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Der Dienst im Außenbezirk sollte Ruhe in das Leben der Kriminalpolizistin Romina Winter bringen. Doch georgische Einbrecher nehmen sich in täglichen Touren die Stadtvillen in Dahlem und Lichterfelde vor. Die Bewohner sind verängstigt. Und dann verschwindet Rominas kleine Schwester. Sie muss in eigener Sache ermitteln.
Jacques Lippold wird aus dem Tegeler Gefängnis entlassen. Zwei Jahre hat er wegen Betrugs gesessen. Jetzt will er sich als Finanzberater in der Kunstszene etablieren. Sein Charme und seine Überredungsgabe auf Vernissagen, Auktionen und Gallery Dinners sind unwiderstehlich. Und Lippold hat noch eine alte Rechnung zu begleichen.
Koba hat mit seinen Jungs aus Tiflis gut zu tun in der Berliner Peripherie. Jeden Tag steigen sie mindestens in eine Wohnung, in eine Stadtvilla ein und nehmen mit, was sie kriegen können. Eigentlich träumt er von Kanada. Doch dann greift er in ein zerschlagenes Fenster ...
Johannes Groschupf, der Seismograph von Berlin und mehrfache Deutsche-Krimipreis-Träger, beweist in dieser Tour de Force von den Kleingartenkolonien und Vorortvillen Berlins bis zum Waldorf Astoria und Adlon sein gnadenloses Feeling für Thrill und Suspense.
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2025
Johannes Groschupf
SKIN CITY
Thriller
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
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Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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eISBN 978-3-518-78076-3
www.suhrkamp.de
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Titel
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Inhalt
Informationen zum Buch
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Danksagung
Informationen zum Buch
SKIN CITY
Now, patience; and remember patience is the great thing, and above all things else we must avoid anything like being or becoming out of patience.
James Joyce, Finnegans Wake
Sie waren zu dritt unterwegs in einem zwanzig Jahre alten Benz mit polnischem Kennzeichen. Koba saß hinten, neben seinem Kollegen, der Fahrer vorn kaute auf seiner Unterlippe. Ein heißer Vormittag, Ende Mai. Koba gähnte, er hatte in der Nacht kaum geschlafen. Auf den Feldern ragten riesige Strommasten auf und liefen in langer Reihe dem Stadtrand entgegen. Die Äcker ringsum waren ausgedorrt, der Wind wirbelte Staubwolken auf. Alle anderen Autofahrer wollten in die Stadt, doch Koba war froh, dass sie heute im Umland unterwegs waren, er hasste Berlin.
Vor drei Wochen waren sie hierhergekommen, von Tiflis über Istanbul und Bukarest, Czernowitz und Lwiw in der Ukraine, dann weiter zur polnischen Grenze, wo sie den Benz übernahmen. Es gab keine Probleme an der deutschen Grenze, sie fuhren zu ihrer Unterkunft in Berlin und schliefen sich aus. Zwei Kollegen, die schon länger in Berlin waren, hatten zuvor günstige Häuser beobachtet und ausgesucht, eine Liste erstellt mit den Adressen und den Gewohnheiten der Leute, achtzig, neunzig Häuser insgesamt. Am Stadtrand gab es Tausende von Einfamilienhäusern mit Gärten und Hecken. Die drei sollten zwei Monate bleiben und die Liste abarbeiten, das war ihr Job.
Koba war der jüngste, dreiundzwanzig, stark und stolz. Er klaute, seit er zehn war. In jeder Familie gibt es einen schmutzigen Löffel. Er zog die Handys und Lederjacken seiner Mitschüler ab, langte in die Handtaschen der Touristen in der Altstadt, knackte den Kiosk in seinem Viertel, die Autos auf den Parkplätzen der Hotels, stieg in die ersten Wohnungen ein. Seine Hände waren ruhig. Seine Hände waren immer ruhig. Levan, vorn am Steuer, war fiebrig wie jeder Junkie, ständig unter Druck, deshalb wurde er nur als Fahrer eingesetzt. Toma, der neben Koba saß, war ein Neffe vom Boss, ein Idiot, doch eben Familie, er musste mitkommen, er sollte lernen, sich bewähren.
Heute wollten sie nur nach Malchow, gleich hinter der Stadtgrenze. Der Durchgangsverkehr quälte sich über die Dorfstraße am einzigen Gasthof vorbei, Deutsche Küche, Biergarten im Hof. Die grauen Rollläden des Lokals waren heruntergelassen. Zwei Häuser weiter hatte ein Laden mit Anglerbedarf Tauwürmer im Angebot, 1,50 Euro, Maden 50 Cent. Levan bog ab in eine Seitenstraße. Die Häuser duckten sich unter dem hellen Himmel. Einfamilienhäuser, halbhohe Hecken rundum, hinten die Gärten. Sie gingen immer über die Gärten. Alles war still. Ein deutscher Vormittag. Die Männer waren zur Arbeit gefahren, die Frauen zum Supermarkt, zum Nagelstudio oder auch zur Arbeit. Am letzten Haus, das hinter hohen Hecken lag, stiegen Koba und Toma aus, sie gingen zur Haustür und klingelten. Niemand antwortete.
Koba drückte das Gartentor auf, Toma folgte ihm, sie liefen am Haus entlang nach hinten zur Terrasse. Die Fenster waren geschlossen. Die Deutschen waren vorsichtig, auch hier am Stadtrand, das kannte er schon. Doch vergittert waren die Fenster nicht. Ein teurer Grill mit Stahlhaube stand auf der Terrasse, vier Gartenstühle, ein Tisch, die Terrassentür war verschlossen. So war es immer. Sie schlossen immer ab und meinten, damit kämen sie durch.
Koba zog seine Handschuhe an. Jetzt war er wach. Er holte den Schraubendreher heraus und setzte ihn an der unteren Ecke der Tür an. Sie war aus Holz, stabil, das machte nichts. Der Schraubendreher glitt zwischen Tür und Rahmen. Koba hebelte, musste zweimal energisch ansetzen, dreimal. Hinter ihm Toma: »Mach schon.« Der Rahmen knackte, und endlich gab die Tür knirschend einen Spalt frei, Koba drückte sie auf. Die beiden Männer schlüpften ins Haus hinein. Kein Laut war zu hören. Kein Kindergeschrei, kein Hund.
Sie nickten sich zu, die Aufgaben waren klar verteilt. Toma ging nach oben zu den Schlafzimmern, dort hatten die Frauen ihren Schmuck, meistens in der Kommode, hinter den Strümpfen und zwischen der Unterwäsche. Überall war es das Gleiche, in Tiflis, in Olmütz, in Cottbus, in Berlin: Wenn sie wertvollen Schmuck hatten, lag er hinter der Unterwäsche. Manchmal fanden sie auch was in der Schublade des Schminktischs, doch das war bloß Strass, Modeschmuck, der war nichts wert.
Koba blieb unten im Wohnzimmer. Er wusste, was zu tun war, zog die Schubläden der braunen Schrankwand auf, kippte den Inhalt auf den Boden, fächerte die Mappen, Broschüren, Ordner auf. Die Deutschen waren gut sortiert, das musste er ihnen lassen, gerade hier am Stadtrand. In der dritten Lade fand er einen Stapel Geldscheine, Euros: Fünfziger und Hunderter. Er steckte ihn ein, suchte weiter. Manchmal hatten sie auch Franken und Dollars. Sie legten gern Vorräte an, wie Eichhörnchen, vor allem die älteren Leute. Er hatte auch schon Stapel mit alten deutschen Geldscheinen gefunden, Deutschmark, doch die nahm ihm keiner ab. In der Anrichte daneben: eine Schatulle mit einer Armbanduhr und ein goldenes Dupont-Feuerzeug. Er verstaute sie in seiner Brusttasche. Ein guter Tag.
Der Raum war still, als hielte er den Atem an. Koba fühlte sich beobachtet, seine Nackenhaare waren empfindlich, neuerdings hatten viele Leute Überwachungskameras installiert, die auf Bewegungen in der Wohnung reagierten und die Aufnahmen auf ihre Handys spielten. Er beeilte sich, mehr als zwanzig Minuten wollte er nicht aufwenden, trotzdem war er gründlich. Die Deutschen waren es auch. Nachher musste er noch in der Küche die Töpfe checken, manche Frauen hatten auch da ihren Schmuck gebunkert, im Römertopf oder in einer großen Suppenterrine. Jetzt nahm er sich erst mal den Schreibtisch in der Ecke vor, zog eine Lade nach der anderen auf, und wenn eine Lade klemmte, riss er sie mit einem Ruck heraus. Papierstapel kamen ihm entgegen, Geschäftsbriefe, Rechnungen, Steuersachen, Quittungen, zwei alte iPhones, Ausweise, Reiseprospekte, Kataloge, er schüttelte den Kopf, weg damit, alles auf die Couch. Toma kam die Treppe herunter und nickte ihm zu, es war Zeit. Sie schauten noch in der Küche nach, fanden nichts. Koba nahm sich eine Banane aus der Obstschale, er hatte noch kein Frühstück gehabt.
Ein Auto röhrte die Straße hoch, sie gingen zurück ins Wohnzimmer, zogen die Terrassentür auf, schlüpften nach draußen. Auf dem Rasen brachte sich eine Amsel in Sicherheit und begann zu schimpfen. Die beiden Männer schlichen am Haus entlang, durchs Gartentor, der Benz wartete zwei Häuser weiter.
Sie stiegen ein, Levan gab Gas, wenig später waren sie zurück auf der Hauptstraße. Deutsche Küche, Biergarten im Hof, Anglerbedarf, Mehlwürmer 1,50 Euro, Maden 50 Cent. Hinter dem Ortsausgang Malchow standen die Strommasten in staubigen Windböen. Die Flügel der riesigen Windräder pflügten durch die Luft.
»Gute Arbeit«, sagte Toma und zeigte auf seine Brusttasche.
Koba nickte und holte den Stapel Fünfziger und Hunderter aus seiner Tasche, fuhr mit dem Daumen durch die Scheine.
Er nahm sich eine Zigarette, suchte das Feuerzeug, ließ eine Flamme aufspringen und zündete sich die Zigarette an. Seine Hand war ruhig. Er ließ das schwere goldene Feuerzeug durch seine Finger gleiten.
»Legst du zurück«, sagte Toma. »Das geben wir ab. Wir geben alles ab. Mit meinem Onkel machst du keinen Ärger.«
Koba steckte das Feuerzeug in Tomas Brusttasche, zu den Geldbündeln, zu den Ketten und Armbändern, zur Armbanduhr. Er schaute auf die Beute. Da lagen zwölftausend Euro Minimum, er bekam für seinen Einsatz fünfhundert Euro auf die Hand. Er lächelte den Neffen an.
»Weiße Zähne, schwarzes Herz«, sagte Toma. »Will nicht wissen, was du denkst.«
Sollte er nur reden. Koba dachte an die Gassen in Tiflis, an die Wälder in Kanada. Da wollte er hin, nach Kanada. Er hasste Berlin. Noch siebzig Häuser, zwei Monate.
Romina Winter stand unter der Dusche, zog die Schultern hoch, legte den Kopf in den Nacken, das heiße Wasser floss über ihren Bauch und ihre Beine. Sie spuckte einen dünnen Strahl aus und wurde allmählich wach. Sie atmete aus. In der Nacht war sie so heftig gekommen wie seit Monaten nicht, dem Sommer sei Dank. Der Kerl lag in ihrem Bett und schlief, ein richtig guter Mann, sie musste ihn trotzdem gleich vor die Tür setzen. Bullenschicksal. Nimm ihn mit ins Bett für eine Nacht, aber lass ihn nie in dein Herz.
Sie tappte mit nassen Füßen in die Küche, stellte das Kaffeekännchen auf die Gasflamme, trank ein Glas Wasser aus dem Hahn, rieb sich die schwarzen Haare trocken. Sie liebte ihre Haare, schwer und schwarz wie die Nacht. Danke, Mama, gut gemacht. Sie kochte zwei Eier, schnitt Brot, stellte Teller hin, Butter, legte Messer und Eierlöffel dazu, Salz, strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Sein Name fiel ihr wieder ein, Felix. Sein Mund, die weichen Lippen, Anflug von Bart, sein gespannter Rücken, als sie miteinander taten, was getan werden musste. Sie waren nicht die Einzigen in der Nacht, die miteinander schliefen, das Fenster zum Hinterhof stand offen, und ein anderes Paar war auch gut dabei, wahrscheinlich Amerikaner, die Frau kriegte sich gar nicht mehr ein. Oh my god, oh my god. Felix ließ sich Zeit. Ihre Großmutter sagte immer: »Geduld ist der Schlüssel zum Paradies.« Ihre Großmutter kannte das Leben, sie saß den ganzen Sommer auf der Türschwelle in der Harzer Straße und rauchte ihre Zigaretten.
Rominas Handy klingelte, es war ihre Mutter. »Mama, schrei nicht so«, sagte Romina und behielt das Kaffeekännchen auf der blauen Gasflamme im Auge. »Ich bin grad erst aufgestanden.«
»Sie ist nicht nach Hause gekommen«, sagte Rominas Mutter. »Deine verrückte kleine Schwester. Du musst sie suchen gehen. Du bist bei der Polizei. Ihr alle müsst sie suchen, deine Leute. Kannst du das machen? Sag Ja.«
»Klar, ich habe heute eh nichts vor«, sagte Romina. »Ich habe frei. Ich finde Sanda und bringe sie nach Hause.« Sanda hatte noch ihr Zimmer bei den Eltern und saß meistens im Wohnzimmer vor dem Fernseher, doch manchmal zog sie los, dann musste jemand sie suchen gehen, und das war Romina, die große Schwester, die tolle Schwester, die als erste Romni die Polizeiakademie Berlin abgeschlossen hatte.
»Ich habe die Nacht nicht geschlafen«, sagte ihre Mutter. »Immer auf sie gewartet. Weißt du, wie das ist? Man dreht sich nach rechts, man dreht sich nach links, die Ohren sind wach und lauschen, ob sie kommt. Und sie kommt nicht. Sie kommt nicht. Was ist mit ihr los? Was soll ich denn tun?«
»Mama, schrei nicht so«, sagte Romina. »Wird schon nichts passiert sein. Ich habe auch nicht viel geschlafen, aber erzähle ich dir nachher. Was hat Sanda denn an?«
»Musst du nicht erzählen, dass du nicht geschlafen hast«, sagte ihre Mutter und seufzte. »Weiß ich doch, du hast einen Mann im Bett. Romina hat immer einen Mann im Bett. Was ist aus meinen Mädchen geworden? Wie soll ich dir sagen, was sie anhat? Ihre rote Trainingshose mit den drei Streifen, glaube ich, weiße Sportschuhe. Ihre Jacke ist noch da, gestern war es warm.«
»Ich finde sie und bringe sie zu dir nach Hause, versprochen«, sagte Romina und legte auf.
Zehn Minuten später weckte sie Felix, kitzelte seine Knie, bis er die Augen aufschlug. Er hatte Wimpern bis zum Anschlag.
»Aufstehen«, sagte sie. »Es gibt Frühstück. Kaffee, Eier, Brot und Butter. Ich würde gern den Rest des Tages mit dir im Bett bleiben, aber das geht nicht, ich muss meine Schwester suchen. Wir können noch zusammen frühstücken, wenn du dich beeilst.«
Felix war nicht so gesprächig früh am Morgen, nicht so lustig wie am Abend, nicht so nah wie in der Nacht, doch sie mochte es, wie er den Kaffee trank, wie er kaute und dabei aus dem Fenster sah. Wie er sie anschaute und lächelte, das mochte sie.
»Du musst deine Schwester suchen«, sagte er.
»Sie ist ein bisschen komisch«, sagte Romina und leckte einen Rest Marmelade von ihrer Fingerspitze. »Sie wandert gern in der Gegend herum, steht vor dem Edeka und lächelt die Leute an, damit sie ihr einen Euro geben. Das ist Sanda. Manchmal steht sie am Landwehrkanal und unterhält sich mit den Krähen, dann vergisst sie es, nach Hause zu kommen, meine Mama dreht durch, und ich muss sie suchen.«
Felix nickte, trank seinen Kaffee aus, reckte sich. »Alles gut«, sagte er. »Ich hoffe, du findest sie bald.«
Der Moment des Abschieds war heikel, wie immer. Ihn noch mal anfassen? Diese Umarmung mit Rückenklopfen, als hätte man nichts miteinander gehabt? Wie viele Männer hatte Romina so an die Tür gebracht? Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen. Bei dem hier war es anders. Felix. Romina fasste nach ihm, als er in der Tür stand und ihr Glück wünschte für die Suche, sie küsste seinen Hals. Für einen Moment war die ganze Nacht wieder da, der dunkle warme Atem der Nacht, ihrer beider Atem, der rascher und heftiger wurde, hinaustrieb in den Hinterhof und aufstieg in den Himmel über dem Tempelhofer Feld.
Die Nachtigallen sangen am Waldrand, und Jacques Lippold war frei. Ein warmer Abend in der Kleingartenkolonie Birkenhöhe bei Bernau. Vorne lief der Börnicker Landweg nach Bernau und Berlin, die Autobahn nach Prenzlau und Hamburg und die andere nach Stettin waren nah, er hörte das unablässige Rauschen der Autos, als er die Beete, die Apfelbäume und die Hecke des Gartens wässerte.
Lippold wollte nicht nach Stettin, auch nicht nach Hamburg. Er wollte abtauchen. Ausschlafen. Niemand sollte ihm sagen, was er zu tun hatte. Wollte nicht mehr vor jeder Tür warten, bis er durchgeschlossen wurde. Vor zwei Tagen hatten sie ihn aus Tegel entlassen. Zweieinhalb Jahre hatten sie ihm gegeben, für nichts und wieder nichts. Ein paar Jahre lang hatte er für seinen Chef mit Luxusfahrzeugen aus Polen und Tschechien, später mit Playstations und Speicherchips gehandelt. Je kleiner und teurer die Waren, desto besser. Man wusste ja gar nicht, wohin mit den Autos, wohin mit dem Kleinkram, all das interessierte ihn nicht. Lippold ging es um die Vorsteuer. Die ließ er sich vom Staat erstatten, für jedes Fahrzeug, jeden Chip, das war sein gutes deutsches Steuerrecht. Sein Chef hatte Jura studiert und Lippold alles genau erklärt. Sechzig Prozent für mich, vierzig für dich, halt dich ran. Dass Lippold die Umsatzsteuer, die er zurückforderte, nicht entrichtet hatte, fiel nicht auf. Das Karussell drehte sich weiter. Je teurer die Waren, mit denen er handelte, umso höher die Steuer. Die Jungs vom Finanzamt kamen kaum hinterher mit den Zahlungen. Lippold kassierte, bis die Ämter und Banken doch misstrauisch wurden, dass er quasi aus dem Nichts Riesenumsätze erzielte. Nach einem halben Jahr tauchte er ab und machte woanders weiter. In einem anderen europäischen Land. Mit Reisepass und Vollmachten ausgestattet, installierte er Briefkastenfirmen, schuf in Belgien, Litauen, Slowenien und auf Malta Büros, die nie einen Telefonanschluss sahen und in denen sich keine Sekretärin jemals die Fingernägel lackierte. Die Europäische Union war groß, es waren fette Jahre, dabei war er nur ein kleiner Player. Batman, Rolex, Doctor, das waren die großen Namen in seiner Branche, die räumten richtig ab. Je mehr Leute Ware und Umsatzsteuer kreisen ließen, umso länger dauerte es, bis man ihnen auf die Schliche kam. Lippold musste keine Millionen scheffeln. Er wollte nur sein Stück vom Kuchen.
»Bruder«, hatte ihm sein Chef gesagt, »wenn sie dich hochnehmen, sind die Einnahmen futsch.« Deshalb wurden sie über eine Plattform in Hongkong abgewickelt. Dort lagen sie jetzt immer noch, und er kam nicht an sein Geld heran. Zweieinhalb Jahre hatte ihm die Sache eingebracht. Zweieinhalb Jahre bei Reis mit geschmorter Paprika. Seine Anzüge, Hemden und Schuhe lagerten in der Wohnung seiner Mutter in Hohenschönhausen. Sein früherer Chef residierte in Paris und ließ sich mit dem Bugatti durch Saint-Germain fahren.
Er hatte zweieinhalb Jahre lang gesessen, Eisen gepumpt, viel gelesen, im Hof mit den anderen Tischtennis und Handball gespielt, die Wolken draußen, oben im Himmel angeschaut. Die Belegschaft in seinem Trakt wechselte ständig, fast alles Ausländer. Araber, Russen, Türken, Litauer, Sinti und Roma, ein paar Deutsche darunter. Viele zogen weiter nach Heidering, Lippold blieb. Mit den meisten Männern kam er zurecht, und wenn nicht, dann zeigte er klare Kante. Schlug sofort zu, wenn man ihm blöd kam. Schlug hart zu, am besten auf die Zähne, da waren sie alle empfindlich. Das sprach sich herum. Man respektierte ihn, er saß die Zeit im Grunde auf der linken Arschbacke ab, aber es waren zweieinhalb Jahre ohne Bier.
Einige Parzellen weiter unten in der Kolonie machten sie Party, die Beats von Gigi D’Agostino pumpten durch die warme Luft. Stimmengewirr, Lachen, ein hochschießendes Kreischen, Flaschenklirren. Der Garten seiner Mutter sah immer noch aus wie damals. Die Johannisbeersträucher, Stachelbeeren, ihre Rosen, die Kirschbäume und die Apfelbäume waren weitergewachsen, als er weg war. Seine Mutter hatte keinen Handschlag getan.
Lippold legte den Schlauch zurück, öffnete die Gartentür und ging den Kiesweg hinunter. Die Musik wurde lauter, als er sich der Party näherte, die Stimmen deutlicher. Zwei Männer standen vor der niedrigen Hecke, unterhielten sich und rauchten. Lippold grüßte. Sie nickten ihm zu. Im Garten saßen sieben, acht Leute um eine Feuerschale, die Funken stoben in die Luft, die Gesichter der Leute waren im Widerschein des Feuers nur undeutlich zu sehen.
Lippold blieb stehen. »Kriegt man hier ein Bier?«
Die beiden Männer auf dem Kiesweg schauten ihn an. Junge, glatte Gesichter, Baseballkappen, Tätowierungen auf Armen und Beinen, Schriftzüge in Fraktur, schwere Schultern, Handwerker vermutlich, Brandenburger.
»Plischke«, rief der eine über die Hecke. »Hier fragt einer, ob er ein Bier kriegen kann.«
»Soll reinkommen, aber schön die Füße abtreten.«
Lippold ging rein.
Im Bau hatte er immer sofort gewusst, wer der Anführer einer Gruppe war. Das Gestirn, um das die anderen kreisen. Dort hatte er gespürt, an wen er sich wenden musste. Wenn der Chef einen akzeptierte, kriegte er mit den anderen keinen Ärger. Wenn es Probleme gab und der Chef von ihm auf den Rüssel bekam, dann kuschten die anderen. Lippold war schon immer für klare Verhältnisse. Er lächelte, als er zu ihnen trat. Plischke saß breitbeinig in einem Gartenstuhl, eine Baseballkappe ins Genick geschoben, neben sich hatte er einen Kasten Bier. Vier Männer in Gartenstühlen, einer stocherte im Feuer, zwei Frauen am Swimmingpool, eine tanzte auf der Terrasse, ein wehendes Kleid vor dem Büfett.
»Abend in die Runde«, sagte Lippold. »Ich dachte, ich sag mal Hallo, hab den Garten weiter oben. Ich habe schon den ganzen Abend einen trockenen Mund, die Zunge klebt am Gaumen.«
»Das ist nicht schön«, sagte Plischke und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
»Das ist überhaupt nicht schön«, sagte Lippold. »Ein Bier könnte helfen.«
Plischke langte in den Kasten, holte eine Flasche heraus und warf sie Lippold zu. Der fing sie auf und öffnete sie mit den Zähnen. Das konnte er, seit er zwölf war. Früher, im Reichsbahnbunker Reinhardtstraße, mit siebzehn, hatte er jede Flasche mit den Zähnen aufgeknackt, jetzt war er sechsundvierzig und musste aufpassen. Mit einem hohlen Zahn ist keine Nuss zu knacken. Doch so ein Auftritt lohnte sich immer. Er spuckte den Kronkorken in die Luft, fing ihn auf und steckte ihn ein.
Die Frauen am Pool hoben die Köpfe. Die Männer am Feuer sahen ihn an. Plischke in seinem Gartenstuhl sagte: »Respektchen. Macht auch nicht jeder.«
»Wohlsein«, sagte Lippold und setzte die Flasche an. Das Bier war kühl und gut. »Außerdem, gratuliere natürlich, wenn hier jemand Geburtstag hat.«
Sie kamen ins Gespräch. Einer der Männer erinnerte sich an ihn, vor Jahren hatte er mal die Schubkarre geliehen, als er eine Ladung Muttererde angeliefert bekam. Länger nicht hier gewesen, aber heute Abend mal wieder da, und da habe er die Musik gehört. Zu laut? Ach was. Wo man singt, da lass dich nieder. Mama lauda. Eine Frau drehte die Musik lauter.
Sie lachten. Die Frauen sagten, es sei noch Kartoffelsalat da, Würstchen, Buletten, falls er Hunger habe. Die im wehenden Kleid zeigte ihm das Büfett.
»Das machste aber nicht oft mit den Zähnen, oder?«
»Nur für Freunde«, sagte er.
»Ach, so einer biste.«
Er nahm sich Kartoffelsalat, zwei Buletten. Ließ es sich schmecken. Sie zeigte ihm den Garten, die jungen Tomaten im Gewächshaus, dann setzte er sich zu den anderen ans Feuer, bekam ein zweites Bier. Das machte er mit dem Feuerzeug auf, und das war für die anderen auch völlig in Ordnung. Sie stießen an, lachten. Plischke mochte ihn, das spürte Lippold. Die Frauen schauten ihn an, seit zweieinhalb Jahren war er Frauen nicht mehr so nah gewesen.
Das dritte Bier, das vierte, dann hörte er auf zu zählen, musste sich ranhalten. Über sich hatte er den Sternenhimmel, am Waldrand die Nachtigallen, hier am Feuer sangen sie selbst. Über sieben Brücken musst du gehen. Dann spielten sie noch mal den Track von Gigi D’Agostino, und alle hoben die Bierflaschen hoch und sangen lauthals: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.« Sie wurden nicht müde, die Zeile zu wiederholen, und Lippold sang mit, es tat ihm gut. Die Libanesen rausschaffen, die Marokkaner, die Russen, die Türken und die Syrer, die Polen und die Litauer, das Kroppzeug, das Diebsgesindel und den Abschaum, mit dem er gesessen hatte.
Sieben Stunden dauerte es, bis Romina ihre Schwester fand. Sieben Stunden lang fuhr sie durch die Stadt, suchte in den Seitenstraßen des Viertels, fragte in Supermärkten und Spätis, schaute in die Hauseingänge und Hinterhöfe der Nachbarschaft, fand sie nirgends, weitete die Suche aus, lief durch die Hasenheide bis zum Südstern, fand sie nicht, fuhr weiter die Straßen ab, und in diesen sieben Stunden brannte die Sonne auf der Haut der Stadt. Die Hitze kroch in die Häuser, nistete im Asphalt, flirrte auf dem Wasser des Landwehrkanals. Romina folgte seinem Lauf hinein in die Stadt, am Halleschen Tor vorbei, am Gleisdreieck und Potsdamer Platz, es war wie immer, wenn Sanda verschwand. Romina war die große Schwester, sie musste sie finden.
Zu Mittag aß sie einen Teller Graupensuppe bei Staroske. Sie schwitzte. An den Stehtischen neben ihr löffelten die Leute Erbsensuppe. Romina ließ sich Zeit. Sie wusste nicht weiter. Ihre Mutter rief an: »Was ist denn nun? Wo ist sie?«
»Keine Ahnung«, sagte Romina. Draußen liefen die Frauen in Tops mit Spaghettiträgern, Shorts und schweren Boots herum. »Wenn ich sie bis heute Abend nicht finde, rufen wir die Polizei.«
»Polizei«, sagte ihre Mutter. »Du bist selbst Polizei, du musst sie finden. Sie hat wahrscheinlich vergessen, wo sie wohnt. Warst du auf dem Friedhof? Frau Rosenberg haben sie auf dem Friedhof gefunden. Sie ist dement. Sie haben ihr ein Schild gemalt, auf dem steht, wo sie hingehört.«
»Frau Rosenberg ist achtzig«, sagte Romina. »Sanda ist zweiundzwanzig. Die ist nicht dement, die lebt bloß in einer anderen Welt.«
»Sie lebt in einer anderen Welt, ganz genau, deshalb musst du sie finden, und nicht erst heute Abend.« Die Stimme ihrer Mutter war schrill und vorwurfsvoll.
Romina brachte den leeren Teller zur Geschirrablage und ging nach draußen. Auf der Kurfürstenstraße standen die Roma-Mädchen aus Bosnien und blickten zur Seite, als Romina vorbeifuhr. Hier in der Gegend hatte sie vor Jahren Graffiti-Sprayer observiert. Keine Lauer, auf der sie nicht gelegen hatte. Sie war schnell gewesen, im Sprint konnte sie jeden kriegen, auch die drahtigen, geölten achtzehnjährigen Kerle. Jetzt fühlte sie sich alt, bald wurde sie dreißig. Die Nacht mit Felix lag wie in ferner Vergangenheit, hinter sieben Bergen.
Sie fuhr am Zoologischen Garten vorbei, manchmal stand Sanda dort am Eingang und lauschte den Schreien der Affen. Heute nicht. Dann die Kantstraße entlang, nach Charlottenburg hinein, gelegentlich stellte sich ihre Schwester in die Fußgängerzone und bettelte die Passanten um Münzen an. Dabei hatte sie Geld. Romina gab ihren Eltern und ihrer Schwester genug von ihrem Gehalt ab, dass sie alle über die Runden kommen konnten. Die Leute schleppten sich durch die sengende Hitze. Der Karstadt hatte endgültig geschlossen, die Schaufenster waren ausgeräumt, die Verkaufsräume leer. Auf den Stufen des Seiteneingangs hatte ein Obdachloser seine Habseligkeiten und eine Matratze ausgebreitet. Er selbst war nicht da. Ihre kleine Schwester auch nicht. Romina konnte überall suchen, im Wedding und in Reinickendorf, in den Quartieren des Ostens, stundenlang, und doch vergeblich. Ihre Schwester war in irgendeiner Pore der Stadt verschwunden. Das kam vor. Leute verschwanden in Berlin, Kinder und alte Leute, junge Frauen und Touristen, und wurden erst Tage später aufgefunden, verängstigt, verwirrt. Rominas Kollegen hatten davon erzählt. Bei vier Millionen Einwohnern gab es immer Schwund, das ließ sich nicht vermeiden. Das verstand sie. Aber doch nicht ihre eigene Schwester.
»Dein Vater fragt nach ihr«, sagte ihre Mutter am Telefon, als sie das nächste Mal anrief. »Ständig fragt er nach ihr. Völlig runter mit den Nerven, als wäre das seine Schuld. Er raucht wieder. Steht wieder mit den Händlern auf dem Platz und erkundigt sich, ob sie was gesehen hätten. Als ob die etwas wüssten.«
»Die wissen nichts«, sagte Romina. »Die wissen nie was, die verkaufen bloß ihre Autos.«
»Sie muss doch was essen«, sagte ihre Mutter. »Sanda hat irgendwann Hunger, das muss sie doch merken. Sie muss was trinken in dieser Hitze. Ich habe alle Leute angerufen, die sie kennt. Sie haben sie nicht gesehen.«
Um halb zehn wurde es allmählich dunkel, doch es blieb ungewöhnlich warm. Romina war wieder am Landwehrkanal, wo die Krähen hausten. Sanda liebte Krähen. Sie behauptete, sie verstehe die Sprache der Krähen. Die Wege am Kanal waren knochentrocken. Die Krähen ließen sich nicht blicken. Keine Spur von Sanda.
Am alten Bahndamm in Treptow fand sie ihre Schwester schließlich. Fast wäre sie an ihr vorbeigefahren. Der Bahndamm war vor Jahren aufgegeben, die Gleise entfernt worden, oben lief ein schmaler Pfad, an dessen Rändern die Dealer auf Kundschaft warteten. An den Abhängen des Bahndamms hatten sich junge Birken und Sträucher angesiedelt. Da lag jemand unter einem dürren Gebüsch, nur die Beine und Schuhe ragten hervor. Eine rote Trainingshose mit drei Streifen, weiße Sportschuhe.
»Tu mir das nicht an«, sagte Romina. Sie bremste, stieg aus, ließ die Autotür offen, rannte den Abhang hinauf. Es war Sanda. Sie lag unter dem Gebüsch, regte sich nicht. »Tu mir das nicht an, Schwester.«
Romina fasste ihr an den Hals. Er war noch warm. Sie drehte den schweren Körper zu sich und erschrak. Das Gesicht war blutig zerschlagen. Das linke Auge aufgequollen, ein roter Wulst. Ihre Hände waren eiskalt. Doch sie atmete.
Romina wollte nicht auf einen Rettungswagen warten. Sie rief die Dealer, die oben auf dem verlassenen Damm zu dritt unter einem Baum standen. Einer von ihnen kam herunter und half ihr, Sanda ins Auto zu bringen. Sie legten den schlaffen Körper auf die Rückbank, und Romina fuhr zur nächsten Notaufnahme.
Hinter Lindenberg beschleunigte Levan. Der Benz ging umstandslos auf hundertzehn Stundenkilometer, sie überholten fünf Autos, Levan wollte sichergehen, dass niemand ihnen folgte. Sie waren vorgewarnt. Deutsche Polizei war selten zu sehen, doch das hieß nichts, manchmal waren sie in Zivilfahrzeugen unterwegs. In Georgien, in der Ukraine, in Polen sah man ständig Polizisten, an jeder Straßenecke hockten sie in ihren Autos, winkten einen raus und hielten die Hand auf. In Deutschland sah man sie nicht, und wenn man sie sah, war es zu spät.
Eine Reihe von Strommasten wischte an ihnen vorbei, auf den Äckern dahinter Windräder. Linker Hand ging es runter nach Schwanebeck und Bernau, Levan fuhr geradeaus, drückte aufs Gaspedal, kaute auf seiner Unterlippe. Auf der Autobahn wechselte er abrupt die Fahrspuren, ging nach links auf die Überholspur, dann zog er scharf nach rechts auf die Standspur, wurde langsamer, schaltete die Warnblinker ein, rollte aus. Wenn jemand sie verfolgt hatte, war er jetzt an ihnen vorbei.
Levan fädelte sich wieder in den Verkehr ein, die anderen Autofahrer bremsten ab, hupten. Hinten auf der Rückbank hatten Koba und Toma die Köpfe zurückgelehnt und rauchten, die Arme ausgestreckt.
»Hoffentlich zahlen sie uns heute noch aus«, sagte Koba. »Ich brauche das Geld, mein Mädchen wartet. Die schreibt mir fünfmal am Tag: Koba, Schatz, wo ist das Geld, hast du die Überweisung gemacht. Ich schreibe: Hab überwiesen, das Geld wird kommen. Sie schreibt: Koba, deine kleine Prinzessin weint. Dazu schickt sie mir ein Herz, aus dem Tränen rinnen. Woher haben die Frauen das? Die schickt mir ständig solche Bilder.«
»Du kriegst dein Geld«, sagte Toma. »Mein Onkel vergisst uns nicht. Wir liefern ab. Wir machen einen soliden Job. Heute noch eine Muschi, dann fahren wir nach Berlin, und du kriegst dein Geld. Deine kleine Prinzessin auch.«
Koba machte nicht gern zwei Häuser hintereinander, er brauchte Pausen. Seine Hände brauchten Ruhepausen. Neuerdings sollten sie drei Häuser am Tag machen, drei Muschis, durch die Hecke reingehen, die Tür aufstemmen, rein ins Haus, nach zwanzig Minuten wieder raus, das musste reichen. Immer diese Eile. Man will doch auch seinen Spaß haben, mal Chips aus der Küche holen, sich auf die Couch setzen, den Fernseher anmachen, die Füße hochlegen. Früher hatte er Tage in den Häusern verbracht, wenn die Leute auf Urlaub waren. Aber jetzt stand Levan nach zwanzig Minuten mit dem Benz vor der Tür, und sie mussten weiter.
»Weißt du, wo ich hinwill?«, sagte Koba. »Kanada. Die haben alle Geld ohne Ende. Das niedrigste Einkommen da drüben sind dreißigtausend Dollar. Minimum. Und die lassen ihre Türen offen in Kanada. Die schließen nicht ab wie hier in Deutschland. In Kanada sind sie nett zu dir. In Amerika erschießen sie dich, wenn du ins Haus kommst. In Polen schlagen sie dich tot, wenn sie dich erwischen. In Kanada lassen sie die Türen offen und küssen dir den Schwanz, wenn du reinkommst.«
»Dann schickt dir dein Mädchen noch mehr weinende Herzen, wenn du da drüben bist«, sagte Levan. »Was soll ich in Kanada? In Kanada fahre ich mir den Arsch ab bis zum nächsten Haus. Mein Onkel plant hier mit mir, der zieht was in Europa auf. Großes Business.«
»Ich hole sie nach«, sagte Koba. »Wenn ich genug Geld habe, hole ich sie nach, dann putzt sie die Wohnung, kocht was zu essen, und ich habe immer einen warmen Hintern im Bett. Europa ist krank, siehst du doch. Das wird nichts mehr.«
Levan fuhr von der Autobahn ab, Richtung Hellersdorf. Am Horizont tauchten die weißen Blöcke der Hochhäuser auf, zwanzig, dreißig Stockwerke, winzige Fensterreihen, Block an Block, wie am Rand von Tiflis. Das war Koba schon nach drei Wochen klar gewesen: Berlin war auch nicht besser als Tiflis, nicht besser als Warschau oder Minsk. Mehr Farbe auf den Fassaden, das ja. Trotzdem waren es Plattenbauten, Kartons mit lauter kleinen Schachteln, alle Aufgänge und alle Wohnungen gleich, und wie in Tiflis, Warschau und Minsk waren die Fahrstühle kaputt, die Leitungen marode, die Wände dünn, man hörte das Husten der Nachbarn. Kannte er von Tiflis, brauchte er nicht mehr. Er wollte nach Kanada, und dazu brauchte er Startkapital. Gute Pässe waren teuer.
Sie rollten vor dem Parkplatz eines Baumarkts aus. Levan stellte den Motor ab. Sie blieben im Auto und rauchten, schauten sich den Parkplatz an. An den Laternen hingen Wahlplakate. Dein Nachbar wählt uns auch. Familienväter luden Farbeimer, Drahtrollen, Rasendünger in den Kofferraum ihrer Autos. Hier hatte jeder einen neuen SUV. Könnte man sich ja mal freuen. Wer in Tiflis einen SUV hatte, der freute sich. Die Deutschen sahen immer biestig aus. Die Taschen voller Geld, dicke Autos, glatte Straßen und ständig schlechte Laune.
»Ulmenstraße 2a«, sagte Levan und schaute auf sein Handy. »Private Muschi. Kleiner Garten hinten, da sieht euch niemand. Die Leute sind weg, aber ihr klingelt vorher.«