Liebeslügen - Murat Ham - E-Book

Liebeslügen E-Book

Murat Ham

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Beschreibung

Der neue Roman des bekannten Journalisten und Schriftstellers Murat Ham knüpft an seinen preisgekrönten Vorgänger „Berliner Liebesfluchten“ an. Der Autor nimmt den Leser mit auf eine weitere Reise durch das bewegende Seelenleben einer wohlhabenden Familie. In eleganter Sprache beleuchtet er, wie sich moderne, materiell abgesicherte Menschen aus verschiedenen Kulturen in einer globalisierten Welt zwischen Berlin, New York und Istanbul begegnen, zusammenkommen und wieder auseinandergehen. Vor dem Hintergrund der verschiedenen kulturellen Herkünfte und Lebenswelten gleichen und unterscheiden sie sich im Umgang mit Tod und Krankheit genauso wie in den unterschiedlichen Glücksmomenten im Leben. Als der verheiratete Chemie-Professor Kemal nach einem misslungenen Selbstmordversuch querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gefesselt ist, ändert sich das Leben für seine sensible Ehefrau Zuhal und für seinen smarten Sohn, den Journalisten und Schriftsteller Kenan, grundlegend. Nach dem Tod von Kemal versuchen beide aus seinem Schatten zu treten und ihren eigenen Weg zu finden. Sie bauen eine spirituelle Verbindung zu Kemal auf, so dass er sie auch in der Ferne nie ganz loslässt. Kenan kommt nur scheinbar zur Ruhe. Nach einer protestantisch-anglikanisch-alevitischen Hochzeit wird er Vater. Dabei lebt er auch bislang unterdrückte Gefühle offen aus. Ebenso wie Zuhal wird Kenan bei all seinem Tun immer wieder auf seine problematische Beziehung zu Kemal zurückgeworfen. Am Ende drohen alle Kartenhäuser zusammenzufallen …

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Seitenzahl: 89

Veröffentlichungsjahr: 2014

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ist gebürtiger Braunschweiger, Diplom-Politikwissenschaftler und ausgebildeter Journalist, besitzt langjährige Berufserfahrung als Redakteur bei namhaften Print-, Online- und Funkmedien sowie als Redaktionsleiter in der Unternehmenskommunikation. Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht – unter anderem erschien im Jahr 2009 sein Buch „Jung, erfolgreich, türkisch“ mit einem Vorwort des Bundesministers Dr. Wolfgang Schäuble. Im Jahr 2011 ist sein für den Karlsruher Buchpreis 2012 nominiertes Werk „Fremde Heimat Deutschland – Leben zwischen Ankommen und Abschied“ mit einem Grußwort von Klaus Wowereit erschienen. Im Herbst 2012 publizierte Murat Ham ein weiteres Buch „Suche nach Glück: Leben mit der zerrinnenden Zeit“. Im Frühjahr 2013 veröffentlichte Murat Ham seinen Roman „Berliner Liebesfluchten – Brücken zwischen den Welten“, den ersten Teil einer anvisierten Trilogie. Das Lektorat des tredition-Verlags zeichnete dieses Werk zum „Buch des Monats“ Mai 2013 aus. Murat Ham leitet seit 2013 im Berliner Tiyatrom die einjährige Veranstaltungsreihe „Deutsch-Türkischer Literaturabend“. Im Herbst 2013 haben Schauspieler dort seinen Roman „Berliner Liebesfluchten“ uraufgeführt.

Teil 2

Für meine Eltern

Die Geschichte und die darin vorkommenden Persönlichkeiten sind frei erfunden.

Mitten im tiefsten Winter 2013. In ihrer Villa an der Tersane Caddesi in Galata im Stadtteil Beyoğlu eskaliert ein Familienstreit zwischen Vater und Sohn, das heißt, Kemal und Kenan. Der Alkohol lässt jahrelange Hemmungen fallen. Böse verletzende Worte stehen im Raum. „Ich hätte dich doch härter anfassen müssen. Ich kann nicht verstehen, dass du dich traust, mit mir so zu sprechen.“ Kemals Stimme zittert. Beide werden von ihren Gefühlen übermannt und können damit nicht umgehen. Kemal rüttelt Kenan an den Schultern, der sich wild um sich schlagend von ihm losreißt. „Bin ich jetzt in einem Waschmaschinenschleudergang? Was für ein falscher Film läuft hier? Du alter Sack, du kannst mich mal. Ich hasse und verachte dich.“ Kenan ist außer sich. „Ich gehe jetzt und komme nie mehr wieder.“ Stolpernd greift er nach seinem Wintermantel und merkt nicht, dass er dabei einige Bücher aus dem Regal reißt. Die Tür knallt mit aller Wucht ins Schloss. Plötzlich ist es ganz still im Haus und Kemal ist allein. Ganz allein und verloren.

Die Stille macht Kemal wahnsinnig. Sie zwingt ihn zur Innensicht. Und dort öffnet sich das große Nichts. Kenans Worte haben ihn betäubt und hallen nach. Tränen laufen ihm über die Wangen, ohne dass er sie spürt. Wie von Sinnen stolpert er in die Speisekammer und greift nach einer alten Johnnie Walker-Flasche, die seit Jahren auf der oberen Ablage vor sich hin reift. Glasweise schüttet er den Whiskey in sich hinein. „Ich habe alles verloren und bin verloren“, murmelt er starr vor sich hin. Die Stunden vergehen und umso betrunkener er wird, desto ruhiger wird er. Er weiß jetzt, was er tun will. Die Uhr im Flur zeigt halb sieben, als er sich umständlich die Schuhe anzieht und die Wohnung verlässt. Es ist bitterkalt draußen. Er ist froh, dass es bald vorbei ist. Aus und vorbei. „Benim Karaköy, mein Karaköy. Ben seninim, ich gehöre dir. Beni anlıyorsun, du verstehst mich.“ Nur wenige Menschen sind auf der Galatabrücke, als er auf das Geländer zugeht. „Ich bin alt, müde, habe genug von allem.“ Das Wasser liegt ruhig unter ihm. Nur noch wenige Schritte.

Kemal will die Dunkelheit in seinem Leben nicht mehr aushalten. Er sieht Zuhal vor seinem geistigen Auge – wie sie über ihn spricht: „Mein eigener Mann hat Kenan den Vater genommen. Seinem Sohn hat er den guten Freund entrissen, meinen Herzensmenschen, die Liebe meines Lebens. Das ist unglaublich. Aber warum? Sind meine Vorwürfe zu hart gewesen?“ Kemal sieht sie weinen und hört sie mit ihren Wutausbrüchen. „Sie wird sich – wie unter einer Glasglocke fühlen und irgendwann fragen, wann sie wieder unbeschwerte Stunden erleben darf.“ Kemal glaubt, der Tod im Wasser sei weniger schmerzhaft als die Einnahme der hochgiftigen Substanz Rizin oder ein Schuss mit der Pistole. Kemal steht noch Stunden da und weint. Insgeheim hofft er, dass jetzt Zuhal oder Kenan kommt und zeigt, dass einer von beiden sich Sorgen um ihn macht, dann würde er nicht springen. Tatsächlich ist jemand gekommen, eine hübsche junge Dame mit Berliner Dialekt. Sie bittet Kemal, ob er ein Foto von ihr machen kann. Kemal schaut traurig, aber er macht das Bild für die junge Frau. Sie durchschaut die Situation nicht und sagt nur „Danke, teşekkür ederim“ und geht mit schnellen Schritten weiter. „Es soll also wirklich sein“, denkt sich Kemal. Seine Innenwelt ist aufgewühlt und gespalten. Dann nimmt Kemal tatsächlich drei Schritte Anlauf und will über die Brüstung ins Wasser springen. Doch eigentlich weiß er, dass er nicht sterben will. Das Geländer bleibt unter seinem Kinn.

In der Sekunde, in der sich Kemals Füße von der Brücke lösen, merkt er, dass er einen Fehler begeht. Kemal stoppt instinktiv seine Bewegung in der Luft, kommt mit seinen Beinen ins Taumeln und rutscht ab. Der ältere Herr schlägt mit seinem Kopf gegen das Geländer und kommt unglücklich mit voller Wucht auf dem Rücken auf. Kemal schreit laut, weil die Schmerzen ihn wahnsinnig machen. Vor seinen Augen wird alles schwarz. Er fällt in Ohnmacht. Ein Passant sieht den alten Mann und ruft einen Krankenwagen. Kemal hat Glück. „Er hat Puls“, sagt der Sanitäter und leitet die ersten Notfallmaßnahmen ein. Eine Traube Neugieriger hat sich um den Unglücksort gebildet. Nach nur wenigen Minuten kann Kemal ins Hospital gefahren werden.

Das Foyer im Krankenhaus ist leer und gleicht einem vergessenen Ort der Stille. Unwirklich und gespenstisch wirkt das Weiß der Wände im kalten Licht der Neonlampen. Aus verschlossenen Türen klingen die leisen Geräusche schlafender Menschen, unruhiges Schnarchen, rasselnder Atem. Hinter einer Glasscheibe hält ein Pförtner Wacht über den verlassenen Eingangsbereich. Viele Krankenhausbewohner liegen noch in den Betten. Kemals Lippen sind schon blau. Der Arzt kontrolliert Kemals Blutdruck, schließt eine Infusion an und spritzt ihm ein Medikament in die Vene. Kemal ist noch immer bewusstlos. Er wird überleben, das ist sicher. Aber er wird bleibende Schäden davontragen. Zahlreiche Rückenwirbel und sein vierter Halswirbel sind gebrochen. „Sie werden vielleicht nie mehr laufen können.“ Der Chefarzt ist kein Freund von langem Um-den-Brei-Reden. Zuhal, seine Frau, hat immer gebeten, nur die Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu hören. Mit schonungsloser Offenheit eröffnet er Kemal sein Schicksal, als dieser endlich wieder aufwacht. „Bei ihrem Sturz sind einige Nervenleitungen im Rückenmark zerstört worden. Wir sprechen in Fachkreisen von der sogenannten Paraplegie. Auch als Querschnittslähmung bekannt“, beginnt er vorsichtig zu dozieren. Kemal ist so durcheinander, dass er alles Weitere, was der Arzt in wohltemperierten Worten vorträgt, nicht mehr mitbekommt. Spinaler Schock, Rehabilitation, Inkontinenz: Die Begriffe verschwimmen vor seinem Auge. „Was passiert jetzt mit mir?“, stammelt er entgeistert vor sich her. Seine Augen blicken voller Angst seine Frau an. Zuhal nimmt seine Hand. Sie weint.

Tage vergehen, Wochen ziehen ins Land. Die Zeit zerrinnt in Windeseile. Kemal ist inzwischen in einer Rehabilitationsanstalt in Überlingen am Bodensee. Kemal hat mehrere Operationen erfolgreich überstanden, aber er wird bis an sein Lebensende an einen Rollstuhl gefesselt sein. Kemal will sich später dafür einsetzen, dass auf der Galatabrücke ein Suizid-Schutzzaun gebaut wird, der es unmöglich machen soll, dass Lebensmüde einfach springen.

Ganz leise, fast schüchtern klopft es an der Tür. Seit Stunden ist Kenan die langen geräumigen Gänge des großzügigen Sanitätsgebäudes nervös rauf- und runtergelaufen. Immer wieder hat er aus dem Fenster auf die prachtvolle Bodensee-Landschaft geschaut. Kenan gefällt der Blick auf die Promenade am See. Für den Sohn ist ein Alptraum wahr geworden. Seitdem er von dem Unglück seines Vaters erfahren hat, fühlt er sich wie gelähmt. Er fühlt sich schuldig an dem Geschehen. Warum ist er an dem besagten Abend nicht bei seinem Vater geblieben, warum hat er sich im Alkoholrausch so gehen lassen. Fragen, die ihm nicht aus dem Kopf gehen und kaum schlafen lassen. Er wollte doch eigentlich einen schönen Abend mit Kemal verbringen. Stattdessen hat er die Tür zugeschmissen, ist zu einem benachbarten Freund gelaufen und dort aufs Sofa gefallen. Und nach wochenlangem Ringen mit sich steht er nun vor der Tür, mit zitternder Hand klopft er noch einmal an, diesmal stärker. „Ja“, hört er eine schwache Stimme von innen rufen. Vorsichtig macht er die Tür auf. Kemal schaut ihn mit großen, offenen Augen an. Er versucht zu lächeln. Kenan schafft es nicht, den Blick zu erwidern und sieht auf den Boden. „Hallo Papa“, haucht er mehr, als dass er spricht. Das Wort „Papa“ hat er seit der Kindheit nicht mehr benutzt. Beklemmendes Schweigen folgt. Die Unsicherheit ist mit Händen zu spüren. Die überall im Zimmer verteilten fröhlichbunten Blumensträuße wirken merkwürdig deplatziert. Zeitungen stapeln sich auf seinem Tisch. Nach einer gefühlten Ewigkeit richtet sich Kemal mühsam im Bett auf. Er deutet Kenan gegenüber ein schwaches Lächeln an, zeigt mit seinem Finger auf den Rollstuhl, der in der Mitte des luxuriös ausgestatteten Einzelzimmers steht. Er versteht das Zeichen, nimmt hektisch den Wagen und rollt ihn vorsichtig an die Bettkante. „Hilf mir bitte rein“, murmelt Kemal mit belegter Stimme. Kenan zögert kurz, packt dann aber doch, ein wenig ungelenk, seinen Vater an der Hüfte und setzt ihn vorsichtig auf die mit einem Kissen ausgelegte Sitzfläche. Die ungewohnte Nähe und die Körperberührung lassen die Hände Kenans erzittern. Er kann seine Gefühle nicht mehr richtig unterdrücken. „Ich wollte das nicht“, stammelt er leise. „Wenn ich gewusst hätte, dass du dich …“ – Kenan stockt der Atem – „mmmh, töten wolltest“, ergänzt Kemal erschöpft den Satz. „Mein Sohn, eigentlich wollte ich nicht springen, ich bin es ja auch nicht“, fährt er tonlos fort. „Aber ich bin jetzt – ja,… wohl ein Krüppel.“ Kemal sieht verstört aus dem Fenster, als er diesen Satz aus sich herausquält. Er wirkt entrückt, als er auf seine Beine starrt. So sehr sie zu ihm gehören, so sehr scheinen sie ihm gleichzeitig