Berlin Heat - Johannes Groschupf - E-Book

Berlin Heat E-Book

Johannes Groschupf

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Beschreibung

Berlin ist kochend heiß im ersten Sommer nach der Pandemie. Die Touristen sind zurück in der Party City, überall wird exzessiv gefeiert, die Menschen genießen die Zeit nach dem Lockdown. Gut für Tom Lohoff, der für das Partyvolk aus aller Welt Wohnungen, Drogen jeglicher Art, Sex und Zugang zu Top-Clubs im Angebot hat. Schlecht für ihn, dass er hohe Spielschulden bei einem fiesen Gangster hat. In seiner Geldnot trifft er ein paar Wochen vor den Bundestagswahlen eine fatale Entscheidung: Er beteiligt sich an der Entführung eines stadtbekannten Politikers, der sich als Rechtsaußen für law and order einsetzt …

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Seitenzahl: 321

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Titel

Johannes Groschupf

Berlin Heat

Thriller

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Informationen zum Buch

Titel

Inhalt

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Sperrvermerk

Titel

Inhalt

Berlin Heat

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Dank

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Berlin Heat

It's not a party, it is a fight.

Anonyme Inschrift im Hinterzimmer des »Erika und Hilde«

1

Das WettbüroArena in der Potsdamer Ecke Pohlstraße ist am Mittag nahezu leer. Hinten sitzt Dmitri der Locher und bohrt mit einem Kugelschreiber Löcher in die weggeworfenen Wettscheine. Auf den Bildschirmen laufen Fußballspiele von gestern, Werbung für Onlinewetten und günstige Sofortkredite. Draußen sind es zweiunddreißig Grad. Ich bin seit sieben Uhr auf den Beinen nach drei Stunden Schlaf, es ist einer dieser Ritalin-Tage, hundertachtzig Beats per minute, einer dieser Tage, an denen ständig irgendwas ist, und das bei dieser Hitze. Das Paisley-Hemd klebt an meinem Oberkörper. Ich stehe an der Kasse und lasse mir die dreihundertzwanzig Euro auszahlen für Camila Giorgis Sieg im Achtelfinale, als Rudi mit einer Plastiktüte hereinkommt. Rudi ist einer der Spieler, die jeden Tag hier auftauchen, um ein paar Wetten zu setzen, der Rubel muss rollen. Den Zocker sieht man ihm nicht an. Sommerjackett über dem Arm, offenes Hemd, Lederschuhe. Rudi ist eigentlich immer gut drauf, grüßt alle, hat immer ein Lächeln im Gesicht, ein Siegertyp.

»Hallo Rudi«, sage ich, »wie läuft’s, hast du einen Tipp für mich?«

Heute hat Rudi keinen Tipp. Heute grüßt er nicht. Sein Gesicht ist übernächtigt, fahl. Er stellt sich hinter mich und atmet angestrengt durch den offenen Mund, als komme er vom Joggen. Mich macht das immer noch nervös, wenn jemand ohne Maske in meinen Nacken atmet. Atila an der Kasse lässt sich Zeit mit dem Auszahlen, bei ihm dauert es immer, wenn er Geld herausrücken muss. Ihm tut das körperlich weh, sich von den Scheinen zu trennen.

»Ihr könnt euch ruhig mal ein paar Ventilatoren leisten«, sage ich. »Die gibt es für dreißig Euro in jedem Baumarkt. Das ist abartig heiß hier.«

»Sag das mal dem Chef, Tom«, sagt Atila und studiert immer noch meinen Wettschein, um einen Fehler zu finden. »Auf uns hört er nicht. Vielleicht hört er auf dich. Sag ihm das mal. Er will sowieso mit dir sprechen, es geht um irgendwas mit Kreditrückführung.«

»Der Schein ist in Ordnung, Atila, Giorgi hat gewonnen und die Quote stimmt«, sage ich. Das fehlt mir noch, dass die Schulden jetzt fällig werden, ausgerechnet jetzt, meine Geschäfte kommen gerade erst wieder ins Laufen. Die Touristen kehren allmählich zurück nach Berlin, brauchen Ferienwohnungen, Apartments, da bin ich der richtige Mann, Tom Lohoff. Bleiben wir lieber beim Wetter: »Ich meine ja nur. Draußen sind es zweiunddreißig Grad. Hier drinnen eher knapp vierzig. Hier knallt die Sonne den ganzen Tag drauf.«

»Ich weiß«, sagt Atila und langt ins Fach mit den Geldscheinen. »Ich arbeite hier. Dreihundertzwanzig Euro, nicht schlecht. Schönes Hemd hast du, wo kriegst du immer diese Hemden her?«

Rudi schiebt mich zur Seite, drängt nach vorn. Er fasst in seine Plastiktüte und holt ein Beil heraus. Ein robustes Handbeil, die Klinge schimmert.

»Immer sachte«, sage ich. Mein Mund ist trocken, jetzt ist mir kalt.

Rudi ignoriert mich, er hebt das Beil. »Ich will mein Geld zurück«, sagt er zu Atila. »Jetzt. Alles, was du hast.«

»Allahu akbar, mein Freund«, sagt Atila hinter der Plexiglasscheibe und hebt die Hände, um Rudi zu beschwichtigen. Er lächelt sein Kassiererlächeln. »Willst du hier jemand enthaupten? Meinst du, das ist witzig? Ich sag dir, das ist nicht witzig. Wir sind hier nicht in Frankreich. Ich gebe dir Hausverbot, wenn du das Beil nicht weglegst, Hausverbot ab sofort und lebenslang, dann kannst du woanders spielen.«

Der Sessel neben ihm ist leer, sein Kollege Ufuk ist unterwegs, draußen eine rauchen oder einen Kaffee holen. Atila weiß, er ist allein. Er weiß: Wenn Spieler durchdrehen und in den Berserkermodus gehen, sind sie nicht mehr aufzuhalten. In diesem Sommer liegen die Nerven bei allen blank.

»Ich will mein Scheißgeld zurück«, sagt Rudi und hebt das Beil über seinen Kopf. Seine Halsschlagader tritt hervor, als er zu brüllen beginnt, er hat rote Flecken am Hals. »Ich habe die Schnauze voll, das muss aufhören, ein für alle Mal.«

»Du kriegst dein Geld«, sagt Atila, »aber erst mal ist Tom dran, der war vor dir. Ordnung muss sein.« Er schiebt mir die dreihundertzwanzig Euro über den Tresen. Rudi steckt die Scheine ein, ehe ich danach greifen kann.

»Warte mal«, sage ich. »Das ist mein Geld. Giorgi im Achtelfinale gegen Halep, das waren drei knappe Sätze.«

Rudi dreht sich um und geht hinüber zu seinem Wettautomaten, der zweite von links. Jeder von uns Zockern hier hat seinen bestimmten Automaten, an dem man am liebsten seine Wetten platziert. Nenn es Aberglauben, meinetwegen. Alle sehen völlig gleich aus, aber man hat so ein Gefühl für seinen persönlichen Favoriten, wenn er einem irgendwann mal fünftausend, fünfzehntausend Euro gebracht hat, diese eine geniale Multikombiwette vor drei Jahren. An dem einen Abend, als alles lief. Als die Strähne einfach nicht aufhörte. Kombiwette ging klar, Tor in der Verlängerung in der polnischen Liga und Connor McGregor besiegte seinen Gegner im Oktagon innerhalb von vierzig Sekunden, und man hatte drauf gesetzt. So eine Ahnung gehabt. Jeder von uns hat diesen einen Abend gehabt. Zwanzigtausend Euro gutgemacht, mit einem Schlag ist man aus allen Schulden raus. Wieder Land in Sicht. Hat wieder Boden unter den Füßen. Jeder von uns rennt diesem Abend hinterher. Dann bleibt man bei seinem Wettautomaten, entwickelt eine Bindung zum Gerät. Mein Wettautomat steht in der Mitte, Rudi nimmt immer den zweiten links. Hat ihn jahrelang Tag für Tag mit Zehnern, Zwanzigern, Fünfzigern gefüttert. Jetzt holt er aus und wuchtet das Beil mit aller Kraft, mit seiner ganzen Wut, seinem Frust, seinem Schuldendruck auf den Automaten. Mitten ins Gesicht des Monitors. Ich kann das verstehen, ich habe es mir selbst schon tausendmal vorgestellt, der Kiste in die Fresse zu treten, weil sie immer nur nimmt und nimmt, schluckt und schluckt, und nichts zurückgibt außer Nieten, wertlosen Wettscheinen, die Dmitri dann lochen kann. Es gibt ein hässliches Geräusch, als die Klinge eindringt, ein Knarren von hartem Kunststoff. Dimitri hinten in seiner Ecke hebt den Kopf, versteht noch nicht, was los ist, und wendet sich wieder den alten, zerknüllten Wettscheinen zu. Rudi holt aus und schlägt noch einmal zu, jetzt splittert der Monitor auf, ein Spalt zeigt die schwarze Leere hinter dem Touchscreen.

»Ich will mein Geld wiederhaben«, sagt Rudi zu Atila. »Mach hin.«

»Ich brauche deinen Wettschein, Götveren, verstehst du«, sagt Atila, und ich weiß es, er verflucht seinen Kollegen, der nicht aus der Pause wiederkommt, sondern lieber stundenlang mit Azra telefoniert. »Ich kann dir nichts auszahlen ohne Wettschein. Das weißt du genau. Ich brauche deinen Wettschein.«

Rudi sagt nichts, kommt zurück zum Kassenschalter, holt aus und hackt das Beil in die Plexiglasscheibe, die sofort aufreißt, splittert, auseinanderbricht beim zweiten, dritten, vierten Schlag. Ich nehme grad noch rechtzeitig meine Hände vom Tresen, die Klinge fährt ins Resopal, ein Satz neue Finger kommt teuer, das Geld habe ich nicht. Rudi ist noch längst nicht fertig, er führt das Beil mit beiden Händen, sein Gesicht ist vor Anstrengung verzerrt, die drückende Luft macht ihm zu schaffen. Atila in seinem Kabuff weicht zurück.

»Okay«, sagt er. »Okay. Ich habe verstanden. Du willst dein Geld. Warte doch. Ich gebe dir dein Geld, tamam.«

Rudi lässt das Beil für einen Moment sinken und sieht zu, wie Atila hastig die Scheine aus den Fächern zieht.

»Mach hin«, sagt er und hebt wieder das Beil. »Wieso nicht gleich so, wir könnten längst fertig sein, ich hab auch nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich habe mir um Rudi nie Sorgen gemacht. Es gibt viele Männer in diesem Wettbüro, die knapp bei Kasse sind, im Grunde alle. Ich selbst habe mindestens zwölftausend Euro Schulden, allein bei Krasniqi, dem das Golden Dolls gehört und der auch diese Filiale führt. Außerdem einen Bankkredit, dessen Raten ich seit Monaten nicht mehr bedient habe, die Briefe mache ich nicht mehr auf. Dazu Schulden bei meinem Mitbewohner David, bei meinem Vater natürlich, einigen Freunden. Wie manche im letzten Winter die Infektionszahlen gelesen haben, 12473 am Montag, 17377 am Dienstag, 18874 am Mittwoch, so wache ich jeden Morgen auf und überschlage meinen Schuldenstand. Standard. Jeden Tag denke ich mir: Neuer Tag, neues Glück. Das Mantra eines jeden Soloselbstständigen. Aber Rudi ist Lehrer. Einer dieser Quereinsteiger, die der Senat vor einigen Jahren an die Schulen gelockt hat, als es noch Gelder gab. Achtzehn Monate berufsbegleitender Vorbereitungsdienst, Referendariat, unbefristeter Arbeitsvertrag, und seitdem ein gutes Gehalt. Rudi kann im Grunde zocken, wie er will, das Geld wächst bei ihm einfach nach. Haben wir jedenfalls gedacht. Ich auch. Rudi erzählt einem immer, dass er grad siebenhundert Euro eingefahren hat. Nettogewinn. Indiana Pacers gegen Chicago Bulls, muss man halt wissen, wer fit ist und wer nicht, und entsprechend investieren, sagt Rudi. Achthundert Euro für ein Spiel in der slowakischen Fortuna-Liga. Mindestens fünfhundert Euro Reingewinn bei einem Berliner Hinterzimmerboxkampf. Rudi geht immer als Sieger vom Platz. »Ich spiele nicht, ich gewinne«, das ist sein Spruch.

»Gratuliere«, sage ich dann immer. »Gönn ich dir.« Was man eben so sagt. Wir alle im Wettbüro erzählen von unseren Siegen, keiner verliert ein Wort über die Verluste, die ständigen, verfickten, beschissenen Verluste, die einem ins Herz schneiden und die einfach nicht aufhören. Die Verluste, die einen killen. Wie jeder habe ich auch Abende, an denen ich siebenhundert gewinne, und am selben Abend verliere ich dreitausend, weil der Schiedsrichter in der dreiundneunzigsten Minute noch einen Elfer pfeifen muss und der Videoschiedsrichter nicht eingreift und mir die ganze Kombiwette kaputtmacht. Dabei ist der Elfer schwach geschossen, der Torwart noch mit den Fingern dran, er lenkt den Ball gegen den Innenpfosten, von dort trudelt er ins Tor. Das tut weh. Ein Herzinfarkt ist nichts dagegen. Dann sitze ich da. Siebenhundert Euro, die ich eben noch so gut wie sicher in der Tasche hatte, sind wieder weg, einfach weg. Das geht einem an die Nieren. Man versucht immer, cool zu bleiben, die Verluste mit einem Lächeln wegzustecken. Aber der Druck kann während einer wochenlangen Pechsträhne unerträglich werden, und Rudi hat, wie ich das mitgekriegt habe, seit April oder Mai nichts mehr gewonnen. Nur noch verloren. Rudi ist blank. Und Rudi hat Familie. Deswegen muss er jetzt mit der Faust auf den Tisch hauen, mit dem Beil zuschlagen. Wir sind doch alle fertig vom endlosen Warten während der zweiten Welle im Winter, weil wir unsere Corona-Zuschüsse längst online verpulvert haben, als die Wettbüros und Spielhallen zu waren. Da kann Olaf Scholz Milliarden und Milliarden bereitstellen, wir haben das alles spätestens im letzten Sommer in die Wettautomaten gejagt und zum Schornstein raus. Kredite sind seit diesem Frühling nirgends mehr zu kriegen, außer bei Krasniqi. Wir alle stehen bei Krasniqi auf dem Zettel, ich frage mich manchmal, wie ich ihm eigentlich jemals die zwölftausend Euro zurückzahlen soll. Ehrlich jetzt? Keine Ahnung. Ich muss es wieder reinholen, deswegen zocke ich ja. Aber Rudi? Rudi mit seinem Lehrergehalt?

Rudi zerlegt die Plexiglasscheibe, während Atila ihm die Kohle auf den Tresen klatscht.

»Hier«, sagt Atila und knallt ihm widerwillig hin, was er in der Kasse hat. »Du machst einen Fehler, kann ich dir sagen, du kriegst dein Geld, aber nimm dein Beil weg, das bringt nichts.« Schein um Schein klatscht er Rudi hin. Zwanziger, Fünfziger, Hunderter.

»Nimm’s nicht persönlich«, sagt Rudi und hackt wie blöd auf den Wettschalter ein, die Resopalplatte platzt auf, das Plexiglas splittert weg. »Ich will nur mein Scheißgeld zurück. Verstehst du? Meinen Anteil. Was ich hier alles reingesteckt habe, seit Jahren. Was ich euch an Unsummen in den Arsch gesteckt habe, soll ich das mal zusammenrechnen?«

Als er schwer atmend innehält und einen weiteren Stapel Geldscheine vom Tresen nimmt, will ich ihm das Beil aus der Hand reißen. Er hat meinen Gewinn eingesteckt, meine dreihundertzwanzig Euro für Giorgi im Achtelfinale, das gehört sich einfach nicht. Es ist ein solides Beil für den Gartengebrauch, vermutlich aus dem Geräteschuppen seines Kleingartens an der neuen Stadtautobahn in Treptow. Der Schaft ist nass vom Schweiß seiner Hand, er lässt nicht los, wir taumeln gegen einen der Wettautomaten. Ich habe seinen keuchenden Atem mitten im Gesicht und kann seine Panik riechen, er hat die ganz Nacht wach gelegen, sein extrem komplexes Leih- und Rückgabesystem immer wieder im Kopf durchgespielt, um irgendwo noch eine Lücke zu finden, doch es gibt niemanden mehr, den er noch anpumpen kann, dem er wenigstens einen Zehner aus dem Kreuz leiern kann. Und mir ist ebenso klar, er hat in den langen Stunden der Nacht jede erdenkliche Form von Einnahmen erwogen und verworfen, vom Pfandflaschensammeln bis zum Banküberfall, Unterschlagung oder Diebstahl, man denkt einfach an alles und die Kopfschmerzen hören nicht auf, die Schweißausbrüche auch nicht. Schon gar nicht die Lust weiterzuzocken. Ich kenne das selbst. Rudi ist nur noch ein zitterndes Tier, in die Enge getrieben, verängstigt, in Panik. Die Luft ist einem abgeschnürt, man kann nicht mehr atmen. Vielleicht hat seine Frau ihn verlassen, die Kinder mitgenommen. Das sind die Nächte, in denen sich Gott von einem abwendet und kein Erbarmen mehr hat.

»Nimm jetzt das Geld und verschwinde«, sage ich zu Rudi, obwohl mich die Scheine selbst geil machen. Ein Handgriff zum Tresen, und ich hätte mal wieder ein paar Tausender zwischen den Fingern. »Mach schon. Lass mir das Beil.«

Rudi hört mir nicht zu. Er ist fertig, leer, fängt fast an zu heulen, und endlich wird seine Hand schlaff und lässt das Beil los. Atilas Kollege kommt von der Toilette zurück oder von seinem Flirt mit Azra. Ufuk ist zurück in der Hütte, ein massiger Mann, hundertfünfzig Kilo schwer. Atila gibt ihm ein Zeichen, Ufuk versteht sofort und sprintet an den Wettautomaten vorbei auf die Kasse zu. Rudi hat nur Augen für die Geldscheine, rafft sie an sich, knüllt sie, stopft sie sich in die Hosentaschen.

Ufuk grätscht ihm die Beine weg, schlägt ihm gleichzeitig mit der Faust auf die Nase, die sofort mit einem harten Knacken bricht, das Blut schießt hell heraus, während Rudi noch fällt, dann kniet Ufuk schon über ihm.

»Du Penner«, sagt er und gibt ihm rechts und links Maulschellen. Er hat fette Goldringe auf allen Fingern, die tun ihre Wirkung. Rudis Kopf schlägt hin und her, das Gesicht ist nass, verschmiert von Blut, er sagt nichts, wimmert nicht mal, vielleicht ist er ohnmächtig.

»Weißt du, was er hier will mit seinem Beil?«, fragt Atila vom Tresen aus. »Seinen Anteil will er. Sein Geld will er zurück. Sind wir eine Bank, wo die Leute einzahlen? Ich ruf Krasniqi an, ob er ihm sein Geld zurückgeben möchte. Vorher trete ich ihm aber noch in die Eier.« Ufuk schlägt weiter auf Rudi ein, ihm macht das einfach Freude.

Ich lasse das Beil fallen, wische mir die Hand an der Hose ab und gehe auf die Straße. Draußen rufe ich die Polizei an, ich hoffe, dass sie kommen, ehe Krasniqis Männer hier aufkreuzen und Rudi mitnehmen.

Mein Herz hämmert, als hätte ich selbst den Laden in Stücke gehauen. Hundertachtzig Beats per minute. Für heute reicht es mir. Muss meine Ressourcen schützen. Das war mein Tag: drei Stunden Schlaf, seit sieben morgens wieder wach, zum ersten Kaffee eine Ritalin geschluckt und mit meinem BMW E39, der neuerdings rasselt, durch die Stadt gefahren, so früh am Tag geht es mit den Temperaturen noch. Ich habe mein Programm abgearbeitet. Die Wohnung in Hellersdorf aufgeräumt, die Bettwäsche abgezogen und zur Reinigung gebracht, die Putzleute angerufen. Original Plattenbau, zwölfter Stock, der Fahrstuhl funktioniert nie. Braunes Laminat an den Wänden. Die alten Quadratknöpfe für die Stockwerke. VEB Berliner Aufzug- und Fahrtreppenbau. Fahrkorb nicht rückwärts und nur wenn beleuchtet betreten. Personen haben sicheren Stand einzunehmen. Tragfähigkeit 6 Personen. Das beeindruckt die Hipster aus aller Welt so sehr, dass sie es fotografieren und auf Facebook setzen. Die lieben den Fahrstuhl, seine Falttür, die Knöpfe. Die Wohnung ist eigentlich immer vermietet, die stehen Schlange dafür. Danach muss ich weiter in die Wohnung in Kreuzberg, Ratiborstraße, hinten am Görlitzer Park, typische Partywohnung mit entsprechendem Ärger. Die Nachbarn haben sich massiv über die drei Spanier beschwert, die dort zwei Wochen lang offenbar ununterbrochen gefeiert haben. Ich habe zwei pakistanische Putzfrauen, die sich darum kümmern, aber inzwischen beschweren die sich auch über den zusätzlichen Aufwand. Die wollen sich das auch nicht mehr antun. Glasscherben, verdreckte Couch, vollgekotzte Teppiche, die kleine Küche ein einziger Saustall, das Klo verstopft, Rotweinflecken an den Wänden im Flur. Gleich danach musste ich weiter nach Fennpfuhl, meine Lieblingsgegend, immer noch Lichtenberg, aber fast schon Friedrichshain, mein Vater wohnt dort auch, und ich habe seit vorgestern dort ein anspruchsvolles Pärchen aus Boston im dreizehnten Stock.

Der BMW säuft unfassbar viel Sprit und klappert auf der Landsberger Allee in einem Maße, dass mir der Schweiß ausbricht. Das wird teuer, wenn ich ihn zur Reparatur bringe, und wenn ich allein daran rumschraube, wird es noch teurer. Und irgendwann steht Krasniqi mit seiner Kreditrückführung in der Tür, aber da gibt es im Moment nichts rückzuführen, gar nichts, geschweige denn zwölftausend Euro. Man kann einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen. Doch das wird Krasniqi nie verstehen. Wenn ich nicht zahle, stellt er sein Forderungsmanagement um und schickt Zef und Gezim, seine albanischen Kettenhunde, und das nennt sich dann Tirana Inkasso. Ich habe wirklich eine Pause verdient und gehe für den Rest des Tages in die Spielhalle, um zu daddeln und Rudis zerschlagenes Gesicht zu vergessen.

2

Am nächsten Tag bin ich wieder im Wettbüro an der Potsdamer Ecke Pohlstraße. Ich kann einfach keinen Tag auslassen. Rudis gehackten Wettautomaten haben sie schon ausgetauscht. Nichts erinnert an den Ausraster von gestern. Der Teppichboden vor der Kassehat keine Blutflecken mehr. Eine Paste aus Backpulver und Wasser hilft, gute Stunde einwirken lassen, mit kaltem Wasser reinigen, hat mein Vater auch immer empfohlen. Das hat er gelernt, als er Kommissar bei der Polizei war. Das Plexiglasschild vor dem Schalter ist ersetzt worden, alles wieder schick. Die Jungs sind auf Zack. Heute sitzen Konan und Ömer an der Kasse, sonst ist der Laden so gut wie leer. Dmitri macht seine Löcher in die weggeworfenen Wettscheine. Diesmal habe ich eine Plastiktüte dabei, und das macht sie nervös nach dem Vorfall mit Rudi gestern.

»Meister«, sagt Konan, »was hast du da in der Tüte, zeig uns das mal.«

»Aber schön langsam«, sagt Ömer neben ihm und steht auf, fingert in der Tasche nach seinem Teleskopschlagstock. Ömer ist keiner, der stundenlang mit seiner Freundin telefoniert, wenn Not am Mann ist. Ömer ist der aktionsorientierte Typ.

Ich hole die beiden Tischtennisschläger heraus, die ich vorhin in Lichtenberg gekauft habe. »Zwei Kellen«, sage ich. »Eine für Marla, eine für mich. Ich frag sie heute.«

»Alles klar«, sagt Konan. »Die Marla vom Coffeeshop drüben? Kennst du sie? Gehst du mit der?«

»Genau die Marla«, sage ich. »Heute frag ich sie, ob sie mit mir an der Platte im Park spielt. Mal so als Anfang.«

Konan und Ömer schauen sich an und lachen, weil sie erleichtert sind wegen der Tüte oder neidisch wegen Marla. Ich lasse sie lachen und gehe an meinen Automaten. Immer noch die Hochsommerhitze, immer noch kein Ventilator. Ende August. Seit vier Monaten hat es nicht einen einzigen Tropfen geregnet. Die Tür des Wettbüros steht offen, draußen lärmt die Potsdamer Straße mit kräftigem Puls. Er pumpt den Mittagsverkehr von der Leipziger Straße, vom Potsdamer Platz in kräftigen Stößen hinein nach Schöneberg. Alle müssen hier durch. Betonmischer und Container-Schlepper mit Barnimer Kennzeichen, drüben am Park am Gleisdreieck wird neuerdings wieder gebaut, dort ragen sechs Kräne in den Himmel. Im letzten Jahr haben sie dort wochenlang den Aushub der Baugruben abtransportiert, Kolonnen von Lastern warteten bis runter auf die Potsdamer. Außerdem Lieferwagen, Handwerker und Hausmeister, ein Elektriker mit dem Slogan Erleben was verbindet, der Kastenwagen eines Glasermeisters, ein fetter Möbelwagen Ich soll Sie schön grüßen, drei Taxen, der 85er Bus vom Hauptbahnhof nach Lichterfelde, dahinter der 48er von Mitte nach Zehlendorf, Fahrräder zischen auf dem schmalen Radweg an den Passanten vorbei.

Die Potsdamer Straße: übermüdet, kurzatmig, ungeduldig, breit und staubig. Ich liebe sie. Eine räudige Straße, aber wach. Immer wach. Mein Kiez seit Jahren. Manchmal schaue ich eine halbe Stunde nur aus der Tür, statt mich auf die Wetten zu konzentrieren, den nächsten Tipp, den nächsten Einsatz. Ein Paketbote hat sein Fahrzeug auf der Busspur abgestellt und kramt in seinen Lieferungen, ein Radfahrer brüllt ihn an, der Fahrer des 85er Busses hupt. Fußgänger in Scharen auf den Gehwegen, man trägt jetzt keine FFP2-Masken mehr, nur einigen Rentnern kleben die FFP2-Masken noch unter dem Kinn, sie fühlen sich trotz der Impfungen immer noch als Risikogruppe, die Letzten ihrer Art. Viele sind gar nicht drangekommen, einige wollen nicht. An den Laternenpfählen hängen die Wahlplakate der Parteien zur Bundestagswahl, photogeshoppte Männergesichter, angestrengt lächelnd, weiße Zähne, glatte Haut. Die Wahl ist in fünf oder sechs Wochen, CDU und Grüne liegen in den Umfragen vorn, FDP und AfD schmieren ab, die haben während Corona nie einen Fuß in die Tür gekriegt. Die Berliner wählen noch dazu ihr Abgeordnetenhaus, einen neuen Regierenden. Außer den Medien interessiert das niemanden.

Es ist ein abartig heißer Sommer, die Kneipen haben endlich wieder offen, doch das Bier ist unfassbar teuer geworden, alle wollen die Ausfälle wieder reinholen, die Restaurants und Clubs auch, und die Leute drängen sich am Tresen, an den Tischen der Schankstuben, in den Hinterzimmern. Sind ja geimpft jetzt. Trotzdem ist es komisch, man ist ständig misstrauisch, wer einem in die Quere kommt, einen von der Seite anquatscht, auch wenn man dreimal geimpft ist.

Spatzen im Tiefflug zwischen den parkenden Autos. Jungtouristen auf E-Rollern, Kaffeebecher in der einen Hand, Smartphone in der anderen, Sonnenbrille im Nacken. Was für ein Sommer, der einfach kein Ende nimmt. Jeden Morgen sind Gewitter angekündigt, sie bringen aber, wenn sie überhaupt kommen, keine Abkühlung, nur zusätzliche Schwüle. Freitagmittag, die Leute machen sich bereit fürs Wochenende.

Mein seltsamer Kiez. Ein paar Häuser weiter, bei Staroske, stehen die Angestellten und Büroleute über einem Teller Soljanka, Möhreneintopf, Graupensuppe. Trotz der unablässig knallenden Sonne haben sie eingefallene Gesichter, erloschene Mienen. Jetzt schnappen sie Luft nach fünf Stunden vor dem Bildschirm, Korrekturlesen, Telefonakquise, dreißig Minuten Pause, jeden Tag die gleiche Speisenauswahl. Einer nimmt den Leberkäs, isst hastig, der Schweiß rinnt ihm die Schläfen hinunter, alle schweigen und scrollen auf ihren Handys, nur die Verkäuferinnen tratschen untereinander. Zwei Häuser weiter bei Puschel hocken die Trinker schon vor dem dritten Bier. Endlich wieder in der Kneipe sitzen, darauf haben sie Monate, ein ganzes Jahr gewartet. Einige von den früheren Stammkunden hat es erwischt, Covid-19, Intensivstation, die waren tagelang intubiert, erzählt der Wirt, die kommen nicht mehr, und keiner weiß, was aus ihnen geworden ist. Können die noch rauchen? Treppen steigen? Ich bin Anfang dreißig, auch nicht mehr ganz jung. Wenn ich in den zweiten Stock renne, pumpt mein Herz auch schon am Anschlag. Die Zigaretten, der Kaffee und die Ritalin-Pillen.

An der Ecke Pohlstraße im Café Deli stehen sie Schlange: Kunsthändler und Galeristen, junge Mütter, Italiener, die sich verlaufen haben. Marla macht den Tresen, Marla und ihr Lächeln. Mein Lieblingscafé, meine Lieblingsfrau. Heute frage ich sie, ob sie mit mir Tischtennis spielt. Mit mir ausgeht. Wir alle tun so, als beginne das Leben von vorn, wir fangen einfach mal was an, ich vielleicht was mit Marla. Aber erst mal etwas Geld verdienen. Krasniqi wartet auf seine zwölftausend. Ich habe eben zweihundert Euro im dritten Rennen auf Daddy Chill gesetzt und fünfunddreißig Euro auf einen Auswärtssieg von Bolnissi in der Evrovnuliga in Georgien, als sich zwei Männer zu mir setzen und mich fragen, ob ich einen Bekannten von ihnen für einige Tage unterbringen kann.

»Wir haben gehört, du hast ein paar Wohnungen an der Hand«, sagt der eine, der eine Iriedaily-Kappe trägt. SO-36-Style. »Wir brauchen ein Apartment für einen Freund von uns.«

Auf dem Bildschirm sehe ich, wie die Windhunde in Australien zu den Startboxen geführt werden. Daddy Chill wirkt austrainiert und schläfrig, hoffentlich ist das die Arroganz des kommenden Siegers. Ich habe nur wegen seines Namens auf ihn gesetzt.

»Kann ich, sicher doch«, sage ich. »Was sucht euer Freund? Ein Apartment in einer Partygegend?«

»Nein«, sagt der andere. Er trägt eine Brille mit Stahlgestell und einen grünen Adidas-Trainingsanzug und sucht in seinen Taschen nach Tabak und Blättchen. Ein drahtiger Typ, kalte Augen. »Keine Partygegend. Der will seine Ruhe haben, verstehst du?« Er spricht leise, verwaschen, ich muss mich vorbeugen, um ihn zu verstehen. Die beiden Vögel gefallen mir nicht, die sind kaum Mitte zwanzig, fiebrig, grinsen schräg. Wer jemanden in einem Wettbüro wegen einer Wohnung anquatscht, der kann gar nicht koscher sein. Andererseits brauche ich das Geld.

»Kein Problem«, sage ich. »Da habe ich was in Pankow, Familiengegend. Oder in der Seestraße im Wedding, zweiter Hinterhof, ganz still. Oder Fennpfuhl. In Hellersdorf habe ich auch was, aber die ist für länger vergeben.«

Der Nuschler im grünen Trainingsanzug fragt: »Gehören dir die alle? Oder machst du nur den Verwalter?«

»Ich bin Facilitator«, sage ich. Das Wort beeindruckt die meisten Leute mehr als eine Visitenkarte. Die Jungs nicken sofort, als ob sie es verstehen. Tun sie nicht. Ich erkläre es ihnen: »Ich habe fünf Wohnungen im Angebot. Wer nach Berlin kommt, um Party zu machen, ist bei mir richtig. Ich habe Amis, Briten, Spanier, Franzosen, Schweden als Kunden, und die sind alle zufrieden mit mir gewesen, weil ich nicht nur Apartments zu korrekten Preisen biete, sondern ihnen auch besorgen kann, was sie sonst noch für ihre Wochenenden brauchen: Gras, Koks, Speed, Lachgas, Ketamin, Zauberpilze. Aber das bleibt unter uns.«

Die beiden nicken jiepernd, »geil, geil«, keckern wie Teenager. Doch ich merke schon, darauf sind sie gar nicht aus. Was wollen sie eigentlich? Daddy Chill japst und wartet immer noch in seiner Box auf den Startschuss, drei Boxen weiter Mockingbird. Ich kenne mich mit Hunderennen nicht gut aus, habe ihn aber neulich in den Siegerlisten gesehen und will wegkommen von den irrwitzigen Kombiwetten für die armenische Fußballliga. Will wegkommen vom Binge-Daddeln mit den Glückspielautomaten. Gestern Abend, als ich die Sache mit Rudi aus dem Kopf kriegen wollte, habe ich da hundertachtzig Euro verloren, das bringt nichts. Ich will das umstellen. Wieder ganz seriös wetten, Sieger oder Platz, dann den Gewinn bei Ömer und Konan abholen, bunkern, und irgendwann kann ich meine Schulden zurückzahlen.

»Fennpfuhl wäre gut«, sagt der mit der Iriedaily-Kappe. »Meine Oma wohnt da. Die haben Hochhäuser wie früher, korrekte Platte, so was baut man heute gar nicht mehr. Und ich sage dir: Die Wohnungen sind heute noch tipptopp gepflegt.«

Ich will das Rennen sehen. Daddy Chill tänzelt in der Box.

»Du hast völlig recht«, sage ich. »Fennpfuhl ist ein Geheimtipp. Das wissen selbst die Berliner nicht, wie geil die Gegend ist. Die Wohnung ist nicht so superbillig, dafür ein richtiges Schmuckstück, da habe ich selber mal drin gewohnt. Dreizehnter Stock, weiter Blick über Friedrichshain und über den Alex.«

»Klingt gut«, sagt der mit der Iriedaily-Kappe. »Brauchen wir für eine Woche mindestens. Was soll das kosten?«

»Fünfhundert die Woche«, sage ich. Vielleicht sollte ich mehr fordern, denke ich sofort. »Endreinigung noch mal siebzig.«

Die beiden nicken. »Klingt doch okay. Können wir machen.«

»Außerdem ist die Gegend gut angeschlossen«, füge ich hinzu, um ihnen die Entscheidung zu erleichtern und sie endlich loszuwerden. »Falls euer Freund in die Stadt will, dann nimmt er die Straßenbahn und ist in zehn Minuten am Alex. Nach Friedrichshain kann er fast laufen. Und wenn er nur mal schnell ein Bier trinken will – die haben da auch eine Kneipe auf ihrem Dorfplatz. Plötners Destille. Das Bier zweidreißig. Da sitzen Urberliner, total authentisch.«

»Der geht nicht mehr viel raus«, sagt der andere. »Ich sag doch, der ist eher so der ruhige Typ. Sitzt gern vor dem Fernseher. Fernseher gibt’s doch in der Butze?«

»Na klar ist die Wohnung mit einem Fernseher ausgestattet, was denkst du denn«, sage ich. »Meine Güte. Ihr könnt sie euch ja vorher angucken.«

Die Hunde sind immer noch in ihren Startboxen. Daddy Chill in der 4, sein Fell nass vom Vortraining, er zittert vor Adrenalin. Mockingbird in Box 7 macht Ärger, deshalb verzögert sich der Start. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn.

»Hörst du uns überhaupt zu?«, fragt der im grünen Trainingsanzug. Er hat seine Zigarette fertig gedreht und angezündet, bläst mir den Rauch ins Gesicht. Endlich der Startschuss. Daddy Chill kommt gut aus der Box, rennt vorneweg, das Feld ist nach wenigen Metern schon weit auseinandergezogen, Mockingbird hängt noch dran. Der im grünen Trainingsanzug stößt mich an.

»Ja doch«, sage ich. »Von mir aus geht das klar. Euer Freund kann in drei Tagen rein.«

»Das ist schlecht«, sagt der mit der Iriedaily-Kappe. »Wir dachten eigentlich an heute. Besondere Umstände.«

»Heute geht nicht«, sage ich. »Ausgeschlossen. Heute sitzt noch ein Pärchen aus Boston in der Wohnung, die haben bis übermorgen gezahlt. Danach wird das gründlich gereinigt, da lege ich auch Wert drauf. Desinfiziert bis zum get no. Gib Corona keine Chance.«

»Stark, finde ich voll gut, die Einstellung«, sagt der andere. »Aber wir brauchen die Wohnung heute Abend. Das ist einfach eine dringende Sache. Wir würden auch was drauflegen, soll nicht dein Schaden sein. Wir würden das echt zu schätzen wissen, wenn du uns hier etwas entgegenkommst. Es wäre ein Gefallen.«

Die beiden Nasen verderben mir das Hunderennen, das undeutlich über den Bildschirm flackert, wo ist Daddy Chill, die Köter sehen alle gleich aus, ich kann mich nicht konzentrieren. Dabei stecken da zweihundert Euro von mir drin.

»Ich sag doch, das geht leider nicht«, sage ich. »Das ist nett, wenn ihr mir entgegenkommen möchtet, weiß ich zu schätzen, aber: Ich schulde euch keinen Gefallen.«

»Uns nicht«, sagt der andere, der mit den toten Augen. Vielleicht nimmt er die falschen Pillen oder bei ihm ganz tief innen drin ist irgendwas erloschen. »Anderen schon. Denen schuldest du einiges. Das spricht sich herum. Wir können dir helfen, wir zahlen im Voraus.«

Die leise Drohung habe ich gehört, vielleicht hat Krasniqi sie zu mir geschickt. Ich spiel das Spiel mit, nicke interessiert. Der mit der Iriedaily-Kappe holt einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Humana-Jacketts, lässt mich kurz hineinschauen, steckt es wieder ein. Ich bin beeindruckt.

Er sagt: »Wir können dir echt helfen. Übrigens, ich bin Henne. Das ist Ronny. Uns wäre echt daran gelegen, die Wohnung schon heute zu kriegen. Uns wurde gesagt, du kannst was ermöglichen. Deshalb kommen wir ja zu dir. Tut uns leid wegen dem Hunderennen, wir sind auch gleich weg.«

»Ich kann die beiden doch nicht einfach raussetzen«, sage ich, doch meine Stimme ist unsicher geworden. Im Umschlag sind Pi mal Daumen zweitausend Euro. »Die haben bis Samstag gebucht und bezahlt.«

»Kannst du doch«, sagt Henne und rückt näher, legt mir eine Hand auf die Schulter. »Das ist deine Wohnung. Du meldest Eigenbedarf an. Dann ist die Party für die Amis jetzt eben vorbei. Müssen sie eben woanders weiterfeiern.«

Zweitausend Euro bar auf die Hand, das ist genau das, was ich jetzt brauche. Eine Finanzspritze, eine Handbreit Wasser unterm Kiel. Dmitri der Locher sitzt hinten und tut, was er tun muss. Konan und Ömer im Kassenkabuff beobachten unser Gespräch, und sie wissen auch, dass ich Geld brauche. Vielleicht haben sie die beiden an mich verwiesen. Sie wissen vermutlich auch, dass ich beim Hunderennen wieder verlieren werde. Daddy Chill gibt sich alle Mühe, kratzt die letzten Körner zusammen, das kann ich sehen. Doch die anderen haben ihn mittlerweile eingeholt, so sehr er sich die Lunge aus dem Leib rennt. Die anderen sehen noch locker aus. Ich denke an Rudi und sein Beil, ein Schwall Wut schäumt in mir hoch, die ohnmächtige Wut des Verlierers, man müsste diese Fernsehschirme mal gepflegt zerlegen. Die Stimme des Kommentators überschlägt sich, als die Hundemeute auf die Zielgerade einbiegt, die sehnigen Körper in verzweifelter Ekstase. Das wird Platz fünf, bestenfalls. Meine zweihundert sind weg.

»Was ist jetzt?«, fragt der mit der Iriedaily-Kappe. Henne. »Geht das klar mit der Wohnung? Kriegst du das hin?«

»Ich kümmere mich darum«, sage ich. »Warte mal. Sekunde. Geh mal aus dem Bild.«

Auf den letzten Metern fällt Daddy Chill endgültig zurück, die Augen weit aufgerissen, die Zähne gefletscht, er wird von allen anderen überholt und macht dennoch weiter, hasst sich förmlich ins Ziel. Als Letzter. Konan nickt mir höhnisch zu und deutet auf Dmitri, der nachher meinen Wettschein kriegt. Konan grinst mich an und hebt den Daumen. Arschloch. Die Kassierer am Counter wissen es immer vorher.

»Abgemacht«, sagt Ronny und stößt mir einen Finger auf die Brust. »Das ist jetzt der Deal: Wir fahren da gemeinsam hoch, du kommst mit. Am besten, wir treffen uns hier an der Ecke. Heute Abend um zehn. Nein, halb elf.«

»Könnt ihr nicht hinkommen und wir treffen uns vor dem Haus?«, frage ich.

»Du bist heute Abend hier um halb elf«, sagt Henne und zeigt auf den Briefumschlag. »Und dann fahren wir gemeinsam mit unserem Freund hoch nach Fennpfuhl, du bringst uns in die Wohnung und kriegst dein Geld.«

Ich nicke, genervt, es fühlt sich an, als hätten sie mich grad über den Nuckel gezogen. Die beiden verschwinden im Gedränge auf der Potsdamer Straße, zwei bosnische Zocker mit Kaffeebechern in der Hand kommen herein, grüßen Ömer, holen sich das ausgedruckte Tagesprogramm und setzen sich an den Bildschirm, der die Spiele der türkischen Liga zeigt. In Australien schlüpfen zehn neue Windhunde in die Startboxen, ohne mich. Ich gehe zu Dmitri und lege ihm meinen Wettschein hin, er freut sich. Die Bosnier unterhalten sich, lachen, endlich sind sie unter sich, haben eine Auszeit von den Familien, den Frauen. Sie haben ihre Kombiwetten mit Halbzeitstand und diverse Restzeitwetten laufen, das sehe ich von hier, ist mir aber egal, ich will jetzt zu Marla. Meine gute Laune kehrt zurück. Das wird schon klargehen mit den zweitausend Euro.

3

Im Deliist es mittags immer voll. Kein Wunder, der Laden ist klein wie eine Nussschale. Trotzdem wollen alle rein. Auf den Tischen stapeln sich die Kaffeetassen, die Teller mit den Muffin-Krümeln, den Resten der Ciabatta-Toasts, der 4-Chocolate-Cakes. In der stickigen Luft schwirren Fetzen von Gesprächen, Telefonate der Entwickler, die in ihrer Agentur Webseiten für Kunden bauen: »Ich bin gleich zurück, du kannst es in the time being einfach ausprobieren. Ich komme dann mit Feedback auf dich zu. Es ist extrem wichtig, dass die Seiten richtig crisp werden.«

Eigentlich heißt der Laden Queen of Muffins, doch die Leute kommen nicht wegen der Muffins. Sie kommen wegen der Frauen, die am Tresen arbeiten. Alle tragen schwarze Shirts und sie machen einen Kaffee, den es in der ganzen Stadt nicht noch mal gibt. Sie spielen die frühen Stones, A Tribe Called Quest, Tracy Chapman, die Kaffeemaschine mahlt mittendrin die nächste Portion Bohnen. Im Deli stehen immer, Corona oder nicht, mindestens zehn Leute in der Schlange bis raus auf die Straße. Vor einigen Monaten haben sie die Preise um fünfzig Cent erhöht, daraufhin sind noch mehr Kunden gekommen. Models und Maler, Steppjackentouristen, Grafikdesigner, App-Entwickler mit ihren Laptops. »Wir sollten das im nächsten Meeting ansprechen, damit der Feel-good-Faktor hochgeht.« Freundinnen, die stolz ihre Babybilder vergleichen. »Weißt du, ich habe gleich bei der Geburt ein Mommy-Makeover machen lassen, du fühlst dich einfach besser, wenn nicht alles an dir schwabbelt und hängt.«

Ich gehe so gut wie jeden Morgen hin, wenn ich mit meinen Touren fertig bin, jeden Mittag, wenn ich aus dem Wettbüro komme, und kurz bevor sie am frühen Abend zumachen, hole ich mir noch einen Americano. Ich gehe nicht wegen der anderen Frauen hin, sondern wegen Marla. Sie ist groß, blond, hat grüne Augen und das klarste Gesicht, das ich je gesehen habe. Wenn sie lächelt, hat sie ein Grübchen auf der linken Wange. Und sie lächelt gern.

Der Laden ist voll, ich muss anstehen hinter drei italienischen Touristen, die sich lautstark unterhalten, zwei Freundinnen und einem Büroangestellten, der nach seinem Möhreneintopf bei Staroske hier noch einen Espresso trinkt. Ich denke an Ronny und seine toten Augen hinter der Stahlbrille. Was für ein Freund soll das sein, was für eine kranke Verabredung haben die mit ihm heute Abend?

Marla sieht mich am Ende der Schlange stehen und nickt mir zu, und ich vergesse die beiden nervösen Typen von eben mit ihrem Freund, der eine Wohnung braucht. An den Tischen lachen sie, »da musst du echt kein midnight oil drauf verbrennen, ist eher so guestimate«, die Kaffeemaschine lärmt, neben Marla arbeitet Henry, der die Kasse macht. Hinten in der schmalen Küche toasten die beiden Jungs die Ciabatta-Brote. Daddy Chill hat sein Rennen verloren, aber ich bin frisch am Start.

»Kann ich dich vielleicht nachher abholen?«, frage ich, als Marla mir den Kaffee über den Tresen schiebt. »Hast du Zeit?«

»Abholen?«, fragt sie. »Cool. Ich habe um sechs frei. Was machen wir?«

Ich zeige ihr die Tüte mit den beiden Tischtennisschlägern. »Wir gehen spielen«, sage ich. »Drüben im Park. Was denkst du?«

»Du willst gegen mich spielen?«, sagt sie. »Ernsthaft?«

»Unbedingt«, sage ich, »angeblich bist du wirklich gut.«

»Wer hat dir denn gesagt, dass ich gut bin?«, fragt Marla. Sie hat sich auf den Tresen aufgestützt, beugt sich zu mir, riecht nach Kaffee. »Ich meine, im Tischtennis.«

»Das meine ich auch, Tischtennis«, sage ich und nehme meinen Kopf nicht zurück, unsere Gesichter sind sich ziemlich nah. »Alle sagen es, Henry, Denise, angeblich warst du Juniorenmeisterin Britz-Süd oder so, konnte ich selbst kaum glauben, deshalb würde ich es gern mal ausprobieren.«

»Ausprobieren«, sagt Marla. »Und dann gehst du gleich los und kaufst Kellen für drei fünfzig das Stück. Das nenne ich mal motiviert.«

»Bin ich«, sage ich. Bin ich auch wirklich. Der Laden um uns herum pulsiert vor Gesprächen, »das ist ein no regret move«, Hektik, Push-Nachrichten-Plings, »lass uns die Seite killen, das ist mir total latte«, Zeitungsrascheln, Lachen. Über allem das weiße Rauschen des Verkehrslärms draußen auf der Potsdamer.

»Könnt ihr mal bitte das Flirten einstellen«, sagt einer hinter mir in der Schlange. »Hier sind noch Leute, die einfach nur einen Kaffee wollen, ohne zwei Stunden anzustehen.«

»Dann um sechs«, sagt Marla und zeigt ihr Grübchen.

»Um sechs, abgemacht«, sage ich und gebe ihr High five.