Berliner Liebesfluchten - Murat Ham - E-Book

Berliner Liebesfluchten E-Book

Murat Ham

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Beschreibung

Der Roman ist eine Zeitreise durch politische und persönliche Welten in Istanbul, Berlin und New York. Der verheiratete Chemie-Professor Kemal versucht, sein eigenes inneres Verzweifeln an der empfundenen Sinnlosigkeit allen Tuns durch Drogen und Sex mit anderen Frauen zu verdrängen und zu überspielen. Dieses verheimlicht er vor seiner Ehefrau Zuhal, einer sensiblen Modedesignerin. Auch im hohen Alter hat er noch immer nicht den richtigen Umgang mit der persönlichen Freiheit gefunden, um mit ihr gesund und im Einklang leben zu können. Zuhal führt eine stumme Gewohnheitsbeziehung mit ihrem Mann. Kemal weiß nicht, dass sie episodisch auftretende Depressionen hat und oft an Selbstmord denkt. Der Sohn der beiden, Kenan, ist Journalist und Schriftsteller, sehr eitel, aber sympathisch und eine Frohnatur. Die Beziehung zu seinen Eltern, vor allem zu seinem exaltierten Vater, ist widersprüchlich. Kenan und seine Clique, ein bunter Haufen aus verschiedenen Teilen der Welt, genießen das mondäne Leben zwischen Partys, Sex, Drogen und hämmernder Musik. Moderne, globalisierte Menschen, gut ausgebildet, deren Leben durch goldene Kreditkarten materiell abgesichert sind. Sie sind Konsumexperten jeder Art: angesagte Restaurants, schicke Klamotten, die beste Sexstellung oder die wirkungsstärksten Drogen. Doch die Protagonisten geraten allesamt immer mehr in einen Sog, der sie mitzureißen droht ...

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Seitenzahl: 82

Veröffentlichungsjahr: 2013

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ist gebürtiger Braunschweiger, Diplom-Politikwissenschaftler und ausgebildeter Journalist, besitzt langjährige Berufserfahrung als Redakteur bei namhaften Print-, Online- und Funkmedien sowie als Redaktionsleiter in der Unternehmenskommunikation. Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht – unter anderem erschien im Jahr 2009 sein Buch „Jung, erfolgreich, türkisch“ mit einem Vorwort vom Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble. Im Jahr 2011 ist sein für den Karlsruher Buchpreis 2012 nominiertes Werk „Fremde Heimat Deutschland – Leben zwischen Ankommen und Abschied“ mit einem Grußwort von Klaus Wowereit erschienen. Im Herbst 2012 publizierte Murat Ham ein weiteres Buch „Suche nach Glück: Leben mit der zerrinnenden Zeit“.

Für meine Eltern

Die Geschichte und

die darin vorkommenden

Persönlichkeiten sind

frei erfunden.

Halb sieben. Ein eiskalter Morgen im Januar 2013. Eine Haustür an der Tersane Caddesi in Galata im Stadtteil Beyoğlu öffnet sich knarrend und ein noch immer gut aussehender älterer Herr tritt heraus. Er ist alkoholisiert und taumelt ein wenig. Die letzten Nachtschwärmer streifen ihn nur kurz mit ihren Blicken und gehen vorbei. Kemal hat weder Mantel noch Mütze und Handschuhe an, aber der Weg zur Brücke ist nicht weit. Seine Fitness wird ihn auch auf seinen letzten Metern nicht im Stich lassen, auch wenn er deutlich zu dünn bekleidet ist. Er hat beschlossen, es draußen zu machen, an der frischen Luft, damit sein Sohn Kenan und seine Frau Zuhal ihn nicht entdecken. Die Galatabrücke verbindet den alten Teil Istanbuls mit dem neueren Stadtviertel Galata. Nur wenige Menschen sind da, als er sie erreicht. „Benim Karaköy, mein Karaköy“, murmelt er den heutigen Namen seines Stadtteils vor sich hin während er auf das Geländer zugeht. „Ich bin alt, müde, habe genug von allem.“ Das Wasser liegt ruhig unter ihm. Nur noch wenige Schritte.

Ein paar Jahre zuvor stand er an einem anderen Ort mit einem Päckchen Rizin. Vor Jahrzehnten hatte er das giftige Pulver aus dem Labor mitgenommen, in dem er damals beschäftigt war. Er glaubte, der Tod wäre damit in Notfällen absolut sicher. Kurz und schmerzlos. Seinen Körper wollte der Chemie-Professor der Wissenschaft vermachen. Weder Grabstein noch Predigt. Damals siegte seine Angst vor dem Tod – und er spülte das Päckchen in der Toilette weg.

An dem eisigen Morgen beginnt Istanbul nun langsam zu erwachen. Vereinzelt huschen Menschen an ihm vorbei. Ein Sesamkringel-Verkäufer kommt mit seinem mobilen Mini-Laden vorbei und will Kemal einen Simit, ein ringförmiges Hefeteiggebäck mit Sesam-Körnern auf der Kruste, schenken. Kemal schüttelt den Kopf und lehnt dankend ab. Er kann seine Hände nicht mehr spüren, aber seine Nase nimmt einen süßlichen Geruch von Lokum, ein in Puderzucker gewälztes türkisches Fruchtgummi, auf. Als er sich umdreht läuft der Straßenhändler schnell an ihm vorbei.

Gedankenverloren zieht er die Handschuhe an, die ihm ein Passant reicht. Die Kälte wird unerträglich. Wehmut ergreift ihn. Dieser Geruch erinnert ihn an ein Essen mit seinem Kind, Bilder steigen in ihm auf, wie er gutgelaunt auf einer sonnenüberfluteten Wiese am Berliner Wannsee die Leckerei isst. Ein Kopfkino beginnt sich bei ihm abzuspulen: Immer wieder Berlin und Istanbul. Er erinnert sich auch an die Familien-Köchin Süheyla, wie sie für Kenan vorbei an der Mutter Lokum ins Haus eingeschleust hat. Denn seine Frau Zuhal lehnt Süßigkeiten dieser Art ab. „Süheyla, dikkat et, pass bitte auf “, diesen Satz hat Kemal oft gesagt. Das Wasser unter ihm ist immer noch ganz ruhig. Aber plötzlich ganz fern. Er hebt seine Brieftasche wieder auf, die ihm beim Taumeln herunter gefallen ist. Zwei Fotos sind auf der Brücke liegen geblieben. Seine Eltern Osman und Perihan. Auf dem einen Bild sein Vater noch in jungen Jahren und auf dem anderen seine Mutter mit hübschen langen schwarzen Haaren. Die Gedanken begeben sich auf eine Reise zwischen Orient und Okzident. Er schweift ab in seine Kindheit.

Als er auf die Welt gekommen ist, hat sich ein ganz Großer von der Lebensbühne verabschiedet. Einen Tag nach seiner Geburt in Istanbul ist Mustafa Kemal Atatürk, „Vater der Türken“, am 10. November 1938 an den Folgen einer Leberzirrhose gestorben. Zuvor hat er am 29. Oktober 1923 die Republik Türkei ausgerufen und deren Hauptstadt von Istanbul nach Ankara verlegt. Seine Eltern Osman und Perihan sind der Nachwuchs einer alt-osmanischen Geschäftsfamilie, die zu Sultanszeiten in Istanbul bereits bekannt gewesen sind. Sie haben hautnah den faktischen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches erlebt, das im ersten Weltkrieg an der Seite des Deutschen Reiches gekämpft hat. Eine Zeit, in der Kemals Familie Zeugen tiefgreifender Reformen im politischen und gesellschaftlichen System geworden sind.

Atatürk hat die Türkei entschlossen zu einem modernen, säkularen und am Westen orientierten Staat geformt. 1922 wird das Sultanat abgeschafft, ein Jahr später das Kalifat. 1924 ist die neue Verfassung in Kraft getreten. Religiöse Gerichte werden ebenso abgeschafft. 1925 wird im Zusammenhang mit der Hutreform der Fez, die traditionelle türkische Kopfbedeckung der Männer, verboten. Kurze Zeit später wird der Schleier für Frauen untersagt. Ebenso wird die islamische Zeitrechnung ad acta gelegt, parallel der Rumi-Kalender abgeschafft, der Gregorianische Kalender eingeführt.

Die vielen Reformen haben wenig an der gesellschaftlichen Stellung von Kemals Familie geändert, die sich aus den politischen Kämpfen immer geschickt herausgehalten hat. Osman und Perihan haben Ansehen bei bekannten griechischen, jüdischen, armenischen und türkischen Kaufleuten genossen. Der Umgang mit diesen Geschäftsleuten hat dafür gesorgt, dass der Familienname auch im damaligen Konstantinopel sehr bald an Einfluss gewonnen hat. Den Grundstein haben bereits seine Großmutter Halide und sein Großvater Levent gelegt. Sie sind jedoch Opfer der rasanten Modernisierung Konstantinopels geworden. Das Tempo der Stadt hat sich verändert. Raser sind bereits zu der Zeit keine Seltenheit mehr im Verkehr.

Eine Autofahrt wird ihnen 1928 zum Verhängnis. Vier Reihen Autos rollen an diesem Sommerabend hupend auf einer dreispurigen Straße nebeneinander und einzelne Wagen schießen immer wieder zwischen den Spuren hin und her. Dabei wird wild gestikuliert und geschimpft – und zwischendurch im Stau gestanden. Die Fahrt nach Hause wird zur Tortur. Stunden vergehen auf dieser Straße. Alles ist energiegeladen, laut, hektisch. Am Verkehrsknoten Aksaray wird das allgemeine Gehupe unerträglich. Ein Autofahrer drängelt sich aggressiv in die Schlange. Kemals Großvater wird nervös. „Kalp hapları aldın mı?, hast du deine Herztabletten genommen?“, will seine Frau besorgt wissen. Er kann das Auto nicht mehr in der Spur halten und wird abgedrängt. Ein Pfeiler beendet ihr Leben. An der Trauer drohen Kemals Eltern Osman und Perihan zu zerbrechen. Ihr Schmerz bleibt über die Jahre hinweg.

Währenddessen hat sich das Land stärker geändert. 1928, im Todesjahr von Kemals Großeltern, ist die arabische Schrift durch die lateinische ersetzt worden. 1934 wird die Gleichstellung von Mann und Frau Realität. Frauen haben das aktive sowie passive Wahlrecht bekommen. Der Zweite Weltkrieg hat ebenso eine Art Zäsur für Land und Leben dargestellt. Für zahlreiche Menschen bedeutet er im Hinblick auf ihr Alltagsleben vor allem Mangel, sparsamer Umgang mit Lebensmitteln und als Folge daraus Schwarzmärkte. Dabei ist die Türkei bis kurz vor Kriegsende neutral geblieben. Für Nicht-Türken ist diese Neutralität Gold wert gewesen. Etliche Exilanten aus dem Deutschen Reich und viele rassisch und politisch Verfolgte haben nach 1933 diesen Schutzraum in Anspruch genommen. Dazu zählen ebenso deutsche Wissenschaftler, die vor dem Nationalsozialismus geflohen sind und in der Türkei eine neue Heimat gefunden haben. Sie haben den Aufbau der Universitäten, die Belebung des Kunst- und Kulturlebens, die Industrie des Landes, die Stadtplanung und den städtischen Dienstleistungsbereich unterstützt.

Für die größtenteils neutrale Haltung im Zweiten Weltkrieg ist im militärischen Bereich das Fehlen moderner Ausrüstung und Ausbildung ausschlaggebend gewesen. Auch hat der Ministerpräsident Ismet Inönü gewusst, dass die Türkei diesen Krieg auch wirtschaftlich nicht überstehen wird. Während der gesamten Auseinandersetzungen hat sie jedoch verhältnismäßig gute Beziehungen zu beiden Kriegsparteien pflegen können und beispielsweise 1941 einen Handelsvertrag mit Deutschland abgeschlossen, um die Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern. Auch Osmans Geschäfte im Bereich der Textilindustrie haben von den Verbindungen zu Europas kalt gewordenem Herz profitiert. Er hat gute Kontakte zu deutschen Geschäftsleuten in Istanbul gehabt, die bis zum Ende des Krieges nichts zu befürchten hatten. Das änderte sich erst am 1. März 1945, als die Türkei sich offiziell auf die Seite der Westmächte stellte.

Einige deutsche Geschäftsfreunde von Osman sind in der Türkei für kurze Zeit festgenommen worden. Dieses Schicksal hat auch Osmans deutsche Nachbarn ereilt. Auf abenteuerlichen Wegen sind sie nach ihrer Freilassung in den Südwesten Berlins gelangt. Das Kriegsende in Europa am 8. Mai 1945 haben sie dort erlebt. Dann ist die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in Kraft getreten und Deutschland ist wieder frei gewesen.

Bereits im Sommer sind Osmans Nachbarn und viele deutsche Freunde nach Istanbul zurückgekehrt und haben wieder geschäftlichen Anschluss zu gewinnen versucht. Sie haben die Geschicke ihres Lebens selbst in die Hand genommen und oft Partner geheiratet, deren Familien ähnliche Geschichten aufgewiesen haben. Das hat für die meisten Familien mit deutscher Herkunft gegolten, die vor Generationen nach Istanbul gekommen sind. Und so haben sich in diesen Jahren die jungen deutschen Familien mit ihren Beziehungen in Istanbul weiter ausgebaut. Dort sind viele Freundschaften mit Türken, Juden, Griechen und Armeniern aus der Kinderzeit der jungen Eheleute entstanden.

Zu dieser Zeit ist Kemal noch ein Kind gewesen. Seine Eltern haben ihre privaten Netzwerke in Istanbul stetig ausgebaut. Kemal kann sich kaum mehr vorstellen, welche Überlegungen und welcher Einsatz für seine Eltern notwendig gewesen sind, um in Istanbul weiterhin erfolgreich zu sein. Sie haben alles in Bewegung gesetzt, um ihren Kindern den Wohlstand zu sichern, der über Generationen gestiegen ist.