Bergmannserbe - Margit Kruse - E-Book

Bergmannserbe E-Book

Margit Kruse

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Beschreibung

Gisbert Sommerfeld, der in einer Gelsenkirchener Zechensiedlung wohnt, wird von einem Makler bedroht, sein Haus zu räumen. Als er sich schließlich mit einem Faustschlag gegen den Makler wehrt und man den Störenfried eine Woche später erdrosselt im Picksmühlenteich, unweit der alten Zechenbrache findet, gerät Gisbert unter Verdacht. Zum Glück kommt jedoch Gisberts Schwester Margareta ins Spiel, die als Pivatdetektivin arbeitet und sich des Falls annimmt.

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Margit Kruse

Bergmannserbe

Kriminalroman

Zum Buch

Letzte Seilfahrt Gisbert Sommerfeld, der in einer Gelsenkirchener Zechensiedlung wohnt, bittet seine Schwester Margareta um Hilfe. Nachdem ein Makler, der offenbar von einem Spekulanten beauftragt wurde, Gisbert mehrfach bedroht hat, sein Haus zu räumen, wehrt sich dieser mit einem Faustschlag. Als man den Störenfried eine Woche später erdrosselt im Picksmühlenteich, unweit der alten Zechenbrache findet, gerät Gisbert unter Verdacht. Tage später entdeckt man einen weiteren Makler tot am Bahnhof Hassel, nachdem dieser einem weiteren Bergbaurentner gehörig zugesetzt hatte. Zielinski, der Spekulant, versucht mit einigen Maklern, alte Bergmannsreihenhäuser gewinnbringend zu veräußern. Um sein Ziel zu erreichen, wird mit moralisch und rechtlich bedenklichen Mitteln gearbeitet. Kein lukrativer Auftrag für Margareta Sommerfeld, die nach ihrer Ausbildung zur privaten Ermittlerin gerade dabei ist sich am Markt zu etablieren. Treffpunkt der besorgten Nachbarn, unter denen sie den Mörder vermutet, ist ein Kiosk neben einem stillgelegten Bahngleis. Der Zufall bringt sie dem Täter ganz nah …

Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken« und »Rosensalz«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja ist stets dabei, wenn sich Margit Kruse auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Margit Kruse ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Advent, Advent, die Zeche brennt (2019)

Schneeflöckchen, Blutröckchen (2017)

Opferstock (2017)

Rosensalz (2016)

Wer mordet schon im Hochsauerland (2015)

Hochzeitsglocken (2014)

Zechenbrand (2013)

Eisaugen (2011)

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Vincentz

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gelsenkirchen_-_Erdbrüggenstraße_06_ies.jpg

ISBN 978-3-8392-6250-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Sie hielt das feine Kleid in den faltigen Händen. Edel! Cremeweiß, genäht aus Fallschirmseide. Leicht und luftig. Nur sonntags hatte sie es getragen, damals, als sie ein kleines Mädchen war. Auch zur Einschulung präsentierte sie sich darin voller Stolz. Wieder und wieder musste ihre Mutter ihr die Geschichte erzählen, wie sie im März 1944 während des Zweiten Weltkriegs zu diesem Stoff gekommen war. Ein Geschenk des Himmels sozusagen.

Ein englischer Bomber war über dem Zechengelände »Bergmannsglück«, unweit der Pferdeställe, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, abgestürzt. Anwohner hatten es beobachtet, auch ihr Vater, der sofort zur Unglücksstelle geeilt war. Der junge Pilot hatte noch gelebt, hatte nach Wasser verlangt. »Water, Water«, soll aus seinem Mund zu hören gewesen sein. Schwer verletzt wurde er ins Marienhospital nach Buer gebracht, wo er an seinen Verletzungen verstarb.

Ihr Vater sowie ein Kollege waren nicht dumm und nahmen den Fallschirm mit. Im Krieg gab es nichts. So bekamen die Frauen und Kinder Kleider aus der Fallschirmseide. Die Mutter nähte für sie dieses herrliche Gewand. Silberne Knöpfe aus Omas Sammelkiste, und es wurde ein prächtiges Stück, um das sie die Leute beneideten.

Sie strich über das Kleidchen, das nun schon 75 Jahre alt war. Tränen tropften darauf. Sie weinte bitterlich und drückte es an sich. Dieses Andenken würde sie mitnehmen. Mit ins lausige Altersheim, das bald ihr Zuhause sein würde. Vertrieben aus ihrem schmucken Zechenhäuschen. Vertrieben von geldgierigen Menschen, die es verschachern wollen. Ihrem sterbenden Mann versprach man, für seine Frau zu sorgen. Ein Versprechen, das nicht nützte. Doch die Erinnerungen kann ihr niemand nehmen. So würde das Kleid mitkommen, und wenn es mal ganz schlimm sein würde, könnte sie es wieder an sich drücken und an die schönen Tage denken!

1.

»Danke, dass du gekommen bist.«

Eine glamouröse Erscheinung war er nicht mehr, ihr Bruder, dem Margareta in seiner Wohnküche in der Hasseler Körnerstraße gegenübersaß. Der Lack war ab. Vor sieben Jahren, als sie anlässlich der Morde auf dem alten Zechengelände hier in dem Zechenhäuschen ein und aus ging, war der 50-jährige städtische Beamte noch ein passabler Typ gewesen. Vor zwei Jahren, als sie ihn am Heiligen Abend bei ihrer Mutter Waltraud traf, ein billiges Flittchen an seiner Seite, hatte er schon ordentlich Federn gelassen. Doch heute verspürte Margareta Mitleid mit dem schmalen Rotschopf. Blauer Pullover, grau melierte Jogginghose aus Baumwolle, beides stark abgetragen, fettige Kurzhaarfrisur, meterlange schmutzige Fingernägel. Völlig verzweifelt saß er da, die mit Sommersprossen übersäte Nase glänzte im Schein der kleinen Stehlampe, die auf dem Bord in der Nähe des Tisches stand.

»Schon okay.« Margareta rührte in ihrem Kakao und starrte ihren vier Jahre älteren Bruder Gisbert unentwegt an. Sie überlegte, wieso der gute Kontakt von damals so abrupt abgebrochen war. Hatte sie ihn etwa vermisst? Sie konnte die Frage nicht beantworten, stand noch unter Schock, dass ihr Bruder sie gestern Abend angerufen und sie um Hilfe gebeten hatte. Woher er wusste, dass sie nun als private Ermittlerin tätig war, war ihr sonnenklar. Da steckte ihre Mutter Waltraud hinter, die wahrscheinlich alle Personen, die in ihrem vergammelten roten Adressbuch standen, angerufen hatte, um diese Neuigkeit kundzutun. Allen voran ihren Erstgeborenen, den sie am Telefon vermutlich ordentlich vollstrunzte.

»Ich habe dir ja schon gestern Abend erzählt, worum es geht, Margareta. Man hat diesen Makler Fritz Stalewski erdrosselt im Picksmühlenteich gefunden. Und ich soll es gewesen sein. Stell’ dir das mal vor!« Gisbert schnaufte verzweifelt und schlürfte laut seinen Kaffee aus dem verschmutzten Schalke-04-Becher.

»Ich hab es in der Zeitung gelesen. Es hat mich aber, ehrlich gesagt, nicht sonderlich interessiert. Wie du ja schon von unserer Mutter gehört haben wirst, bin ich keine Hobbydetektivin mehr, sondern inzwischen eine ausgebildete Ermittlerin mit sämtlichen Prüfungen. Auch, dass die Mieter hier in Hassel so unter Druck gesetzt wurden und immer noch werden, interessiert mich nicht sonderlich. Shit happens!«

Gisbert schaute seine attraktive, äußerst gepflegte Schwester an und musste grinsen. »Na ja, Mumm hattest du ja schon immer. Und wie läuft es so? Hast du genug Aufträge?«

»Aller Anfang ist schwer. Vielleicht hätte ich mich nicht so schnell selbstständig machen sollen. Ich hatte eine sichere Anstellung in Essen.« Sie schaute in Gisberts traurige Augen. »Kommen wir zur Sache. Zeit ist Geld, und das habe ich nicht. Du hast diesem Makler also eins auf die Klappe gehauen und ihm dabei das Nasenbein gebrochen. Warum, Gisbert? Du warst doch immer so besonnen.«

»Warum, warum? Weißt du, wie oft der hier war? Beim vorletzten Besuch brachte er sogar schon Kaufinteressenten mit. Ich will hier nicht weg. Der ließ einfach nicht locker. Hat mich und Norbert drangsaliert, wo er nur konnte. Und dann hat er mich beleidigt.«

Nun musste Margareta schmunzeln. »Ja, der gute Norbert Koslowski. Wie geht es ihm?« Sie hatte Gisberts Nachbarn noch in angenehmer Erinnerung. Eine echte Ruhrpott-Type mit Ecken und Kanten, jedoch herzensgut. Ihr Bruder hatte sie damals, als sie sich, frisch vom schönen Karol verlassen, in die Mordermittlungen auf dem Zechengelände mischte, mit ihm verkuppeln wollen.

»Findet auch keine Frau, hängt jeden Tag an der Trinkhalle an der Pawiker Straße beim Martin ab und jammert sich aus. Da geht übrigens täglich die Post ab. Das neueste Kommunikationszentrum. Das wäre was für dich. Da erfährst du Neuigkeiten.«

»Bitte?« Wütend schaute Margareta ihren Bruder an. »An einer ollen Ruhrpottbude, wo sich nur Typen herumtreiben, die zu viel Zeit haben, soll ich erfahren, was mich weiterbringt? Bei dir piept es wohl!«

Dreiminütiges Schweigen.

»Dieser Makler hat dir also die Pistole auf die Brust gesetzt, das Feld hier zu räumen? Aber das ist doch noch lange kein Grund, ihm eins auf die Nase zu geben und ihm diese gleich zu brechen.«

»Hast du eine Ahnung«, wurde Gisbert nun laut. »Diese Interessenten haben sogar in meinen Schränken herumgewühlt. Und wie frech dieser schmierige Kerl wurde. Er würde mich schon kleinkriegen, so wie viele andere auch, hatte er gemeint. Eine alte Frau ist wegen des Ärgers sogar verstorben. Herzinfarkt. Udo Urbat, den kennst du doch noch, oder? Der hat übrigens eine Genossenschaft gegründet und kümmert sich um die verzweifelten Menschen.«

Und wie Margareta Udo noch kannte. Der kleine unscheinbare Schichtarbeiter zählte damals sogar zu den Mordverdächtigen. Dabei hatte er sich nur etwas von dem erpressten Geld genommen, um sich mal ein schönes Auto zu gönnen. Wer fährt schon gerne zeitlebens einen alten, flaschengrünen Opel Astra? Die Liaison, die sie mit ihm hatte, beendete sie natürlich sofort, als ans Licht kam, dass er in dieser Sache involviert war. Na ja, er hatte seine Strafe abgesessen und tut nun Gutes. Was sprach dagegen? Die nächsten zehn Minuten musste sie sich Lobeshymnen auf Urbat anhören und die Leidensgeschichten einiger Mieter aus der Siedlung.

»Kürzen wir hier ab, Gisbert. Nun verdächtigt man dich also, den lästigen Makler erdrosselt und im Picksmühlenbach entsorgt zu haben?«

»Ja, ich wurde schon mehrmals vernommen. Zum Glück habe ich ein Alibi. Ich war zur Tatzeit bei Norbert und habe meinen Rausch ausgeschlafen. Doch so richtig glaubt mir dieser neue Kommissar nicht. Wusstest du eigentlich, dass Blauländer ertrunken ist? Im Solebecken vom Bad Sassendorfer Thermalbad? Dieser Neue ist eine echte Schmeißfliege.«

Margaretas Gesichtszüge verhärteten sich. Nur ungern dachte sie an Bad Sassendorf und das Aufeinandertreffen mit Blauländer beim Mitternachtsschwimmen.

»Du musst mir helfen, Margareta«, rief Gisbert so laut durch die Wohnküche, dass Margareta die Tasse aus der Hand fiel und auf die blumengemusterte Wachstuchtischdecke knallte.

Sie starrte genervt aus dem Fenster, beobachtete die dick vermummten Menschen, die trotz des trüben Märztages in der Körnerstraße geschäftig hin und her liefen.

Warte ab, Waltraud, dachte sie wütend, das kostet was, mir Gisbert aufs Auge zu drücken, das schwöre ich dir.

»Ich weiß nicht«, kam es zögerlich aus ihrem grell geschminkten Mund. Ihr abgewrackter Bruder und der tote Makler interessierten sie so viel wie ein reifer Furunkel an ihrem Hintern, den sie hoffentlich nie bekommen würde.

Gisbert erhob sich schwerfällig und holte eine Packung Kekse aus dem Schrank, riss sie ungeschickt auf und legte sie vor Margareta hin.

Als keine klare Antwort von Margareta kam, redete Gisbert munter weiter. Udo Urbat und die verzweifelten Mieter aus der Siedlung, ihn eingeschlossen, platzten regelrecht aus seinem Hirn.

Seufzend fuhr Margareta ihrem Bruder über den Mund. »Pass mal auf, lieber Gisbert. Jeder hat irgendwie sein Päckchen zu tragen, der eine ein kleines, der andere einen Riesenkarton. Wie ich schon sagte: Zeit ist Geld. Wie du weißt, habe ich mich erst vor Kurzem selbstständig gemacht, habe Schulden abzuzahlen und muss mich am Markt etablieren. Ich kann und will den Mörder dieses Maklers nicht suchen. Es sein denn, du kannst mich bezahlen. Mein Stundensatz beträgt 38 Euro, hinzu kommen Kilometergeld und Nebenausgaben wie Spesen und so weiter. Weil du es bist, 400 Euro pauschal für zwei Tage. Vorkasse.«

»Das habe ich nicht, Margareta. Mein Posten im Rathaus steht auf wackeligen Beinen. Zu viele Fehltage. Dann habe auch ich Schulden abzutragen.« Entsetzt starrte Gisbert Margareta an.

»Du, das ist echt nicht mein Problem. Hast du dich all die Jahre ein einziges Mal um mich gekümmert?«

»Du hast dich doch damals zurückgezogen.«

»Jeder muss sehen, wo er bleibt.« Wütend zog Margareta die Augenbrauen hoch und fuhr sich mit der Hand durch ihr blond gesträhntes langes Haar.

Nun legte der frustrierte Gisbert los und berichtete von durchgemachten Krankheiten und von solchen, die er noch mit sich herumschleppte. Von seiner fordernden Ex-Frau und den unverschämten Söhnen. Allesamt Schmarotzer. Sein unschöner Mund stand nicht still. Die Worte flogen nur so aus ihm heraus in die morgendliche Stille seiner Uralt-Küche.

Hoffentlich sagt er jetzt nicht gleich, ich wäre es ihm schuldig, nach dem Mörder zu suchen, dachte Margareta genervt. Gar nichts war ich ihm schuldig. Ziehe dich warm an, Waltraud! Damit der Bruder endlich den Schnabel hielt, sprach Margareta aus, was sie selbst kaum glauben konnte.

»Ja okay, ich höre mich um. Du zahlst mir dafür ein gutes Essen. Zwei Tage! Mehr ist bei mir nicht drin.«

Gisbert hielt mit seinem Geschwafel inne, war wohl sprachlos und konnte kaum glauben, was er da soeben gehört hatte, wühlte in seiner abgewetzten Brieftasche nach den Fotos von diesen Maklern – woher auch immer er sie hatte – und drückte sie Margareta in die Hand. Dazu überreichte er ihr noch eine Liste mit Namen und Telefonnummern einiger weiterer gepeinigter Nachbarn.

»Abgemacht, Margareta. Ich lade dich zu einem tollen Essen ein. Oh, ich danke dir!« Er griff mit seinen ausgetrockneten Fingern mit den langen Nägeln nach Margaretas gepflegten Händen und drückte sie kräftig. »Das werde ich dir nie vergessen!«

Margareta zückte ihr Notizbuch, notierte, was sie für wichtig hielt, und verließ wenig später das kleine Zechenhaus.

So hatte Margareta sich das Leben einer privaten Ermittlerin nicht vorgestellt. Okay, aller Anfang war schwer, doch sich auf so einen steinigen Weg zu machen, das hätte sie sich nie träumen lassen. Den blöden Mörder eines Maklers suchen, auch noch ohne Honorar. Pah! Ein Essen. Das konnte was ganz Tolles in einem noblen Restaurant sein oder eine Bottroper Schlemmerplatte in einer Pommesbude. So wie sie Gisbert erlebt hatte, dachte sie eher an die zweite Variante.

Sie stieg in ihren Polo – zu einem neuen Wagen hatte es noch immer nicht gereicht, eine teure Kamera war wichtiger gewesen – und fuhr gen Heimat, in die Zechensiedlung im Erler Norden, wo sie in einer hübschen Wohnung eines imposanten Wohnturms lebte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass in einer Stunde Henry auf der Matte stehen würde. Henry, ihre neueste Errungenschaft. Ein Traumtyp, so richtig was zum Vorzeigen. Ehetauglich, also was für die Dauer, war er allerdings nicht. Sie hatte ihn bei Renz & Co. kennengelernt, direkt an ihrem ersten Arbeitstag. Liebe auf den ersten Blick sozusagen. In der Ahnentafel ihrer bisherigen Liebhaber eindeutig der bestaussehendste, gleich nach Stefan Kornblum, dem Kommissar. Groß, breitschultrig, dunkle wellige Haare, stechend blaue Augen und einen Charme, der sogar Eisen zum Schmelzen brachte. Das einzige Manko an ihm war seine Larifari-Art, komme ich heute nicht, komme ich morgen. Doch das störte Margareta zurzeit recht wenig. Sie genoss ihr Verliebtsein und kostete jede Minute mit ihm aus. Würde er ihr zu sehr auf den Keks gehen, würde sie die Konsequenzen ziehen, schwor sie sich. Jedenfalls würde Henry sich auf die Schenkel klopfen, wenn sie ihm von ihrem neuen Auftrag berichten würde. Schon wieder so eine Graupe, würde er sagen.

»Zu früh, viel zu früh hast du dich in die Selbstständigkeit gestürzt«, gäbe er außerdem mal wieder von sich. »Du hättest bei Renz & Co. bleiben sollen.«

Ja, so lange wie du, hatte sie ihm schon so manches Mal an den Kopf geworfen. Über fünf Jahre hing er schon in dieser Detektei ab, ohne jeglichen Ehrgeiz, sich jemals selbstständig machen zu wollen. Er hatte sich bei Renz & Co., ansässig in Essen, auf Mitarbeiterüberprüfungen und Lohnfortzahlungsbetrug spezialisiert und heftete sich mit großer Freude an die Fersen irgendwelcher dubioser Gestalten, die ihre Firma an der Nase herumführten. Bis ins Ausland führten ihn seine Ermittlungen. Seine Fälle blieben selten ungelöst, manch sprachliche Weiterbildung eines Arbeitnehmers entpuppte sich als private Urlaubsreise, etlichen gefälschten Referenzschreiben und Zeugnissen war er auf die Schliche gekommen. Auf dem Gebiet war Henry spitze.

Margareta war diese Hinterherspioniererei auf Baustellen leid gewesen. Irgendeine Firma beschäftigte angeblich Schwarzarbeiter. So wurde sie einem Kollegen an die Seite gestellt, um diese Leute zu überprüfen. Tagelang Menschen beobachten, Fotos schießen und Beweise sichern, bevor endlich der eigentliche Zugriff erfolgte, bei dem sie nie anwesend war. Dann wurde sie einem Team zugeordnet, das sich auf Adressermittlungen spezialisiert hatte. Sie war der Lakai, saß stundelang am PC und suchte nach irgendwelchen Firmen oder Dingen. Den großen Durchblick hatten die erfahrenen Kollegen, die sie dumm sterben ließen. Nein, so hatte sie sich das nicht gedacht, als sie in Berlin noch einmal 18 Monate lang die Schulbank drückte, um sich als anerkannte private Ermittlerin ausbilden zu lassen. Die Prüfungen bestand sie mit Bravour, auch eine Stelle, wohlbemerkt Praktikantenstelle, war gleich zur Hand. Jedoch eine, die nicht glücklich machte. Oder war sie ganz einfach zu ungeduldig?

Vor zehn Wochen, am 1. Januar, hatte sie den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Ein eigenes Büro war noch nicht drin. Sie arbeitete von zu Hause aus, was ihrer Mutter Waltraud, die in der gleichen Straße wohnte wie ihre Tochter, so gar nicht gefiel. Waltraud hielt Ausschau nach einem geeigneten Ladenlokal in der näheren Umgebung, plante schon die Einrichtung, versprach Margareta, die Gardinen zu nähen und das Büro zu putzen. Doch ohne Einnahmen, keine eigene Detektei, räumlich gesehen jedenfalls.

Noch wurde sie von ihrem väterlichen Freund Matthias unterstützt, der, nachdem sie geholfen hatte, den Mord an seinem Sohn aufzuklären, unbedingt ihre Ausbildung finanzieren wollte. Ganz ohne Hintergedanken, damals noch. Mit der Zeit spürte Margareta jedoch, dass er noch andere Gefühle als nur Freundschaft für sie hegte. Sie mochte Matthias, der 18 Jahre älter war als sie, mehr war allerdings nicht drin. Seine finanzielle Unterstützung – alles vertraglich genau festgehalten – endete in zwei Monaten. Wenn er von Henry erfuhr, vielleicht schon eher. Was dann? Von den paar Aufträgen, die sie bisher durch kleine Zeitungsanzeigen an Land gezogen hatte, konnte sie nicht leben. Und heute nun auch noch diese Gratisaktion für ihren Bruder Gisbert.

Er schneite regelrecht hinein in seinem groben Winterpulli mit der offenen rehbraunen Lederjacke darüber. Die gleichlangen Haare ordentlich nach hinten gekämmt, strahlte er Margareta an. Sie saß in ihrem chaotischen Wohnzimmer, das ihr seit einigen Wochen als Büro diente, und steckte ihre Nase in ein spezielles PC-Programm, um mehr über die Schikanen dieses Investors Peter Zielinski, der Makler auf unbescholtene Bürger hetzte, um diese fertigzumachen, zu erfahren. Überall lagen Ordner herum, Papierberge, Fotos und vielversprechende Sachbücher.

Henry, der einen Wohnungsschlüssel besaß – ja so blöd konnte nur Margareta sein –, kam zu ihr und begrüßte sie stürmisch. Ein frischer Frühlingsduft wehte ihr entgegen. Wie dieser Mann das bloß schaffte, stets so gepflegt daherzukommen, ohne overstyled zu wirken.

»Na, voll im Element? Neuer Auftrag?«

Margareta schob ihm eines der Fotos hin, die sie von Gisbert bekommen hatte. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigte einen dünnen, fast kahlköpfigen Blondschopf vor der Trinkhalle in der Pawiker Straße. Wer hatte ihn fotografiert und warum? Nun war er tot. Was sollte sie mit dem Foto?

»Was ist denn das für ein Penner? Sollst du ihn suchen? Was hat er getan?« Henry fläzte sich auf Margaretas Sofa und stöhnte laut, als hätte er drei Tage durchgearbeitet.

»Das war ein Makler, der im Auftrag eines Investors Leute aus ihren Zechenhäusern gedrängt hat. Man hat ihn erdrosselt im Picksmühlenteich in Hassel aufgefunden. Er hatte auch meinen Bruder Gisbert bedroht. Der hat ihm daraufhin das Nasenbein gebrochen und steht nun unter Mordverdacht.«

»Ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Sag mal, warum nimmst du das an? Das ist eine Nummer zu groß für dich. Hast du nicht schon genug Ärger mit deinen Mordermittlungen gehabt? Zwei Mal wärst du fast draufgegangen. Außerdem zahlt dein Bruder dir doch sicherlich nichts.« Abfällig schaute Henry auf das Papierchaos um sich herum. »Räume lieber mal ein bisschen auf. Wie das hier aussieht.«

»Ich habe kein schickes Büro, muss von zu Hause aus arbeiten. Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen.« Beleidigt schaute sie ihn an.

»Margareta, Margareta. Du bist an deiner desolaten Lage nicht schuldlos. Mit etwas mehr Geduld hättest du bei Renz auch schon bald ein eigenes Büro gehabt. Viel zu früh und völlig unüberlegt hast du dich in die Selbstständigkeit gestürzt. Und dann nimmst du auch noch so einen Fall an. Wo willst du den Mörder finden – und wie lange soll das dauern?«

»Zwei Tage habe ich Gisbert gegeben, mehr nicht.«

»Alles klar. Der hat einen Knall. Lass die Finger davon.«

Margareta setzte sich zu ihm aufs Sofa und sah ihn lange an. »Ich bin so, wie ich bin, und du wirst mich alte Frau nicht mehr ändern.«

»Komm her, alte Frau und gib mir einen Kuss. Ich habe dir etwas ganz Tolles mitgebracht. Eine reiche Dame, Ehefrau eines Industriellen, die ich in Essen kennengelernt habe, sucht einen einfühlsamen Detektiv, am liebsten eine Frau, um ihrem Angetrauten mal auf den Zahn zu fühlen. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass er mit seiner Geliebten und dem ganzen Zaster abhaut. Du wärst die ideale Besetzung dafür. Bei Renz zeigte keiner großes Interesse. Stunde 50 Euro plus Nebenkosten, habe ich ihr gesagt und dich wärmstens empfohlen. Da kannst du dich mindestens zwei Wochen dran festbeißen. Also, vergiss deinen Bruder und den toten Makler.« Henry warf ihr die Visitenkarte der Dame hin.

Neugierig nahm Margareta die kleine Karte in die Hand, und ihre Augen begannen zu leuchten. Ihre Kasse im Hirn klingelte. Mit dem Geld könnte sie einige Löcher stopfen.

»Ich mache es, doch morgen und übermorgen kümmere ich mich zuerst um diesen toten Makler.«

»Dir ist nicht zu helfen. Lass uns Pizza bestellen, ich habe Hunger.« Henry nahm ein Foto von Fritz Stalewski in die Hand, lachte laut und klopfte sich tatsächlich auf seine Schenkel.

»So bin ich nun mal.« Margareta griff zum Telefon, um beim Pizza-Service die Bestellung aufzugeben.

Von dem lukrativen Auftrag der reichen Unternehmersgattin würde sie ihrem Sponsor Matthias nichts erzählen, beschloss sie. Vielleicht könnte ihre Mutter tatsächlich schon bald mit dem Nähen der Gardinen für ihre eigene Detektei beginnen, träumte sie, während die Pizza unterwegs war.

2.

Stöhnend, als hätte sie einen 1.000-Meter-Lauf hinter sich, quälte Waltraud sich die Treppen des Wohnturms hinauf, betrat Margaretas Wohnung und ließ sich sofort auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Ihre prall gefüllte Einkaufstasche stellte sie neben sich ab.

»Wie sieht das denn hier aus?«, legte sie gleich los, als sie wieder besser Luft bekam. »Es wird echt Zeit, dass du ein Ladenlokal beziehst.« Waltrauds Blick blieb an der braunen Lederjacke hängen, die auf dem Sessel gegenüber achtlos abgelegt worden war.

Nun kommt es, dachte Margareta. Hallo, schwerer Vorwurf, komm’ heraus. Jetzt würde sie loslegen, wer hier die Nacht verbracht hatte, wieso sie ihr, ihrer Mutter, den jungen Mann nicht längst vorgestellt hatte. Immerhin hatte sie ihr von ihm erzählt, von ihrem Arbeitskollegen Henry aus der Detektei, der angeblich nur ein guter Freund war.

Hallo? Ich bin 46 Jahre alt! Bin ich meiner Mutter etwa Rechenschaft schuldig? Was kriecht sie auch schon um neun Uhr morgens hier herum? Dass sie sich überhaupt hertraute, wunderte sich Margareta.

Waltrauds hängende Gesichtszüge sprachen Bände. Ihre verfilzte Plüschmütze ließ sie auf dem Kopf, wahrscheinlich waren ihre Haare darunter nicht tageslichttauglich. Die dicke Winterjacke zog sie endlich aus und warf sie demonstrativ auf den Sessel, direkt neben die Lederjacke.

»Lass raus, was du rauslassen musst, liebe Waltraud. Willst du auch einen Kaffee? Ich wollte gerade eine Kanne kochen.«

Waltraud war nicht dumm und änderte ihre Strategie. Sie kannte ihre Tochter, wusste, dass sie jetzt nichts Falsches sagen durfte.

»Dann lerne ich deinen neuen Freund endlich auch einmal kennen.«

»Das glaube ich kaum. Er wird das Schlafzimmer nicht verlassen, solange du hier bist.«

»Was hast du ihm denn von mir erzählt? Etwa, dass ich ein Drachen wäre?«

»Nein, natürlich nicht. Ich habe lediglich erwähnt, dass du mir deinen Sohn Gisbert auf den Hals gehetzt hast. Du hast doch bei ihm angerufen, oder etwa nicht?«

»Ich war so stolz auf dich, da habe ich einige aus der Verwandtschaft unterrichtet. Die strunzen doch auch alle immer mit ihren Kindern und was die alle leisten. Unter anderem rief ich auch Gisbert an. Und der erzählte mir von seinem Problem. Der arme Junge! Tut er dir denn nicht leid?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie hat er sich ja selbst in diese Situation gebracht. Ein guter Anwalt könnte ihm besser helfen. Was schlägt er dem Mann auch auf die Nase. So kenne ich meinen Bruder gar nicht. Nun soll ich mich dort in Hassel umhören. Er zahlt mir allerdings nichts dafür.«

»Na ja, ob du hier herumsitzt oder nach dem Mörder des Mannes suchst. Ist doch egal, oder?«

»Ist nicht egal«, schrie Margareta durch den Raum. »Ich habe einen lukrativen Auftrag, der echt Kohle und wochenlange Arbeit mit sich bringt. Außerdem ist von Mördersuche nicht die Rede gewesen. Mich lediglich ein wenig umzuhören, habe ich mit Gisbert vereinbart.«

Waltraud strahlte übers ganze Gesicht. »Schön, Kind. Das freut mich. Gott wird es dir vergelten. Was ist es denn für ein neuer Fall?«

»Das werde ich dir nicht erzählen! Wieso kommst du mir jetzt mit Gott? Liegt das an diesem neuen Typen, den du in der Kirche kennengelernt hast?« Margareta hatte diesem Alfred bisher keine Beachtung geschenkt. Hin und wieder hatte ihre Mutter von ihm erzählt, wenn er sie nach Hause gefahren oder zum Einkaufen abgeholt hatte. Waltraud genoss es, mal wieder jemanden mit einem fahrbaren Untersatz zu ihren Bekannten zählen zu können, so günstig das Bärenticket der Buslinie auch war, im Auto kutschiert zu werden, war nun einmal bequemer. Jahrelang hatte sie der Kirche den Rücken gekehrt und nun kroch sie wieder dorthin und schleppte auch gleich einen alten Knacker ab. Bei Gelegenheit wollte Margareta sich den Mann einmal ansehen.

»Wann wirst du nach Hassel fahren und dich umsehen?« Neugierig starrte Waltraud ihre Tochter an.

»Ich werde mich heute und morgen darum kümmern. Danach wartet der neue Auftrag auf mich.«

»Hast ein gutes Herz, wusste ich es doch.«

»Blöd bin ich! Blöd wie Brot.«

»Dein Freund schläft also noch?«, wechselte Waltraud das Thema und lauschte in Richtung Schlafzimmer.

»Er ist ein Morgenmuffel genau wie ich und wird hier und jetzt, wie schon erwähnt, nicht auf der Bildfläche erscheinen, um dir seine Aufwartung zu machen.«

»Weiß Matthias von ihm?«

»Was geht es Matthias an? Seine Unterstützung hing nicht davon ab, dass ich keinen Kontakt mehr zu anderen Männern haben darf. Matthias ist ein väterlicher Freund, und das soll er auch bleiben, mehr nicht.«

Waltraud ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Wie gern hätte sie es gesehen, wenn aus ihrer Tochter und dem vornehmen Matthias, Staatssekretär a. D., ein Paar werden würde. Sie mochte diesen Mann, der zu ihr stets nett und freundlich war. Und so gebildet kam er daher. Waltraud hing an seinen Lippen, wenn er ihr irgendetwas, was sie in der Zeitung gelesen und nicht verstanden hatte, erläuterte. Seine gelegentlichen Besuche bei ihr brachten ihm viele Pluspunkte ein.

»Also, sag’ endlich, was du so früh hier willst?«, versuchte Margareta den Besuch abzukürzen, nachdem die Kaffeemaschine durch überlaute Geräusche kundtat, dass der Brühvorgang zu Ende war.

»Anna hat erzählt, dass in der Kannenstraße ein kleines Ladenlokal frei wird. Der Versicherungsvertreter, der seine Agentur dort hat, gibt den Laden auf.«

»Kannenstraße? Hier gleich um die Ecke in der grauen, trostlosen Gegend? Sag mal, tickst du noch ganz richtig? Wer verirrt sich denn hier in die Provinz, wo nur Proleten wohnen?«

»Dafür ist die Miete sehr günstig. Essener City wirst du dir wohl kaum leisten können.«

»Vergiss es, Waltraud. Was schleppst du denn da in der Tasche mit dir herum? Du warst doch unmöglich schon einkaufen.«

Waltraud zog die Tasche auf ihren Schoß und entnahm ihr knallgelbe Vorhänge. »Schau mal, Anna braucht sie nicht mehr. Dieses leuchtende Gelb. Sind die nicht herrlich?«

»Wo soll ich sie aufhängen?«

»In deiner neuen Detektei.«

Trotz ihrer Wut prustete Margareta los. »Klar, die würden sich in der dunklen Kannenstraße gut machen. Waltraud, pack den Mist ein, trink deinen Kaffee und geh’ nach Hause.«

Was Waltrauds Freundin Anna aber auch alles wusste. Margareta mochte diese Frau nicht, die sich in alles einmischte und deren Versagerkinder ihr stets als Vorbild vor die Nase gehalten wurden.

Eine Viertelstunde später schob ihre Mutter Waltraud samt ihren gelben Vorhängen ab. Den tollen Henry hatte sie nicht zu Gesicht bekommen.

Wie gut, dass Margareta bei Renz & Co. so oft den Profis über die Schulter geschaut hatte. Nach nur drei Stunden wusste sie alles Wissenswerte über diesen Investor Peter Zielinski und den toten Makler Fritz Stalewski. Hauptsächlich dank Henrys Zugriff auf das umfangreiche Recherchenetzwerk seiner Firma und nicht ganz legalen Tipps einiger Kollegen. Etlichen Presseartikeln konnte sie entnehmen, was man dem korrupten Zielinski vorwarf. Hörte sich allerdings nicht so brutal an wie die Schilderung ihres Bruders. Ihre Neugier war jedoch geweckt. Sie wollte mehr wissen.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es noch früh genug war, nach Hassel zu fahren, um sich dort in der Siedlung ein Bild zu machen. Zum Picksmühlenteich wollte sie laufen, um sich die Stelle anzusehen, wo man den toten Makler Fritz Stalewski gefunden hatte. Wieder und wieder betrachtete sie das Foto des Mannes, der erdrosselt worden war. Hatte der Mörder dieses Foto geschossen, um den Kerl ins Visier zu nehmen? Morgen Abend würde sie ihrem Bruder Bericht erstatten, und der Fall wäre für sie erledigt. Übermorgen könnte sie sich mit freiem Kopf der angeblich betrogenen Industriellengattin aus Essen widmen.

Das für heute geplante Kaffeetrinken bei Matthias müsste sie auf Sonntag verlegen, was ihm natürlich nicht in den Kram passen würde. Er hasste so kurzfristige Verschiebungen. Margareta war der Besuch in Hassel jedoch wichtiger.

Margareta zwängte sich in ihr schwarzes Businessjäckchen, das dank Matthias’ guter Küche zu Weihnachten unter dem Arm ziemlich zwickte. Doch nicht nur Matthias hatte sie zu den Feiertagen ordentlich abgefüttert. Da waren auch noch Waltraud und Henry gewesen. Weihnachten war schon wieder elf Wochen her. Sie hatten um ihre Gunst gebuhlt, ihre Mutter Waltraud, ihr Geliebter Henry und ihr Freund Matthias. So schöpfte sie den Rahm ab, dachte einmal nur an sich. Heiligabend ließ sie sich von ihrer Mutter nach alter Art verwöhnen. Alles war anders gewesen als vor zwei Jahren. Da hatte sie auch an Mutters Tisch gesessen, den Obdachlosen Felix an ihrer Seite, fest entschlossen, ihn zu rehabilitieren. Schluss mit guten Taten, Egoismus war angesagt gewesen. Anna und Hildchen, die Freundinnen ihrer Mutter, nahm sie mit Humor, den noch immer vorhandenen Gelegenheitsliebhaber von Waltraud, Kombo-Sepp, ebenfalls mit Langmut. Inzwischen hatte dieser allerdings einen Tritt in den Hintern bekommen. Nun war Alfred Programm, von dem Margareta noch so überhaupt nichts wusste. Am ersten Weihnachtstag hatte sie sich von Matthias auf Händen tragen lassen. Keinen Finger hatte sie krummgemacht, genoss Gänsebraten, Glühwein, Torte, kalte Platten und Matthias’ einzigartige Gesellschaft. Der zweite Feiertag war die Krönung gewesen. Henry kam schon zum Frühstück, brachte alles mit, was man dazu benötigte. Zum Mittagessen lud er sie zum Weihnachtsbuffet im Schloss Berge ein, anschließend ging es wieder heim, aufs Sofa, wo sie in ihrer Jogginghose das Fernsehprogramm genoss. Hier konnte sie völlig ungezwungen sein, konnte quatschen, wie ihr der Schnabel gewachsen war, brauchte nicht die feine Dame zu mimen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen fuhr sie auf der Cranger Straße in ihrem Polo Hassel entgegen. Die für den März übliche tief stehende Sonne blendete sie. Sechs Kilometer und zehn Minuten, sagte das Navi, das sie spaßeshalber eingeschaltet hatte, obwohl sie die Strecke kannte wie ihre Westentasche. Würde sie vielleicht heute schon Udo Urbat begegnen? Wider Erwarten war sie gespannt auf diesen Mann und fragte sich, wie er wohl heute, sieben Jahre später, aussehen würde?

Mittlerweile befuhr sie die Polsumer Straße in Hassel. Nichts hatte sich hier verändert, alles grau in grau, genau wie damals. An der Elisabeth-Apotheke bog sie links in die Lessingstraße ein. Einige Bäume waren gefällt worden, was der Straße mehr Helligkeit verlieh, die Häuser fast alle renoviert und in verschiedenen Farben gestrichen. Irgendwann kreuzte die Körnerstraße. Nein, zu Gisbert wollte sie nicht, zuerst würde sie die Trinkhalle besuchen, die sich nach der Eisenbahnunterführung gleich rechts befand, entschloss sie spontan. Was war denn dort am Kiosk los? Ein Menschenauflauf an einem ganz normalen Wochentag? Sie fuhr noch ungefähr 50 Meter weiter, um ihren Wagen am Straßenrand zu parken. Als sie ihm entstieg, wurde ihr bewusst, wie falsch sie gekleidet war. Völlig overdressed. Blazer, zwar mit dickem Winterpulli darunter und langem Schal um den Hals geschlungen, war an dem kühlen Spätwintertag definitiv nicht warm genug. Wollte sie mal wieder Eindruck schinden? Gut gekleidet fühlte sie sich nun mal sicherer. So stolzierte sie in ihren Wildlederstiefeln auf den Kiosk zu. Ein kleiner Flachbau, gelb gestrichen, mit unzähligen Werbetafeln, stehend und hängend, der sich direkt am Bahndamm befand. Seit Jahren fuhr die Zechenbahn allerdings nicht mehr. »Kiosk Bahlke«, stand auf der wuchtigen Leuchtreklame über der Tür. Alles recht ordentlich, stellte Margareta fest. Damals, als sie im Rahmen ihrer Mordermittlungen auf dem Bergmannsglücker Zechengelände hier öfters Station gemacht hatte, war der Kiosk noch nicht in so einem modernen Zustand. Davor stand ein roter Stehtisch, um den sich fünf Männer gesellten, die sich lautstark unterhielten. Im Eingang befand sich ein älterer Herr, der im übelsten Ruhrpottdeutsch auf zwei Kinder einredete. Dabei verirrte sich sein rechter Zeigefinger in eines der zahlreichen Löcher seines Pullovers. In der Ecke hinter dem Tisch standen einige türkische Nachbarn, die sich in ihrer Landessprache unterhielten. Das war also das von Gisbert angepriesene Kommunikationszentrum? Na, gute Nacht. Diese besserwisserischen Großmäuler sollten ihr weiterhelfen können? Wohl kaum.

Und da sah sie ihn. Grüne Augen starrten sie an. Ein warmes Lächeln überzog sein Gesicht. Ein Lächeln, das einem Weinen ähnelte. Udo Urbat. Er hatte sich in den sieben Jahren kaum verändert. Sein blondes Haar war etwas lichter geworden, ansonsten sah er immer noch recht passabel aus. Nicht schön im eigentlichen Sinne, jedoch sympathisch.

»Das darf doch nicht wahr sein. Das ist doch Margareta Sommerfeld. Was treibt dich denn hierher?« Freudig ging er auf sie zu und nahm sie in die Arme. Plötzlich fiel ihr ein, was sie damals an ihm so anziehend fand. Er strahlte eine unheimliche Wärme aus, eine richtige Vati-Geborgenheit.

»Das kannst du dir doch sicherlich denken, oder?« Sie ließ sich von ihm an den knallroten Tisch führen. Die anderen Männer verstummten, krallten sich an ihren Bier- oder Colaflaschen fest und blickten Margareta neugierig an.

»Ich glaube schon. … Dass wir uns noch einmal wiedersehen, hätte ich nicht gedacht!« Udo Urbat schien sich aufrichtig zu freuen, ihr hier und heute zu begegnen. Stolz stellte er den vier Männern in der Runde die legendäre Margareta Sommerfeld vor.

Der Kiosk-Besitzer Martin Bahlke, ein fülliger Kerl Anfang 40 mit raspelkurzer, blonder Igelfrisur, sprang eifrig ins Innere des Etablissements und holte eine Flasche Cola sowie eine Frikadelle, die auf einem abgeschlagenen Unterteller lag. Beides stellte er ungefragt vor Margareta ab.

»Hier, trink mal was, Mädchen. Bist die Schwester vom Gisbert, näh? Find ich toll, dass du dich um uns hier kümmern willst!«

Ehe sie protestieren konnte, kroch ihr ein großer dunkelhaariger Mann ganz dicht ans Gesicht. Ein Blick aus fast schwarzen Augen durchbohrte sie regelrecht. »Ich bin Suleyman, Suleyman Kararoglu, wohne in der Arndtstraße. Hab schon viel von dir gehört, Margareta. Uns geht es allen sehr schlecht momentan. Und jetzt auch noch der Mord an diesem Penner Stalewski. Ich meine, ist ja gut, dass der weg ist. Doch nun sucht man unter uns den Mörder. Wir alle sind verdächtig. Aber nun bist du ja da.«

»Hey, hey, hey, ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.« Margareta geriet in Panik. Was hatte Gisbert den Leuten erzählt? Doch ehe sie die Sache richtigstellen konnte, klopfte ihr Udo Urbat beruhigend auf die Schulter. »Lass mal, Margareta, die freuen sich halt und greifen nach jedem Strohhalm, der sich ihnen bietet.«

»Und ich bin der Strohhalm, der Rettung bringen wird? Licht ins Dunkel oder was auch immer?« Die Kerle machten ihr Angst.

Von den anderen beiden Männern in der Runde fiel ihr einer besonders auf. Vielleicht, weil er einen zitternden Pudel neben sich stehen hatte? Seine Brille hatte mindestens fünf Dioptrien. Die blonden, halblangen Haare waren zerzaust, sein Mund stand ein wenig offen, was den Eindruck, er wäre debil, verstärkte. Auch er ließ einige Lobeshymnen über sie vom Stapel, sodass Margareta gar nicht mehr wusste, wo sie hinschauen sollte. Vor Verlegenheit – ja auch sie konnte hin und wieder verlegen reagieren – biss sie herzhaft in die riesige Frikadelle und hätte sich auf der Stelle übergeben können. Allein schon der Geruch war der des Grauens. Dieses undefinierbar aussehende große Ding war todsicher kein Hausfrauenwerk, sondern irgendeine billige Päckchenware, sicherlich bereits abgelaufen. Bahlke starrte sie auffordernd an, nickte mehrmals, was heißen sollte, sie möge doch weiter hineinbeißen in die Köstlichkeit. Grobe Stücke blieben auch nach mehrfachem Durchkauen der Masse im Mund hängen. Stücke, die sich als elende Knorpel und Fettklumpen entpuppten. Ekeltränen traten in ihren Augen, dazu gesellte sich ein Würgereiz. Sie riss sich zusammen und schluckte den Müll hinunter, spülte ordentlich mit der Cola nach. Suleyman quatschte sie noch immer voll, dieser Detlev hatte seinen zitternden weißen Hund inzwischen auf den Arm genommen und grinste sie ehrfürchtig an. Der fünfte Mann am Stehtisch wurde einfach nur Wichlatz genannt und begann ebenfalls vom bösen Stalewski zu berichten, der im Auftrag vom noch böseren Zielinski gehandelt hatte. Margareta wurde das alles zu viel. Als Bahlke mit einem völlig ergrauten Mettbrötchen aus seiner Bude kam, wollte sie nur noch weg und sah Udo Urbat flehend an. Der verstand, was dieser Blick ihm sagen wollte. Er hakte Margareta unter und verschwand mit ihr von der Bildfläche. Gerade noch rechtzeitig, denn kein anderer als Norbert Koslowski kam auf einem klapprigen Fahrrad um die Ecke geradelt, geradewegs auf die muntere Truppe am Kiosk zu. Er trug eine altertümliche hellgraue Thermojacke und eine schalke-blaue Pudelmütze, was Margareta verwunderte, da sie ihn eigentlich fast nur im Doppelripp-Unterhemd kannte. Klar, wir haben noch Winter, sagte sie sich, damals, als ich ihn kennenlernte, herrschte warmes Sommerwetter, und es war meistens Gartenzeit gewesen.

Als die beiden Margaretas Auto erreicht hatten, konnte sie noch das muntere Geplapper der Trinkhallenbesucher hören.

»Schön, dass du mich gerettet hast, Udo. Dieses laute Gerede, diese ekelige Frikadelle, das war mir einfach zu viel. Doch bevor ich in meinen Wagen steige, möchte ich mir noch den Picksmühlenteich ansehen. Die Stelle, an der der tote Makler gefunden wurde.«

»Da nimmst du doch besser dein Auto mit. Das ist ein schönes Stück zu Fuß. Direkt hinter meinem damaligen Haus befindet sich der Picksmühlenteich. Das ist das sogenannte Regenrückhaltebecken. Wenn du magst, können wir zusammen dahinlaufen. Allerdings biete ich dir gerne vorher bei mir einen Kaffee an, damit du einen anderen Geschmack im Mund bekommst.«

»Damalig? Du wohnst nicht mehr dort?«, fragte sie ihn neugierig.

»Nein, ich wohne ein paar Häuser davor in einem Mietshaus. Du weißt ja sicherlich von meiner großen Dummheit? Die kostete mich unter anderem mein schönes Haus. Ich musste bei null anfangen.« Verwundert und ein wenig traurig sah er Margareta an, stieg wie selbstverständlich zu ihr in den Polo und ließ sich die 600 Meter bis zu seinem Zuhause fahren.

Indiskrete Frage, dachte Margareta. Sie ging davon aus, dass er nach der Unterschlagung damals in den Kahn gewandert war und die Raten für das Haus nicht mehr zahlen konnte. Soviel sie gehört hatte, verlor Udo damals seine Arbeit wegen der Vorstrafe. Leute reden viel, dachte sie und freute sich für ihn, dass er eine neue Bleibe in seiner alten Heimat gefunden hatte.

Sie hielt vor einem gepflegten Vier-Familien-Haus auf der Bergmannsglückstraße und folgte ihm durch das ordentlich-spießige Gummibaum-Treppenhaus in die Wohnung. Eine unheimliche Stille herrschte in den dicken Mauern des nach dem Krieg erbauten Hauses. Stolz schloss er die Parterrewohnung rechts auf und ließ Margareta den Vortritt. Ihr fiel sein Steigerhaus-Mausoleum ein, in dem sie damals zu Gast gewesen war. Möbel aus dem Museum in Eiche P 43 gebeizt, Blumenmustersofa inklusive Mittagessensgeruch, den sie auf Kommando abrufen konnte und sofort wieder in der Nase hatte. Die Schlingenauslegware hoch und tief in Grau ließ Urbat mehrmals stolpern. Spießig hoch acht. Mit seiner Vergangenheit hatte er wohl auch die alten Klamotten abgelegt. Laminat statt Teppichboden, moderne minimalistische Buchenholzmöbel und schwarze Ledereckgarnitur verjüngten das Urbatsche Wohnzimmer enorm. Der ganze altertümliche Nippes, dessen Anblick ihr damals eine Gänsehaut verursacht hatte, war verschwunden und machte einigen neuzeitlichen Dekostücken Platz.

»Schön hast du es, Udo!« Und das meinte sie ehrlich.

»Ja, so ganz anders als früher, nicht wahr? Ich fühle mich hier sehr wohl.« Mit leuchtenden Augen führte er sie durch sein Dreieinhalb-Zimmer-Reich. In dem eigentlichen Kinderzimmer befand sich ein hypermodernes Büro, das er ihr zum Schluss voller Stolz präsentierte. »Seit ich diese Genossenschaft leite, kommen viele Leute her. Da brauche ich ein vernünftiges Arbeitszimmer.«

Emsig marschierte er anschließend in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Vorab servierte er ihr eine Apfelschorle.

Entspannt ließ sich Margareta in der gemütlichen Sitzecke im Wohnzimmer nieder. »Top in Schuss die Bude. Da könnte ich mir eine Scheibe von abschneiden. Bei mir sieht es vielleicht aus.« Sie berichtete ihm von ihrer Selbstständigkeit als private Ermittlerin und über das noch nicht vorhandene Büro.

»Ich habe doch Zeit, Margareta, bin frühverrentet und außer der Bürgerinitiative und der Genossenschaft habe ich nicht mehr viel zu tun. Lebst du allein?« Man merkte ihm an, wie sehr ihm diese Frage unter den Nägeln brannte. Empfand er immer noch so viel für Margareta wie damals? Flammten alte Gefühle vielleicht wieder auf?

Margareta hoffte nicht und wollte dem gleich einen Riegel vorschieben. »Ich habe einen Freund. Henry. Wir wohnen allerdings nicht zusammen, jeder hat noch seine eigene Wohnung. Das finde ich nach den vielen Pleiten einfach besser. Geht er mir auf den Keks, kann ich ihn zurück in seine Bude schicken, bis ich wieder Sehnsucht nach ihm habe. Ich bin beziehungsuntauglich, musste ich feststellen. Und du? Gibt es bei dir jemanden?« Es interessierte sie nicht wirklich. Sie fragte nur anstandshalber nach.

»Nein, ich will keine Frau mehr an meiner Seite. Meine Ex Ingrid hat mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Nach meiner Verurteilung stand mir Annegret Thannhäuser zur Seite. Du kennst sie doch noch, oder? Hattet ihr euch damals nicht angefreundet?«

»Ach ja, die gute Annegret. Irgendwie war das auch ein Schaf, oder?«

Entsetzt schaute Udo sie an. »Ich dachte, du mochtest Annegret?«

»Ja, klar. Wer sagt denn, dass ich keine Schafe mag? Ich meinte damit, dass sie viel zu lieb war für diese Welt. Das wusste ihr Gatte gar nicht zu schätzen. Wohnen die beiden noch dort?«

Sie schien einen wunden Punkt bei Udo getroffen zu haben. »Nein, sie sind geschieden und weggezogen.« Thema erledigt.

Lange sah Udo Margareta an. »Hätte ich seinerzeit diese große Dummheit nicht begangen, wer weiß, vielleicht wären wir noch zusammen?«

Waren wir jemals zusammen, fragte Margareta sich, sah ihn lange an und mochte jetzt nichts Falsches sagen. Ihn bloß nicht kränken. Schließlich konnte sie ihn noch gebrauchen, falls sie tatsächlich hier in Hassel auf Mördersuche gehen würde. »Ja, wer weiß?«, sagte sie nur. Allein die Vorstellung, nun schon sieben Jahre mit diesem ruhigen, in sich ruhenden Udo zusammen zu sein, erschreckte sie. Sie musste schmunzeln. Schade, dass sie sich an die einzige Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte, so überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Blöder Alkohol! Themawechsel!

»Erzähle mir von deiner Arbeit in dieser Genossenschaft. Wann hast du sie gegründet? Was war der Anlass?«

»Der Anlass war Dankbarkeit. So viele Nachbarn aus der Siedlung standen mir in der schlimmen Phase zur Seite. Und ich hatte so ein großes Glück, mit einer Bewährungsstrafe davongekommen zu sein. Eine harte Zeit. Ich musste völlig neu anfangen …«

Nach zwei Stunden wusste Margareta in groben Zügen, was da in Hassel genau passiert war, wie sehr die friedlichen Mieter drangsaliert wurden – und Udo Urbat, wieso Margareta sich als private Ermittlerin selbstständig gemacht hatte.

Lust, zum Picksmühlenteich zu laufen, verspürte sie nun nicht mehr. Jedenfalls nicht mit Udo an ihrer Seite. Tatortbesichtigung sollte am anderen Morgen stattfinden, allein, um sich darüber klar zu werden, ob sie sich auf Mördersuche begeben wollte oder nicht.

Als sie gen Heimat fuhr, rauchte ihr der Kopf. So viele gequälte Menschen auf einem Haufen. Ob das alles auch so stimmte, wie Udo berichtet hatte?

3.

Hier wurde Fritz Stalewski also am Freitag, den 1. März gefunden. Ein heruntergekommener Makler, 41 Jahre alt, geschieden und hoch verschuldet. Sein Maklerbüro hatte kurz vor dem Aus gestanden. Ging er deshalb über Leichen und hatte den Bewohnern in Hassel so zugesetzt? Wusste sein Auftraggeber, Peter Zielinski, wie schlecht es dem Mann ging, und dass er für Geld alles für ihn tun würde? Margareta starrte auf den Picksmühlenteich, dem sogenannten Rückhaltebecken, das sich dem Bach anschloss. Ein idyllisches Fleckchen Erde mitten in einer Großstadt. Sie hatte den Teich auch ohne Udo Urbat gefunden, ihren Wagen in der winzigen Straße »Zum Picksmühlenteich« mit vier großen, imposanten Doppelhäusern aus den 1930er-Jahren geparkt und war den schmalen Weg am Ende der Häuser entlanggelaufen. Er führte zwischen Bäumen und Sträuchern am Picksmühlenbach vorbei. Rechtsseitig begann bereits der Wald. Den genauen Leichenfundort hatte sie sich am Vorabend von ihrem Bruder Gisbert erklären lassen. Das Fahrzeug – es wurden entsprechende Reifenspuren gefunden –, das die Leiche direkt am Teich abgeladen haben soll, wäre einen asphaltierten Weg ein Stück weiter, zwischen zwei Häusern, entlanggefahren, der zu einer Brücke führte. Fundort wäre nicht der Tatort gewesen. Mit einem farbigen Nylonseil erdrosselt, hätte man den hageren Fritz im Wasser liegend, zwischen Schilf und Gestrüpp, entdeckt. Hier an dem Teich weiter hinten, umsäumt von hohen Bäumen, wurde er nur entsorgt. In einem kleinen Paradies. Näher an das Gewässer heran konnte Margareta nicht, da es mit einem Drahtzaum eingefriedet war. Als sie an ihm entlangschritt, entdeckte sie eine Stelle, an der der Draht auseinandergebogen war. Sie kroch durch diese Art Loch und schritt vorsichtig bis zum Rande des Wassers. Nichts deutete mehr darauf hin, dass ein Spaziergänger eine Leiche gefunden hatte. Was hatte es gebracht, den Mann umzubringen, fragte Margareta sich. Zielinski, der korrupte Spekulant, hatte weitere Makler am Start, die damit fortfahren würden, Mieter zu verängstigen, sie aus ihren Häusern zu ekeln, egal mit welchen Mitteln. Udo hatte ihr Dinge erzählt, die sie kaum glauben konnte. Nicht umsonst engagierte er sich so für seine Nachbarn. Alles begann für ihn mit einer Bürgerinitiative. Seine gegründete Genossenschaft »Zufrieden wohnen in Hassel« suchte dringend Investoren, die die Zechenhäuschen, welche noch nicht in Privatbesitz waren und nicht von Zielis Consulting AG aufgekauft wurden, kauften, um den Leuten ihr Zuhause zu erhalten.