körper, der unter ihm im hohen Gras liegt. Vorsichtshalber dreht er seinen kahlen Hals nach unten und hinten, um abzuschätzen, ob dieses Wesen eine Bedrohung ist, doch längst schon haben sich Felsen und Bäume zwischen ihn und den Zweibeiner geschoben.
Das kräftige Rauschen der Flügel hat den Mann aus seinem Halbschlaf aufgeschreckt. Er schaut dem Geier hinterher, der erst fünfzig, gleich darauf schon hundert Meter entfernt ist. Der jetzt nur noch ein rasch dahineilender Fleck vor dem dunklen Grün der gegenüberliegenden Flanke des Kang Peri ist.
Der Mann trägt die Kleidung eines einheimischen Bauern, Hose und Jackett aus grobem dunklem Stoff. Eine Kulumütze sitzt auf den schulterlangen Haaren, in denen das Grau schon überwiegt. Das tiefgebräunte, unrasierte Gesicht mit Falten und Hakennase und auch die Silberringe in den Ohren können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein gora, ein Weißer ist.
Langsam stützt er sich auf seine Arme, sodass er gerade eben über das Gras nach unten schauen kann. Er liegt am oberen Teil einer kreisförmig gerodeten Lichtung von gut zweihundert Metern Durchmesser. Im unteren Teil dieses Kreises steht ein zweistöckiges Haus mit der hier üblichen Veranda auf drei Seiten, gebaut in einer Mischung aus grob behauenen Steinen und Zedernholzverkleidung. Ein dünner Rauchfaden steigt aus dem schmalen Schornstein im grün gestrichenen Wellblechdach. Eine ungeschickte Konstruktion aus Brettern und schiefen Betonpfeilern trägt einen schwarzen Wassertank, aus dem mehrere Rohre nach unten und dann in das Haus hineinführen.
Die Sonne ist jetzt hinter den Bergen verschwunden, Schattenfelder kriechen wie riesige Schnecken die umliegenden Hänge hinauf. Während auf den Gipfeln noch eine Zeitlang rötliche Farben erglühen, werden unten im Tal aus diffusen Dörfern leuchtende Kugelhaufen. Einige wenige Lichter sind hier und da verstreut oberhalb der Dörfer in den Wäldern zu sehen, in der gleichen Höhe wie dies Haus. Schnell wird es jetzt kühler. Der Mann faltet seine Hände, senkt einmal den Kopf und greift entschlossen neben sich. Er öffnet den Rucksack, der im Gras liegt und zieht eine draat, die im Himalaya gebräuchliche Machete, hervor. Eine grob geschmiedete Klinge, für das Arbeiten mit Pflanzen und Holz. Etwa so lang wie zwei Hände übereinander, danach die kurze gebogene Spitze. Die sorgfältig geschärfte Klinge glänzt im letzten Licht. Von weit entfernt wird das Rauschen der Flüsse Beas und Manalsu heraufgetragen. Sonst Stille.
Der Mann schaut sich um, vergewissert sich noch einmal, dass er allein hier ist. Vorsichtig steigt er ab, auf das Haus zu. Der Hang ist so steil, dass er seine Beine parallel setzen muss. Nach hinten hat das Haus keine Fenster, nur an der linken Seite fällt ein Lichtstrahl auf Gemüsegarten und Blumenbeete. Das Fenster hier ist zu weit über ihm, als dass er ins Innere sehen kann. Grobgehauene Steinplatten führen zur Veranda und der Eingangstür.
Das Außenlicht brennt, je eine nackte Birne an den äußeren Pfeilern des Verandavorbaus. Das Licht trennt mit hartem Schnitt das Haus von der restlichen kalten Welt.
Sekundenlang kann der Mann genauso wenig erkennen, wie zuvor in der Dunkelheit. Er erstarrt in seiner Bewegung. Etwas Dunkles liegt quer vor ihm auf dem Plattenweg.
Eine Schlange etwa? Jetzt, um diese Uhrzeit, auf dieser Höhe? Sehr unwahrscheinlich. Vorsichtig geht er Schritt für Schritt auf den seltsamen Schatten zu. Langsam beugt er sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. Er fühlt nicht, wie sich der Griff der Machete hart in seinen Oberschenkel drückt.
Im Licht der Sterne blitzen silberne Panzer und Augen auf. Eine dichte Straße aus Tausenden von Ameisen bewegt sich von irgendwo links aus den Schatten auf die Tür zu, unter ihr durch und verschwindet im Haus.
Der Mann zögert, dann drückt er die Klinke langsam herunter und reißt dann die Tür weit auf, bereit, hinein zu stürzen. In seiner rechten Hand hält er die draat, hoch über seinem Kopf. Er ist bereit, er möchte zuschlagen, SIE endlich vernichten und steht doch nur da und versucht zu verstehen, was er sieht.
Die Ameisenstraße endet an einem dunkelroten See, der den größten Teil des Fußbodens bedeckt. Vor ihm, in zwei Korbstühlen, sitzen zwei kopflose Körper, leicht verrutscht, etwa so, wie man sitzt, wenn man sich sehr wohl fühlt.
Oder sehr tot ist.
Der Mann schaut nach links. Vom Küchentisch tropft es rot auf den Fußboden. Das regelmäßige zähe Platschen ist das einzige Geräusch in der hämmernden Stille. Auf dem Tisch liegen zwei Köpfe in einer Blutlache, die Augen und die Münder halb geöffnet. Spöttisch, ja herausfordernd schauen sie ihn noch im Tod an. Zu spät gekommen, scheinen sie ihm zuzurufen und er kann ihre Stimmen zu hören.
So, genauso, wie damals.
Der Mann sieht nun mit Gewissheit, dass sie es sind, wegen denen er den langen Weg gekommen ist. Auf die er über zwanzig Jahre gewartet hat.
Er fühlt Erleichterung. Ein wenig Befriedigung. Aber vor allem fühlt er ein angstmachendes Gefühl der Leere.
2
Seine Augenlider fühlten sich klebrig an, er hatte stark pochende Kopfschmerzen und gern hätte er noch ein paar Stunden mehr geschlafen. Er hatte, wieder einmal, am Abend mindestens einen joint zu viel geraucht. Eher ein paar zu viel. Ohne seine Augen zu öffnen, wusste Dirk, dass es noch weit vor sieben Uhr war.
Die Sonne war noch immer hinter dem Vashishtberg auf der anderen Talseite verborgen. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie sich über Pandu Rupa, der Kuhweide auf fast viertausend Meter, erheben und ihre tägliche Rundreise über das Kulutal beginnen würde.
Am Abend hatte er die Gardine bis auf einen Spalt zugezogen. Ein Vogelschwarm durchquerte diesen Ausschnitt von links nach rechts. Dann hockten sich drei schwarze Gestalten auf das Geländer vor Dirks Schlafzimmer. Gedämpfte Geräusche und ein kühler Luftstrom kamen durch die halb geöffnete Tür, die zur Veranda führte, herein. Die Krähe links, deutlich jünger, in der Rangordnung ganz unten, war dafür aber der Gesprächigste der drei. Sie gurgelte, krächzte, jodelte und seufzte.
Die drei wohnten einen Steinwurf weiter rechts in einem Laubbaum auf Shantu Rams Gelände. Ein Haus stand dort, in dem wechselnde ältere Damen wohnten, alle nett, musste Dirk ja zugeben, aber mehr als small talk ließ er nie zu. Und alle diese Damen, ob sie aus Houston, Texas oder Tel Aviv, aus Montpellier, Sao Paulo oder Tokio kamen, alle fütterten sie die herumstreunenden Hundebanden. Zum Ärger sowohl der Bauern als auch von Dirk. Die sich dauernd streitenden Tiere zertrampelten das reifende Korn und ließen niemanden zu Schlaf kommen. Manche Nacht stand Dirk, nackt, wenn die Nachtluft es zuließ, mit der Zwille auf seiner Veranda. Meist genügte ein vager Schuss mit einem Stein in Richtung der Störenfriede.
Für eine halbe Stunde.
Da lobte Dirk sich die Krähen. Seine Krähen, wie er sie gern nannte, wohl wissend, dass ihr Arrangements klar formuliert war. Er gibt leckeres Essen, dafür darf er sich ihnen langsam nähern, sie fotografieren und mit ihnen sprechen. Nur keine hektischen Bewegungen, sonst wars das gewesen für diesen Tag. Seit Jahren legte Dirk ihnen Käserinden, Brot und Kekse auf das Geländer und sparte sich so nebenbei den Wecker.
Und die Alarmanlage. So wie jetzt.
Erst war ein lauter Warnruf zu hören, dann das heftige Schlagen von Flügeln, und schon waren die drei Gesellen verschwunden.
Die Eingangstür im Erdgeschoss knarrte. Jemand betrat unten die Küche, legte etwas Metallenes auf den Tisch, dann folgte das Geräusch nackter Füße auf der Holztreppe. Jeder Schritt wurde von einem leisen Klingeln begleitet, als würde von weit her ein von Pferden gezogener Schlitten durch eine Schneelandschaft auf ihn zukommen.
Glöckchen und Schritte näherten jetzt sich seinem Bett, Kleidungsstücke wurden ausgezogen und landeten auf dem Fußboden. Mit einem kräftigen Ruck wurde seine Bettdecke zur Seite gezogen, jemand setzte sich auf seinen nackten Bauch und zog spielerisch an seiner Nase.
„Namaste ji, darling, I missed you too much.”
Lächelnd öffnete Dirk die Augen und erblickte als erstes an diesem Morgen dicht vor ihm Anjus kurzrasierten Schamhaare. Darüber, etwas rechts die schlecht genähte und schlecht verheilte Narbe, die ein verpatzter Kaiserschnitt hinterlassen hatte. Weiter oben ihre kleinen Brüste mit den drei Haaren auf der linken Brustwarze, und endlich ihr Gesicht mit den dunkelbraunen, leuchtenden Augen, dem silbernen Ring im rechten Nasenflügel, den zahlreichen Ringen, die ihre Ohrmuscheln schmückten und ihre streng zu einem langen Zopf geflochtenen blauschwarzen Haare.
„Hey, ist das nicht meine Lieblingsputzfrau? Ich habe dich auch vermisst.“
Anju griff hinter sich, öffnete ihre Haare und ließ sie leicht über Dirks Brust streichen. Sie griff mit einer Hand in sein dichtes braunes Haar, verwuschelte es mit einer schnellen Bewegung, lachte leise und fuhr dann mit dem Zeigefinger sanft die Falten unter seinen Augen nach.
„Wann bist du angekommen?“, fragte sie mit der rauen Kleinmädchenstimme, die Dirk in Erregung versetzte, seit er sie vor zwei Jahren über seine englische Nachbarin kennen und lieben gelernt hat.
„Vor drei Tagen. Colombo, Delhi, Bhuntar. Du siehst ja, ich bin immer noch müde von der Reise. Wie spät haben wir’s denn?“
„Han ji, bald schon halb 8 Uhr……und? Bist du noch zu müde für mich?“, fragte sie schelmisch.
„Niemals“, sagte er, etwas übertrieben, und zog sie zu sich herunter.
In den nächsten dreißig Minuten war der Raum vom Klingeln ihrer Fußkettchen, leisen Seufzern und geflüsterten Koseworten erfüllt. Danach lagen sie eng beieinander.
Die kühle Morgenluft trocknete den Schweißfilm auf ihren Körpern. Anju zog das Federbett wieder über sich und ihren fünfzehn Jahre älteren, weißen Liebhaber. Seit zwei Jahren kam sie nun schon alle zwei Wochen in ihrer offiziellen Funktion als Putzfrau zu ihm. Aus dem anfänglichen Arbeitsverhältnis war sehr schnell eine heftige Affäre mit mittlerweile Vertrautheit und so etwas wie Verliebtheit geworden. Natürlich war am Anfang im Dorf getuschelt worden. Es gehörte sich einfach nicht. Eine verheiratete Frau, die bei einem weißen Junggesellen putzt! Auch wenn der Ehemann ein Trinker, Kiffer, Knastbruder und Spieler war. Kein schlechter Vater, wenn er mal nüchtern und zuhause war. Aber auch keiner, der Geld ins Haus bringt.
Trotzdem, es gehörte sich nicht, war gegen alle Regeln. Wenn die Dorfbewohner wüssten…
„Und, wie ist es dir ergangen in den letzten drei Monaten?“
Dirk legte seinen Kopf auf Anjus Schulter, mit der rechten Hand strich er sanft über die Narbe auf ihrem Bauch.
„Hey, was glaubst du? Ich war sehr allein. Eigentlich ist da niemand außer meinen Söhnen. Meine Nachbarn reden nicht mit mir, du warst fort und mein ach so schlauer Mann ist mal wieder im Gefängnis in Kulu. Er hat sich erwischen lassen, wollte Charas nach Jagatsukh bringen, in einem Koffer, so ein Idiot, welcher Bauer hier besitzt denn einen Koffer? Das fiel natürlich auf. Jiet Ram kam mit seiner Rikscha in eine Kontrolle. Weißt du, die Bullen haben jetzt lange dünne Nadeln, mit denen stechen sie in die Gepäckstücke. Wenn sie sie herausziehen, bleibt der charas daran kleben. Tja, Pech gehabt. Achtzehn Monate hat er bekommen. Er kommt also erst in zwei Jahren wieder raus. Meine Schwiegermutter spricht sowieso nicht mit mir, ich meine, jetzt spricht sie noch weniger mit mir als sonst, sie war ja immer gegen die Heirat. Und irgendwie hat sie ja Recht. Liebesheirat, Gott, was waren wir vernarrt in einander, damals, nach der Schule, und, naja, ein paar Jahre ging es ja auch ganz gut. Bevor ich merkte, was für ein Versager mein Mann ist.“
Anju machte einen Schmollmund. Sie sah aus wie ein kleines indisches Mädchen, das seinen Willen nicht bekommt.