Dieser verdammte Moment - Marc B. Rey - E-Book

Dieser verdammte Moment E-Book

Marc B. Rey

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Beschreibung

Was passiert, wenn rachsüchtige Witwen, eiskalte Freundinnen und verständnisvolle Berufskiller an diesen verdammten Moment geraten? Wenn ausgebrannte Agenten, sadistischen Söldner, gieriger Gen-Z-Nachwuchs und hoffnungsfrohe Hacker auch an diesen Point-of-no-Return gelangen, wo jede Entscheidung die letzte sein kann. Und egal, wie sich all diese Männer und Frauen am Ende auch entscheiden, ob in Arizona, Mexiko, Berlin oder Rotterdam. Ihr Leben wird danach nie mehr so sein, wie es war. Denn nur, wer das Geheimnis kennt, wie man sich am besten in diesem verdammten Moment entscheidet, wird davonkommen. Auch wenn alle immer im Jetzt leben wollen, die Vergangenheit vergisst einen nicht. Nicht, wenn du Dinge getan hast, die du besser nicht getan hättest. Und alles wird bestimmt von einem schrecklichen Plan. Und seine Uhr tickt gnadenlos. Ein neuer Fall für Matt Kowalski, Clara Castro, Fleur Forlaine, Wolfgang Willer, Jack Sanders, Simone Resolca und noch ein paar andere.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Dieser verdammte Moment

Berlin Psycho

Teil 3

Marc B. Rey

Dieser verdammte Moment - Berlin Psycho III

Copyright © Marc B. Rey, 2023

Umschlaggestaltung: Patrick Möller

Bildnachweis:

Titelbild Foto: Adobe Stock #323475330, Shutterstock #1600295170

Erstausgabe, 2023

ISBN: 9783757942106

Independently published

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Aufzeichnung oder durch ein Informationsspeicherungs- und Abrufsystem, reproduziert oder verwendet werden.

Dies ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebenden oder toten, Ereignissen oder Orten ist völlig zufällig.

Herausgeber:

Marc B. Rey

c/o Patmo.de – Patrick Möller

Lüneburger Str. 10

10557 Berlin, Deutschland

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Personenverzeichnis

Kurzglossar

Über das Buch

Über den Autor

Weitere Bücher

Prolog

Es war nun über neun Monate her, seit Clara Covic fünf Männer umgebracht hatte. Oder wie sie Jack Sanders von der CIA einmal gestand: »Es war einfach Zeit, aufzuräumen.«

Jack war im Laufe seiner Agententätigkeit schon so manchen Schicksalen begegnet, aber das von Clara war dann doch zu heftig, als dass er kein Verständnis für ihre Taten hätte aufbringen können. So stimmte er ihr damals zu: »Die Fünf hatten es verdient.«

Die ersten beiden Opfer, denen Clara damalsden Stecker zog, hatten es jahrelang genossen, sie als Teenager zu missbrauchen und zu vergewaltigen. Der dritte Tote war Claras Stiefvater, der sie zu jener Zeit seinen beiden Kumpels für ihre Spiele überlassen und manchmal sogar selbst dran teilgenommen hatte. Er wurde dann zwölf Jahre später, am Stuhl gefesselt, von Clara mit einem Stück Apfel qualvoll erstickt. Der Vierte, den Clara über die Klinge springen ließ, war ein psychopathischer Freier. In ihrer Zeit als Callgirl lebte dieser Typ seine sexuellen Fantasien immer wieder aufs Brutalste mit ihr aus … auch, weil er wusste, er war der Einzige, der die teuren Augenoperationen ihrer Tochter bezahlen konnte. Vielleicht gerade deshalb rammte sie ihm damals vor knapp neun Monaten einen Metalldildo über die Augenhöhle tief in sein Gehirn.

Dieser Typ glaubte, er würde ganz unverhofft ein Sexdate mit Clara bekommen, doch er durfte nur kurz ihre nackte Haut spüren, bevor sie damals hasserfüllt zuschlug. Und der Fünfte schließlich, ein libanesisch-stämmiger Clanchef aus Berlin, hatte Claras kleine Tochter bei einem rücksichtslosen Autorennen getötet. Hatte ihr das Liebste, was sie hatte, für immer entrissen, wegen zu viel Testosteron und zu viel Eitelkeit.

Die fälschliche Diagnose ihres inoperablen Gehirntumors, nach der sie angeblich nur noch wenige Wochen zu leben hatte, war tragisch und ironisch zugleich. Tragisch, weil die Verwechslung ihrer Patientenunterlagen durch das ärztliche Personal der berühmte letzte Tropfen war. Das letzte Bisschen was fehlte, um in ihrem Leben endlich aufzuräumen und diese Morde zu begehen. Ironisch, weil sie im Laufe ihrer Morde dem CIA-Agenten Jack Sanders begegnet war … und so ungewollt zu einer wichtigen Schlüsselfigur für eine geheime CIA Operation wurde. Jack dabei dreimal das Leben rettete und mit ihm und anderen gerade noch ein Fiasko dieser geheimen Mission erfolgreich verhindern konnte.

Das blieb an höherer CIA-Stelle natürlich nicht unbemerkt. Was zur Folge hatte, dass danach in Langley alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um Clara Covic vor einer Haftstrafe wegen fünffachen Mordes zu bewahren. Am Ende erhielt Clara sogar eine Ausbildung zur CIA-Agentin. Auch wenn dem damals ermittelnden Berliner Hauptkommissar Matt Kowalski das gehörig gegen den Strich ging. Doch wenn Amerikaner etwas unbedingt wollten, dabei noch ihre Kontakte im Innenministerium spielen ließen, dann bekamen sie es am Ende meistens auch. Auch Matt und sein ehemaliger Kollege aus der OK (Abteilung des LKA gegen organisierte Kriminalität), Wolfgang Willer, waren nach diesem letzten Fall die Karriereleiter nach oben geklettert. Genauer gesagt, wechselten die beiden mit B6 Bezügen zum BND an die Chausseestraße in Berlin-Mitte. Arbeiteten dort seit einigen Monaten in den Abteilungen für Internationale Organisierte Kriminalität, Spezialbereich: Internationaler Drogen- und Waffenhandel.

Die vergangenen Monate hatten aber auch anderswo Veränderungen hinterlassen.

Donald Trump war abgewählt, ein noch optimistischer Joe Biden an seine Stelle gerückt. Die Welt schien dennoch mehrheitlich erleichtert, endlich wieder demokratische Luft aus Washington atmen zu können. Nach vier Jahren Schnappatmung war das auch bitter nötig. Und auch dieser verdammten Pandemie schien im Frühsommer 2021 endlich die Luft auszugehen, glaubten die Menschen. Zumindest in Europa und den USA. Weil Impfstoffe endlich in ausreichender Menge zur Verfügung standen, genauso wie die Menschen in den immer länger werdenden Schlangen vor den Impfstätten. Lockdowns waren aufgehoben, Reisen wieder leichter möglich, selbst Restaurantbesuche im Freien wieder erwünscht. Und wer bereits einen Impfpass hatte, für den war beinahe alles wieder erlaubt. Fast schien es, als käme das alte Leben für die meisten langsam wieder zurück. Aber das alte Leben kam niemals zurück. Es war einfach vergangen. Nur die Vergangenheit blieb einem erhalten. Doch wenn man Glück und nicht allzu viel angestellt hatte, dann ließ sie einen meistens in Ruhe. Nur wenn man Dinge getan hatte, die man besser nicht getan hätte, dann fand einen die Vergangenheit. Früher oder später. Bei Clara Covic war das so. Auch wenn die CIA Claras altes Leben wie mit einem digitalen Schwamm entfernt hatte … sie angeblich bei der Flucht über die Ostsee ums Leben gekommen war … so standen auf der Sollseite ihres früheren Lebens immer noch fünf Morde. Von den anderen Toten, zumeist Mitglieder des Omar Baba Sharif Clans, die sie ebenfalls auf dem Gewissen hatte, als sie Jack Sanders auf dem Weg nach Kolberg das Leben retten musste, mal abgesehen. Könnte Clara eigentlich egal sein, denn all jene, die Clara damals gesehen hatten, waren jetzt tot. Und sonst kannte sie niemand im Clan. Sie war ja in ihrem alten Leben bloß eine kleine Reinigungskraft und nur gelegentlich als Escort tätig gewesen, jedoch nie für arabische Männer. Oder wie Clara sich damals in ihren Internetanzeigen ausdrückte: keine Südländer. Nichts Persönliches, nur leider schlechte Erfahrungen gemacht. Doch Claras letztes und fünftes Mordopfer, damals in den Fluten des polnischen Hafens, als sie Omar Baba Sharif ein großes Militärmesser in den Kopf rammte, das war eine andere Hausnummer. Clara konnte ja nicht ahnen, dass dieser libanesisch stämmige Clanchef aus dem organisierten Verbrechen aussteigen wollte. Endlich mit seiner zweiten Frau das Leben in Ruhe und Frieden genießen mochte. Über drei Jahre hatte sich seine Frau darauf gefreut. Weg von Blut und Tod, Angst und Brutalität. Aber auch junge Witwen, besonders von mächtigen Clanchefs, mussten sich irgendwann wieder der Realität stellen. Mussten Dinge tun, für die in ihrer Trauer eigentlich kein Platz war oder sein sollte. Mussten Rechnungen bezahlen, Clan-Interessen wahren, Geschäfte weiterführen. Und Witwen, besonders traurige und wütende Witwen, konnten manchmal sehr nachtragend sein. Warum Clara in wenigen Stunden aus ihrem Schlaf gerissen werden sollte, hatte allerdings einen anderen Grund. Dessen Folgen aber für Clara und andere nicht im Entferntesten abzusehen waren. Und die am Ende beinahe alles, was Clara in ihrem früheren Leben erlebt hatte, in den Schatten stellen sollten. Und Clara durfte in ihrem bisherigen Leben nun wahrlich bereits eine Menge an brutalen Erfahrungen sammeln. Missbrauch, Vergewaltigung, gewalttätige Freier, Drogenexzesse, den Tod ihrer kleinen Tochter, das blutige Aufräumen mit ihrer Vergangenheit und die tödlichen Ereignisse im polnischen Kolberg.

Damals vor neun Monaten, als Clara mit einer ihr unbekannten Frau in diesem polnischen Küstenstädtchen Kolberg zusammengestoßen war, während sie diesen Berliner Clanchef Omar Baba Sharif gerade durch die Gassen der Altstadt verfolgte. Nachdem die Frau, die eigentlich Fleur Forlaine hieß, damals wieder verschwunden war, sah Clara einen USB-Stick auf dem Boden liegen, der dieser Frau wohl aus ihrem Mantel gefallen sein musste. Ohne weiter darüber nachzudenken, hob Clara das schwarze Ding auf und verstaute es in der Brusttasche ihrer Cordjacke. Und so begann das, was man wohl Schicksal nannte. Das eigentlich Verrückte daran war, dass Clara in all den Monaten diesen Stick einfach vergessen hatte. Dieses kleine schwarze Ding, das die ganze Zeit über ein friedliches Dasein in ihrer Cordjacke fristen musste. Und die Wetten standen nicht schlecht, dass diese kleine Unachtsamkeit Claras ihrem Schicksal noch einen gehörigen Boost verleihen würde. Doch, hey … Claras Morde damals in Berlin, dabei einem leitenden CIA-Agenten auf dem Weg nach Kolberg dreimal das Leben gerettet, was Clara letztlich den Job bei der CIA eingebracht hatte, dazu dieses harte Ausbildungsprogramm, das Clara in den vergangenen Monaten an verschiedenen Standorten durchlaufen musste … wer zur Hölle dachte da eigentlich an einen kleinen, schwarzen Speicherstift. An einen verdammten Stick, den sie damals in dieser regenreichen polnischen Nacht, mehr aus Reflex als Instinkt, aufgehoben hatte.

* * *

Claras CIA-Agenten Spezialprogramm in den Staaten war nun seit knapp drei Wochen beendet. Normalerweise müsste sie noch zwei weitere Jahre dranhängen bis zum Abschluss. Doch Jacks Vater, Steve Sanders, ließ seine Beziehungen als ehemaliger CIA-Direktor der Berlin Station spielen. Wer dreimal seinem Sohn das Leben gerettet hatte, für den galten nun mal andere Regeln. Clara zeigte allerdings auch außergewöhnlichen Fleiß und Einsatzbereitschaft während ihrer Trainingseinheiten. Sie waren bei den meisten Sessions bis an ihre absoluten Grenzen gegangen. Auch ihr Englisch sprudelte mittlerweile fast fließend aus ihrem sinnlichen Mund. Mit leichtem Südstaaten-Akzent, dank ihrer Privatlehrerin aus Phoenix, Arizona, die Jack Sanders ihr extra besorgt hatte. Und seit knapp zwei Wochen war Clara wieder in Berlin, genauer gesagt in der Berlin Station, nur unweit des Brandenburger Tors. Mit druckfrischem amerikanischem Pass, ausgestellt auf Clara Castro, einer SIG Sauer P228 als Dienstwaffe und deutlich kürzeren Haaren. Tob Bob nannte ihr Berliner Lieblingsfriseur diesen Haarschnitt. Hatte Claras schulterlange, dunklen Haare mal eben auf Kinnlänge fransig durch gestuft. Oder wie Clara anschließend beim Betrachten im Spiegel meinte:

»Wow. Schnipp, Schnapp und schon sind fünfzehn Jahre ab.«

Aber dabei handelte es sich ja nur um Haare, die bekanntermaßen leicht vom Körper zu entfernen waren. Wenn sich jedoch nicht Friseure, sondern Auftragskiller und Sicarios darum kümmern sollten, Dinge zu entfernen oder in Erfahrung zu bringen, bevor sie ihren Auftrag zu Ende brachten, dann lief vieles bedeutend blutiger und schmerzhafter ab und gelegentlich auch völlig aus dem Ruder.

Doch davon waren Clara Castro, Jack Sanders, Simone Resolca, Matt Kowalski, Wolfgang Willer, Fleur Forlaine und ein paar andere noch mindestens achtundvierzig Stunden entfernt. Auch dieser ältere Herr, dem Clara bisher noch nie persönlich begegnet war, und sie am Ende wieder in diese Geschichte hineinziehen sollte, war noch mindestens neunhundertdreißig Kilometer entfernt.

KapitelEins

Plötzlich vibrierte Clara Castros iPhone. Unbekannte Nummer leuchtete im Display. Es zeigte 5:33 Uhr, Montag, 21. Juni 2021, an. Ihre Stirn schmerzte. Die Drinks mit ihren neuen CIA-Kollegen der Berlin Station waren wohl doch ein paar Runden zu heftig ausgefallen. Jedenfalls fühlte sich die Stelle, wo normalerweise ihr präfrontaler Cortex um diese Zeit friedlich schlummerte, so an, als sei dort über Nacht eine Armada Presslufthammer eingezogen. Müde und mit Mundgeruch nach zu viel Tequilas griff sie nach ihrem Handy auf dem Nachtisch.

Merkwürdig, dachte sie. Wer sollte sie jetzt um kurz nach halb sechs anrufen. Die wenigen Freunde aus Berlin, die ihr noch verblieben waren, würden nicht mit unterdrückter Rufnummer anrufen. Und Familie hatte sie auch keine mehr.

Nun ja, das stimmte nicht ganz. Auch wenn Clara daran nun wirklich nicht denken musste. Schließlich hatte sie vor über zwanzig Jahren zuletzt diese Stimme gehört.

Clara drückte auf die grüne Taste. Und würde sie nur die leiseste Ahnung gehabt haben, in was für eine Geschichte sie dieser Anruf am Ende hineinzog, bei Gott, sie hätte das Smartphone auf der Stelle aus dem Fenster gefeuert. So aber nahm alles seinen Lauf. Und das Schicksal machte seinem Namen mal wieder alle Ehre: Keiner entkommt ihm, weil das Schicksal nun mal keine Moral kennt.

»Ja«, sagte Clara.

»Hier spricht dein Vater.«

»Was?! Unmöglich. Mein Vater ist tot.«

»Hat dir das deine Mutter erzählt.«

»Wer sich zwanzig Jahre einen Scheiß um seine Familie kümmert, der ist tot. Jedenfalls für mich.«

»Ich weiß, Clara, aber ich brauche deine Hilfe.«

»Und wer sagt mir, dass du wirklich mein Vater bist.«

»Du trägst ein Muttermal hinter deinem rechten Ohrläppchen. Wie deine Großmutter. Und deine Lieblingspuppe hieß Marie.«

Clara schob ihre Bettdecke zur Seite, stand auf und lief Richtung Bad. Auf dem Weg dahin stolperte sie über ihre weißen Chuck-Converse-Boots, sodass sie beinahe der Länge nach hinfiel, sich gerade noch am Türgriff der Badezimmertür festhalten konnte. Immerhin war sie nun wach. Sie machte das Licht an und lief zum Spiegel. Sie bog ihr rechtes Ohrläppchen um und betrachtete es mit einem Handspiegel, der auf dem Waschbecken lag. Tatsächlich, da war ein kleines, braunes Muttermal. War ihr bisher nie aufgefallen. Und ihre Lieblingspuppe hieß auch Marie. So wie ihr kleiner Engel, der ihr vor über einem Jahr durch diesen wahnsinnigen Raser genommen wurde. Wenigstens konnte dieser Omar Baba Sharif nie wieder ein Mädchen töten. Dafür hatte sie gesorgt.

»Woher hast du meine Nummer?«

»Lange Geschichte«

»Dann kürze sie ab.«

»Keine Zeit.«

»OK. Angenommen, du sagst die Wahrheit … warum zur Hölle sollte ich dir helfen?«

»Weil ich dein Vater bin. Und …«

»Deine Floskeln kannst du dir sonst wo hinschieben. Ich musste bisher fast mein ganzes Leben ohne dich überstehen. Und das war, bei Gott, ein einziger beschissener Albtraum. Also, lass mich einfach in Ruhe.«

»Leg nicht auf. Bitte!« Dann ein kurzes Stöhnen. »Sonst bringen die mich um. Und die Kleine auch.«

»Hör zu, ich weiß nicht, wen du alles in den letzten zwanzig Jahren geschwängert hast, aber offen gesagt, ist mir das dermaßen egal!«

Plötzlich hörte sie eine andere Männerstimme im Hintergrund. Sie klang tief und kratzig, als ob dieser Mensch zu viel rauchte. Das Einzige, was sie verstand, war das russische Wörtchen: »Davy! (Na los!)«

Dann offenbar ein Schlag. Ob ins Gesicht oder auf den Körper, war schwer auszumachen. Jedenfalls kam ihr das Geräusch bekannt vor. Erinnerte sie an früher, als ihr Stiefvater sie manchmal schlug.

»Heute Abend, 6 PM bist du in Rotterdam, Markthalle West Eingang. Dann bekommst du weitere Instruktionen«, sagte die kratzige Stimme auf Englisch.

»Ach ja. Und warum sollte ich das tun?«

Dann poppte ein Bild auf ihrem Smartphone auf. Ein blutig geschlagenes Gesicht, das knapp einen Meter über einem Steinboden baumelte. Der dazugehörige Körper eines Mannes war an seinen Fußgelenken mit Eisenketten aufgehängt. Dann kam ein weiteres Bild. Ein kleines Mädchen in einem anderen Raum, mit dunklen, geflochtenen Haaren und brauner Haut wie nach sechs Wochen Urlaub am Mittelmeer. Ihr Mund verklebt, ihr Körper gefesselt auf einem Stuhl. Clara wischte wieder zurück zum Bild des blutig geschlagenen Männergesichts, das über dem Boden schwebte … und Clara an ihren Vater erinnerte. Zumindest war da diese Nase im Gesicht des Mannes. Groß und wuchtig wie bei ihrem Vater, über die ihre Mutter manchmal lästerte: ›Wie bei Pinocchio‹

Und Clara fragte damals: ›Wer ist Pinocchio?‹

›Jemand, der mehr erzählte, als er sollte‹, sagte ihre Mutter.

»Hey, bist du noch dran?«, fragte die raue Stimme auf Englisch mit hörbar russischem Akzent.«

»Was hast du erwartet? Dass ich auflege, bei so hübschen bunten Bildern«, sagte Clara.

»Auch noch witzig. Jedenfalls weißt du jetzt warum. Und bring den verdammten Stick mit!«

»Welchen Stick?«

»Den diese verfluchte Forlaine verloren hat, als ihr in Kolberg zusammengeprallt seid. Also verarsch uns nicht.«

»Wer? Wer verdammt ist diese Forlaine?«

»Keine Zeit für dummes Gequatsche. Seit wann kennst du nicht die Freundin deiner Stiefschwester? «

»Was?«

Im nächsten Moment poppten vier weitere Bilder auf ihrem Handy auf. Offenbar aufgenommen von einer Überwachungskamera. Als sie das erste Bild per Zoom vergrößerte, erkannte sie sich und diese dunkelhaarige Frau im Regenmantel, wie sie damals offenbar mit dieser Forlaine in einer der Seitenstraßen unweit vom Kolberger Hafen zusammengestoßen war. Dann beim Vergrößern des zweiten Bildes war der Stick auf dem Gehweg im Laternenlicht eindeutig zu erkennen. Auf dem dritten und vierten Bild schließlich war Clara deutlich zu sehen, wie sie den Stick aufgehoben und in ihre Cordjacke gesteckt hatte.

Clara ging zu ihrem Kleiderschrank, zog hastig die Tür zur Seite und suchte nach der Cordjacke. Doch sie fand sie nicht. Dann fiel ihr ein, dass sie manchmal Jacken übereinander hing, weil ihr Kleiderschrank eigentlich deutlich zu klein war für die vielen Jacken, die sich im Laufe der Jahre bei ihr angehäuft hatten. Da entdeckte sie die olivgrüne Jacke. Sie hing unter der Bikerjacke. Sie streifte die schwarze Lederjacke ab und feuerte sie auf den Boden. Dann griff sie erst in die rechte, leer, dann in die linke Brusttasche der Cordjacke. Da spürte sie etwas kleines, rechteckiges, das sich gummiert anfühlte. Sie zog es heraus. Es war ein USB-Stick. Sie lief zurück zum Bett und griff nach ihrem iPhone, zeigte das Ding in die Kamera.

»Der hier?«

»Na, also, geht doch. Und keine Bullen. Verstanden!«

»Verstanden.«

Doch eigentlich verstand Clara gar nichts. Außer, dass der Typ am Telefon es offenbar sehr ernst meinte. Doch woher hatte er oder ihr Vater eigentlich ihre Nummer? Und was, verdammt, war so Wichtiges auf diesem Stick? Und was hatte diese Forlaine damit zu tun, die auch noch die Freundin ihrer Stiefschwester sein sollte? Dabei hatte sie überhaupt keine Stiefschwester? Oder doch? Zu viele Fragen, zu wenige Antworten. Und in fünf Stunden sollte sie ihren neuen Boss in der Berlin Station treffen. Seit der neue Präsident vereidigt war, begann auch wieder das Stühlerücken in den Stations. Sei normal, erklärte ihr neulich ein älterer Kollege. Neue Präsidenten hätten nun mal viele Versprechungen einzulösen. Und für neue CIA-Direktoren und Deputies galt dies erst recht.

»Nur das Fußvolk … also wir, bleiben gleich. Vorausgesetzt, wir kommen heil von unseren Einsätzen zurück.«

Sie musste Jack Sanders informieren. Sie will ihr neues Leben in Berlin nicht schon riskieren, bevor es überhaupt angefangen hat. Als erfahrener CIA-Agent wusste er sicher, was zu tun war.

Sie lief zum Kühlschrank in ihrer kleinen Küche, öffnete ihn, holte ein Fläschchen Orangensaft heraus und kippte es in einem Zug hinunter. Da hörte sie ein Geräusch, das vom Balkon zu kommen schien. Als ob sich jemand am Balkonfenster zu schaffen machte. Vielleicht auch nur ein Vogel, der gegen das Fenster geflogen war. Es war schwer zu sagen. Die schweren Vorhänge in ihrer Altbauwohnung, die sie noch vor ein paar Stunden zugezogen hatte, verhinderten den Blick nach draußen. Einzig, der schmale dunkle Spalt, der zwischen den Vorhängen verblieben war, hätte bei Tageslicht eine Chance geboten, was zu erhaschen. Doch da draußen war es immer noch zappenduster an diesem frühsommerlichen Morgen. Sie suchte ihre Pistole im Rucksack, aber da war nichts.

»Fuck.«

Sie lief zum Bett, schaute unter dem Kissen nach. Auch nichts.

»Fuck.«

Da sah Clara, wie eine schmale Frauenhand langsam den Vorhang etwas bei Seite schob. Ein dunkler Stiefel mit schwarzen Profilsohlen kam hervor, es folgte noch einer … dann ging der Vorhang auf und hervor trat:

Fleur Forlaine.

Die Frau von Kolberg, mit der Clara vor knapp neun Monaten dort in einer Seitengasse zusammengeprallt war.

»Du? Scheinst mich ja echt zu vermissen oder was verschafft mir die Ehre?«

Fleur legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen.

»Shush …«, presste Fleur leise hervor.

Jetzt erst bemerkte Clara das Blut am olivfarbenen Parka dieser Frau. Sie schien aber nicht verletzt zu sein, zumindest war auf die Schnelle kein Einschussloch oder eine Stichwunde zu sehen. Dafür tropfte das Blut brustabwärts auf den hellen Parkettboden. Sie zog eine Pistole aus ihrer Parkatasche.

»Suchst du die hier?«, fragte Fleur. Es war Claras Waffe.

»Wo zur Hölle?«

»Später.« Dann warf sie die Waffe rüber zu Clara, die Mühe hatte, das Ding zu fangen.

»Und du bist?«

»Fleur Forlaine, DGSE.«

»Bedeutet?«

»Richtig, bist ja noch ein Newbie«, sagte Fleur und lächelte zum ersten Mal.

»DGSE ist wie CIA mit Pinot Noir.«

»Französischer Geheimdienst? Vermute mal, du bist nicht Teil des Ausbildungsprogramms meines neuen Arbeitgebers?«

»Mit deinen Vermutungen wirst du’s noch weit bringen.«

Plötzlich hörten beide ein leises Geräusch, das von außerhalb der Wohnungstür in der ersten Etage kam. Dann wieder. Als ob jemand den Schließmechanismus der Tür aufbohren wollte. Fleur zog geschwind eine weitere Pistole aus ihrer Jackentasche, danach einen Schalldämpfer, schraubte ihn auf die Pistole und stellte sich vor die Wohnungstür. Dann flüsterte sie leise auf Englisch: »Sorry für die Tür, aber muss sein!«

Dann feuerte sie in kurzen Abständen viermal auf das hölzerne Ding. Erst zwanzig Zentimeter oberhalb der Türklinke, dann einige weitere Male etwas höher. Als ob sie jede erdenkliche Position desjenigen, der da draußen vor der Tür war, berücksichtigen wollte. Behutsam öffnete sie mit ihrer linken Hand die durchlöcherte Tür. In der anderen Hand ihre Waffe im Anschlag. Sie zog die Tür weiter auf, um nachzuschauen, ob ihre Schüsse auch die beabsichtigte Wirkung erzielt hatten. Da sah sie die Umrisse eines Typen mit Gesichtsmaske, blutend auf dem Flur, sein Kopf am Treppengeländer liegend. Mehr Orientierung gab das Zimmerlicht nicht her, dessen schwingende Energieteilchen nur kurz den dunklen Flur erleuchteten. Gerade, als sie in die Hocke ging und dem Typ die Pistole aus der Hand nehmen wollte, traf sie aus dem Dunklen ein Schuss an der Schulter. Sie fiel rücklings auf den Boden zurück ins Zimmer. Die Tür wurde aufgestoßen und ein großer, breitschultriger Typ mit Gesichtsmaske stürmte herein. Wollte Fleur offenbar den Rest geben, da trafen ihn drei Kugeln in Brust, Hals und Kopf. Leise, schnell und wie von einem Profi ausgeführt. Clara warf das zerfetzte Kissen, das ihr als Schalldämpfer gedient hatte, auf den Boden. Sie lief zu Fleur, nachsehen, wie es ihr ging. Die rappelte sich gerade auf, schaute auf ihren Oberarm, auf das kleine Loch in ihrem Parka, an dem allerdings kaum Blut austrat und meinte:

»Schätze, nur Streifschuss. Trotzdem Danke. War knapp.«

»Was wollten die?«

»Den Stick. Du hast ihn doch noch, oder?«

»Keine Sorge.«

»Gut. Gib mir das Ding. Ich mach’ nur eine Kopie. Brauche ich für meinen Boss. «

»Ach ja?«, sagte Clara.

»Du weißt nicht, was da drauf ist? Du erzählst mir jetzt bitte nicht, dass du dir das Video noch nicht angeschaut hast? «

»Welches Video?«

»Na, wo dieser Drecksack Kolliakov Catherine in die Tiefe stürzte. Damals in Moskau.«

»Nein, echt, keine Ahnung.«

»Ich benötige das Video. Ist der Beweis für meinen Boss, dass meine monatelangen Ermittlungen gerechtfertigt waren.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Videos aus Kolberg haben dich eindeutig identifiziert. Erst diesem russischen Söldner von Boris Kolliakov die Kehle durchgeschnitten, dann Jack in den Armen gelegen und danach unser Zusammenprall. Ach, und diesem Omar Sharif hast du ja noch mit 'nem Messer das Gehirn gespalten.«

»Du kennst Jack?«

»Kennen wäre zu viel. Er ist halt bei der CIA kein unbeschriebenes Blatt.«

»Und Jack hat dir meine Adresse einfach so?«

»War nicht allzu schwer.«

Ihr Boss, meinte Fleur, hätte Jack erst offiziell gemailt und ihn dann angerufen. Wollte sich im Namen der französischen Regierung bei dieser Clara bedanken. Sie hätte immerhin diesen Sharif ausgeschaltet, der auch in Paris schon lange wegen diverser Verbrechen und Drogendeals seines Clans auf der Fahndungsliste stand. Würde dazu eine Kollegin nach Berlin schicken, die Clara eine Tapferkeit-Medaille aushändige.

»Na dann her damit«, sagte Clara.

Fleur zog ein kleines Etui aus ihrer Parkatasche und reichte es Clara. Sie öffnete das dunkelblaue samtige Schächtelchen, schaute kurz hinein und lächelte.

»Medaille D’honneur de La Police Française. Nicht schlecht.«

Clara wunderte sich zwar, warum Jack sie nicht vorab informierte. Doch sie wusste von Kollegen, dass Jack gerade in Phoenix viel um die Ohren hatte. Vielleicht hat er das Ganze auch einer Kollegin weitergeleitet, die noch nicht dazu kam. Schließlich gab es durch die neue Biden Administration in Washington gerade viel extra Arbeit in den Stations. Umbesetzungen, Neuverteilungen bestimmter Aufgabenbereiche, alles so zeitaufwendiger Verwaltungskram.

Clara holte mittlerweile Verbandszeug aus der Küche, während Fleur Forlaine ihren Parka und ihre Bluse abstreifte. Clara wickelte eine Mullbinde um Fleurs Oberarm, verklebte das Ende des Verbands mit einem großen Pflaster und Fleur zog ihre Jeansbluse wieder an.

Clara gab ihr den Stick. Fleur dockte ihn mit einem Adapter an ihrem iPhone an und jagte die Daten auf ihr Handy. Würde ein paar Augenblicke dauern, meinte sie und legte ihr Smartphone mit dem Stick auf den Tisch. Clara schaute sie an, fragte, ob Catherine eine Kollegin von ihr gewesen sei.

»Auch. Aber sie war auch meine Freundin.«

»Ihr wart zusammen?«

»Waren wir.«

»Dann warst du die Frau, die diesen Kolliakov in Kolberg mit Benzin übergossen hast?«

»Hat dieses Schwein verdient. Glaub mir.«

»Dieser Typ vorhin am Telefon meinte, deine Catherine sei auch meine Stiefschwester.«

Dann holte Clara ihr iPhone und klickte die Bilder auf, die ihr dieser Typ gemailt hatte.

»Kennst du diesen Mann?«, fragte Clara. Sie zeigte dabei auf den blutig geschlagenen Mann, der kopfüber an einer Eisenkette hing. Fleur nahm Claras Smartphone und zoomte den Kopf des Mannes größer.

»Verdammt. Das ist Conrad. Catherines Vater. Oh Mann, und die Kleine da ist Isabelle.«

»Isabelle?«

»Catherines Tochter.«

»Meine Nichte«, sagte Clara.

»Und was wollen die von dir?«

»Ich soll denen heute in Rotterdam, Punkt 18 Uhr, den Stick übergeben«, sagte Clara.

»Wo genau?«

»Markthalle, Westeingang. Warum?«

»Mist. Da sind immer viele Touristen und Einheimische. Jetzt, wo überall die Lockdowns in Holland aufgehoben sind. Hat uns gerade noch gefehlt.«

»Du kennst dich aus in Rotterdam?«

»Hatten dort vor ein paar Jahren mit niederländischen Kollegen einen Drogenring gesprengt, der halb Frankreich mit Ecstasy und Koks versorgte.«

»Da muss noch mehr auf dem Stick sein, als dieses Video von Catherines Tod.«

Fleur nickte und klickte ihr Smartphone an … zuerst das Video mit Catherines Tod im iPhone HEVC-Format, dann eine Datei mit dem Namen Sirob-Tellaw-Nioc. Als Fleur diese anklickte, kamen eine riesige Zahlenreihe mit Buchstaben und mehreren kyrillischen Zeichen zum Vorschein. Und dann war da noch eine weitere Datei … mit dem Dateinamen:

SURIVONISESARETTORROBRAHRENNACS 06-2206m0251 (Scanner Habor Rotter Asesino Virus =22.6, 15:02, 60 min).

Doch als Fleur darauf klickte, tat sich nichts und sie zeigte das Display Clara.

»Ok, ich sag’ dir, was wir jetzt tun.«

Das hier sei was für IT-Profis, meinte Fleur und gab Clara den USB-Stick wieder. Clara solle ihn zu ihren IT-Profis in die Berlin Station bringen, die ziehen sich dort eine Kopie, den Original-Stick brauchen sie beide in Rotterdam. Sie werde die Kopie hier auf ihrem Handy in der französischen Botschaft sicher nach Paris mailen. In Paris gebe es bei ihnen eine Spezialabteilung, die knacken wirklich fast jeden Code. Treffpunkt dann in drei Stunden am BER. GAT Terminal.

»Was?«, fragte Clara.

»General Aviation Terminal.«

Sie maile ihr nachher die Daten, wo sie die A-113 mit einem Uber verlassen müsse. Das Terminal befinde sich im südlichen Teil des Flughafens, erklärte die Französin weiter. Sei das Terminal für Business- und Privatjets. Sie warte dann dort auf sie. Clara meinte, sie hätte mit einem Privatjet noch nicht das Vergnügen gehabt. Sei bisher nur von der Rammstein Air Base aus in die Staaten geflogen. Worauf Fleur Forlaine antwortete, für solche Fälle stünde den französischen Agenten dieser Service von ihrer Regierung zu.

»Geht einfach schneller. Das ganze Virus-Eingechecke dauert dort nicht so lange.«

Und um den Mietwagen von Amsterdam nach Rotterdam kümmere sich auch jemand, meinte Fleur. Clara brauche also nur ihren hübschen Arsch nach Schönefeld …

»Vive la France. Aber was ist mit den Typen im Hausflur und dem hier?«

»Worauf wartest du. Komm schon, hilf mir …«, sagte Fleur.

Beide packten jeweils einen Arm des Toten vor der Tür und zogen ihn ins Zimmer zurück, legten ihn zu dem anderen Toten. Dann bat Fleur sie noch, ihr mit dem Dritten zu helfen.

»Welcher Dritte?«

»Na der auf deinem Balkon. Oder woher, glaubst du, kommt das Blut auf meiner Jacke.«

»Den hast du auch?«

»Musste sein. Ich hätte dir wahrscheinlich sonst im Schlaf deinen hübschen Hals durchgeschnitten.«

Clara öffnete den Balkon und sah einen Typen in seinem Blut liegen. Daneben ein großes Messer. Fleur meinte, sein eigenes. Musste es ihm in den Bauch rammen. Ging am schnellsten. Nicht so eine Sauerei wie bei der Halsaorta. Dann zogen sie den Typen ebenfalls an seinen Armen ins Zimmer.

»Pack ein paar Sachen zusammen. Deine Amerikaner werden nachher sicher ein Team zur Spurenbeseitigung schicken. Die haben das super drauf, wenn sie wollen.«

»Wenn du das sagst, bist ja wohl schon länger im Business, nehm’ ich an.«

»Lange genug.«

Clara packte ihre Sachen in eine kleine Reisetasche. Fleur schaute ihr dabei zu. Als Clara zum Schluss noch ein Parfum-Flakon einpackte …

»Dein Ernst?«, fragte Fleur Forlaine.

»Warum nicht. Bei der CIA arbeiten bedeutet ja nicht, nur nach Schweiß und Blut zu riechen.«

»Warte mal, lass mal sehen«, sagte Fleur.

Sie griff nach dem Flakon und schaute es sich näher an.

»Oh, Chanel 1957. Madame haben Geschmack.«

»Warum nicht?«

»Bin nur überrascht, weil…«

»… weil ich Deutsche bin? Wenn ich eins gelernt habe in meinem früheren Job: wenn du edel duftest, hast du sie leichter an ihren Eiern.

»Dein früherer Job war noch mal?«

»Escort«, sagte Clara.

»Nicht dein Ernst. Du warst aber nicht bei Escort One?«

»Nur meine Bilder. Aber für Paris hat es nie gereicht. Und dabei haben mich die Fotos ’ne verdammte Stange Geld gekostet. Und woher kennst du die Agentur? Undercover Einsatz oder was?

»Kann man so sagen. Los, lass uns abhauen, das heißt…«

»Was?«

»Ich muss kurz auf Toilette. Tote am frühen Morgen schlagen bei mir immer auf die Blase.«

»Da siehst du mal, später aufstehen hat auch seine Vorteile.«

»Jetzt, wo ich aufs Klo muss, auch noch klugscheißen, was? Heißt doch so bei euch, oder?«

Während Fleur kurz im Bad verschwand, schaute sich Clara noch einmal im Schlafzimmer um. Gut, dass die blutverschmierten Männer draußen im Wohnzimmer lagen, hätten nur die Ästhetik des Zimmers gestört. Ihre Bettdecke war dermaßen weiß, noch weißer als in den teuersten Hotels der Stadt. Damals, als sie hin und wieder in diesen Prachtbauten nebenher putzte. Teil einer Putzkolonne war, die im Akkord die Zimmer der Schönen und Reichen auf Hochglanz brachte. Dort waren die Bettdecken zwar auch blütenweiß, hatten aber immer diesen leichten Grauschleier. Doch was war in Berlin schon wirklich porentief rein. Ihr früheres Leben jedenfalls nicht. Als Teenager von Freunden des Stiefvaters vergewaltigt, später Drogen, Callgirl, Escort, Mutter, Putzfrau. Dann der Tod ihrer kleinen Tochter durch diesen arabischen Clanchef, dazu noch eine gestörte Therapeutin, die Claras jahrelange Wut zu Hass aufpumpte und Vergebung nur für eine Möglichkeit… Vergeltung aber für die Nachhaltigere hielt.

Doch Claras Rache war spätestens seit ihrem Abflug nach Langley befriedigt. Ihr Hass war verflogen, Vergebung noch nicht in ihrem Kopf. Und auch, wenn Claras bisheriges Leben an ihr vorbeigerauscht war wie ein unheilvolles Cluster an Schicksalsschlägen, wer außer Buddha und dem Teufel wusste schon, was diese junge Frau bisher an Karma so alles angehäuft hatte. Doch jetzt, so hoffte sie, würde es endlich besser werden. Von nun an sollte sie ganz offiziell und im Namen der Vereinigten Staaten Bösewichte, Killer und andere Psychopathen jagen. Das Dumme war nur, es gab da noch eine Sache, die Clara schon ihr ganzes Leben begleitete. Eine weitere Konstante sozusagen, die Optimismus nur schwer aufkommen ließ: Bei Clara lief es nie so wie geplant, warum sollte es diesmal anders sein. Wenn sie sich nur die letzte Stunde so anschaute: Der verdammte USB-Stick, den sie damals unbedingt im polnischen Kolberg von der Straße aufheben musste und der sie in diesen Schlamassel überhaupt erst reinbrachte. Dann ihr Vater, der zwanzig Jahre von der Bildfläche komplett verschwunden war. Der plötzlich heute Morgen kopfüber an einer Eisenkette hängend, das Gesicht blutig geschlagen, auf einem Handy-Video wieder aufgetaucht war. Dazu noch die drei Leichen in ihrer Wohnung und diese offenbar ziemlich abgedrehte französischen Agentin, also mal ehrlich, ein ruhiger Start in den neuen Job sah irgendwie anders aus.

Während Clara noch ihren Gedanken nachhing, rieb sich Fleur mit einem Erfrischungstuch aus dem Badezimmer die Blutspritzer aus dem Gesicht. Wollte ihren Kollegen in der Pariser Botschaft ja einigermaßen zivilisiert gegenübertreten.

Unten auf der Straße warten die beiden Frauen ein paar Augenblicke. Während Fleur ihre dunkle Sonnenbrille aufsetzte, blinzelte Clara in die strahlende Morgensonne. Hatte ihre Sonnenbrille irgendwo in ihrer Reisetasche verstaut und keine Lust sie jetzt herauszukramen. Da kam Fleurs Uber Taxi, das sie sich noch in Claras Wohnung bestellt hatte. Wenige Sekunden später fuhren die beiden Richtung Brandenburger Tor. Clara auf einem E-Roller, ihre Reisetasche geschultert. Fleur im Uber, bereits vertieft in ihr Smartphone. Was Clara nicht bemerkte, ein schwarzer BMW folgte ihr, seit sie mit ihrem E-Roller losgefahren war.

* * *

Während sich die einen mit E-Roller und Uber auf den Weg zu ihren Botschaften machten, machten sich die anderen mit merkwürdigen Botschaften auf ihren Weg. Zunächst erhielt Simone Resolca, CIA-Agentin in Phoenix, Arizona, eine merkwürdige SMS von Jack Sanders, ihrem Kollegen. Jedenfalls glaubte sie das im ersten Moment, denn die Nachricht kam nicht über einen der CIA Verschlüsselungsserver, sondern über eine andere Nummer. Die benutzte Jack nur, wenn es privat war, wenn sich beide manchmal am Samstagmorgen zum Joggen oder Hiking verabredeten. Beide kannten sich nun seit fast zwei Jahren, seit Simone nach ihrer Flucht vor Waffenhändlern und ihrem letzten Fall beim LKA Berlin aus Deutschland nach Panama geflüchtet war. Dort hatte sie über einen Bekannten vom BND Jack Sanders von der CIA kennengelernt. Und ihm, ehe sie sich versah, bei einer Schießerei mit kolumbianischen und mexikanischen Kartellmitglieder und anschließender Verfolgung durch Mexiko zweimal das Leben gerettet. So was verband. Und seit dieser Zeit waren beide so etwas wie beste Freunde. Auch bei ihrem letzten gemeinsamen Fall in Europa, beim Aufspüren und Beseitigen von drei Quantencomputern, die nicht in die Hände eines tschetschenischen und russischen Oligarchen fallen durften, hatten sich Jack und Simone ziemlich gut ergänzt, zwischen Langley, Berlin und dem polnischen Kolberg. Manche ihrer Kollegen ließen sich sogar zu der Behauptung hinreißen, Jack und Simone seien ein Dream-Team. Jeder der beiden spüre, wenn der andere Hilfe brauche, der andere in Schwierigkeiten stecke. Und auch privat, wenn die Kollegen der Abteilung mal einen trinken waren, lag dieses merkwürdige, heiße Flimmern in der Luft, wenn sich die beiden anstrahlten oder Scherze machten. Doch auch wenn es Jack zu durchaus mehr gereizt hätte, Freunde mit gewissen Extravorzügen wurden beide dennoch nicht. Jack hatte sich mit seinem Witwerstatus arrangiert. Und mit seinem kleinen Sohn, als Zentrum seines Privatlebens, waren Jacks Ambitionen auf mehr offenbar erschöpft. Doch Joggen, Kino oder Essengehen waren ihm fast immer willkommen. Dazu benutzten beide immer ihre privat Handys, weil da CIA SMS-Sicherheitscodes entfielen. Natürlich hatten auch ihre privaten Handys ein Schutzsystem: die Eingabe von #5? vor jeder SMS. Darüber hinaus waren ihre Nummern unter Fakenamen mit Fakeadressen angemeldet. So dachte sich Simone erst einmal nichts dabei, als gegen 9 PM eine SMS mit Jack als Absender auf ihrem privaten Smartphone aufpoppte. Zumal sie beim Anklicken so harmlos anfing:

»Hi Simone, wie geht’s? …«

… und doch so völlig unerwartet weiterging:

»… Hey, wenn du Jack lebendig wiedersehen möchtest, beweg deinen Hintern bis spätestens 10 PM zu Van Buren Street Ecke 27th Avenue. Du bekommst gleich weitere Instruktionen.«

Dann folgten zwei weitere Botschaften mit Screenshots: Der erste zeigte per roter Markierung, dass Simone von Circle K, einem Gemischtwarenladen mit Tankstelle an der 27th Avenue/Van Buren St., nach knapp 20 Meter rechts in eine kleine Seitenstraße gehen sollte. Dann weitere fünfzig Meter geradeaus zu einer alten, heruntergekommenen Lagerhalle mit Backsteinfassade, eingeschlagenen Fenstern und einem mannshohen Metallzaun rund um das Grundstück.

Der zweite Screenshot, zeigte Jack, mit blutender Stirn, Klebeband vor dem Mund, auf einem Sessel sitzen.

Und kurz darauf folgte noch eine dritte SMS:

»Und komm nicht auf die Idee, CIA, FBI, Home Security oder irgendwelche Bullen vom PHXPD dorthin zu lotsen. Wir überwachen alles mit Drohnen aus der Luft. See you.«

Simone dachte, Fuck ausgerechnet Van Buren Street. Das ganze Viertel zwischen Van Buren St. und der 27Th bis 23rd Avenue war ein einziges Shithole aus Drogenküchen, Prostitution und mexikanischen Kartellrivalitäten. Daran änderten auch einige erfolgreiche Säuberungen und Razzien von Hotels und Absteigen durch Polizei und Staat nichts. Die Gegend blieb verdammt gefährlich. Waren Jacks Worte, nachdem er dort vor Wochen einige mexikanische Drogenkartell-Mitglieder observieren und abhören musste. Simone lag zu dem Zeitpunkt mit milden Covid-19-Symptomen gerade ein paar Tage flach in Quarantäne. Doch wie sie später von ihrem Boss John McQuire erfuhr, war Jacks Aktion mit einem Undercover Junkie ein voller Erfolg. Hatte damals dem Department der Homeland Security sowie der DEA (eine dem Justizministerium unterstellte Drogenvollzugsbehörde) wichtige Erkenntnisse und Beweismittel gebracht. Diese halfen am Ende, eine große Lieferung Kokain sowie eine halbe Tonne Methamphetamin (Crystal Meth) aus einem Labor in der South Side, Nähe der South Central Avenue, aus dem Verkehr zu ziehen. Dazu konnten sie noch einige Kartellmitglieder dingfest machen, darunter ein schon lange gesuchter SICARIO (Auftragskiller) des berüchtigten Guerros Jalis Cártels. Als Simone damals Jack zwei Wochen später zu seinem erfolgreichen Einsatz gratulieren wollte, wimmelte der nur ab und meinte:

›Schon gut. Aber ich habe meinen besten Informanten verloren. Hätte nicht passieren dürfen.‹

›Möchtest du darüber reden?‹

›Bringt ihn auch nicht mehr zurück. Und dabei habe ich seinen Killer noch erwischt. Aber der Mistkerl konnte entkommen. Und es war kein Mexikaner.‹

›Wieso bist du dir so sicher?

›Blonde Strähne unter seiner Maske und er schrie zu einem Typ: sehen uns bei 8534!‹

›Was ist 8534?‹

›Kannst du nicht wissen. Bist ja noch nicht lange hier in Phoenix.‹

›Bekam eben erst vor Kurzem Sehnsucht nach dir. Langley ohne dich ist leider recht eintönig.‹

›Du meinst, Langley wollte gar nicht, dass du hier mal wieder mexikanische Kartellluft schnuppern solltest.‹

›Sehr witzig. Und was ist jetzt 8534?‹

›Magische Postleitzahl von Scottsdale. Genauer gesagt vom dortigen Reichenviertel: Kierland‹

›Und du denkst, was macht ein mexikanischer Kartellkiller bei der Upperclass, wenn er verletzt ist‹

›Genau.‹

Könne zwar einen reichen Arzt dort haben, meinte Jack, aber eher unwahrscheinlich. Wohl eher einen Freund oder Verwandten, der ihm helfe. Und Scottsdale, Kierland, bestünde nun mal zu 95 % aus Weißen. Aber er sei an dem Typ dran. Bekam von diesem eingebuchteten Sicario im State Prison einen Tipp, nachdem sie ihn überzeugt hatten zu reden.

›Ach ja, und wie habt ihr das angestellt?‹, wollte Simone wissen.›Bevor die reden, verschlucken die doch eher ihre Zunge.‹

›Auch Sicarios haben Familie. Und wenn wir denen ins Zeugenschutzprogramm helfen, können manche gar nicht mehr aufhören zu plappern.‹

Diese Unterhaltung mit Jack raste jetzt durch Simones Gehirn. Während sie in ihre Jeans schlüpfte, hämmerten zwei Fragen an ihre Schädeldecke:

Was, wenn Jack in den Händen dieses Kartells …? Wenn der Tipp des inhaftierten Sicarios eine Falle war?

Ob ihre Vorahnung stimmte oder nicht, würde sie in spätestens einer dreiviertel Stunde erfahren. Als Backup informierte sie zwei ihrer Kollegen, dass Jack sie gebeten habe, ihn beim Observieren im Van-Buren-Viertel zu unterstützen. Er sei da wieder auf etwas gestoßen. Sollten sie in einer Stunde nichts von ihr gehört haben, hier sei die Adresse. Es folgte ein Screenshot auf die Handys der beiden Kollegen über den CIA-Safe-Messenger Kanal. Nicht ohne den Hinweis, es könne sein, dass mit Drohnen das Gelände überwacht werde, daher sollten sie besser den Wagen auf dem nahen Gelände von Circle K an der 27th Avenue abstellen.

Sie mussten Jack schon gefoltert haben, dachte Simone, denn freiwillig würde er nie ihren privaten SMS Code rausrücken. Auf dem Screenshot sah er zwar einigermaßen mitgenommen aus, aber für Foltermethoden von Guerreros (Mitglieder) mexikanischer Kartelle, schienen sie ihn bis jetzt nur mit Samthandschuhen angepackt zu haben. Nur warum, wollten die, dass sie da hinkam, in diese Baracke nahe der Van Buren Street? Simones hatte ein ungutes Gefühl dabei in ihrer Magengegend. Das einzige Mal, dass Jack und sie da unten in Arizona und Mexiko zusammengearbeitet hatten, war, als sie gemeinsam ein mexikanisches Drogenkartell auffliegen ließen … als sie beide kolumbianische Drogenkuriere mit ihrer Lieferung von Panama bis Mexiko verfolgten, die Jack in Mexiko beinahe zweimal ins Jenseits beförderten, wenn nicht Simone ihm zweimal das Leben bei dieser Schießerei gerettet hätte. Und das, obwohl sie Jack damals erst einige Tage zuvor vorgestellt wurde. Von ihrem BND-Kollegen Grassnitz, der Simone nach ihrer Flucht aus Deutschland helfen sollte, in Panama Fuß zu fassen. Das gelang zwar nicht in Panama, dafür bei der CIA. Die Leitung in Langley bot ihr nach diesem erfolgreichen Einsatz prompt einen Job an, den Simone sofort ergriff. Hatte das Ganze mit der alten Sache in Mexiko zu tun? Rache für die vielen Toten des Kartells? Doch warum jetzt? Fragen über Fragen rasten wieder durch ihren Kopf.

Simone zog ihre kugelsichere Schutzweste über, griff nach ihrer Waffe, eine Glock 17 und steckte sie in ihr Halfter, das sich am Gürtel befand. Den kurzen Schalldämpfer steckte sie in ihre Jeansjacke. Dann schob sie ein ca. 15 cm langes Messer in ein weiteres Halfter und befestigte es am linken Unterarm. Die Art, wie sie das Messer beim Festzurren des Klettverschlusses anstarrte, verriet, dass sie dies nicht oft machte. Ja, fast konnte man den Eindruck gewinnen, es ekle sie, das Messer an ihrem Arm zu tragen. Kein Wunder, konnte sie schon in ihrer Ausbildung bei der CIA die Dinger kaum anwenden – wenn ihre Kollegen beispielsweise an lebendigen Schweinen oder Schafen den schnellen Schnitt durch die Kehle übten. Niemals könnte sie dies bei einem Menschen tun. Das wusste sie. Das Blut, das Zucken, bis das Tier endlich einsah, dass es nun sterben wird. Wie erst würde sich das bei einem Menschen anfühlen, der sich noch mehr wehren würde, der verzweifelt das Blut mit seinen Händen stoppen wollte, und dennoch keine Chance hätte. Mal setzte sie bei den Übungen das Messer falsch an, mal musste sie zweimal mit der Klinge nachziehen, bis der Schnitt die richtige Tiefe bei dem Tier hatte. Ihr Ausbilder meinte damals:

›Ist nicht so schlimm. Du wirst bei Einsätzen meist ohnehin nur schießen müssen.‹

›Da bin ich ja beruhigt.‹

›Kannst es ja hin und wieder mal mit Orangen probieren?‹

›Orangen?‹

›Um tief in die Schale einzudringen, musst du ähnlichen starken Druck wie bei menschlicher Haut aufbringen.‹

›Ah ja. Ist das so?!‹

Was sie ihrem Ausbilder damals nicht sagte, noch keinem bei der CIA sagte, nur einmal Jack … sie hasste Messer. Selbst Zwiebel- oder Tomatenschneiden vermied sie, wenn sie mal kochte, was selten genug vorkam. Kaufte dann entweder fertige Pastasauce oder Zwiebelpulver und klein gehackte Tomaten aus der Dose.

Ihre regelrechte Phobie, Messer einzusetzen, hing mit früher zusammen. Als Simone noch Teenager war und sich ihr großer Bruder Paul vor ihren Augen im Drogenrausch die Kehle durchschnitt. Weil er glaubte, Dämonen würden ihn langsam auffressen. Und alle damals auf der Party starrten auf den sterbenden Paul. Wie sein Blut den Rasen der Gastgebervilla langsam von grün in rot färbte. Wie noch einige versuchten, Pauls Leben zu retten, verzweifelt auf seine Wunde ein Handtuch drückten. Doch alle Hilfe kam damals zu spät.

Das Messer, das sie jetzt auf dem Weg zur 27th Avenue Ecke Van Buren Street bei sich trug, würde sie definitiv nur einsetzen, um Jack von seinen Plastikfesseln zu befreien. Alles andere war undenkbar. Außerdem war sie eine verdammt gute Schützin, wer brauchte da schon ein Messer?! Ihre Schüsse in den Trainingseinheiten hatten bisweilen eine Präzision, dass selbst geübte CIA Ausbilder mit dem Kopf schüttelten.

›Einfach unglaublich. Hab’ so was noch nie gesehen‹, sagte mal einer von ihnen, als Simone von neun Schuss, neun ins Schwarze traf.

Sie bekam in ihrem Team sogar für ’ne Weile den Spitznamen: German Gründlichkeit.

* * *

Aber auch andere verspürten an diesem Tag etwas von dieser German Gründlichkeit. Wenn auch 7000 km weiter östlich. Auch wenn die Hauptstadt dieses Landes weltweit schon lange nicht mehr als ein Hort der Gründlichkeit galt. Weder beim Aufdecken von Skandalen, noch von Verbrechen. Selbst beim Übermitteln korrekter Zahlen von 7-Tage-Inzidenzen unter der Bevölkerung herrscht mehr Chaos als Gründlichkeit. Verlässliche Akribie kam höchstens dann in dieser Stadt zum Tragen, wenn es galt, die Angst vor dem Virus unter der Bevölkerung weiter aufrechtzuerhalten. Es regierte sich so leicht. Ein paar Pressekonferenzen der politisch Verantwortlichen genügten und weder Presse noch Bevölkerung muckten noch auf. Solche Macht hatte schon was. Und genau deshalb sollte auch ja keiner der Schäfchen auf die Idee kommen, diese Pandemie sei bald vorüber. Von den über ein Jahr andauernden Einschränkungen bisher viel zu wenig geschätzter Freiheiten ganz zu schweigen. Wie gut, dass Verbrecher diese Probleme nicht hatten. Für sie bedeutete Geld gleich Freiheit … und noch mehr Geld … eben noch mehr Freiheit.

Die amerikanischen CIA-Kollegen wie auch das zuständige französische Botschaftspersonal erkannten allerdings schnell, dass es sich bei den Daten auf Claras USB-Stick möglicherweise um etwa sehr Großes handeln könnte. Um etwas, das aber unbedingt mit fucking thoroughness gecheckt werden müsse, wie ein amerikanischer Computerspezialist der CIA-Station Berlin beim ersten Überfliegen der Daten meinte. Auch den Franzosen in Berlin und Paris gefielen die Daten überaus gut. Antworteten Fleur schon nach wenigen Minuten: Dieser Stick könne uns möglicherweise sehr helfen. Aber das Entschlüsseln der Daten brauche neben Zeit vor allem eins: Rigueur allemande absolue. Was im Deutschen noch am ehesten mit: Absolute deutsche Gründlichkeit übersetzbar war.

Deutsche Akkuratesse war aber nun mal nicht jedermanns und schon gar jederfraus Sache. Clara Castros Leben, jedenfalls bevor sie zur CIA kam, war nicht unbedingt von Gründlichkeit bestimmt.

---ENDE DER LESEPROBE---