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Was passiert mit einer Frau, der alles genommen wurde? Ihre Jugend, ihre kleine Tochter, ihr Leben - ihr bleiben nur wenige Wochen, wenn überhaupt. Wer denkt da nicht ans Aufräumen? Clara Covic, Putzfrau und Escort, will reinen Tisch machen. Das bekommt auch Kommissar Matt Kowalski in seinem neuen Fall zu spüren. Dabei war es in Berlin seit Anfang der Pandemie doch endlich mal etwas ruhiger in seiner Stadt geworden. Die blutige Spur beginnt in einer Laube und bringt einen viel größeren Stein ins Rollen. Bald geht es nicht mehr nur um Hass und Vergebung und warum manche vergeben können und andere nicht. Bald werden Clara und ein CIA-Agent von einem mächtigen arabischen Clan und einem Oligarchen gejagt, weil Clara jemand umbrachte, den sie besser nicht auf ihrer Liste gehabt hätte. Die Uhr tickt. Für alle. Gnadenlos.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Impressum
Berlin Psycho II - Die Laube
Copyright © Marc B. Rey, 2022
Erstausgabe, 2022
ISBN Print: 9783754641064
Independently published via tolino media.
Umschlaggestaltung: Patrick Möller
Bildnachweis:
Titelbild Foto: Adobe Stock #100933982, #26206203
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Aufzeichnung oder durch ein Informationsspeicherungs- und Abrufsystem, reproduziert oder verwendet werden.
Dies ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebenden oder toten, Ereignissen oder Orten ist völlig zufällig.
Herausgeber:
Marc B. Rey
c/o Patmo.de – Patrick Möller
Lüneburger Str. 10
10557 Berlin, Deutschland
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Personenverzeichnis
Kurzglossar
Über den Autor
Weitere Werke
Als Clara zum zweiten Mal zustach, klingelte ihr Smartphone. Sie hatte vergessen, den Lautlos-Modus zu aktivieren. Flüchtigkeitsfehler. Aber sie war nun mal keine Profikillerin. Sie war Putzfrau, unter anderem. Das Blut quoll aus dem leblosen, männlichen Körper. Zog seine Spur vom Herzen abwärts über das weiße T-Shirt auf den Holzfußboden. Die blutige Pfütze wuchs rasant. Sie wischte mit dem Unterarm die Schweißperlen von ihrer Stirn. Dabei verrutschte ihre blonde Perücke. Hastig zupfte sie das Ding wieder zurecht. Hätte es am liebsten ausgezogen. Die Hitze, die stechenden Kopfschmerzen, doch sie entschied, die Perücke aufzulassen. Sie brachte ihr schließlich Glück. Auch der andere Typ lag bereits in seinem Blut, nur knapp einen Meter entfernt. Beide Männer hatten Clara nicht wiedererkannt, als sie vor wenigen Stunden vor der Laube aufgetaucht war. Glaubten ihr, dass sie nur den alten Georg besuchen wollte. Doch der war nicht da, meinten die beiden. Komme nur noch selten vorbei. Habe ihnen schon vor Jahren die Laube verkauft. Doch, wenn sie schon mal da sei, könne man ja auf den alten Georg anstoßen. Inklusive gebührendem Sicherheitsabstand, meinte einer der beiden grinsend. Clara wäre auch ohne Perücke nicht leicht wiederzukennen gewesen. Sie trug rosafarbenen Lippenstift, dunklen Eyeliner als Lidschatten verblendet und ihre Absätze schraubten ihre Körpergröße um zehn Zentimeter nach oben. Auch ihr wohlgeformter Busen unter der Bluse sprach die Sprache einer erwachsenen Frau und nicht die eines zwölfjährigen Mädchens. Es war über dreizehn Jahre her, dass die beiden Männer die halbwüchsige Clara in dieser Laube zum letzten Mal gesehen hatten. Mit ihr damals Dinge machten, schreckliche Dinge. Dinge, die nicht nur heranwachsende Mädchen für immer traumatisierten. Und nur, weil Claras Stiefvater Georg sie ihnen überlassen hatte. Einfach so. Weil Clara ihm egal war. War ja nicht seine leibliche Tochter. Und wenn dadurch ein bisschen Geld in die Urlaubskasse kam, konnte das sicher nicht schaden. Sie kostete ihn ohnehin schon mehr, als ihm lieb war.
Es war immer noch schrecklich heiß in der Gartenlaube. Und ihr Smartphone klingelte auch noch. War nicht dieser Marimba Ton. War dieses klassische Klingeln, das Clara früher in amerikanischen Filmen hörte und ihr immer eine Gänsehaut bescherte, weil danach meistens was Schlimmes passierte. Sie zog das Messer aus dem fetten Bauch des Mannes. Zu wenig Sport, zu viel Bier, zu viel Schweinefleisch, dachte sie. Aber auch, wenn er Sixpack-Besitzer, Safttrinker und Vegetarier gewesen wäre, er war und blieb ein Schwein. Genauso wie sein Kumpel, der da drüben blutverschmiert neben dem Sofa lag. Sie streifte sich einen ihrer weißen Einweg-Plastik-Handschuhe ab und drückte auf den grünen Annahme-Button.
»Hi Clara, du bist für morgen eingeteilt. Vergiss deine Maske nicht«, sagte Petra Petzold, Teamleiterin bei Cleaning 1.
»Super. Du, muss hier noch ein bisschen sauber machen. Bis morgen.«
»Du putzt jetzt noch? Um 22 Uhr?! Aber deine Schicht ist doch schon längst…«
»Ein Gefallen für ´ne Freundin. Sie muss wegen Quarantäne in der Wohnung ihrer Mutter bleiben. Habe ich dir doch erzählt.«
»Dieses Corona hängt mir langsam so was von zum Hals… Obwohl, neuerdings applaudieren die bei mir in der Straße, wenn ich nach Hause komme. Gut, ist auch schon wieder weniger geworden. Aber immerhin. Bis morgen.«
Aber immerhin… Clara verstand ihre Teamleiterin Petra. Immerhin würden sie nun alle etwas mehr beachtet. Nicht wie sonst, wenn sie immer freundlich die Angestellten grüßten, aber kaum einer der Angestellten den Gruß je erwiderte. Wo sie höchstens zu hören bekamen, wenn Clara den Raum verließ, endlich mal was fürs Auge. Morgens kurz vor 9 Uhr, wenn die ersten Arbeitsamen eintrudelten oder abends, wenn die meisten schon das Büro verlassen hatten, nur die Chefs oder die es gerne werden wollten, noch hinter ihren Schreibtischen aufs Display starrten. Doch nun, seit dieses kleine, infektiöse Ding mit seinen organischen Strukturen über Monate schon die Menschen in Berlin und überall auf der Welt in Atem hielt, weil es Abertausenden den Atem bereits für immer genommen hatte, da auf einmal änderte sich etwas. Nicht viel. Nicht der mickrige Mindestlohn, nicht das stressige Arbeitspensum, aber wenigstens fühlten sich Clara und ihre Kolleginnen ein bisschen mehr geschätzt. Ja, wenn sie in Krankenhäusern oder in Altersheimen schrubbten, wienerten und Viren neutralisierten, da meinten jetzt schon Boulevard-Blätter, dass sie systemrelevant seien. Waren sich auf einmal einig, dass ohne Putzfrauen, ohne Krankenschwestern, ohne Supermarktkassiererinnen das ganze System zusammenbrechen würde.
Doch eigentlich war Clara das egal. Clara hatte andere Sorgen. Eine davon war, dass sie noch lange genug lebte. Lange genug, um endlich all den Unrat in ihrem Leben aufzuräumen. Und davon gab es eine Menge. Meinte auch ihre Therapeutin Dr. Sandmann, bevor die sich vor einem Jahr für immer aus dem Staub gemacht hatte. Ob nun die Therapiesitzungen bei Dr. Sandmann den Ausschlag für ihre Entscheidung gaben, oder der letzte Schicksalsschlag, den sie erst vor wenigen Tagen erhielt, spielte am Ende für Clara keine Rolle mehr. Ihr bisheriges fünfundzwanzigjähriges Leben war ohnehin eine Aneinanderreihung von Leid und Katastrophen. Da kam es auf einen Schicksalsschlag mehr oder weniger auch nicht mehr an. Doch manchmal im Leben ist es dieser eine Schlag zu viel. Dieser eine Schlag, der einen nicht wie so oft wieder und wieder mutig aufstehen lässt, weil einem Freunde das ständig mit auf den Weg geben. Du musst nur öfters aufstehen, als du hinfällst. Nur dieses Mal fragte sich Clara nicht wie sonst: Warum nur passiert das immer mir? Diesmal wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Wer trug Schuld daran, dass ihr Leben so verlaufen war. Und je öfter sie über die Sitzungen bei Dr. Sandmann nachdachte, umso mehr wurde ihr klar: Es gab nicht nur eine Person, es gab da einige, die ihr Leben immer wieder nach unten gezogen hatten. Dorthin, wo die meisten Menschen nur aus Medien erfuhren. Wo niemand ernsthaft hin wollte und doch so viele strandeten.
Doch jetzt war nur noch wichtig, dass sie ihre Mission zu Ende brachte. Das war sie sich und ihrer Tochter Marie schuldig. Denn wie sagte doch Dr. Sandmann bei einer ihrer letzten Sitzungen:
»Wenn Sie sich dagegen entscheiden, gehen Sie bitte weiter in Therapie. Wenn Sie sich jedoch dafür entscheiden, ziehen sie es durch. Sonst finden sie keine Ruhe. Glauben Sie mir, ich weiß, wo von ich rede.«
Das Problem war nicht die Entscheidung. Das Problem war die Zeit, die ihr noch blieb. Und dabei dachte sie erst, ein neues Migräne-Medikament, würde die seit Tagen andauernden Schmerzen in ihrem Kopf endlich beseitigen. Doch sie verschwanden nicht, wurden höchstens stärker oder schwächten sich, wenn überhaupt, nur leicht ab. Daher empfahl ihr Hausarzt, einen Neurologen aufzusuchen.
Und danach war klar, viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Jedenfalls meinte das ihr Arzt, Dr. Wegener, als er die CT-Aufnahme ihres Gehirns an den Leuchtkasten pinnte, auf den Tumor zeigte und in typisch einfühlsamen Medizinerdeutsch meinte: Glioblastom, Stufe 4, inoperabel, ziemlich schnell wachsend, noch ein paar Wochen maximal. Regeln Sie ihre Angelegenheiten am besten rasch.
Und Angelegenheiten regeln, übersetzte Clara jetzt erst recht mit Aufräumen und reinen Tisch machen. Und zwar tipptopp. Und da gab es eine Menge, was sich da in den letzten Monaten und Jahren bei ihr angehäuft hatte. Auch wenn sie nicht nur Putzfrau war, sie besaß schließlich eine noch wesentlich einträgliche Einnahmequelle, so bereitete ihr Putzen und Reinemachen schon seit ihrer Teenagerzeit mehr als nur Freude. Ja, es beruhigte sie, es befreite sie von ihren dunklen Gedanken, hilflos und ausgeliefert zu sein. Es ließ sie oft geradezu strahlen, wenn sie schmutziges Chaos in saubere Ordnung verwandeln konnte. Ordnung, die es in ihrem jungen Leben schon damals kaum gab.
Apropos, sie musste in dieser Laube noch für Ordnung sorgen. Das viele Blut überall wegzuwischen, gehörte allerdings nicht dazu. Soll die Polizei ruhig sehen, dass Schweine heftig bluten. Nein, sie musste den Tatort noch herrichten, dass es so aussah, als ob die beiden sich gegenseitig mit Messern umgebracht hätten. Deshalb zog sie wieder ihren Einweghandschuh über, tauchte erst das Messer des einen in die Blutlache des anderen, dann drückte sie es anschließend in die blutende Bauchwunde dieses anderen, damit auch kleine Gewebeteile der Wunde später daran zu finden waren. Sie legte das Messer wieder zurück in die schlaffe Hand des ersten Opfers. Sie bog seine Finger um den Griff des Messers, so, als ob er in seinen letzten Sekunden, das Messer nicht loslassen wollte. Dann wiederholte sie das ganze Prozedere mit einem anderen Messer beim zweiten Opfer. Beide Messer stammten aus der Kochnische der Laube. Clara kannte die Laube schon lange und mehr als ihr lieb war. Sie schaute sich um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Doch da war nichts. Sie öffnete ihre Tasche und sah nach, ob das wichtigste Utensil des heutigen Abends auch noch da war. Es war ein kleines Fläschchen mit glasklarem Inhalt und leicht seifigem Geschmack. Bei geringer Dosis mit maximal eineinhalb Millilitern mit berauschender Wirkung, bei höherer Dosis mit drei und vier Millilitern wurden Opfer davon willen- und bewusstlos. Und für Clara besonders interessant, das Zeug war spätestens nach acht Stunden im Blut nicht mehr nachweisbar. Und bei herben Getränken wie Bier so gut wie nicht bemerkbar, wie eine Partyfreundin ihr einmal erklärte. Clara hatte selbst schon Erfahrungen damit gemacht. Und beileibe keine Guten. Doch als Frau mit eher unterdurchschnittlichen Fitnessmuskeln, was blieb ihr übrig, gegen diese massigen Typen hier? Da ist Liquidecstasy mit K.O. - Wirkung ein durchaus probates und sicheres Mittel. Männer, die darauf stehen, Frauen damit leichter vergewaltigen zu können, dürften ihr sicher zustimmen. Schließlich blieben sichtbare Gewaltanwendung und Erinnerungsvermögen bei Opfern meist außen vor. Dass Clara einen Schritt weiter ging und ihren Opfern überhaupt kein Erinnerungsvermögen mehr gönnte, mag den meisten unverhältnismäßig erscheinen. Für Clara war ein erster wichtiger Schritt getan. Ihre Liste hatte zwei Namen weniger.
An dieses Liquidecstasy ranzukommen, schien zunächst nicht allzu schwer. Clara hatte noch Verbindungen aus ihrer Drogenzeit. Damals mit fünfzehn, als sie ihr Elternhaus bereits ein Jahr verlassen hatte und bei ihrer Tante Renate in Köpenick lebte. An den Wochenenden aber oft dem öden Großstadt-Speckgürtel entkommen wollte, mit der S-Bahn nach Berlin Mitte zu Freunden, Drogen und Partys fuhr.
Doch ihr Dealer von damals war leider im Knast. Und die Dealerszene am Kotti wurde neuerdings stärker als sonst von der Drogenfahndung genervt. Eine Partyfreundin von damals gab ihr schließlich den Tipp, es bei Abdul am Paul-Lincke-Ufer zu versuchen. Erkennbar an seinem roten Salafistenbart. Er hätte alles und auch gutes Zeug. Als Clara ihn dann letzte Woche endlich fand, zickte Abdul erstmal rum.
»Was will ´ne Tussi wie du mit Liquid Life?«
»Gute Qualität und Spaß für ´ne Party im Hasenhain. Nach dem ganzen Virusmist mal wieder abschalten.«
»Kostet jetzt 100.«
»Auch wirklich gutes Zeug? Bei dem Preis.«
»Drei Tropfen und du hast sehr viel Spaß. 5 Tropfen und ich kann mir dir machen was ich will. Kapiert?!«
»Wenn du das sagst. Ok. Deal.«
»Scheiße, die Bullen. Komm morgen, Admiralsstraße, gleiche Zeit.«
Und Clara, kurz vor dem Ziel, musste mit ansehen, wie Abdul mit ihrem Stoff rasend das Weite suchte. Drei Bullen höchstens fünfzig Meter hinter ihm, keine der gut trainierten, dafür mit MN-Masken vor den Gesichtern, blieben schon nach wenigen Metern keuchend stehen, ohne den Hauch einer Chance, diesen Abdul zu erwischen. Am nächsten Abend war sie an der verabredeten Stelle. Doch Abdul war zunächst nirgends zu sehen. Plötzlich tauchte er mit einem zweiten Typen hinter einem großen Busch auf. Der andere Typ schien die Gegend nach Bullen abzuscannen. Mit seiner Pranke packte er Clara von hinten am Nacken, drückte sie brutal auf die Knie. Und wäre dort nicht feuchte Blumenerde gewesen, ihre Jeans hätte definitiv Löcher bekommen.
»Gleicher Preis. Aber du bläst mir einen.«
»Einen Scheiß werde ich. Ich kaufe Stoff und keinen Schwanz.«
Abdul schlug ihr ins Gesicht, ihre Unterlippe blutete leicht. Der andere Typ zog ihr von hinten brutal an den Haaren und Abdul lachte.
»Bist du sicher, du Schlampe?!«
»Ok, aber erst den Stoff.« Clara griff nach ihrer kleinen Umhängetasche, zog zwei Fünfziger raus und streckte sie Abdul entgegen. Abdul siegessicher, gab ihr das Fläschchen, das Clara sofort in ihre Tasche steckte. Abdul ließ schon mal seine Hose nach unten rutschen. Sein Begleiter dicht hinter Clara grinste, wie man in seinen Kreisen wohl grinste, wenn Frauen gehorchen mussten. Auch Abdul strahlte vor lauter Vorfreude. Clara griff geschwind nochmals in ihre Tasche und zog ein Messer heraus. Sie stach damit blitzschnell in den Oberschenkel des Arabers und seinem Begleiter hinter ihr in die Wade. Aus Abduls Wunde spritzte das Blut wie aus einem frisch geschächteten Hammel. Clara erwischte offenbar eine Arterie. Beide Typen schrien auf. Clara riss sich los und rannte davon, während die beiden Araber sich gegenseitig anfluchten. Wobei al´ahmaq und nafsak al´ahmaq,Arschloch und selber Arschloch durch die warme Spätsommernacht hallte. Claras Gedanken blieben ruhig, obwohl sie rannte, als ob der Teufel persönlich hinter ihr her wäre: Wer nichts mehr zu verlieren hat, hat auf einmal Glück. What a shitty world. Aber sie war froh, endlich das Fläschchen für den Beginn ihrer Mission zu haben.
Und als ihr Blick in der Laube nochmals über die beiden Leichen am Boden streifte, die Augen der Opfer geschlossen, als ob sie von ihrem Tod gar nichts mitbekommen hätten, wurde ihr auf einmal klar: Die Messerstiche ins Fleisch der Araber waren eine gute Übung für das hier. Vorbereitung war eben alles. Dr. Sandmann würde jetzt sicher nicken. Und ein letztes Mal starrte sie auf die Tattoos der beiden. Verbunden mit so viel dunklen Gedanken und Erinnerungen, so tief eingeritzt in ihrem Gehirn, dass sie dort für immer blieben. Entstanden in dieser Nacht vor über zwölf Jahren, als die beiden sie brutal und über Stunden vergewaltigten. Danach nur lachten und meinten, sie könne stolz sein, sei jetzt zur Frau geworden. Und hätte sie den beiden damals nicht kindliche Lust vorgespielt, wer weiß, ob sie die Nacht überhaupt überlebt hätte. So gesehen, wäre ihr damit zwar eine Menge erspart geblieben. Doch die drei glücklichen Jahre mit ihrer geliebten Tochter Marie waren all das Leid und die Schmerzen wert, die bis zu Maries Geburt noch auf Clara warten sollten.
Einer der Typen trug am Unterarm einen Löwen als Tattoo. Der andere einen Panther. Der Löwe und der Panter werden kein Schaf mehr reißen. Nie mehr. Und das war gut so, dachte Clara, während sie noch ein bisschen Bier aus der Flasche über den Männern vergoss. Kräftig nach Alkohol zu riechen, machte später für die Bullen sicher vieles verständlicher. Doch etwas störte sie noch. Die Laube war ihr noch zu ordentlich. Sollte mehr nach Kampf und Streit aussehen. Sie warf zwei Stühle um, feuerte eine Tischlampe auf den Boden, so dass sie zu Bruch ging. Schüttete eine Ravioli-Konservendose, die der Panther ihr noch vor ein paar Stunden angeboten hatte, auf dem Sofa aus. Nun fand sie das Ganze schon besser. Selten, dass ihr Dreck und Verwüstung so sehr gefielen. Aber wenn es nun mal half, Zeit zu gewinnen. Zeit für ihre Mission, die gerade erst anfing.
Sie setzte ihre türkisfarbene OP-Maske auf. Für alle Fälle sollte niemand ihr Gesicht erkennen. Blonde Haare durften Zeugen gerne bestätigen, waren ohnehin nur Perückenhaare. Ihre eigenen dunkelbraunen Haare waren immer noch darunter zusammengebunden. Sie öffnete die Hintertür und lief den steinigen Weg vor bis zum Rosenbusch. Von dort die wenigen Meter zum hölzernen Gartentor. Immer noch ihre Einweghandschuhe an, drückte sie die Klinke. Doch die klemmte, ging auch nach erneutem Drücken nicht auf. Sie entschied, über den niedrigen Gartenzaun zu steigen, und verspürte kurz danach einen Schmerz an ihrem linken Knöchel. Sie sprang auf den geteerten Weg der Siedlung. Zog ihre Handschuhe aus, verstaute sie in ihrer Umhängetasche, zog ihr Handy raus und leuchte auf ihren Knöchel. Aber außer einem kleinen Kratzer war nichts zu sehen. Musste sich wohl an einem der nahen Rosenbüsche geritzt haben. Und selbst wenn sie dabei etwas Blut verloren hätte, was solls, ihre DNA stand ja in keiner Verbrecherdatei. Clara schaute sich noch ein letztes Mal um und verließ dann mit großen Schritten die Siedlung, nur unweit des Grazer Damms. Ein Abschied für immer. Keine Rosenbüsche, keine Rosenbäume, keine Laubenpieper-Siedlung mehr.
Früher als junges Mädchen, als sie merkte, dass da ständig diese Männer in der Laube warteten, verletzte sie sich absichtlich an den Dornen der Rosen. Weil sie hoffte, wenn sie an ihren Fingern und Armen blutete, würde das die Männer in der Laube vielleicht davon abhalten… Doch das tat es nicht. Einige der Männer lachten und während ein anderer ihre Wunden sauber machte, meinte er… Das wird schon wieder und wenn wir erst fertig mit dem Spielen sind, dann gehts dir noch besser.
Wie oft musste sie samstags und sonntags als 13-jähriger Teenager in dieser Laube sein. Dieses unscheinbare Gartenhäuschen, das der Stiefvater nach Jahren des Wartens endlich übernehmen konnte. Sie sollte dem Stiefvater bei der Bewirtung seiner Freunde helfen. Bei Bier und Buletten, Bundesliga und Becherovka ging es oft hoch her. Da brauchte ihr Stiefvater Georg hin und wieder Hilfe. Und seine Freunde auch. Wenn sie dann versuchten, Clara zwischen den Beinen anzufassen, sie ihnen dann auf die Finger haute und ihr die Typen dann grölend nachschrien, als sie wieder Bier holen musste, bald wirst du dich nicht mehr so zieren, dann wird dich einer zur Frau machen, dann wurde ihr heute noch ganz schlecht.Ihr einziges Glück war, dass ihre Mutter diesen Georg erst fünf Jahre nach dem Verschwinden ihres Vaters geheiratet hatte. Nicht aus Liebe, aus Not, wie sie immer betonte, weil der Papa leider nur Schulden hinterlassen und ihr Gehalt vorne und hinten nicht gereicht hätte. Da war Clara schon zehn. Wer weiß, was der Stiefvater mit ihr angestellt hätte, wenn sie noch jünger gewesen wäre.Doch die Klapse auf ihren Hintern, wobei er immer ihr Kleid hochzog, damit sie die Hand auf ihrer Haut besser spüren sollte, die vergaß Clara auch schon mit zehn nicht. Zu ihrer Mutter sagte dieser Versicherungsmensch nur, ihre Tochter solle sich ihr Taschengeld wenigstens verdienen. Die Wiedervereinigung sei schließlich auch nicht umsonst gewesen.
Clara musste immer dann mit in die Laube, wenn ihre Mutter bei der BVG am Wochenende die Busse bewegte. Touristen durch die Stadt chauffierte, die alles von dieser aufregenden Stadt einsaugen wollten, als ob Abenteuer an jede Ecke auf sie warteten. Hätten sie gewusst, was an manchen schönen Ecken dieser Stadt am frühen Abend so alles passierte, ihre strahlenden Gesichter wären schneller verschwunden als die Abendsonne am Schöneberger Horizont. Und dabei hatten in dieser malerischen Siedlung so viele Menschen wunderschöne Tage und Abende verbracht. Mal mit ihren Freunden, mal mit ihrer Familie oder einfach nur mit ihren Haustieren. Nur für manche waren die Abende leider nicht so schön. Waren hilflos und schutzlos ausgeliefert an kranke Gier und sexuelle Gewalt. Und Clara war damals eine davon.
Sie startete ihren schwarzen Elektroroller, den sie Stunden zuvor in einer nahen Seitenstraße abgestellt hatte. Sie zog den Helm auf und fuhr in der lauen Spätsommernacht zurück in ihren Kiez nach Weißensee. Ihre kleine Wohnung lag ganz in der Nähe des jüdischen Friedhofs. Nur ein paar Kilometer entfernt von der bedeutendsten No-go-Area für Arme. Nur ein paar Straßenzüge entfernt, von all den Anwälten und Ärzten, Steuerberatern und Start-up-Unternehmern, von denen einige außer unanständig viel Kohle noch etwas gemeinsam hatten: Claras Handynummer stand in der Kontakt-App ihrer teuren Smartphones. Unter N bei Nicky L. Wobei L mit Sicherheit für Luder oder lustvoll stand. Oder unter N, bei Firma Nuf für die etwas Vorsichtigeren unter ihren Kunden, deren Ehefrauen ganz gut im Schnüffeln waren, aber nicht jede Firma zuerst von hinten lasen.
Während Clara gerade mit ihrem Roller die Veteranenstraße hochfuhr, die wehende Haare ihre Wangen streichelten, dachte sie: Wenn ich mein Leben einem Ghostwriter erzählen würde: Vergewaltigung, Drogen, Callgirl, Schwangerschaft, Putzfrau, was würde er wohl sagen?
›Noch ein Klischee, Honey, das du loswerden willst?‹
Doch Clara würde ihm nur antworten:
›Fuck you. Am Ende ist doch jedes Leben ein Klischee. Was du Klischee nennst, ist nun mal mein Leben. Ich habe es mir echt nicht so ausgesucht. Aber wenn dir kaum Luft zum Atmen bleibt, wenn du keine Ruhe kennst, wenn dein Tag höchstens bis zum nächsten sicher ist, und du dann alles verlierst, selbst dieses kleine bisschen Glück, was bleibt da noch, als irgendwann reinen Tisch zu machen.‹
»Schatz, ich finde, du solltest mal langsam reinen Tisch mit deiner Mutter machen. So kann das nicht weitergehen«, sagte Anabelle, die Frau von Hauptkommissar Matt Kowalski.
»Honey, das hatten wir doch letzte Woche. Du kennst meine Meinung. Und ich habe nicht vor sie zu ändern«, sagte Matt und zog seine Augenbrauen hoch.
Doch Anabelle ließ nicht locker. Und Frauen, besonders Anabelle, konnten Montagmorgens bisweilen recht hartnäckig sein. Besonders, seit ihre Freundinnen ihr ständig von den Vorzügen dieser Oma-Weekends vorschwärmten. Anabelles eigene Mutter war leider vor einem Jahr unerwartet gestorben, Brustkrebs mit 64. Und ihr Vater, er verbrachte lieber den Sommer bei Freunden an der Côte Azur, seit Europa nach dem ersten Lockdown wieder die Urlaubstore öffnete und man wieder reisen durfte. Sie warnte ihren Vater zwar mehrmals, bei seinem Alter, seiner Risikogruppe, den verdammten Inzidenzwerten und was ihr Podcast-Wissen sonst noch alles so hergab. Doch er meinte nur,
›Wer sieben Kanzler und eine Kanzlerin ertragen hat, den haut so schnell nichts mehr um. Und wenn ich dran bin, dann bin ich eben dran. Im Übrigen wartet da oben deine Mutter.‹
»Ich weiß, deine Mutter ist die geborene Narzisstin, hat dir deine Jugend ziemlich vermiest mit ihrer zynischen Art… hat dich nie unterstützt… dir den Vater vorenthalten...«
»Charmant, wie du mein Leben mit ihr zusammenfasst. Netter Versuch, aber vergiss es«, sagte Matt.
»Tue ich nicht. Denk wenigstens an den kleinen Paul. Dein Sohn hat ein Recht auf seine Oma.«
»Anabelle, es geht hier nicht um Paul, es geht dir um mehr Privat-Time. Oma Weekend, du weißt schon.«
»Woher?«
»Wenn du das nächste Mal Facetime machst, dann schließ vielleicht die Tür im Bad und sag deiner Freundin, sie braucht nicht so ins Mikro brüllen.«
Dann klingelte Matts Handy. Die Nummer eines Kollegen vom Dezernat leuchtete im Display.
»Ja, Meyer, was gibst? Ich habe heute mein freies Wochenende. Sie wissen schon, diese zwei Tage zum Erholen, wo einen niemand stören soll.«
»Ich weiß, Chef. Ist aber ein Notfall.«
»Was ist mit Hilbert?«
»Hat Covid19. Wahrscheinlich vor zwei Tagen bei der Freundin angesteckt.«
»Und Riemann?«
»Wahrscheinlich auf seiner Datscha. Erreiche ihn seit Stunden nicht.«
»Bisschen viel wahrscheinlich, Meyer.«
»Na dann, was sicheres.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Sanovski von der KTU tobt wie Sau. Wieso keiner von uns da ist.«
»Und die anderen? Was, verdammt, ist mit den anderen? Haben doch Bereitschaft.«
»Drei schwere Raubsachen, ein toter Dealer am Paul- Linke-Ufer, eine Geiselnahme in Grunewald…«
»Fuck.«
»Schöneberg, Schrebergarten Siedlung, zwei Tote. Adresse kommt gleich. Sehen uns dort.«
Anabelle war schon klar, als Matt Fuck schrie, dass es mal wieder nichts würde mit Cuddle-Time und Baden im Plötzensee. Aber sie erkannte auch ihre Chance, etwas aus diesem versauten Wochenende für sich herauszuholen. Matt dürfte mit ziemlicher Sicherheit ein schlechtes Gewissen haben, weil aus dem freien Wochenende mal wieder nichts wurde. Weil er wusste, wie sehr sich Anabelle darauf freute, mit ihm und dem kleinen Paul endlich schwimmen zu gehen.
»Du gehst nächste Woche zu deiner Mutter, bringst ihr ein paar Blumen vorbei und sprichst mit ihr. Lockdown ist schließlich schon ´ne Weile vorbei. Das bist du mir schuldig, Schatz.«
»Anabelle, das ist echt fies«, sagte Matt und blätterte durch seine eingegangenen SMS durch.
Dann schaute Matt Anabelle nach, wie sie sich hinunter zum kleinen Paul auf der Spieldecke bückte, dabei ihre enge, verwaschenen Jeans-Shorts ihm ziemlich schnell klarmachte, warum es ihm immer verdammt schwerfallen würde, ihr was abzuschlagen. Und er sich verdammt glücklich schätzen durfte, so eine Frau an seiner Seite zu haben. Nicht nur was ihren Prachtarsch anbelangte. Sie war für ihn da, wenn es ihm nicht gut ging. Wenn die brutalen Verbrechen der letzten Jahre, ihm nachts oft den Schlaf raubten. Wenn sein Drogenproblem aus früherer OK Zeit (Abteilung für Organisierte Kriminalität) wieder hochkam, als er bei einer Undercoveraktion über Tage von Drogendealern mit Stoff vollgepumpt wurde und nur mit Glück seinen Arsch retten konnte, von seinem Job ganz zu schweigen. Sie fuhr ihn zu den Entzugssitzungen und holte ihn wieder ab. Andere Kommissare waren Dauersingle, Neusingle oder Fernbeziehungssingle, aber Matt Kowalski war immer noch glücklich verheiratet. Und das war vielleicht das Einzige, neben seinem Sohn Paul, auf das er wirklich stolz war. Dass er und sein Team bei der Mordkommission mittlerweile eine Aufklärungsquote von neunzig Prozent hatten, geschenkt. Dass er nach seinem letzten großen Fall, sogar schon Anrufe vom BKA und BND-Abteilungsleitern bekam, in denen sie ihm nahelegten, doch zu ihnen zu wechseln, schmeichelten ihm zwar, interessierten ihn aber nicht wirklich. Anderseits lobte ihn selbst die Presse, was in Berlin bei Bullen ungefähr so selten war, wie fristgerechte Abnahmetermine bei Großprojekten. Quasi im Alleingang hatte Matt im letzten Jahr eine wahnsinnig gewordene Psychotherapeutin zur Strecke gebracht, die vier Geschäftsleute sowie eine junge BKA-Kollegin bestialisch ermordete. Da Matt bei seinen damaligen Ermittlungen auch noch einen großen Waffendeal verhindern konnte, dabei einen Mossad-Agenten und mehrere iranische Waffenschieber ausschalten musste, da kann man schon verstehen, dass gewisse Kreise auf ihn aufmerksam wurden. Dass Matt bei diesem Fall seine Lieblingskollegin Simone Rellika verlor, kümmerte niemand. Matt schon. Simone war damals offiziell für tot erklärt worden. Über den Schweizer Alpen in einem Privatflugzeug in die Luft gesprengt. Zusammen mit einer Unternehmerin, die in diesen Waffendeal ebenfalls verstrickt war. Und alles, was von beiden übriggeblieben war, waren zwei Backenzähne, anhand derer man die beiden Frauen identifizieren konnte. Das war die offizielle Version. Und außer Matt kannte wohl niemand die Inoffizielle. Bis auf Simone natürlich. Doch von ihr hatte er schon seit elf Monaten nichts mehr gehört. Das Letzte war eine SMS aus Panama. Ihr gehe es gut. Und sie melde sich, sobald mehr Gras über die ganze Sache gewachsen sei. Doch so wie es aussah, würde daraus wohl eher ein Dschungel werden, bis er das nächste Mal etwas von ihr hörte.
»Matt, musst du nicht los?«
Matt klickte Simones SMS aus Panama weg, stand auf und meinte:
»Ist gut, werde meine Mutter besuchen, aber nur, weil du den heißesten Hintern von ganz Berlin hast.«
»Schon gut, du Sexist. Seh dich heut Abend«, sagte Anabelle und gab Matt einen Kuss auf den Mund.
Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, lief sie wieder ins Wohnzimmer. Sie griff nach der Tasche mit den Badesachen und brachte sie ins Schlafzimmer. Packte ihren Bikini, Matts Badeshorts und die Schwimmflügel des kleinen Pauls aus. Verstaute alles wieder im Schrank und setzte sich aufs Bett.
In solchen Momenten hasste sie Matts Job. Würde den Verbrechern am liebsten die Faust ins Gesicht klatschen. Wenigstens am Wochenende könnten sich diese Freaks mal zurückhalten. Aber wie sagte Matt ihr oft, wenn sie deshalb wütend war:
»Ist halt mein Job. Was soll ich machen?«
Und Anabelle schrie dann in solchen Momenten manchmal zurück: »Dann besorg dir vielleicht ´ne andere Stelle, beim BND oder BKA. Was weiß ich? Jedenfalls, wo´s geregelte Arbeitszeiten gibt.«
Auch wenn sie wusste, auf wenn sie sich da einließ, dass sein Job so oft gemeinsame Familienerlebnisse im letzten Moment verhindern konnte, nervte sie bisweilen sehr. Und Matts schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter lag da nur knapp dahinter. Sicher, seine Mutter war nun wahrlich kein Engel, aber irgendwann sollte man die Vergangenheit auch mal hinter sich lassen, warf sie Matt oft vor. Dein Sohn kann schließlich nichts für eure Probleme und er hat nun mal ein Recht darauf, seine Großmutter zu sehen, meinte sie erst vor ein paar Tagen zu ihm. Anderseits verstand Anabelle aber auch ihren Mann. Matts Probleme in seinem früheren Job beim LKA 4 (Abteilung Organisierte Kriminalität) und auch schon während des Studiums wären ohne das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter niemals so eklatant geworden. Vielleicht rührte daher Matts Hunger nach Erfolg, Anerkennung und immer einhundertprozentigem Einsatz bei seinem Job. Seine Mutter, selbst Staatsanwältin, war nie sonderlich angetan von seiner Polizeikarriere, hatte ihm ohnehin nie viel zugetraut, weder in der Schule noch im Studium… ihm nur immer wieder vorgeworfen, wenn er so weitermachte, würde er auch mal enden wie sein nichtsnutziger Vater, der einfach auf und davon ging und sie mit ihrem Sohn im Stich ließ.
Und obwohl Anabelle das alles von Matt wusste, wollte sie dennoch, dass er seine Wut und tiefe Abneigung gegen seine Mutter endlich hinter sich ließe. Doch so, wie sie Matt nun mal kannte, und es gab vermutlich niemand auf der Welt, der Matt besser kannte, würde Matt das nur gelingen, wenn er irgendwann mal verstand, dass eine Familie nicht immer perfekt sein musste. Alle Familien ihre schwarzen Schafe und ihre dunklen Seiten hatten, doch wenn es darauf ankam, die Familie nun mal füreinander da war.
Gelbe Rosenbüsche und Rosenbäume in rosé waren hier wirklich überall, dachte Matt, als er langsam den geteerten Weg durch die Laubensiedlung lief. Dazwischen blau oder rot gestrichene kleine Holzhäuser mit Hollywoodschaukeln oder einfachen Holzbänken auf raspelkurzem Rasen. Dann wieder gemauerte, weißgestrichene Flachdach-Mini-Bungalows, mit großen, holzverkleideten Whirlpools, bei denen man sich unweigerlich fragte, waren das noch Laubenpieperhütten oder schon die Vorboten einer Schrebergarten-Gentrifizierung.
Von weitem sah Matt das Absperrband, das die Laube vor neugierigen Schaulustigen fernhielt. Dahinter mindestens zehn Menschen in weißen Einwegoveralls, von der Kriminaltechnik, der Spurensicherung, der Rechtsmedizin und dazwischen ein Tatortfotograf. Da kam sein Kollege Meyer unter dem Absperrband auf Matt zu, in der Hand einen Overall.
»Hier«
»Danke. Kurzes Update.«
»Zwei männliche Leichen. Zahlreiche Messerstiche. Sieht aus, als ob die beiden sich im Rausch gegenseitig abgestochen hätten. Sanovski will Sie noch sprechen.«
»Ist er noch?«
»Ah, geht schon. Scheint wieder auf normaler Betriebstemperatur.«
Matt ging unter dem Absperrband hindurch, hörte, wie ein paar Laubenbesitzer hinter ihm tuschelten. Er zog den Overall über und lief den Kieselsteinweg entlang bis zur Eingangstür der Gartenlaube. Sie stand offen. Plötzlich trat ein großer, blonder Mann ins Freie. Er streifte sich die weiße MN-Maske vom Gesicht. Ein wenig blass um die Nase, scannte nervös die Umgebung. Der Anblick von Toten und Blutlachen war nun mal nicht jedermanns Sache. Auch Matt konnte sich nach all den Jahren immer noch nicht daran gewöhnen. Am besten half ihm immer, sich auf den Körper und nicht die Gesichter zu konzentrieren. Der Mann, höchstens vierzig, kantiges, maskulines Gesicht, strahlend weiße Zähne, sehr gepflegte Hände, professionelle Maniküre ziemlich wahrscheinlich, zog sich den Overall aus. Darunter ein dunkelblauer Anzug, perfekt sitzend auf seinem durchtrainierten Körper, dazu ein weißes Button-down-Hemd. Er kam direkt auf Matt zu. Blieb dann etwa drei Meter vor ihm stehen.
»Ah, da ist ja die berühmte Kavallerie. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Haben ja ´ne großartige Aufklärungsquote.«
»Und Sie sind?«
»Staatsanwalt, Dr. Ehrmann. Ich vertrete Dr. Hansen. Corona… Hat ihn schwer erwischt. Liegt immer noch flach. Ältere Jahrgänge sind da wohl gefährdeter.«
»Wenn Sie das sagen. Ist Sanovski noch drinnen?«
»Vor einer Minute war er es noch. Ach, und Kowalski, Sie klären mir diese Sache rasch auf, ja! Ich verlasse mich da auf sie und ihr Team.«
»Klar doch. Wir sind gerne behilflich. Der Oberstaatsanwalt geht übrigens nächstes Jahr in Pension.«
»Und immer ein Scherz auf den Lippen, was?! Gefällt mir. Ich sehe schon, wir verstehen uns.«
Dann zog Dr. Ehrmann ein Taschentuch aus seiner Anzugshose und putzte sich die Nase, als ob ihn was juckte.
»Blöde Pollenallergie. Jedes Jahr dasselbe. Was wollen Sie machen?«
»Wollen mal hoffen, es ist nicht das Virus und Sie sind einer der Symptomfreien mit leichtem Schnupfen?«
»Malen Sie den … sie wissen schon… bloß nicht an die Wand.«
»Bringt mein Job manchmal so mit sich. Anderseits durchtrainiert und fit wie Sie sind, würde ich mir da keine Sorgen machen.«
Dr. Ehrmann lächelte und entfernte sich. Matt betrat die Gartenlaube, setzte seine Schutzmaske auf und dachte, nicht alles, was nach Pollenallergie aussah, musste auch eine sein. Falsche Nasenhaarentfernung, zu häufiger Gebrauch von Nasenspray oder zu viel Koks durch die Nase gezogen, führten gelegentlich auch zu juckenden Nasen. Aber warum sollte Dr. Ehrmann, dieser durchtrainierte, fitte Staatsanwalt eine Koksnase sein?
Obwohl, Ehrgeiz, Aufstiegsstress, Privatleben, Gründe gab es immer. Und Bezugsquellen zuhauf. Matt kannte das nur zu gut. Als Teenager und später als Student sich in Paralleluniversen wegzunehmen, weil einem die narzisstische Mutter, weil einem Versagens- und Zukunftsängste oft den Schlaf und die Antriebsenergie raubten. Auch wenn er seit Jahren bis auf ein paar Joints nichts mehr angerührt hatte, auf der Hut vor diesen Drogen war er immer. Schon Anabelle und dem kleinen Paul zuliebe. Immerhin schien sein Gehirn heute Morgen schon auf Trab zu sein, obwohl er noch nicht mal seinen Kaffee getrunken hatte. Und der Grund dafür kam gerade auf ihn zugestürmt.
»Na endlich, Kowalski. Wird aber auch Zeit«, sagte Sanovski, Chef der forensischen Kriminaltechnik.
»Ich sollte gar nicht hier sein.«
»Ihr freier Tag, ich weiß. Aber Sie wissen wie knapp meine Ressourcen sind. Bin ja schon froh, dass wir endlich wieder jemand für die DNA-Auswertung gekriegt haben.«
»So schlimm?«
»Schlimmer. Und wenn Sie noch fehlen, wird alles noch…«
»Übertreiben Sie mal nicht.«
»Schauen Sie, als ich Ihren Meyer vorhin fragte, nach was sieht es hier aus? Was sagt dieser Grünschnabel zu mir? Zwei Betrunkene, die sich im Suff gegenseitig abgestochen haben.«
Matt näherte sich bis auf wenige Meter den beiden Opfern, die immer noch in ihrem Blut auf dem Boden lagen. Er scannte die Szenerie, sah die Verwüstung am Boden, die Büchsenravioli auf dem Sofa und wie beide Männer jeweils auf dem Rücken liegend mit einer Hand ihre Tatwaffen umklammerten. Er ging näher, vermied, in die Gesichter der beiden zu schauen, sah sich nochmals genauer die Blutlachen an. Da bemerkte er einen Abdruck, ganz am äußeren Rand einer blutigen Pfütze, kaum zu erkennen neben dem dicken Bauch eines der Opfer. Der Abdruck erinnerte ihn irgendwie an ein Knie, ein schmales Knie, als ob jemand neben dem Opfer gekniet hätte. Matt erinnerte sich an den vergangenen Sonntag, als er mit Anabelle und Paul auf dem Spielplatz war und alle drei eine Burg im Sandkasten bauten. Als Anabelle aufstand und für Paul etwas zu trinken holte, sah er ihren Knieabdruck im Sand und dachte noch, wie zart, wie klein doch ihre Knie waren. Und dabei konnte sie mit ihren Beinen verdammt viel Kraft entwickeln, wenn sie das wollte.
Dieser Knieabdruck hier schien auch eher von einer Frau zu sein, jedenfalls unmöglich von den Knien dieser Männer. Selbst wenn man die Hosen gedanklich eliminierte, war der Durchmesser ihrer Kniescheiben vermutlich eineinhalbmal so groß. Matt erhob sich wieder. Sanovski, der Chef der KTU, klopfte mit dem Zeigefinger auf seine Wange.
»Und was meinen Sie, Kowalski?«
»Irgendwas stimmt nicht. Die Unordnung, diese Ravioli, als ob sie jemand auf einmal ausgeschüttet hätte.«
»Interessant. Fahren Sie fort.«
»Die umgeworfenen Tischlampen, die Stühle. Liegen mir zu perfekt auf der Seite und jeder in derselben Richtung. Also ob einer es unbedingt nach einem Kampf aussehen lassen wollte. Und wie die Opfer daliegen. Beide auf dem Rücken. Man könnte doch annehmen, bei einem Kampf lägen sie vielleicht übereinander gebeugt oder jedenfalls näher zusammen. Haben Sie ein Tuch?«
»Nehmen Sie das hier«. Sanovski bückte sich und reichte ihm ein Wischtuch aus seiner Tasche am Boden. Matt nahm es, hatte seine Einweghandschuhe wie so oft vergessen und lief zur Küchentheke. Er öffnete mit dem Tuch vorsichtig eine Schublade und zog sie dann ganz auf. Er beugte sich etwas tiefer, den Kopf näher zur Schublade und griff nach einem Messer.
»Sehen Sie, habe ich mir doch gedacht. Ist dasselbe wie bei den Opfern hier. Selbes Fabrikat. Nur etwas kleiner.«
»Ja, und?«
»Beide gehen zur Küchenschublade, holen sich ein Messer und stechen sich dann gegenseitig ab. Ich bitte Sie. Gut, nicht völlig ausgeschlossen. Aber…«
»Aber was?«
»Könnte doch sein, dass jemand die beiden vorher betäubte, sie dann mit den Messern tötete und ihnen anschließend die Messer in die Hand legte. Wenn, dann wusste der Täter oder die Täterin aber, dass sich solch große Messer hier befanden. Er oder sie kannte sich also aus. Näheres Opferumfeld, Sie verstehen?!«
»Wie kommen Sie darauf, dass es auch eine Täterin gewesen sein könnte. Und es nicht so war wie Ihr Meyer vermutet: Gewalttat, die im Suff außer Kontrolle geriet?«
»Haben Sie diesen Knieabdruck hier gesehen.« Matt zeigte Sanovski die Stelle.
»Oh. Glatt übersehen und Sie meinen, der...?«
»…stammt von einer Frau. Oder einem Mädchen. Der Durchmesser passt nicht zu den beiden Männerknien hier.«
»Nur mal angenommen, Sie hätten Recht. Dann wäre es aber gut, ich fände nachher im Blut der beiden irgendein nachweisbares Barbiturat oder sonstiges Betäubungsmittel.«
»Klar, wäre das gut. Im Blut ist sowas sechs Stunden, im Urin acht bis neun Stunden nachweisbar. Wann schätzen Sie den ungefähren Todeszeitpunkt der beiden?«
»Nach der Körpertemperatur zu urteilen, so grob gegen 0.30 oder 1.00 Uhr Nacht.«
Matt schaute auf seine Uhr.
»Wir haben jetzt 6 Uhr 35. Dann aber mal ran an die Buletten.«
»Ich muss zugeben, Kowalski, Sie haben einiges dazugelernt.«
»Übertreiben Sie mal nicht. Ein bisschen Operative Fallanalyse hier und da, wenn mich der Chef der OFA mal dazu gebeten hat… bleibt eben manchmal was hängen.«
Danach ging alles recht schnell. Sanovski beorderte per Anruf zwei Mitarbeiter, die bereits draußen vor der Türe warteten, um die beiden Leichen einzupacken und sie anschließend ins rechtsmedizinische Institut zu bringen, damit er sie in spätestens dreißig Minuten auf seinem Tisch hatte.
Matt ging wieder nach draußen und suchte Meyer. Der stand beim Tatortfotografen und schien ein Schwätzchen zu halten.
»Meyer, wenn ich Sie mal kurz bitten dürfte.« Dabei winkte er Meyer zu sich.
»Komme.«
Matt fragte Meyer, ob er schon mögliche Zeugen ausfindig gemacht und wenn ja, hoffentlich diese einzeln befragt hätte, damit sie sich nicht gegenseitig beim Erinnern beeinflussten. Doch Meyer sei noch nicht dazugekommen, wolle sich aber gleich daran machen.
»Ok. Dann gehen Sie jetzt mal zu dem Ehepaar, das da links hinter dem Absperrband steht. Die zwei, die ihre Arme vor der Brust verschränken. Sehen Sie die?«
»Klar Chef. Und warum gerade die?«
»Erfahrungswerte. Die, die Arme verschränken sind erstmal verschlossen, haben aber oft am meisten zu berichten. Und da fällt immer was für uns ab. Und Meyer, einzeln. Erst den Mann, dann die Frau.«
»Warum zuerst den Mann?«
»Frauen sind bei Befragungen meist scheuer, lassen ihren Männern oft den Vortritt.«
»Ihr Frauenbild ist aber auch nicht gerade auf dem neuesten Stand.«
»Bitte heute keine Gendernummer, ok Meyer.«
Um es kurz zu machen, Matt Kowalski hatte nicht Recht, was die Schüchternheit der Ehefrau anging. Was die Brotkrümel anbelangte, die für sie dabei abfielen und die Ermittlung letztlich weiterbrachten, dagegen schon. Als Meyer auf das ältere Ehepaar zukam, und erst den Mann bat, sich kurz mit ihm da drüben allein zu unterhalten, grätschte die Ehefrau, die sich mit Frau Teder vorstellte, gleich dazwischen. Meinte, ihr Mann könne gar nichts beobachtet haben, der schlafe nachts immer wie ein toter Sack. Ob er denn vielleicht was am frühen Abend beobachtet habe, versuchte Meyer den milde lächelnden Mann von Frau Teder wieder mit ins Boot der Befragung zu holen. Doch der Mann winkte nur ab, nickte und bedeutetet per Fingerzeig, seine Frau da besser zu befragen. Sonst, so schienen seine müde blickenden Augen zu flüstern, hinge bei ihm womöglich der Haussegen wieder schief, und das war nun mal das Letzte, was der ältere Mann wollte. Jedenfalls kam es Matt so vor, der das Ganze von der Ferne beobachtete, sich dann entschied, zu den drei rüberzugehen und den älteren Mann allein zu befragen. In der Zwischenzeit erzählte Frau Teder Assistent Meyer von einer jungen Frau, die am frühen Abend so gegen 20 Uhr oder 20.30 Uhr zu den beiden Opfern in die Gartenlaube ging, genau wisse sie die Uhrzeit nicht mehr, aber es war noch nicht ganz dunkel draußen. Jedenfalls sei die junge blonde Frau zu den beiden Männern reingegangen und hätte auch kurz vor Mitternacht, als sie selbst ins Bett ging, die Laube noch nicht wieder verlassen.
»Haben Sie da auf die Uhr geschaut, oder woher wissen Sie, dass es da gerade kurz vor Mitternacht war?«, fragte Matt.
»Ganz einfach, bis 23.45 läuft immer meine Lieblingstalkshow Riverboat.«
Danach nehme sie den kleinen Fernseher vom Terrassentisch und gehe nach drinnen. Auf dem Nachbargrundstück brannte in der Gartenlaube aber immer noch Licht, und wenn jemand herausgekommen wäre, dann hätte sie das gesehen… im Laternenlicht. Ihr Terrassentisch stünde nämlich genau gegenüber dem Gartentor der Blankes.