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"Es ist alles nicht so, wie du geglaubt hast." Plötzlich wurde das scheinbar normale Leben der Autorin durch den Ausbruch einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung aus der Bahn geworfen. Sie schildert eindrücklich den langen Weg, den sie gehen musste, um das Trauma aufzudecken und wieder gesund zu werden. Dabei schont sie weder sich selbst noch ihre Mitmenschen, denn erst der klare Blick sorgt für Veränderung. Wer sie auf diesem langen Weg begleitet, wird mit Einblicken in eine andere, wunderbare Welt belohnt. Die Autorin nimmt den Leser/ die Leserin auf fesselnde und bewegende Weise mit, wenn sie die vielen Schichten ihrer Erfahrungen auflöst, um die Wahrheit zu erkennen und dabei zu heilen.
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Seitenzahl: 841
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-228-5
ISBN e-book: 978-3-99130-229-2
Lektorat: CB
Umschlagfoto: Sarah Meier
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Einleitung
Für alle, die den Mut und den Durchhaltewillen haben, mit mir zusammen hinzuschauen.
Hätte ich gewusst, dass ihr bei mir seid, hätte ich etwas weniger Angst gehabt.
Danke für eure Begleitung!
Für die, die ich in diesem Buch Ursula nenne: Danke, dass du meine „wilde Mutter“ geworden bist.
„Viele von uns haben ein Wüstenleben geführt: karg an der Oberfläche, enorm weitverzweigt im Untergrund. Während manche Frauen sich von Natur aus in den Einsiedeleien der Psyche heimisch fühlen, weil sie dort die größtmögliche Freiheit empfinden, fühlen die meisten Frauen sich aufgrund alter Verletzungen dorthin verbannt … Aber ich sage euch: Geht noch ein paar Schritte weiter in diese Leere hinein. Nur noch ein kleines Stückchen tiefer im eigenen Untergrund wartet etwas Heilsames, das niemanden zurückweist, der es bis hierhin geschafft hat.“ (Pinkola Estés, 1996, S. 40)
„Es ist diese kurze, vielleicht nur minutenlange, aber bewusst herbeigeführte Vereinigung mit der Seele, die uns bewegt, unser Innenleben für alle sichtbar auszustrahlen, anstatt es unter Bergen von Scham, Furcht vor Rache oder Attacken, Lethargie oder Ausreden zu begraben.“ (Pinkola Estés, 1996, S. 328)
Diese beiden Zitate aus dem Buch „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés haben mir immer wieder Kraft gegeben und Mut gemacht, wenn ich kurz davor war, aufzugeben. Sie haben letztlich bewirkt, dass ich trotz aller Rückschläge weitergemacht habe und dass dieses Buch den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat. Wer es liest, wird verstehen, warum.
Vorwort
„The cave you fear to enter holds the treasure you seek.“ Joseph Campbell (Campbell, 2022)
Die hier niedergeschriebenen Tagebucheinträge entsprechen der Wahrheit und meinem Erleben. Die Geschichten aus meiner Vergangenheit, die mir auf erstaunlichen Wegen zugetragen wurden, geben zwar meine Wahrheit wieder, weil sie für mich Sinn machen und mir mein Wesen erklären, ich habe jedoch nicht den Anspruch, zu behaupten, dass sich alles genau so zugetragen hat. Was mich betrifft, so sind die vergangenen Erfahrungen in meinem Körper gespeichert und sprechen eine unmissverständliche Sprache, denn der Körper lügt nicht. Ob die Bilder und Erklärungen, die mein Verstand dazu hervorgebracht hat, genauso unmissverständlich sind oder eher ein Versuch, Unerklärliches zu erklären, darüber kann und möchte ich nicht urteilen.
Die Namen der im Buch erwähnten Personen wurden zu ihrem und meinem Schutz geändert.
Außerdem schreibe ich dieses Buch aus Personenschutzgründen unter einem Pseudonym.
Ich habe dieses Buch für die Menschen verfasst, in denen beim Lesen etwas anklingt. Folgt einfach dem Klang.„Und seht, was ihr dann findet.“
Teil eins: „Ich“
Buch 1
„Wie können wir wissen, dass uns etwas entgeht, wenn wir von der Existenz dieser Welten bislang gar nichts wussten?“ (Levine, 2011, S. 356)
Dez. 2019–25.02.2020
Dezember 2019
Etwas finden, was mich trösten kann.
Dieses Notizbuch hat mir eine Freundin vor langer Zeit geschenkt. So lange ist es leer geblieben.
Ich wusste zwar schon immer, dass ich schreiben möchte und das auch gut könnte. Nur habe ich nichts zu sagen – nur dass nichts mehr geht.
Ich kann nur noch liegen und selbst im Liegen dreht sich alles, so schwindelig ist mir.
07.01.2020
Traum: *Ichschreibe eine Nachricht an Felix: Er solle mir meinen Schlüssel zurückgeben.
Welchen Schlüssel habe ich denn verloren? Den Schlüssel zu meinem Herzen. Felix hat ihn gefunden, ganz zufällig.
Tausend Türen gingen auf einmal auf in mir. Nur war ich davon abhängig, dass er den Schlüssel in der Hand hielt.
Als ich merkte, dass er mit seiner Macht über mich nur spielt, brach meine Welt zusammen.
„Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ (Matthäus 8.8)Ich glaube nicht an Gott. Aber dieser Satz aus der katholischen Liturgie hat mich immer berührt. Wenn ich beten könnte, würde ich das jetzt tun, aber ich weiß nicht, wie das geht.
Meine Psychologin Ursula sagt: „Nein sagen zu Grenzüberschreitungen, Ja sagen zu deiner Wahrheit und deinen Bedürfnissen.“ Nur bemerke ich Grenzüberschreitungen immer erst, wenn sie schon längst stattgefunden haben. Ich habe sogar aktiv dazu beigetragen, dass sie so lange bestehen konnten. Ich fühlte mich sogar besonders gut dabei. Was also ist meine Wahrheit und was sind meine wirklichen Bedürfnisse?
Bei meiner Cranio-Sacral-Therapeutin:In meinem Bauch ist eine schwarze, lebendige, bedrohliche Masse. Ich packe sie mit viel Anstrengung in ein Paket, denn sie wehrt sich sehr dagegen, ist äußerst schlüpfrig und beweglich. Erst mit der Hilfe von Stefan, meinem Mann, gelingt es. Ich lade das Paket auf eine große Steinschleuder, aber ich schaffe es nicht, das Seil der Schleuder zu durchtrennen und es wegzuschleudern. Das Paket liegt seither irgendwo in meinem Bauch, gut verschnürt, aber dennoch ein bedrohlicher Fremdkörper.
Meine Ärztin sagt, das, was ich hätte, sei kein Burn-out, wie ich zuerst vermutet hatte, sondern eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich bin etwas konsterniert: Ich soll ein Trauma haben?
Im Sommer 2019 wurde ich ganz plötzlich krank. Ich konnte von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten, nichts ging mehr. Zuerst glaubte ich, es sei einfach Liebeskummer. Ich hatte ein Jahr lang mit Felix eine Affäre gehabt. Ich hatte nicht wirklich verstanden, was da mit mir passiert war. Es war einfach geschehen. Eigentlich hatte ich gedacht, mit meiner Beziehung sei alles in Ordnung. Ich war zufrieden, nichts fehlte mir. Der Zufall wollte es, dass Felix und ich beide allein am selben Ort für ein paar Tage in den Ferien waren. Es passierte einfach. Ich erinnere mich, dass er mich fragte „Möchtest du das wirklich?“ und dass ich „Ja“ sagte, aber all dies geschah seltsam entrückt, so als ob ich plötzlich eine andere Person sei und mir von fern zuschauen würde. Den ersten Moment, als er von hinten an mich herantrat und mich mit ziemlicher Kraft bei den Schultern fasste, erinnerte ich nachher sehr lange Zeit nicht mehr. Ich hatte ein ganzes Jahr lang eine heimliche Beziehung mit ihm, bis mich seine Frau darüber aufklärte, dass er keineswegs vorhätte, sie zu verlassen. Ich realisierte: Ich war in einer Sackgasse gelandet. Ich ließ mich ein paar Wochen beurlauben, um den Schmerz über das Ende dieser Affäre zu verarbeiten. Als ich meine Arbeit wieder aufnahm, dauerte es nicht lange, bis der nächste Zusammenbruch kam: Während einer Sitzung bei meiner Cranio-Sacral-Therapeutin geriet ich in einen Zustand absoluter Bewegungslosigkeit1. Ein riesiger Schmerz übermannte mich. Ich wollte meine Augen öffnen und etwas sagen, aber das ging nicht. Ich war wie eingefroren. Als ob mein Körper schon tot wäre, schwebte ich über mir und konnte nicht mehr dahin zurück. Meiner Therapeutin zufolge kann es nicht lange gedauert haben, aber für mich fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Ich war nicht bei mir und wusste nicht, ob ich je wieder zurückkommen würde.
Nach diesem Erlebnis war klar: Das war viel mehr als „nur“ Liebeskummer. Ein Trauma, vermutete meine Ärztin. Also besorgte ich mir Bücher über Traumata, denn auf dem Sofa liegen und Lesen war das Einzige, was ich noch konnte. Jeder Kontakt mit anderen Menschen machte mir Angst. Sogar nach draußen in die Natur zu gehen, bereitete mir Angst. Mein Körper war in ständiger Alarmbereitschaft und gleichzeitig fühlte ich mich total erschöpft.
Beim Lesen bemerkte ich, dass das Gelesene bei mir gar nicht hängen blieb. Ich las so, wie ich immer gelesen hatte: Lesen war für mich eine Art Betäubung gewesen, ein Film, der innerlich abläuft und für momentane Unterhaltung sorgt, mich aber nicht wirklich berührt und darum gleich wieder vergessen geht. Ich konnte die gleichen Bücher daher immer wieder lesen, ich verschlang sie regelrecht, las in unglaublichem Tempo.
Viel später erst realisierte ich, dass dies eine meiner bewährten Trauma-Bewältigungsstrategien gewesen war: Solange ich las, musste ich meinen Körper nicht spüren, ich war in einer anderen Welt, einer, die nicht gefährlich war, da ich das Buch jederzeit zuklappen konnte. Es war eine Welt, über die ich die volle Kontrolle besaß.
Nun aber suchte ich nach Hinweisen, wollte das Gelesene verstehen, es nicht gleich wieder vergessen. Also begann ich, mein Lesetempo zu verlangsamen, indem ich mit dem Leuchtstift die Sätze markierte, die „irgendwie wichtig“ zu sein schienen. Sätze, bei denen etwas in mir anklang, auch wenn ich zunächst keine Ahnung hatte, warum. Hatte ich ein Kapitel beendet, las ich die markierten Sätze erneut. Fand ich sie immer noch wichtig, schrieb ich sie von Hand in mein Notizbuch. Oftmals hatte ich den Eindruck, dass ich erst dann den Sinn wirklich verstand und etwas davon in meinem Kopf begann, hängen zu bleiben, wenn ich hinterher das Notierte noch mehrmals las, wiederum mit Leuchtstift markierte, manchmal sogar wiederum abschrieb …
So arbeitete ich ganze Bücher durch und begann, mein Notizbuch mit Informationen zu füllen.
Dazwischen notierte ich auch meine Träume, die ich für unbedeutend und absolut unverständlich hielt, dennoch folgte ich dem Impuls, sie aufzuschreiben. Irgendwo musste ich ja anfangen.
19.01.2020
Traum: *Ich habe den Schlüssel zurückbekommen. Das Schloss ist riesig, der Schlüssel groß und schwer. Er passt, als ich ihn hineinstecke, aber ich öffne dieTür nicht.
Der erste Schlüssel waren die Bücher. Wie lange es dauern würde und wie viel Arbeit nötig sein würde, bis das Tor sich öffnete, wusste ich zu diesem Zeitpunkt zum Glück noch nicht. Ich hatte immer den Eindruck, nahe dran zu sein, der Schlüssel steckte ja schon im Schloss.
25.01.2020
Traum: *Ich soll mit meiner Tochter zum Zahnarzt gehen. Wir haben einen langen Weg durch eine fremde Stadt und sollen uns auch noch beeilen, kennen den Weg aber nicht so genau. Ich glaube, eine Abkürzung gefunden zu haben, und führe meine Tochter über einen Friedhof, der sich in einem steilen Gelände unterhalb einer Kirche befindet. Auf der anderen Seite muss gleich der Zahnarzt sein, hoffe ich. Da plötzlich betrachte ich diesen „Garten“, durch den wir gehen, etwas genauer: Am Boden liegen stinkende, tote Fische und sogar Leichenteile, von den Bäumen baumeln tote Schlangen. Ich bin entsetzt, nicht nur über den Zustand dieses Gartens, sondern vor allem auch darüber, dass ich meine Tochter auf diesen Weg geführt habe, ohne zu bemerken, wie schrecklich es hier ist. Ich erwache mit einem Gefühl unbeschreiblichen Entsetzens.
26.01.2020
Träume:
*Meine Tochter und ich sind in einem sehr großen Haus und suchen etwas. Das Haus ist riesig und wir betreten alle Räume, sogar den großen und sehr verwinkelten Keller, finden aber das Gesuchte nicht. Da bemerken wir, dass draußen noch ein Wintergarten ist. Wir gehen hinein. Da befinden sich viele Pflanzen. Ich denke zuerst, sie seien alle erfroren, denn draußen ist Winter. Dann jedoch entdecke ich, dass viele noch leben und einige sogar ausgeschlagen haben. Ich sammle sie ein und bringe sie in die Wärme, nachdem ich sie neu eingetopft und mit frischer Erde versorgt habe.
*Ich bin draußen im Schnee. Ich finde auf einem tief verschneiten Weg die gesuchten Schlüssel, einen nach dem anderen. Stefan, mein Mann, folgt mir mit einem Schlitten und bewahrt die Schlüssel, die ich schon gefunden habe, sicher auf. Der Weg ist so tief verschneit, dass ich auf allen vieren kriechen und tief graben muss, um siezu finden, aber ich finde sie alle.
Ich begann, Texte, von denen ich vermutete, dass sie etwas mit mir zu tun hatten, in Ich-Form aufzuschreiben. So, dachte ich, könnte ich sie besser „an mich heranlassen“. (Hier, im Buch, sind sie natürlich in ihrer ursprünglichen Form zitiert.)
Da meine Ärztin sagt, ich hätte vermutlich ein Trauma, wollte ich zumindest verstehen, was das genau bedeutet. Dies führte mich zum Buch „Sprache ohne Worte“ von Peter A. Levine. (Levine, 2011). Nur schon dieser Titel ängstigte und verwirrte mich sehr: Es soll eine Sprache ohne Worte geben? Das war unvorstellbar für mich.
„Schlichtes Gewahrsein hingegen, verbunden mit einer größeren Toleranz für bestürzende und beängstigende physische Körperempfindungen, kann wie durch Magie hochkomplizierten emotionalen und physischen Symptomen vorbeugen und sie auflösen.“(Levine, 2011, S. 351)
„Es geht hier nicht um die bloße Linderung von Beschwerden, sondern vielmehr um das Einlassen auf Bereiche unseres Seins, die uns fremd sind und mit denen wir uns lieber nicht beschäftigen wollen – Teile von uns, von denen wir uns abgeschnitten haben und die wir an irgendeinem Punkt unseres Lebens ‚beschlossen‘ haben, aus unserer Sicht zu verbannen und nicht mehr daran zu rühren.“(Levine, 2011, S. 352)
„Im Wachzustand sind wir uns dieser inneren Welt wahrscheinlich ebenfalls nicht bewusst, aber es ist möglich, sie aus dem entfernten Hintergrund in den Vordergrund zu locken und behutsam zu verführen, wenn auch nur flüchtig, in unser bewusstes Gewahrsein zu treten.“(Levine, 2011, S. 354)
„Die Fähigkeit des Körper-Gewahrseins muss sich langsam entwickeln. Wenn wir zu schnell zu tief wahrnehmen, können wir überwältigt werden, sodass wir Empfindungen nur noch stärker unterdrücken und abspalten.“(Levine, 2011, S. 356)
„Es ist durchaus möglich, dass bestimmte Erfahrungen wie aus dem Nichts einfach im Gewahrsein auftauchen … Ihr Verstand schaltet sich ein und versucht, zu verstehen, was da vor sich geht. (…) Es geht jedoch nicht darum, etwas zu ‚erinnern‘, auch wenn es durchaus möglich ist, dass Dinge innerlich spontan ‚wieder aufleben‘.“(Levine, 2011, S. 359)
„Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Verarbeitung von traumatischem Material (und zur Vermeidung der Fallgrube, sogenannten falschen Erinnerungen), so hat sich jedoch erwiesen, ist die Fähigkeit des dualen Bewusstseins: Hier liegt die Betonung auf den Empfindungen, Gefühlen, Bildern und Gedanken, die sichim Hier und Jetztentfalten. Auf diese Weise werden fragmentarische sensorischeElemente, die den Kern des Traumas bilden, allmählich zu einer zusammenhängenden Erfahrung integriert. Genau diese Transformation macht die Heilung eines Traumas aus – nicht das ‚Erinnern‘ als solches, sondern der allmähliche Übergang von Fixiertheit und Gespaltensein zu Fließen und Ganzheit.“(Levine, 2011, S. 360)
„Einer der Schlüssel für diesen Prozess besteht darin, die Vorstellung aufzugeben, bestimmte Empfindungen seien unbedeutend. Sobald Sie diese Einstufung vornehmen, verhindern Sie, dass sich die Empfindung bis zu dem Punkt entfaltet, wo sich ihre Bedeutung zeigt.“(Levine, 2011, S. 363)
„… dass kontinuierlich Ihr Gewahrsein auszurichtengenau das ist, was es braucht, um ‚ausgleichende Schritte‘ einzuleiten – weniger durch ein Tun Ihrerseits als dadurch, dass Sie der angeborenen Fähigkeit Ihres Organismus zur Selbstregulation nicht im Weg stehen“(Levine, 2011, S. 364).
Was ich hier las, machte mir große Angst. Ich spürte: Er hat recht und dies ist der Weg, den ich gehen muss. Ich hatte jedoch keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte. In mir drin etwas spüren? Ich spürte gar nichts oder wenn doch: riesige Angst.
04.02.2020
Mein Toleranzfenster ist winzig klein: Eigentlich ist alles zu viel. Ich schaffe es gerade, morgens aufzustehen und die Kinder zu wecken. Sobald sie in der Schule sind, breche ich zusammen und muss mich hinlegen. Ursula, meine Psychologin, sagt, ich soll „Löwenmutter für mich selbst sein“. „Du darfst Ruhe haben“, sagt sie. Ich jedoch mache mir große Sorgen. Ich kann nicht arbeiten. Wie lange wird das dauern? Mein Mann macht noch eine Ausbildung, wer wird das Geld für unsere Familie verdienen?
Ich machte mich in meinem Inneren auf die Suche: Welches Trauma könnte ich denn haben? Was ist in meinem Leben vorgefallen, das ich nicht richtig verarbeitet habe? Was dann hochkam, war die Geschichte meiner Pubertät und Jugendzeit: Ich hatte mich schon immer anders als die anderen Kinder gefühlt.
Als Zwölfjährige trat ich einem Jugendorchester bei. Wir hatten dieses Orchester an einem Konzert gehört. Es faszinierte mich, weil sie so ganz andere Musik machten, als ich es gewohnt war: Volksmusik aus verschiedenen Ländern, besonders aus Südamerika. Ich war begeistert und wollte da auch mitmachen. Das Orchester hatte Mitglieder aus der weiteren Region, deshalb fanden die Proben meist am Wochenende statt. Man übernachtete manchmal in Gastfamilien anderer Orchestermitglieder oder auch gemeinsam in Schulhäusern oder sogar Turnhallen … mir gefiel der offene Geist und der Kontakt zu den älteren Mitgliedern. Endlich Menschen, die ähnliche Interessen hatten wie ich. Tobias, der Leiter des Orchesters, war eine charismatische Persönlichkeit, die die Jugendlichen begeistern und anspornen konnte. Bald jedoch merkte ich, dass er auch die körperliche Nähe der Mädchen suchte. Auch bei mir begann er, ganz behutsam immer näher zu kommen. Ausgehungert nach Liebe, wie ich war, konnte ich nicht „Nein“ sagen. Ich fühlte mich seltsam angezogen von ihm, hatte aber gleichzeitig große Angst. Ich versuchte, zu verstehen, was da vor sich ging, aber das konnte ich nicht. Das Orchester machte fast jedes Jahr eine größere Reise ins Ausland. Zwei oder drei Wochen weg von zu Hause, so viele neue und interessante Eindrücke: Diese Reisen gehörten zu den schönsten Erlebnissen meiner Jugendzeit. Ich fand in dieser Gruppe endlich gute Freundinnen. Meine ganze Welt begann, sich immer mehr auf dieses Orchester auszurichten. Dazu gehörte auch immer die seltsame Faszination für den Orchesterleiter. Ich beobachtete ihn und begann, zu realisieren, welche Annäherungsspiele er mit mir und auch vielen anderen machte. Er ging in Kontakt. Wenn ich ihn erwiderte, ließ er mich eine Weile lang links liegen, bis ich so eifersüchtig auf die anderen wurde, denen er sich in der Zwischenzeit zuwandte, dass ich alles getan hätte, um seine Aufmerksamkeit wieder zu bekommen. Dann wandte er sich unvermittelt wieder mir zu und kam ein Stück näher.
Ich weiß nicht, wie bewusst er dies getan hat. Er schenkte mir die Liebe, die ich so dringend brauchte, und ich glaube sogar, dass dies aufrichtig gemeint war. Dass er dabei, je älter ich wurde, desto mehr Grenzen überschritt, hielt er offenbar für ganz natürlich. Ich ahnte zwar, dass da etwas nicht stimmte, glaubte jedoch immer, mitmirstimme etwas nicht. Dass ich einen Mann liebte, der so alt wie mein Vater war, konnte ich niemandem erzählen, schon gar nicht meinen Eltern. Die Einzige, die davon wusste, war eine Brieffreundin aus Belgien. In dieser Zeit heiratete er nochmals, seine neue Frau bekam zwei Kinder, die ich oft hütete. Es ist unbeschreiblich, in welchem Gewissenskonflikt ich jeweils war, wenn ich bei ihnen zu Hause war: Ich fühlte mich „wie zweigeteilt“. Ein Teil liebte sie alle, ein anderer Teil hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen und schämte sich zu Tode.
Später erst, mit achtzehn, als es auch zu richtigem Sex gekommen war, erzählte ich es auch meiner besten Freundin aus der Schule. Im Orchester hatte ich ein paar Freundinnen. Immer mehr wurde mir klar, dass er mit ihnen die gleichen Spiele trieb wie mit mir. Ich sprach sie darauf an, denn ich hatte die Hoffnung, gemeinsam könnten wir vielleicht besser verstehen, was da mit uns passierte, und uns gegenseitig unterstützen. Als er das herausfand, nutzte er diesen Tatbestand gerade noch einmal für seine Zwecke aus: Man kann ja auch Sex mit mehreren Mädchen gleichzeitig haben. Das war der Gipfel von Scham und Erniedrigung. Dennoch liebte ich ihn. Außerhalb der Schule war dies meine einzige existierende Welt und ich sah keine Möglichkeit, mich da herauszunehmen. Ich hätte alles verloren und besonders die Person aufgeben müssen, die ich seit Jahren wirklich liebte und mich in so vielen Bereichen beriet und unterstützte.
Zwar gab es Versuche, aber ich schaffte es nicht. Ich wechselte die Schule, ging weg von meiner Familie in einen anderen Kanton, ich schaffte es nicht. Ich fühlte mich so allein und verloren, es war nicht möglich.
Ich war über zwanzig, als ich endlich einen radikalen Schlussstrich zog. Ich wechselte erneut den Kanton, begann mein Musikstudium und wusste: Jetzt musste ich es einfach tun. Einige Zeit später, während meines Studiums, lernte ich Stefan kennen, meinen heutigen Mann. Kaum war ich mit ihm zusammen, erkrankte ich an Pfeifferschem Drüsenfieber. Im Laufe dieser Krankheit kam die ganze Geschichte wieder hoch in mir. Ich erkannte erst da: Was er mit mir und den anderen Mädchen getan hatte, nennt man sexuellen Missbrauch. Es stimmt nicht, dass ich es freiwillig getan hatte – wie ich mir immer eingeredet hatte. Ich hatte keine andere Wahl gehabt. Er hatte mich von sich abhängig gemacht und mich mit Liebesentzug massiv unter Druck gesetzt. Ich hatte eine verständnisvolle Geigenlehrerin, die mich sehr unterstützte. Sie empfahl mir Bücher, die mir halfen. Ich setzte mich jedoch eher auf der intellektuellen Ebene mit dem Thema auseinander. Meine Emotionen hatte ich seit dem radikalen Schnitt, den ich machen musste, um die Trennung von Tobias überhaupt durchziehen zu können, irgendwo weit unten in meinem Körper begraben. Es war damals die einzige Möglichkeit. Nur so konnte ich weitermachen, mich auf mein Studium konzentrieren. Die Emotionen zu begraben, war kein bewusster Entscheid gewesen, es war einfach geschehen.
Seit dieser Zeit litt ich unter schrecklichem Lampenfieber, das mit den Jahren immer schlimmer wurde. Es kam mir vor wie ein riesiges Monster, gegen das ich vergeblich kämpfte und das immer größer wurde. Die Musik war mir das Wichtigste und Kostbarste überhaupt und dennoch oder gerade deswegen machte es mir so große Angst, zu musizieren, sobald andere Menschen da waren.
Als die Geschichte des Missbrauchs in mir hochkam, wusste ich: Ich brauche jemanden, der mir hilft, diese aufzuarbeiten. Ich wusste: Es muss eine Frau sein und es muss jemand sein, der damit Erfahrung hat. So kam ich zu Ursula. Rückblickend gesehen war es Fügung. Mir wurde jemand empfohlen, der aber keinen Platz hatte und mir ihre Adresse gab. Sie rief mich an und sagte mir: „Ja, ich bin sicher, dass ich Ihnen helfen kann!“ Dieser Satz setzte sich in meinen Ohren fest. Immer, wenn ich am Verzweifeln war, wenn ich mich fürchtete, hörte ich die Überzeugung und Zuversicht in diesen Worten.
18.02.2020
Bei Ursula:
Das, was mir fehle, sagt sie, sei ein Grundbedürfnis: „In Resonanz gehen mit anderen Lebewesen“ nennt sie es und sagt, es sei etwas vom Schönsten, was man erleben kann: „Gleiche Schwingungen haben.“ Ich dachte immer, ich sei dumm, mir etwas zu wünschen, was offenbar gar nicht möglich ist.
Tobias hat das ausgenutzt.
Ursula sagt: „Kinder und Jugendliche sind immer abhängig von den Erwachsenen. Sie können nicht autonom handeln. Sie können sich nicht wehren oder befreien.“
Ursula sagt: Mein Verhalten damals war das einzig Mögliche und Richtige. Ich darf Mitleid haben mit dem Kind, das ich war, statt mir Vorwürfe zu machen.
Das klingt für meinen Verstand zwar plausibel, aber wie soll das gehen: Mitgefühl haben mit mir selbst?
Kann man überhaupt Gefühle haben für sich selbst?
Wo kann ich in Resonanz gehen mit anderen?
Warum schneide ich mich ab?
Der Fachbegriff dafür ist Dissoziation, lerne ich: Ich verlasse buchstäblich meinen Körper, wenn meine Angst zu groß wird.Meine Ohren rauschen immer lauter, so laut, dass alles andere in den Hintergrund tritt. Ich fühle nichts mehr, schrumpfe zusammen zu einem winzigen Punkt und dieser Punkt ist pure Angst. Ich bin zu keinem Gedanken mehr fähig, höre nicht mehr, wenn jemand zu mir spricht, ich bin nur noch Angst. Das kann so weit gehen, dass ich das Bewusstsein verliere. Ich erinnere mich, dass ich diesen Zustand auch früher schon hatte, z. B. wenn ich starke Menstruationsschmerzen hatte.
Mein größter Wunsch ist weit weg, unerreichbar weit weg: in Resonanz zu anderen gehen, aber mich selbst dabei immer spüren und meine Bedürfnisse nicht aufgeben. In Resonanz gehen, ohne mich abhängig zu machen, ohne mich selbst aufzugeben.
20.02.2020
Träume:
*Ich fahre mit meiner Schwiegermutter im Auto mit. Sie fährt langsam, denn um sie herum befinden sich lauter Fußgänger. Ein kleiner Junge kommt mit einem Fahrrad und stürzt direkt vor dem Auto. Er kann aufspringen und sich retten, aber das Auto fährt über das Velo. „Halte an, stopp!“, rufe ich, aber es ist, als ob sie mich gar nicht hören könnte. Sie fährt jetzt sogar etwas schneller. Ich überlege, ob ich einfach aus dem fahrenden Auto springen soll, aber das traue ich mich dann doch nicht.
Das erinnert mich an einen Traum vom August 2018:Felix, mein damaliger Geliebter, fährt mit mir und meinen Kindern von einem Berg herunter. Die Straße geht steil nach unten. Er fährt sehr schnell und bremst kein bisschen. Ich weiß, dass jetzt dann gleich die Einmündung in die Hauptstraße kommt, ich sehe sie sogar schon und er wird ganz sicher nicht bremsen können. Dennoch habe ich überhaupt keine Angst. Alles, was er tut, fühlt sich gut und richtig an, obwohl mein Verstand genau weiß, dass das schlimm enden wird.
*Ich bin auf einer Konzertreise. Wir kochen in einer Unterkunft. Dort ist es sehr chaotisch, überall liegen Kleider herum und es sind viele Leute da. Ich weiß, dass ich schwanger bin. Ich creme meinen Bauch ein, dem man noch nichts ansieht, und spüre: „Dieses Kind wird ganz anders werden!“ Es ist in mir eine schöne Ruhe und die Gewissheit, dass alles gut kommen wird.
Buch 2
„Barmherzigkeit“
27.02.2020–20.03.2020
„Träume sind Pforten zum Nächsthöheren. Sie sind Vorbereitungen und Übungsschritte, damit der nächste, entscheidende Schritt von der ganzen Person nachvollzogen werden kann …“ (Pinkola Estés, 1996, S. 74)
„Der laufende Genesungsprozess … lehrte mich, mich selbst so zu umsorgen, wie man es für ein Kind tun würde, das Hilfe braucht und verdient.“(Walker, 2019, S. 28)
Meine Cranio-Sacral-Therapeutin sagt: „Die Kraft ist in dir, du musst nur zulassen, dass sie dich heilen darf.“ Das klingt schön, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll. Ich wünschte mir, dass jemand kommt und sagt „Ich heile dich“, aber da ist niemand.
27.02.2020
Traum: *Ich liege ganz zusammengekauert, in Embryo-Stellung, im Bett. Eine Stimme sagt:
„Es ist nötig, dass sich alles so zusammenzieht, damit du daraus herauskommen kannst!“
Dieser körperliche Zustand des Zusammenziehens kam immer wieder, und zwar immer genau in dem Moment, wenn ich das Gefühl hatte, es geht mir endlich etwas besser. Gleich hatte ich den Impuls zurückzukehren ins Leben. Ich packte irgendetwas an: Etwas Dringendes im Haushalt oder ich knüpfte Kontakte, wollte jemanden zu einem Spaziergang treffen, etwas abmachen oder telefonieren. Nach wenigen Stunden schon kam dieses Zusammenziehen. Manchmal wehrte ich mich dagegen, ignorierte es einfach. „Es“ war jedoch stärker als mein Wille. Am Ende blieb mir nur: aufgeben, mich erneut hinlegen. Akzeptieren, dass es eine ernste Krankheit ist, eine, die nicht in ein paar Wochen vorbei sein wird. Akzeptieren, dass hier eine Kraft am Werk ist, gegen die mein Wille, zurück in mein vorheriges Leben zu gehen, machtlos ist.
Mich wieder hinlegen, weitermachen mit Lesen. Stellen, die mir wichtig erschienen, herausschreiben, das war das Einzige, was dann noch möglich war.
18.02.2020
Traum: *Ich fahre mit Felix Sessellift. Ich würde gerne seine Hand halten und überlege, ob ich das tun darf. Seine Tochter ist auch dabei, sie könnte es sehen und verurteilen. Dann wird es ganz ruhig in meinem Kopf und ich tue es einfach. Er umschließt meine Finger mit Wärme und Kraft, es ist ein gutes und starkes Gefühl, aber ich bleibe bei mir und verliere mich nicht.
02.03.2020
Flashback
Es ist einfach wieder eine tiefere Schicht, die ich erreicht habe. Es kommt so heftig, damit es gesehen wird. Sonst wäre ich schon längst wieder zum „normalen Leben“ übergegangen. Inzwischen weiß ich: Es kommt immer dann, wenn ich genügend Kraft habe, diese Gefühle zu ertragen.
„Es“, dieses unglaublich starke, mich absolut lähmende Gefühl des innerlichen Zusammenziehens, kam immer dann, wenn ich glaubte, es sei vorbei. Ich hatte doch schon so viel gearbeitet, mich mit diesem Missbrauch nochmals beschäftigt. Jetzt konnte ich es doch weglegen, so wie damals: zur Seite legen und weiterleben. Da war auch eine Stimme, die immer wieder sagte: „Jetzt tu doch nicht so, das war doch alles gar nicht so schlimm. Du hast es doch selbst auch gewollt. Du fandest es doch schön, du hast ihn doch geliebt. Nun suchst du einfach einen Grund, eine Ausrede, weil du krank bist und dich schämst, dass du nicht arbeiten kannst. Sei doch nicht so faul. Steck es endlich weg und tue deine Arbeit! Was sollen denn die Leute von dir denken!“ Aber es nützte nichts. So sehr ich mich auch anstrengte: Dieses Zusammenziehen kam und zwang mich, mich wieder hinzulegen. Was war denn noch?
Da musste noch mehr sein. Etwas, zu dem ich keinen Zugang hatte. Also suchte ich weiter in meinen Büchern. Las ich in einem Buch, ergaben sich dort meist Hinweise auf weitere Literatur. Manchmal las ich ein Buch auch gar nicht fertig, sondern folgte schon dem nächsten Hinweis, den ich irgendwo „zwischen den Zeilen“ gefunden hatte. Bücher waren gut für mich, denn sie waren ungefährlich. Im Gegensatz zu den Menschen, die mir solche Angst machten. Das Buch konnte ich weglegen, wenn es mir zu viel wurde.
Wem kann ich noch trauen, wenn ich nicht einmal mir selbst traue?
03.03.2020
Traum: *Die Stimme ruft:
„Barmherzigkeit!“
Bei Ursula:
Sie sagt, zu dissoziieren sei nun nicht mehr nötig: Ich müsse lernen, meine Seele zurückholen! Ich könne die höheren Mächte um Hilfe bitten. Ich erinnere mich an das starke, warme, gelbe Licht, die fröhlichen Kinderstimmen aus meiner Nahtoderfahrung damals, als ich mein Kind verlor. Ich war ja schon dort und weiß, dass es diesen Ort gibt. Sie sagt, ich solle dem, das so heftig hinauswill, sagen, dass es erst kommen soll, wenn ich bei ihr in der Therapiestunde bin. Ich brauche Begleitung und Unterstützung! Ich verspreche „ihr“, dieser ungeheuren Kraft, dass ich mich darum kümmere und es nicht einfach „liegen lasse“.
Meine Verzweiflung fühlt sich so real an, ist aber ein Flashback-Zustand. Der Schmerz kommt immer genau dann, wenn ich mich freue, dass es mir endlich ein wenig besser geht. Da ist eine Gewissheit: „Das Schöne zu genießen, birgt eine große Gefahr, es werden unerträgliche Schmerzen folgen.“ Diese Überzeugung ist aus meinen Erfahrungen gewachsen. Es tut mir am Ende nur weh und den anderen auch, deshalb darf es für mich nichts Schönes mehr geben, es ist zu gefährlich. Ohne das Schöne, die Liebe, kann ich jedoch nicht mehr leben. Ich habe es versucht, aber es geht nicht. Es geht einfach nicht mehr!
Abgrundtiefe Verzweiflung und tödlicher Schmerz überfallen mich. Nur Sterben könnte Erleichterung bringen, aber das Verantwortungsgefühl meiner Familie gegenüber hält mich zurück.
Dennoch dachte ich immer wieder ernsthaft darüber nach, was es für Möglichkeiten geben könnte, diesem Leben, das mir nur noch Schmerzen bereitete, auf einigermaßen anständige Art und Weise ein Ende zu bereiten. Mein Glück, dass es nicht dazu kam, war, dass mein Körper in diesen Schmerzzuständen in eine solch absolute Lähmung geriet, dass ich unfähig war, etwas Konkretes zu unternehmen.
Wohlbefinden und Entspannung sind die Auslöser für meinen Schmerz, ich kann jedoch nicht mehr ständig angespannt sein, weil ich einfach keine Kraft mehr habe. Welcher Zustand ist schlimmer?
Wenn ich mich in der Isolation stabilisiert habe, kommt mein Wunsch nach Verbindung mit der Außenwelt. Sobald ich jedoch Verbindung herstelle: totale Überforderung! Erneute Lähmung.
Bis jetzt bedeutete Wohlfühlen für mich: aufgehen in anderen, in sie eintauchen, mich ganz aufgeben und hingeben. Dann aber kommt jedes Mal die Angst, mich zu verlieren, mich abhängig zu machen.
Ich erkenne: Wenn ich mich überhaupt je wohlgefühlt habe, dann nur in den Armen von Menschen, die mich für ihre Zwecke missbraucht haben, die gar nicht mich wollten, die nur mit mir gespielt haben. Ich musste zu meinem eigenen Schutz auf Abstand gehen, aber genau dies schmerzte so sehr.
Fragen:
Wen schütze ich nicht mehr, wenn ich für meine Bedürfnisse einstehe?
Wie kann ich je wieder glauben und spüren, dass ich ein guter Mensch bin?
So viel Scham ist in mir über all das, was passiert ist.
Wie kann ich je wieder meiner Wahrnehmung über andere Menschen und ihre Absichten trauen?
Ich traue mir selbst und meinen Gefühlen nicht mehr.
Was bin ich noch wert, wenn ich die Erwartungen anderer Menschen nicht erfüllen kann?
Was ist mein Leben noch wert, wenn meine tiefste Sehnsucht nach Geborgenheit nicht erfüllt werden kann?
Wo werde ich Zuflucht finden?
Darf man sich wünschen, sterben zu dürfen, wenn man im Leben keinen Sinn mehr sieht?
Wie viele Schmerzen muss man aushalten, bevor man sagen darf: „Es ist genug“?
Ich suchte immer wieder nach Worten, um mein Flashback-Gefühl zu umschreiben. Ich erfuhr aus den Büchern: „Der Kern meiner PTBS ist eine Verlassenheitsdepression“(Walker, 2019, S. 158)
Ich spüre keinerlei Verbindung zu anderen Lebewesen. Ich möchte gerne, aber ich kann keine Verbindung herstellen. Ich möchte handeln, etwas tun, aber ich bin wie gelähmt.
05.03.2020
Felix’ Frau kam heute vorbei. Ich wusste es schon,denn sie hatte sich nachts im Traum bereits angekündigt. Woher kommt dieses Gefühl der Verbundenheit? Ich verstehe so vieles nicht.
Die Spirale der Heilung dreht sich. Es kann jedes Mal heftiger werden. Das bedeutet nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe, sondern, im Gegenteil, dass ich stärker geworden bin. Dennoch fühle ich mich in diesen Momenten absolut hoffnungslos.
Entspannung geht nur in der Bewegungslosigkeit. Dann jedoch fühle ich mich so schrecklich hilflos und nutzlos.
Entspanntes Handeln, wie wäre das? Mein Körper dürfte seiner Intuition nachgeben und aus sich heraus handeln. Ich traue ihm aber nicht mehr, dass er das Richtige tut.
Wie wäre das „Richtige?“ Ich wäre im „Hier und Jetzt“, ich könnte handeln, ohne ständig nachdenken zu müssen.
Sobald mein Körper entspannt, falle ich in Bewegungslosigkeit, sodass ich nicht mehr handeln kann: Das verursacht Panik!
Handeln dürfen aus meiner Intuition heraus und erleben, dass mein Handeln richtig ist, das wäre mein Wunsch, aber es geht nicht.
Sichere Entspannung könnte bedeuten: Verantwortung abgeben, nicht alles kontrollieren wollen, sondern erlauben, dass Dinge auch ohne mich in Fluss kommen.
Entspannung und Verantwortung abgeben bedeutet für mich: ausgeliefert sein! Andere können mit mir machen, was sie wollen. Mein Wille verschwindet einfach. Ich kann nicht mehr darüber urteilen, ob das, was geschieht, gut ist für mich oder nicht. Oder noch schlimmer: Ich bin überzeugt, dass es gut ist. Erst viel später stellt sich heraus: Es war überhaupt nicht gut.
Ursula erklärt mir:
„Wenn du dissoziierst, bist du nicht mit der Erde verbunden, sondern dein Geist schwebt irgendwo über dir.“ Sie sagt: „Es gibt eine Verbindung nach unten, zur Erde. Du könntest damit anfangen, sie wahrzunehmen. Du könntest alles, was nicht zu dir gehört, in die Erde fallen lassen beim Ausatmen.“ Ich versuche es, es macht mir jedoch so große Angst, dass ich gleich wieder damit aufhören muss.
Wir suchen zusammen ein schönes Bild zum „gütigen Ganzen“: Ich erinnere mich an die fröhlichen Kinderstimmen, das gelbe Licht, das ich gesehen habe, als ich mein Kind verlor. Ursula sagt: „Versuch beim Einatmen, dieses Licht nach unten zu holen und es dann beim Ausatmen wie einen Springbrunnen um dich herum zu verteilen.“ Das geht ein wenig besser als das Erden.
Ursula sagt, ich soll den „Ballon“ in meinem Unterbauch bei jedem Einatmen größer werden lassen, ihm sagen: „Du bist mein Raum, du darfst größer werden.“ Ich versuche es und gebe gleich wieder auf, denn es macht mir riesige Angst. Die Angst und das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt, weil ich all diese Dinge nicht kann, werden so schlimm, dass ich in die Dissoziation gerate: Ich verliere den Kontakt zu meinem Körper, kann nicht mehr atmen. Es braucht lange, bis ich zurückkomme und mich ein wenig beruhigen kann. Ursula legt ihre Hand auf meinen Rücken. Das fühlt sich gut an und hilft mir, zurückzukommen.
„Fühlen statt denken“, sagt sie, aber auch das macht große Angst. Nur das Denken scheint mir sicher zu sein. Wenn ich fühle, können unglaublich schlimme Gefühle hochkommen und mich so sehr lähmen, dass ich wieder in den Stupor2(Wikipedia, 2022) falle.
Ursula sagt: „Präsent sein“ heißt nicht „im Kopf wach sein“, sondern „entspannt und aufmerksam im Körper und in den Gefühlen sein“.
Dies war ein ganz neuer Gedanke für mich. Ich dachte immer, präsent sein, heißt, hellwach im Kopf zu sein: über-wach3. So war ich bisher eigentlich immer.
Das Kind aus der Einsamkeit des Brutkastens herausholen. Fühlen, was es braucht. Ihm liebevolle Mutter sein. Es in Ruhe halten, keine Bewegung, keinerlei Aktivität, einfach Schutz und Ruhe, Körperkontakt. Ihm sagen: „Du darfst immer bei mir sein.“
Falls der Flashback dennoch kommt, kann ich mir sagen: Es ist ein Flashback! „Mitgefühl statt Kritik“, sagt Ursula. Wissen, dass es nötig ist und mich weiterbringt.
Wenn der Flashback jedoch kommt, vergesse ich das alles. Nichts hilft. Ich möchte nur noch sterben. Ich schreibe das alles auf, weil ich hoffe, ich könne es dann lesen und mir dadurch selbst helfen, aber das geht nicht. Wenn der Flashback kommt, erinnere ich mich nicht daran. Ich bin so gelähmt, dass es nicht möglich ist, aufzustehen und die Notizen hervorzuholen. Ich bin abgeschnitten von allem und sogar von mir selbst.
„Das Wesentliche an psychischen Traumata erscheint mir, dass sie unlösbare emotionale Konflikte aufwerfen. Die Erfahrung eines Traumas bringt einen Menschen in eine Lage, in der er sich in der Folgezeit nicht mehr richtig verhalten kann. Was immer er fühlt, denkt und macht, es löst diesen emotionalen Konflikt nicht auf und erweist sich als nutzlos, die eigene Lage zu verbessern. In dieser Situation gelingt es dem betroffenen Menschen nicht mehr, seine familiären und sozialen Beziehungen angemessen zu gestalten. Er verstrickt andere in seine ungelösten emotionalen Konflikte hinein und lässt sich seinerseits leichter in die ungelösten Konflikte anderer hineinverwickeln. … führt man sich die Grundstruktur solcher Konflikte vor Augen, so sieht man, vor welch einer gigantischen Aufgabe ein traumatisierter Mensch steht, wenn er nicht in den Widersprüchlichkeiten seiner Bewältigungsversuche stecken bleiben, sondern über das Trauma hinauswachsen will.“(Ruppert, 2005, S. 94–95)
Es könnte also tatsächlich sein, dass ein Trauma der Grund für meine schlimmen Gefühle und unlösbaren inneren Konflikte ist.
Diese Erkenntnis war ein Türöffner, einer, der sich in meinem Kopf festsetzte, mir ein wenig Hoffnung machte: Es könnte möglicherweise tatsächlich Gründe dafür geben, dass ich mich so schlecht fühlte.
10.03.2020
Eintauchen in meine innere Welt: „Der Heilwasserteich“ (Boon Steele van der Hart, 2013, S. 140)
Da das Erlebnis der Dissoziation so schlimm für mich war, hatte ich mir das Buch „Traumabedingte Dissoziation bewältigen“ (Boon Steele van der Hart, 2013) gekauft und versuchte nun zu Hause, konkrete Übungen anzuwenden. Wenn es bei Ursula nicht funktioniert, geht es vielleicht alleine zu Hause, dachte ich, denn eigentlich fühlte ich mich nur sicher, wenn ich alleine war.
Ich tauche ein in das warme Wasser des Heilwasserteichs. Ich spüre die Berührungen des Wassers auf meiner Haut. Mein Körper entspannt sich, es fühlt sich schön an. Da überfällt mich völlig unvorbereitet eine riesige Welle von ganz starker sexueller Energie und Lust.Ich sehe einen riesigen Kraken, der auf mich zukommt und mich mit seinen vielen Armen umarmt. Die Berührungen sind angenehm, aber ich fühle wieder diese Lähmung aufkommen. Auch wenn es nicht angenehm wäre: Ich könnte nichts dagegen unternehmen, denn ich kann mich nicht bewegen. Ich habe Angst vor der unglaublich großen Energie dieses Tiers und fühle mich gleichzeitig unglaublich verletzlich und offen, aber auch voller Freude, weil ich die schönen Berührungen spüre. Dann beginnt der Krake, seine Arme in all meine Körperöffnungen zu schieben: In meinen Mund, in meine Scheide, in meinen After, sogar in meine Ohren und meine Nase. Ich glaube, ersticken zu müssen. Gleichzeitig entlädt sich mein Körper in einem unglaublichen Orgasmus.
Irgendwann, viel später, finde ich zufällig eine Beschreibung des Begriffes „Ganzkörper-Orgasmus“. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt, aber als ich es lese, weiß ich sofort, dass es das war, was ich da erlebt habe.
Dieses Erlebnis ließ mich verstört zurück: Jedes Mal, wenn ich versuchte, mich zu entspannen, kam diese unglaubliche Kraft zum Vorschein, die mir solche Angst machte. Mein Körper reagierte automatisch darauf, ich konnte gar nichts machen. Hinterher empfand ich so große Scham, dass ich mich nicht traute, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, auch nicht mit meiner Therapeutin. Ich schrieb es auf und versuchte dann, es möglichst schnell zu vergessen.
Spaziergang in leichtem Regen. Erkenntnis: Ich fürchte mich heute nicht, rauszugehen. Das, was sich in mir fürchtet, ist ein ängstlicher Teil von mir. Er kann von anderen Anteilen, besonders von meinem erwachsenen Ich, beschützt werden. Ich stelle mir vor, dass diese Angst ein hilfloses kleines Baby ist, und ich es im Tragetuch mitnehme. Mein Rücken richtet sich auf, ich kann frei atmen. Mein Gang wird anders, etwas zurückgelehnt, statt nach vorne geneigt. Ich gehe langsamer, aus dem ganzen Körper heraus. Dieses Erlebnis macht mir ein wenig Hoffnung.
11.03.2020
Ich mache meine alten Brain-Gym4-Übungen (Dennison, 2013), verbunden mit der Affirmation: „Ich tauche ein in den Fluss des Lebens.“
Ich nehme alle Anteile mit. Meine Bewegungen sind langsam, weich und geschmeidig. Es tut mir zwar gut, aber hinterher bin ich derart erschöpft, dass ich auch das wieder aufgebe.
Die Brain-Gym-Übungen hatte ich früher manchmal vor dem Üben gemacht, weil ich entdeckt hatte, dass das Üben nachher besser ging. Sie waren nützlich, kamen mir jedoch immer unglaublich anstrengend vor. Ich hatte einige Zeit vor Ausbruch meiner Krankheit damit begonnen, regelmäßig diese Übungen zu machen, weil ich festgestellt hatte, dass sie – wenigstens ein wenig – gegen mein unerträgliches Lampenfieber halfen. Es war unglaublich anstrengend für mich, diese kleinen Übungen konzentriert auszuführen, aber es war eine Möglichkeit, mit meinem Körper wenigstens ein wenig in Kontakt zu kommen. Rückblickend bin ich überzeugt, dass dies eine Art „Startschuss“ war für all dies, was danach ins Rollen kam.
11.03.2020
Bei Ursula:
Wir wenden Brainspotting5an zur Frage: Woher kommt meine immer wieder auftretende starke Nackenverspannung?
Es ist diese große Kraft in mir, die mir solche Angst macht. Sie zeigt sich, sobald ich mich entspanne, in der Therapie, in der Liebe.
Sie ist sehr stark, lebendig, pulsierend, zähflüssig, gefährlich. Mein Kopf wehrt sich, hat Angst, das zuzulassen. Es ist die Angst, die Kontrolle zu verlieren und von dieser Kraft überwältigt zu werden. Der einzig sichere Bereich ist mein Kopf. Wenn ich mich dort aufhalte, kann mir nichts geschehen. Deshalb verschließt sich mein Nacken, denn diese unheimliche Kraft steckt in meinem Bauch und ich darf nicht hinabgehen und sie fühlen.
(Sonst geschieht das, was gestern geschehen ist. Ich traue mich aber nicht, Ursula davon zu erzählen. Meine Scham ist viel zu groß.)
11.03.2020
Traum: *Ich hatte Sex mit Peter, es war aber eigentlich Felix. Beim Abschied sage ich: „Es war sehr schön!“ Er antwortet: „Für mich war es auch sehr schön, du musst aber wissen, dass ich dennoch nicht mehr mit dir zusammen sein kann.“ Da werde ich unglaublich traurig.
Ich hatte vor der Affäre mit Felix schon einmal eine. Peter war Priester. Er sollte Stefan und mich verheiraten. Es passierte kurz vor unserer Hochzeit. Ich war schon schwanger mit unserem ältesten Sohn und wusste, dass ich mit Stefan zusammen sein will. Gleichzeitig fühlte ich aber auch, dass mir etwas Wichtiges fehlte: Ich hatte keinerlei Zugang zu meinen Emotionen und auch keinen zu meiner Sexualität. Als ich Peter begegnete, brach all das, was in meinem Alltag mit Stefan nicht sein durfte, wie eine gewaltige Welle hervor. Ich verstand nicht, was da geschah, aber ich wusste, es war etwas, was ich zum Leben unbedingt brauchte. Natürlich dachte ich, es sei der Fehler von Stefan, dass er mir das nicht geben könne. Erst jetzt beginne ich, zu verstehen, dass das nicht stimmte.
Es war Peter, der die Affäre beendete: Es war zu gefährlich, gefährdete seine Karriere. Ich hätte es nicht gekonnt. Ich verstand zwar nicht, warum, glaubte hinterher jedoch, es sei mit mir einfach etwas total falsch. Liebe und Sexualität waren offenbar Dinge, die nur für andere Menschen gemacht waren, nicht für mich. Ich konnte aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstand, einfach nicht damit umgehen. Entweder, sie waren nicht da, oder sie waren da und zerstörten alles, was ich so mühsam aufgebaut hatte. Dann war es doch besser, wenn sie nicht da waren. Ich glaubte, es sei offenbar mein Schicksal, ohne Liebe und Sex leben zu müssen. Für meine Kinder konnte ich Liebe fühlen, aber nicht für erwachsene Menschen.
12.03.2020
Traum: *Die Stimme sagt:
„Es gibt eine Verbindung zwischen Scham und Kehlkopf!“
Was bedeutet das?
Über den Suchbegriff „Kehlkopf“ stoße ich auf einen Hinweis zum Kehlkopfchakra, auch Halschakra genannt:
„Das Halschakra verarbeitet Erfahrungen des Selbstausdrucks, besonders des Ausdrucks unserer höchsten Wahrheit als Seele. Es verbindet uns mit dem höheren, transpersonalen Verstand. Das Halschakra ist die Quelle unserer Verständigung und Kommunikationsfähigkeit. In ihm ist unsere ganz eigene Wahrheitsfindung verborgen sowie die Möglichkeit, diese mit unserer Umwelt zu teilen.“(Chakren.net, 2022)
„Die Stimme“ wollte mir sagen, dass ich lernen muss, über meine Scham zu sprechen. Das verstand ich damals noch nicht. Ihre Aussage beschäftigte mich jedoch immer wieder, sie blieb hängen in meinem Kopf, entwickelte sich ständig weiter. Einen Anfang machte ich zumindest schon:
Ich schreibe einen ausführlichen Brief an Erika, Felix’ Frau, weil sie mich gefragt hatte, wie es mir ging. Ich beschrieb ihr, was aufgetaucht war. Ihre Antwort darauf: „Du hast mir da eine Riesenlast aufgebürdet.“ Nein, ich glaube, das stimmt nicht, ich habe die Last, die ihnen gehört, zurückgegeben!
Ich begann, mir meiner Schamgefühle bewusst zu werden und meinen Teil der Verantwortung von der anderer abzugrenzen. Nicht alles, was geschehen war, war einfach meine Schuld gewesen.
Xenia, eine ehemaligen Geigenschülerin von mir, ruft mich an: Sie hat auch Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht. Ihre Mutter hat sie und ihre Schwester als Kinder zu ihrem Vater geschickt, obwohl sie genau wusste, was er mit ihnen tat. Ihre Schwester hat das lange vergessene Thema zeitgleich mit ihr auch aufgedeckt. Ihre wertvollen Ratschläge:
Nicht allen Menschen davon erzählen: Sie stülpen einem ihre Sorgen über und machen einem noch mehr Schamgefühle.
Mir inneren Schutz besorgen: Bodyguards, Krieger, Engel! (Gibt es wirklich Engel? Ich glaube nicht daran …)
Die spirituellen Mächte um Schutz bitten (Auch an ihre Existenz konnte ich nie wirklich glauben.).
Sie empfiehlt mir das Buch:„Kraft zum Loslassen“(Beattie, 1991).
Einen Zettel in der Hosentasche tragen: „Dein Leben liegt in deiner Hand“, „Gott wird für dich sorgen“: Dies entlastet mich von der Verantwortung für Menschen, deren Probleme mich belasten.
Abschied nehmen von Menschen, die mir nicht guttun. Die Konsequenzen aushalten (dass ich mich ganz schrecklich allein und verlassen fühle).
Sie meint, das, was mir da geschenkt wurde, könne ich an einem anderen, spirituellen Ort finden. Ich werde laut ihr die Fülle erleben dürfen! (Wie schön wäre das, aber es ist unerreichbar fern.)
Auf meine Wahrnehmung achten, auf sie hören, sie erst nehmen.
Die bedingungslose Liebe meiner Kinder als großes Geschenk in meinem Leben erkennen, als Ressource. (Es kommen mir Tränen, als ich das höre.)
„Es gibt Menschen, die schlucken deine Energie wie schwarze Löcher“, sagt sie. Ich dürfe die Verantwortung für diese Menschen den höheren Mächten übergeben.
Es gibt so viele „arbeitslose Engel“, bestätigt Ursula, als ich ihr davon erzähle, „sie freuen sich, wenn sie etwas zu tun bekommen.“ Das klingt für mich reichlich seltsam. Es soll tatsächlich Engel geben?
Dieses Telefongespräch mit Xenia war unglaublich wichtig für mich. Sie hatte etwas Ähnliches erlebt, sie kannte diese bodenlose Verzweiflung. Ich weiß gar nicht mehr, warum sie eigentlich angerufen hatte, denn sie war damals schon lange nicht mehr bei mir im Unterricht. Aber es war eine Art „Geschenk der Engel“, denn es gab mir so viele wertvolle Hinweise.
Ich glaube, Felix war eine Art „Medium“: Etwas ist durch ihn hindurchgeflossen zu mir. Es ging eigentlich gar nicht um ihn. Aber worum ging es denn dann?
Ich ersehnte mir ein einfühlsames Gegenüber für mich selbst!
Meine Cranio-Therapeutin sagt, dass ich ein guter Mensch bin! Diese Feststellung löst heftige Tränen aus, weil ich so gar nicht daran glauben kann. Wie sehr wünschte ich mir, dass es so wäre.
Meditation: „Mein sicherer Ort“(Boon Steele van der Hart, 2013, S. 103):Ich liege geborgen in einer Hand, die so groß und stark ist, dass ich bequem darin liegen kann. Ihre Innenseite ist wunderbar weich und warm, ich spüre die Energie, die in ihr pulsiert. Sie kann aber auch ganz stark zupacken, falls Gefahr droht. Es ist das Blatt einer Pflanze, das mich trägt. Die zweite Hand liegt wie eine Nussschale über mir und beschützt mich. In ihrer Innenseite sehe ich den Himmel. Wolken ziehen vorüber, sie lassen immer wieder die Sonne durch, die mich wärmt. Ich entspanne mich langsam, spüre, wie sich mein Nacken entspannt, sogar der oberste Halswirbel. „Aha“, erfahre ich, „ich kann durch den Schmerz in meinem Halswirbel hindurchgehen.“ Dann komme ich aus meinen kreisenden Gedanken heraus noch weiter nach oben in eine spirituelle Ebene über meinem Scheitel. Sie ist wie ein gelber, warmer Nebel. Ich weiß: Dies ist die Barmherzigkeit, von der meine „Stimme“ nachts gesprochen hat. Mein Atem verändert sich: Ich atme wie von selbst ein, der Impuls zum Atmen kommt von ganz weit unten in meinem Bauch, von da, wo es so schön warm und weich ist. Er steigt auf und weitet jedes Mal meinen Brustkorb. Beim Ausatmen bleibt mein Atem für eine Weile stehen, es fühlt sich sehr lange an. Dann kommt er wieder, von selbst, aus meinem Bauch heraus. Auf meiner Körpervorderseite atmet „es“ ein, durch den Rücken atmet „es“ aus. Ich fühle mich sicher und geborgen.
Ich hatte es einfach wieder versucht, obwohl es letztes Mal so schlimm geendet hatte. Was für ein Mut der Verzweiflung steckt da dahinter. Das sehe ich erst jetzt, aus der Distanz. Diesmal wurde ich tatsächlich mit einem schönen Erlebnis belohnt: Ich hatte eine erste Ressource gefunden, auf die ich immer wieder zurückgreifen konnte, z. B. wenn ich überregt war und nicht einschlafen konnte.
13.03.2020
Traum: *Ich möchte zu Tobias zu Besuch gehen. Zuerst muss ich in einer Art Sessellift fahren. Dann stehe ich vor seinem Haus. Es ist ein einfaches Reihenhaus. Ich klingle. Er schaut oben aus dem Fenster und ruft: „Du darfst erst hereinkommen, wenn du alles ausgezogen hast!“ Ich tue das, obwohl ich mich sehr schäme, weil ich denke, dass es vielleicht jemand sehen könnte. Als ich dann die Treppe hinaufsteige und an mir herabschaue, merke ich, dass ich dennoch ein T-Shirt und einen Rock trage, worüber ich sehr erleichtert bin. Er öffnet mir die Tür, er ist nackt. Ich lasse mich in seine Arme fallen. Er fängt mich auf und wiegt mich sanft hin und her. Ich spüre sein erigiertes Glied. Es ist ein schönes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Meine Scham zeigt sich. Wofür muss man sich schämen? Musste ich mich schämen, dass ich Liebe brauchte und dafür bereit war, über meine Grenzen zu gehen? Ursula sagt: „Es war überlebensnotwendig, denn ohne Liebe können Menschen nicht leben.“
Was bedeutet es eigentlich, eine Frau zu sein?
Felix hat mir nicht nur ein Gefühl für meinen Körper zurückgeschenkt, sondern auch die Freude und den Stolz, eine Frau zu sein. Es war für ihn selbstverständlich, dass es gut ist, dass ich eine Frau bin. Alles an mir fand er schön, gut und richtig. Ich durfte da sein, mich zeigen, mich berühren und entdecken lassen, auf seine Berührungen reagieren. Es war schön für ihn, mich zum Blühen zu bringen. Es durfte einfach alles seinen natürlichen Gang gehen: Ich durfte eins sein mit meinem weiblichen Körper, mich von ihm – eigentlich von ihr, dieser unglaublich großen Kraft in mir selbst – führen lassen. Ich durfte diese Kraft, die meinen Körper führte, einfach agieren lassen. Alles, was diese Kraft tat, war gut und richtig. „Ich selbst“ war nur so eine Art Zuschauerin.
Das bedeutete aber auch, dass „ich selbst“ gar nicht darüber bestimmen konnte, was mit mir geschah. Genau dies, was sich im Moment so stimmig anfühlte, war rückblickend dann so verstörend. Es war, als ob eine geheimnisvolle Kraft mich ferngesteuert hätte.
In meiner Erinnerung sehe ich ein starkes Bild: der Anblick meines eigenen Körpers, mit ihm verschmolzen, im Spiegel. Da fand ich mich zum ersten Mal schön. Dann der große Schmerz darüber, dass er mich verlassen hatte, einfach liegengelassen.
Das Neugeborene kommt hoch, das solche Angst hat, erneut verlassen zu werden. Ich verspreche ihm: „Ich verlasse dich nicht, ich nehme dich überallhin mit.“Mein Körper beruhigt sich.
Erkenntnis: Es ist in der Langsamkeit und Zartheit so schnell so tief gegangen. Was bedeutet dies?
14.03.2020
Ich erwache nachts zweimal mit so heftigem Herzklopfen, dass ich starke Angst bekomme. Ich sage mir, dass dies eine alte Angst ist. So kann ich sie aushalten, ich beruhige mich langsam, stelle mir vor, an meinem sicheren Ort – in der schönen Blume – zu sein, und kann schließlich einschlafen.
Traum: *Ich liege in den Armen von Tobias, meine Hände in seinen Händen. Ich erinnere mich, wie gern ich seine Hände gehabt habe, sie waren sanft und zart wie die einerFrau.
Wer darf urteilen darüber, was richtig oder falsch war?
Ich muss mich wieder auf mein Bauchgefühl verlassen können.
„Sieh es in einem liebevollen Licht“, sagte mir Erika.
Lauter Dinge, die so schön klingen, aber mir unmöglich erscheinen.
Die Ambivalenz in der Missbrauchssituation damals in der Pubertät: dass Tobias mir ja die dringend benötigte Liebe gab.
Der Gedanke: Warum konnte nur er das? Jeder Jugendliche wäre mit mir überfordert gewesen: Warum? Was war an mir so schwierig, so anders?
Gedanken zum Missbrauch durch Tobias: Warum ist es gerade mir passiert? Es gab auch andere, ich war nicht die Einzige. Aber es gab auch Mädchen, die sich abgrenzen konnten.
Ursula sagt zu mir: „Andere Kinder hatten andere Eltern!“ Dieser Satz gibt mir zu denken.
Traum: *Stefan und ich sind auf einer Wiese. Am Waldrand befindet sich ein Jagdsitz, dorthin setzen wir uns. Auf der Wiese steht eine Hütte. In ihrer Nähe spielt ein kleiner Junge, der große Ähnlichkeit mit meinem Mann als Kind hat. Er bastelt sich lauter Geräte, die fliegen können, und am Ende sogar einen Apparat, mit dem er selbst fliegen kann. Er benutzt dazu ein Seil, das eigentlich Stefan und mir gehört. Das Seil dehnt sich durch den Gebrauch aber immer mehr aus, und als ich mich daran festhalten will, gibt es so sehr nach, dass ich auf die Wiese herunterfalle. Ich falle aber ganz langsam und verletze mich nicht, da das Seil ganz elastisch ist und sehr dick. Ich sage Stefan, dass dieser Junge unser Seil kaputt macht, aber er antwortet mir nicht. „Ah ja, erinnere ich mich, er spricht ja im Moment gar nicht mit mir.“ Ich nehme es jedoch ganz gelassen, dass das so ist.
Der kleine Junge, der in ihm steckt, macht das „Seil“, das unsere Beziehung hält, kaputt.
Gemeinsamer Spaziergang: Ich finde mit Stefan kein gemeinsames Tempo, so sehr ich mich auch anstrenge und bemühe. Irgendwann entschließe ich mich, es gar nicht mehr zu versuchen. Ich suche stattdessen mein eigenes Tempo. Da ist es, als ob ich eine Art innere Melodie höre, nach der ich mich ausrichte. Am Ende des Spaziergangs gehen wir sogar getrennte Wege, denn er will den Bus nehmen, ich will zu Fuß weitergehen. „Dann ist es eben so“, entscheide ich. „Wenn das bedeutet, dass wir auch im Leben getrennte Wege gehen, muss ich das wohl in Kauf nehmen. Hauptsache, ich kann endlich wieder meine innere Melodie hören und mit ihr mitgehen.“ So zu gehen, kommt mir viel weniger anstrengend vor.
In dieser Zeit entdeckte ich das Buch „Entwicklungstrauma heilen“(Heller LaPierre, 2013). Dieses war essenziell für mich, denn erstmals hatte ich das Gefühl, auf einer heißen Spur zu sein.
Es gibt fünf biologisch bedingte Kernbedürfnisse:
1. Kontakt/2. Einstimmung/3. Vertrauen/4. Autonomie/5. Liebe und Sexualität(Heller LaPierre, 2013, S. 11)
Das wusste ich bisher nicht.
„Es entspricht einem Grundgedanken von NARM6, gesunde Möglichkeiten zur Regulierung des Nervensystems zu unterstützen, indem der Kontakt mit denjenigen Aspekten eines Menschen betont wird, die organisiert und kohärent sind und gut funktionieren.“(Heller LaPierre, 2013, S. 19)
„… lernen, mit unseren Emotionen in Berührung zu sein und sie angemessen zum Ausdruck zu bringen“(Heller LaPierre, 2013, S. 20).
„Bei NARM liegt die Betonung auf somatischer Achtsamkeit, dem Containment (In-sich-Halten) und tieferen Ebenen von Affekten sowie der Vollendung entstandener emotionaler und biologischer Impulse.“(Heller LaPierre, 2013, S. 20)
NARM sagt: Bottom-up (Arbeit von unten nach oben) und top-down (von oben nach unten) – beides ist nötig!
Diese Erkenntnis der beiden Richtungen war enorm wichtig für mich: Meine Therapeutin Ursula betonte immer wieder, dass es den Kopf für die Auflösung von Traumata nicht brauche. Es geschehe im Körper. Ich jedoch konnte mich nicht auf Dinge einlassen, die meinen Körper betrafen, ohne dass mein Verstand zuerst ganz sorgfältig abgeklärt hatte, was da mit mir geschah. Ich konnte mich nur darauf einlassen, mit ihr körperlich zu arbeiten, wenn ich zuvor genauestens abgeklärt hatte, warum das nötig war, was die Hintergründe waren, dass es wissenschaftlich erwiesen war… auch hinterher musste ich alles notieren, was sich bei ihr ereignet hatte, um darüber zu wachen, dass nicht wieder etwas Überwältigendes mit mir geschehen konnte und ich es wieder erst weit im Nachhinein bemerken würde. „Du darfst so lange misstrauisch sein, wie es nötig ist“, sagte sie mir immer wieder. „Vertrauen kann man nicht machen. Es wird entstehen und es darf alle Zeit der Welt haben dafür.“ „Alle Zeit der Welt?“, dachte ich. „Ich möchte doch so schnell wie möglich wieder gesund werden!“
„NARM betrachtet das achtsame Erfahren des Körpers (den von ‚unten‘ nach ‚oben‘ verlaufenden Bottom-up-Prozess) als Grundlage des Heilungsprozesses: Der Körper ist unsere Verbindung zur Wirklichkeit …“(Heller LaPierre, 2013, S. 33)
Ich notierte immer mehr solcher Sätze, weil ich spürte, dass sie für mich wichtig waren.
„Das eigene Erleben hier und jetzt zu verfolgen, ist grundlegend, wenn es darum geht, die Neigung des Gehirns zu bremsen, Künftiges vorwegzunehmen. Aufmerksames Beobachten von Kontaktaufnahme und Herausgehen aus dem Kontakt, von Regulierung und Dysregulation in der Gegenwart hilft, uns stärker als aktiv Handelnde zu erleben und uns weniger unseren Kindheitserinnerungen ausgeliefert zu fühlen. Vor allem unterstützt es die Regulierung unseres Nervensystems. Durch In-Kontakt-Sein mit unserem Körper und in der Beziehung zu anderen wird Heilung möglich.“(Heller LaPierre, 2013, S. 36)
„Der NARM-Ansatz ist darauf ausgerichtet, Klienten durch achtsames Gewahrsein zu helfen, heftigen Emotionen in sich Raum geben, ohne sie an ihrer Umgebung auszuagieren oder gegen sich selbst zu richten … Ein achtsames Präsentbleiben und Containment (In-sich-Halten) intensiver Affekte erhöht die Resilienz des Nervensystems und unterstützt die Entwicklung emotionaler Tiefe.“(Heller LaPierre, 2013, S. 41)
„In unserem Körper präsent zu sein, hilft, uns die vielen unzutreffenden Vorstellungen und Urteile bewusst zu machen, die wir über uns selbst, andere und die Welt haben und uns von unserer Identifizierung mit ihnen zu lösen.“(Heller LaPierre, 2013, S. 47)
„In uns allen gibt es eine Kraft, die spontan nach Kontakt, Gesundheit und Lebendigkeit strebt. So sehr wir uns zurückgezogen und isoliert haben oder so gravierend das erlebte Trauma auch sein mag – auf der tiefsten Ebene gibt es in jedem von uns einen Impuls in Richtung In-Verbindung-Sein und Heilung …Dieser Impuls ist die Antriebskraft der NARM-Arbeit.“(Heller LaPierre, 2013, S. 48)
17.03.2020
Bei Ursula:
Wir arbeiten weiter mit Brainspotting: Die Nackenspannung ist ganz nach oben gewandert, in den obersten Halswirbel. Ich spüre einen starken Spannungsschmerz an der Verbindungsstelle zwischen Kopf und Körper, eine Art Widerstreit scheint da stattzufinden.
Ich erlaube beiden Kräften, da zu sein, im Gleichgewicht.
Es zeigt sich: Meinem Nacken wurde wahrscheinlich während der Operation, die meine Mutter zur Gebärmutteraufrichtung hatte, als sie mit mir schwanger war, in irgendeiner Form Gewalt angetan. Sobald ich daran denke, entstehen starker Schmerz und enorme Spannung. Ich gehe ganz langsam da hinein, mit Mitgefühl. Ursula bittet darum, dass ich nicht überrollt werde. Da öffnet sich etwas in meinem Brustkorb, gleichzeitig spannt es in meinem Rücken. Ursula sagt, dass das wahrscheinlich ist, weil es loslässt und sich öffnet.
Meine „innere Stimme“ erzählt:Ich war einer starken Narkose und Lähmung ausgesetzt, konnte aber den Schmerz des Manipuliert-Werdens trotzdem fühlen. Da ich nicht verstand, woher er kam, glaubte ich, es sei meine Mutter, die mir so wehgetan hatte. Dies hat womöglich später die zu frühe Geburt ausgelöst. Die Schmerzen im Nacken wurden immer größer, je größer ich wurde. Ich musste diesen Ort verlassen, um mein Leben zu retten. Auch wenn mich das so traurig machte.
Von dieser Operation hatte ich bisher gar nichts gewusst. Erst ein paar Tage zuvor hatte mir meine Mutter davon erzählt, weil ich sie nach Details aus Schwangerschaft und Geburt gefragt hatte. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass es nicht nur eine Operation war, die sie selbst betraf, sondern dass ein solcher Eingriff natürlich auch auf mich eingewirkt hatte.
Im Internet lese ich: Bis in die 80er-Jahre waren die Ärzte davon überzeugt, dass ein Säugling keinen Schmerz empfinden kann! Es ist somit tatsächlich möglich, dass mit mir unachtsam umgegangen wurde.
Jedes Mal, wenn ich erkannte, dass es tatsächlich so sein könnte, dass meine Empfindung richtig war, gab mir das ein kleines bisschen Selbstsicherheit zurück. Es war nur wenig, aber immerhin, es war etwas.
Über meine Gefühle schreiben, konnte ich damals noch nicht.
19.03.2020
Ich probiere seit ein paar Tagen Übungen aus dem Buch„Traumasensitives Yoga“