Bernadette und Josie - Gerd Heidbrink - E-Book

Bernadette und Josie E-Book

Gerd Heidbrink

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Beschreibung

Bernadette und Josie verbindet eine geheimnisvolle Freundschaft über die Weltmeere und die Jahrhunderte hinweg. Sie nehmen Genevieve, eine einfache Dienstmagd, in ihren Freundschaftsbund auf und erleben, wie diese in den Adelsstand aufsteigt, Gefahren und Anschlägen entkommt und schließlich Königin von England wird. Möglich wird dies durch den Holländer, der magische Kräfte besitzt und seine schützende Hand über das Leben der Freundinnen hält.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Bernadette und Josie verbindet eine geheimnisvolle Freundschaft über die Weltmeere und die Jahrhunderte hinweg. Sie nehmen Genevieve, eine einfache Dienstmagd, in ihren Freundschaftsbund auf und erleben, wie diese in den Adelsstand aufsteigt, Gefahren und Anschlägen entkommt und schließlich Königin von England wird. Möglich wird dies durch den Holländer, der magische Kräfte besitzt und seine schützende Hand über das Leben der Freundinnen hält.

Inhaltsverzeichnis

Bernadette und Josie Rendezvous auf dem Atlantik

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Die Zeitmaschine

Kapitel 12

Somerset

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Bali

Kapitel 23

Kapitel 24

Die Königin

Kapitel 25

Kapitel 26

Ascex

Kapitel 27

Bernadette und Josie

Rendezvous auf dem Atlantik

Kapitel 1

Im Mai 1591 lag eine Caravelle im Hafen von Hoorn am Kai. Die VRIJHEID war ein wunderschönes, noch ziemlich neues Schiff. Sie war fast vierzig Meter lang, sechs Meter breit und hatte einen Tiefgang von ungefähr drei Metern. Ihr Eigner war gleichzeitig ihr Kapitän. Er hieß Wilhelm van Leuven. Seine Besatzung bestand aus zwanzig Männern. Jacobus Mulder, der Erste Offizier, war ein noch junger Seemann, der erst vor Kurzem sein Seemannspatent an der Seefahrtschule in Enkhuizen abgelegt hatte. Der Kapitän schätzte die Fähigkeiten von Jacobus sehr und verließ sich im Alltagsbetrieb in jeder Beziehung auf ihn. Das Schiff wurde gerade für eine Reise nach England ausgerüstet.

»Bernadette, dein Vater und ich möchten etwas mit dir besprechen. Wir haben ja schon angekündigt, dass wir heute Nachmittag mit dir in aller Ruhe reden möchten. Es geht um etwas sehr Wichtiges. Um deine Zukunft!«

»Ja Mama, aber ich weiß schon, was ihr mit mir bereden wollt. Und ich sage Nein, Nein und noch mal Nein. Ich bin nicht einverstanden!«

Bernadettes Mutter schwieg eine Weile und sagte schließlich: »Dein Vater wird gleich hier sein und dann sprechen wir darüber.«

Bernadettes Vater war ein sehr erfolgreicher Kaufmann, der mit dem Handel von Gewürzen aus Indien ein Vermögen aufgebaut hatte. Das Haus, in dem die Familie lebte, war groß und reich ausgestattet. Es bot viel Platz für alle.

Nachdem der Vater aus dem Kontor nach Hause gekommen war, rief er die Familie in sein Arbeitszimmer. Nur widerwillig folgte Bernadette der Aufforderung. Ihr Vater gab sich viel Mühe mit seiner Vorrede. Bernadette hatte die Stirn krausgezogen und hörte zu. Der Kernpunkt seiner Rede war, dass ihre Mutter und er beschlossen hätten, für Bernadette einen geeigneten Mann zu suchen, mit dem sie eine Familie gründen und den Ruhm und die Ehre der eigenen Familie vergrößern würde. Der richtige Mann sei Herzog Edward von Somerset in England, ein Adeliger. Mit seiner Familie sei man sich bereits einig geworden. Der Vater verschwieg, dass er der Familie viel Geld geboten hatte, weil diese mehr oder weniger bankrott war. Der Handel war Adelstitel gegen Geld. Er schien sehr zufrieden mit dieser Entscheidung.

Bernadettes Mutter lächelte und schilderte ihrer Tochter ihr künftiges Leben als Herzogin in Somerset in leuchtenden Farben.

Bernadette wusste, dass sie verloren hatte. Dass sie gegen ihren Vater und ihre Mutter nicht ankommen würde. Und es ging ja schließlich um mehr als ihre Wünsche, es ging um die Zukunft des Hauses de Haan. Sie versuchte, dagegen zu argumentieren und es flossen Tränen. Aber nichts half, der Vertrag war bereits besiegelt. Sie musste nach England reisen. Sie versuchte, sich zu trösten, indem sie an die Freuden dachte, die ihr ihre Mutter geschildert hatte.

Die Abreise nach England sollte in fünf Tagen auf der VRIJHEID erfolgen.

Bernadette war ein aufgewecktes und lebhaftes junges

Mädchen. Sie hatte eine gute Ausbildung erhalten, die allerdings die Pflichten als Ehefrau und den Haushalt betonte. Sie war hübsch, aber wie häufig in diesem Alter, hatte sie an sich immer etwas auszusetzen.

Kapitän Wilhelm van Leuwen und sein Erster Offizier Jacobus Mulder kamen zu den de Haans, um die Einzelheiten der Reise und der Fracht zu besprechen. Die Fahrt mit dem Schiff sollte nach Plymouth gehen und von dort über Land weiter nach Somerset zum Schloss des Herzogs. Die Ladung bestand aus Geschenken für die Familie des Herzogs, aber vor allem aus der Aussteuer für Bernadette. Ein wesentlicher Teil des Ladeguts waren kostbare Gewürze aus den Lagerhallen der Familie de Haan.

»Ich glaube, die hübsche Tochter der Familie de Haan ist mit dieser Entscheidung nicht sehr glücklich«, meinte Jacobus, als sie zum Schiff zurückgingen.

»Sie soll froh sein, dass ihre Eltern ihr eine so gute Partie ausgesucht haben«, war des Kapitäns Antwort. »Außerdem sind die höheren Interessen der Eltern wichtiger als der Wille eines jungen, unerfahrenen Mädchens.«

Die verbleibenden Tage vergingen wie im Fluge. Bernadette wurde von ihrer Gouvernante Theresa in das Leben an Bord eines Segelschiffes eingewiesen. Sie blieb bockig, aber es half nichts.

Bernadette war mit ihren siebzehn Jahren schon ziemlich gereift und verständig. Es war kein Wunder, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen wollte. Die von der Gesellschaft für ein junges Mädchen verlangten traditionellen Verhaltensweisen standen ihren Interessen allerdings entgegen. Was sollte sie tun? Sie musste sich den Eltern fügen und umso mehr, als hier schon konkrete Absprachen und Zusagen bestanden, die sie nicht einfach ignorieren konnte. Niemand konnte ihr helfen. Wenn doch nur ein Wunder geschehen würde.

Dann kam der Tag der Abreise. Man hatte ihr eine Kabine zugewiesen, in der sie sich einrichten sollte. Theresa war ebenfalls mit an Bord. Sie war in der Kabine daneben, sodass sie Bernadette jederzeit zur Verfügung stand.

Am späten Nachmittag standen die Winde so, dass die VRIJHEID ablegen konnte. Langsam glitt sie aus dem Hafen auf die offene See. Sie segelte die Küste entlang nach Norden und dann im Texelstrom hinaus auf die Nordsee. Es war inzwischen Nacht geworden. Das Wetter war ruhig geblieben, mit leichten Winden, gerade genug, dass die VRIJHEID langsam und gemächlich Fahrt machte und ihren Kurs in der Nordsee nach Westen richten konnte.

In der dritten Nacht, als es zu dämmern begann, kam der Erste Offizier in die Kabine des Kapitäns. »Ich glaube, das Wetter wird schlechter. Ich sehe Wolken am Horizont, die fast bis aufs Wasser reichen. Wir sollten die Segel kürzen.«

Kapitän van Leuwen kam auf die Brücke und sah auf das Meer. Er hatte viel Erfahrung in der Seefahrt und gab Jacobus recht. Er gab das Kommando, die Segel zu kürzen. Sie überprüften gemeinsam anhand ihrer Seekarte, ob eine Kursänderung möglich wäre. Aber sie sahen, dass das nicht gehen würde, weil die Wassertiefe abseits der ursprünglichen Route nicht ausreichend war. Also mussten sie den Kurs fortsetzen.

Die Wolken kamen immer näher und der Wind frischte auf. Der Seegang nahm zu und Bernadette fürchtete, seekrank zu werden. Aber noch ging es ihr gut. Jacobus sagte ihr, dass ein Aufenthalt an Deck ab sofort nicht mehr möglich sei. Theresa fühlte sich nicht wohl. Sie legte sich auf die Koje und schloss die Augen.

Der Seegang nahm weiter zu und das Schiff stampfte heftig in den Wellen. Sie konnten den ursprünglichen Kurs nicht mehr halten. Jacobus und der Kapitän überprüften beständig ihre Position, damit das Schiff nicht strandete.

Jacobus verbrachte die meiste Zeit auf der Brücke beim Steuermann. Die Segel hatte man nochmals verkürzt und jetzt war nur noch eine kleine Besegelung drauf.

»Da! Achtung!«, schrie der Steuermann. Aber Jacobus hatte das Schiff schon gesehen – einen Viermaster, deutlich größer als ihr eigenes Schiff.

»Kurs Backbord!«

»Ja, verstanden!«

Sie mussten das Steuerrad zu zweit halten und bewegen, einer allein schaffte das nicht mehr. Langsam drehte das Schiff ab. Sie sahen ein eigenartiges Flimmern in der Nähe des fremden Schiffes. Es war nicht genau auszumachen, aber es war ziemlich hell. Und dann war das andere Schiff plötzlich verschwunden.

»Gott sei Dank. Geschafft!«

»Was war das für ein Schiff?«, fragten sich Jacobus und der Steuermann. »Es hatte keine klaren Umrisse. Man konnte das Schiff nur schwer erkennen. Es flimmerte und flirrte, fast wie ein Geisterschiff.«

Im Laufe der Nacht ließen Wind und Seegang nach. Es wurde ruhiger. Gegen morgen kam Theresa auf die Brücke. »Ist Bernadette hier bei Ihnen?«, fragte sie Jacobus.

Ganz überrascht sagte dieser: »Nein, hier ist sie nicht.«

»Sie ist nicht in ihrer Kabine. Ich kann sie nirgends finden.«

Jacobus ging mit zu den Kabinen der Frauen. Aber er fand Bernadette auch nicht. Höchst alarmiert ließ er das ganze Schiff absuchen und befragte die Besatzung. Aber niemand hatte irgendetwas gesehen.

»Hat sie denn in der Nacht ihre Kabine verlassen?«, wollte Jacobus wissen.

»Ich weiß es nicht. Mir ging es nicht gut. Ich war krank und habe nichts gesehen.«

Jacobus und der Kapitän sahen sich an und schickten Theresa erst einmal zurück in ihre Kabine.

»Das ist mir völlig rätselhaft. Es kann nur sein, dass sie ihre Kabine verlassen hat und an Deck von einer Welle mitgerissen und über Bord gespült wurde. Aber das hätte doch jemand gesehen. Das kann nicht sein!«

»Nein, ich war die ganze Zeit draußen und ich hätte ganz bestimmt gesehen, wenn Bernadette über Bord gegangen wäre.«

»Habt ihr mal nach den Beibooten geschaut?«

»Ja, sie sind aber alle da und unangetastet.«

Bernadette blieb verschwunden.

Theresa, der Kapitän, Jacobus und der Steuermann trafen sich in der Kapitänskajüte. Es herrschte bedrücktes Schweigen. Keiner wusste, was er zu dem Verschwinden von Bernadette sagen sollte. Keiner konnte es sich erklären. Theresa meinte, man müsste umkehren und Bernadettes Eltern informieren.

Jacobus sah die anderen gefasst an. »Es ist zu früh. Ich möchte den Eltern nicht unter die Augen treten ohne irgendeine Information, eine Nachricht, eine Entscheidung. Was können wir tun?«

Er bekam keine Antwort.

So hob Jacobus an zu sprechen: »Wir haben eine eindeutige Aufgabe. Wir sollen eine junge Frau nach England bringen, wo sie mit einem Adligen verheiratet werden soll, um Ruhm und Ehre für die Familie de Haan zu bringen. Wir haben alles an Bord, um diesen Auftrag ausführen zu können. Geschenke, Aussteuer, Gewürze. Es ist alles da. Das Einzige was fehlt, ist die junge Frau. Und diese ist dem Herzog und seiner Familie völlig unbekannt.«

»Was meinst du damit?«, fragte der Kapitän. »Wir können nicht zaubern.«

Jacobus sah die anderen drei ernst an. »Wir sollten zaubern! Es geht darum, eine junge Frau zu finden, die Bernadettes Stelle einnehmen kann und die bringen wir nach Plymouth.«

»Verrückt, das geht nie!«

»Ist euch bewusst, dass uns das Geständnis, dass wir Bernadette auf See verloren haben in gewaltige Schwierigkeiten bringen kann? Es würde eine gerichtliche Untersuchung geben und niemand weiß, wie ein Gericht letztendlich entscheiden würde. Man könnte uns für schuldig an Bernadettes Tod befinden.«

Theresa wurde blass. »Aber das ist unmöglich. Wir sind völlig unschuldig. Wir haben doch gar nichts Falsches getan!«

»Nehmt einmal an, in Hoorn tagt ein Seegericht mit lauteralten Herren, die unter dem Einfluss von Bernadettes Vater stehen. Wer weiß, zu welchen Schlussfolgerungen sie letztendlich kommen und welches Urteil sie dann über uns fällen. Es besteht ein hohes Risiko für uns.«

Der Kapitän hatte nachdenklich zugehört. »In der Schifffahrt gilt, dass der Kapitän eines Schiffes allein für die Sicherheit von Mannschaft und Schiff verantwortlich ist. Diese Verantwortung kann er nicht delegieren. Er allein ist für alles haftbar. Also bin ich der Alleinverantwortliche und Schuldige. Sprich weiter!«

»Ja, das sehe ich genauso. Was also tun? Wie ist unsere derzeitige Position?«

»Wir fahren an der belgischen Küste entlang. Wir sind ungefähr auf der Höhe von Ostende, vielleicht nur einige Meilen davon entfernt. Brügge ist auch nicht weit«, antwortete der Steuermann.

»Sehr gut. Wir sollten unseren Kurs nach Ostende richten und dort anlegen. Ich sage euch mehr, wenn wir festgemacht haben.«

Und so geschah es. Einige Stunden später fiel der Anker im Hafen von Ostende. Als auf dem Schiff alles aufgeräumt war, setzten sich die vier wieder zusammen.

»Wir sind uns darüber einig, dass wir ein junges Mädchen finden müssen, das Bernadettes Platz einnehmen kann. Sie muss das gleiche Alter haben, den gleichen Körperbau und sie sollte hübsch sein. Sie darf ruhig ein bisschen einfältig sein. Das macht nichts, es hilft uns vielleicht bei unserem Plan.«

»Aber die Eltern von Bernadette werden spätestens bei der Hochzeit merken, dass wir sie betrogen haben. Und dann fällt unser Lügengebäude wie ein Kartenhaus zusammen.«

»Das ist ein späteres Problem. Damit befassen wir uns, wenn es so weit ist. Jetzt geht es erst einmal darum, ein geeignetes Mädchen zu finden. Ihr müsst durch die Stadt ziehen und die Augen offenhalten. Niemand weiß, was wir vorhaben. Niemand wird also etwas vor uns verbergen. Am besten fangen wir morgen auf dem Markt und in den Straßen an, wo eingekauft wird. Später schauen wir uns dann in den Gasthäusern um«, sagte Jacobus entschieden.

»Was machen wir, wenn wir ein geeignetes junges Mädchen sehen?«, wollte der Steuermann wissen.

»Merkt euch, wann, wo, wer und gebt mir schnellstmöglich Bescheid.«

Kapitel 2

Im November 2012 lag eine Segeljacht am Kai im Jachthafen von Hoorn. Es war eine schöne Jacht, ungefähr siebzehn Meter lang und noch ziemlich neu. Sie wurde von den neuen Eignern, der Familie Martens, auf den Namen VRIJHEID getauft. Das Schiff war für eine Weltumsegelung speziell aus Aluminium gebaut worden und war außerordentlich stabil. Der Vorbesitzer hatte den Plan einer eigenen Weltumsegelung aufgrund seines hohen Alters inzwischen aufgegeben und war froh, in den Martens eine Familie gefunden zu haben, die seinen Plan weiterverfolgen und realisieren würde. Die Martens rüsteten die Jacht gerade für eine Weltumsegelung aus. Die Umbauarbeiten und der Einbau neuer Instrumente waren so gut wie abgeschlossen. Der wichtigste Punkt war die Erweiterung der Tankkapazität für Frischwasser auf über tausend Liter. Jetzt ging es nur noch um persönliche Ausrüstungsgegenstände und vor allem um Lebensmittel, Wasser in Kanistern und Flaschen und um Diesel.

Theo, Hermine, Josie und Felix wollten zu viert um die Welt segeln. Josie und Felix, vierzehn und zehn Jahre alt, hatten von Theo, ihrem Vater, genügend Segelerfahrung erlangt und fühlten sich fit für diese Reise. Das größte Problem war die Schule. Hermine, ihre Mutter, war Gott sei Dank Lehrerin und hatte die Schulbehörde schließlich davon überzeugen können, dass sie ihre Kinder unterwegs selbst unterrichten könnte. Die beiden wussten, dass ihre Mutter streng war und den Unterricht sehr ernst nehmen würde.

Ein paar Tage später legten sie ab. Viele Freunde waren

gekommen, um ihnen Lebewohl zu sagen und eine gute Reise zu wünschen. Drei Jahre wollten sie unterwegs sein und in dieser Zeit bis nach Australien segeln.

Auf den Kanarischen Inseln legten sie noch einmal an, um sich für die lange Atlantiküberquerung mit frischem Wasser und Lebensmitteln zu versorgen. Die Reise sollte entlang der Küste Patagoniens um Kap Hoorn herumführen und nicht durch den Panamakanal. Wegen der dortigen Wetterverhältnisse war das eine große Herausforderung. Sie hatten die Berichte von alten Segelschiffskapitänen aufmerksam studiert, um sich so viel Wissen wie möglich anzueignen.

Schnell hatte sich eine Bordroutine eingespielt. Die Wacheinteilung funktionierte gut. Auch Felix musste mit Wache gehen, da sie ja nur zu viert waren. Ein Autopilot nahm ihnen die Arbeit teilweise ab, sodass sie nicht permanent selbst steuern müssen.

Josie war mit ihren vierzehn Jahren nicht besonders groß. Sie maß gerade einmal knapp ein Meter sechzig. Josie war ein hübsches junges Mädchen. Sie hatte es sich angewöhnt, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war, sich vor den großen Spiegel im Schlafzimmer der Eltern zu stellen und sich ganz genau zu prüfen. Das tat sie regelmäßig. Sie fand sich zu klein. Ihre Freundinnen waren alle größer und sie befürchtete, kaum noch zu wachsen. Sie trug ihr Haar kurz, mit einem Pony. Da sie viel Sport trieb, erschien ihr diese Frisur am günstigsten. Sie segelte gerne, schon seit ihrer Kindheit, als ihr Vater ihr das Segeln beigebracht hatte. Irgendwann mit dreizehn hatte sie einen Artikel über eine Seglerin gelesen, die als junges Mädchen ganz allein über den Atlantik gesegelt war. Sie hatte allen Widrigkeiten der See in einem sechs Meter fünfzig langen Boot getrotzt.

»Das Meer ist sehr viel mächtiger. Du kannst nur versuchen, sicher mit deinem kleinen Boot zu segeln. Das ist eine völlig andere Mentalität als an Land!«, hatte diese berühmte Weltumseglerin gesagt. Das wollte Josie auch. Es wurde ihr Traum. Allein über den Atlantik in einer Regatta zu segeln. Also lernte sie alles über das Segeln.

Das Wetter war durchwachsen. Perioden mit wunderbarem Segelwind wechselten sich ab mit Phasen schwacher Winde oder zu viel Wind.

Felix meldete sich: »Papa, der Wind legt zu. Wir müssen die Segelfläche verkleinern, wir müssen reffen!«

»Okay, habe ich auch schon gemerkt. Ich komme!«

Und die Segelfläche wurde den neuen Windverhältnissen angepasst.

Josie liebte die Stimmung am ganz frühen Morgen, wenn die Sonne gerade aufging. Es war noch kühl, die Nacht verbarg noch vieles, die Wellen waren kaum zu sehen, nur die Bewegungen des Schiffes waren zu spüren und man hörte die Wellen sanft am Rumpf plätschern. Noch aufregender fand sie es, wenn der Wind stärker war, die Wellen höherschlugen und das Schiff schneller fuhr.

In der ersten Nacht nach dem Zwischenstopp auf den Kanaren wollte Josie wieder die Frühwache übernehmen. Da das Wetter beständig war, stimmten Theo und Hermine zu. Josies Wache begann um vier Uhr morgens. Es war kein Problem für sie, so früh aus der Koje zu kriechen. Draußen war es noch dunkel, kein Licht, kein Mond, keine anderen Schiffe, nur Schwärze. Josie saß am Ruder und genoss die Stimmung. Sie liebte die Sterne am Firmament. Auf See waren die Nächte absolut schwarz, wenn der Mond nicht schien. Umso leuchtender war der Sternenhimmel. Man sah viel mehr Sterne als an Land.

Josie hatte angefangen, mehr über den Sternenhimmel zu lernen. Sie hatte Sternenkarten studiert und einige Sternbilder kannte sie bereits. Sie blickte in den Himmel und versuchte, bekannte Sternbilder zu identifizieren. Sie konnte das Sternbild Waage sehen, drei sehr helle Sterne und einige kleinere Sonnen. Sie träumte davon, dass diese Sterne auch Planeten aufwiesen. Bewohnbare Planeten, und sie träumte sich auf diese Planeten. Sie würde wandern und viele neue Dinge entdecken, unbekannte Flora und faszinierende Fauna. Es kam ihr nie in den Sinn, dass dort vielleicht feindliche Lebewesen existieren könnten. Nein, für Josie gab es nur freundliche Geschöpfe und sie waren alle sehr neugierig aufeinander.

Es herrschte eine leichte Brise und das Schiff lief absolut ruhig durch die Nacht. Josie fröstelte noch ein bisschen, aber gleich würde die Sonne aufgehen und dann würde es schnell wärmer werden. Einen kleinen Schimmer konnte man schon am Horizont erkennen, die astronomische Dämmerung. Aber die Sonne musste noch weiterwandern, bis sie ganz zu sehen sein würde. Josie sah Richtung Osten, wo es ganz langsam heller wurde. Und dann glaubte sie plötzlich, etwas auf dem Wasser zu entdecken. Es war nur schemenhaft, nicht genau zu erkennen. Sie behielt es im Auge. Es war gar nicht so klein. Mit zunehmender Helligkeit wurde es deutlicher.

Aber Josie sah immer noch nicht, was es war. Sie beschloss, den Kurs ein wenig zu ändern. Sie

schaltete den Autopiloten aus, übernahm das Ruder selbst und hielt in Richtung des Schattens.

Ganz langsam wurde es heller und gleich würde man den obersten Rand der Sonne sehen können. Und plötzlich erkannte Josie, was der Schatten in Wirklichkeit war. Ihr stockte der Atem. Es sah aus wie ein Ruderboot – mitten auf dem Atlantik! War es ein Fischer, der Pech mit seinem Schiff gehabt hatte und das untergegangen war? Josie hielt jetzt auf das Boot zu. Als sie näherkam, konnte sie erkennen, dass jemand darin saß. Doch ein Fischer? Nein, die Figur passte nicht. Die Person winkte auch nicht oder machte anderweitig auf sich aufmerksam. Sie saß ganz ruhig auf der Bank und sah in Josies Richtung.

Josie erreichte das Ruderboot. Ganz sanft brachte sie ihre Jacht neben dem Boot zum Stehen. Schnell die Segel öffnen, damit der Wind aus den Segeln geht. Ja, hat geklappt, ein perfektes Manöver.

Völlig erstaunt blickte Josie auf die Gestalt in dem Ruderboot. Ein junges Mädchen, etwas altmodisch gekleidet, mit sanften Gesichtszügen und ohne Entsetzen über das, was ihr widerfahren war. Völlig ruhig. Josie warf ihr schnell eine Leine zu, damit sie sich daran festhalten konnte. Das funktionierte. Sie machte den Tampen an dem Ruderboot fest. Dann stand sie auf. »Komm an Bord!«

»Danke, bitte hilf mir«, rief die junge Frau auf Holländisch.

Inzwischen war Theo, Josies Vater, aus seiner Koje in den Salon gekommen und hatte nach ein paar Instrumenten gesehen, wie er es routinemäßig immer tat. Dann fragte er erstaunt aus dem Niedergang: »Sprichst du mit dir selbst, Josie?«

»Komm mal raus und sieh dir das an. Ein Ruderboot mit einem jungen Mädchen darin auf der Bank. Mitten im Atlantik um sechs Uhr morgens!«

Theo ging raus ins Cockpit und konnte gerade sehen, wie das junge Mädchen an Bord der VRIJHEID kletterte. Unter dem Arm hatte es ein kleines, in Wachspapier eingeschlagenes Päckchen. Er war genauso verblüfft wie Josie. Eine Schiffbrüchige? Nein, das passte nun gar nicht.

Das junge Mädchen sagte gar nichts. Sie musterte Josie und ihren Vater nur.

»Wo ist denn dein Schiff?«, fragte Josie sie freundlich.

Sie machte nur eine vage Handbewegung in Richtung Osten, aber da war nichts zu sehen.

»Ist dein Schiff untergegangen?«, hakte Josie nach.

Sie lachte. »Nein, dieses Schiff kann nicht untergehen!«

»Wie heißt du?«

»Ich heiße Bernadette de Haan.«

»Und wo kommst du her?«

Aber da lächelte Bernadette nur und gab keine Antwort.

Josie wunderte sich über Bernadettes Kleidung – eine Haube, eine weiße Bluse, eine Weste, ein ganz langer Rock, aber alles schrecklich altmodisch und überhaupt nicht zeitgemäß. Und es passte überhaupt nicht zur Seefahrt. Josie hingegen saß mit Jeans, einem schwarzen Pulli und einer winddichten Jacke in Signalrot am Ruder. Sehr schick und praktisch obendrein.

Felix streckte seinen Kopf aus dem Niedergang und blickte erstaunt auf Bernadette und das Ruderboot an der Seite ihrer Jacht. Er verschwand sofort wieder nach unten und holte sein Handy mit der Kamera. Dann schoss er wie verrückt Bilder.

Bernadette zuckte jedes Mal zusammen, wenn das Blitzlicht aufflammte.

Durch den leichten Seegang schlug das Ruderboot immer wieder gegen den Rumpf der VRIJHEID. Theo überlegte, was er damit machen sollte.

»Können wir das Ruderboot nicht behalten, bitte Papa!«, rief Felix.

»Das geht nicht, wir können es nicht hinterherziehen. Bei Sturm zerschlägt es uns am Rumpf.«

Und Felix sah traurig zu, wie Theo das Seil löste und das Boot loswarf. Er sah ihm hinterher. Die Umrisse des Bootes wurden plötzlich undeutlich. Das Boot löste sich auf und war auf einmal verschwunden. Felix hatte es mit den Augen verfolgt. Er verstand nicht, wieso es plötzlich nicht mehr vorhanden war. Man hätte es noch eine Zeit lang sehen müssen.

»Wo sind wir?«, fragte Bernadette.

»Wir sind im Atlantik, südlich der Kanarischen Inseln«, antwortete Josie.

Bernadette schien verwirrt. »Sind wir nicht in England, vor Plymouth?«

»Komm, ich zeig dir, wo wir sind«, sagte Theo und Bernadette ging mit ihm unter Deck in den Salon zu der Seekarte. Sie sah sich dort ganz erstaunt um, als hätte sie so etwas noch nie gesehen.

Theo zeigte ihr auf der Seekarte ihre Position.

Bernadette schien nichts zu verstehen. Offensichtlich konnte sie die Karte nicht lesen.

Dann kamen Hermine und Felix in den Salon und Theo stellte Bernadette die Crew vor: Hermine, Felix und sich selbst.

»Es ist Zeit zum Frühstücken«, sagte Hermine lächelnd. »Setzt euch doch!«

Und die vier setzten sich an den Salontisch, nur Josie war nicht dabei, weil sie draußen weiter steuern musste.

Hermine servierte das Frühstück: Kaffee, Tee, frisch gebackenes Brot, das sie jeden Tag selbst buk, Früchte, Butter, Rühreier, Wurst, Käse und Marmelade.

Bernadette rührte nichts an.

»Du kannst ruhig zugreifen. Möchtest du Kaffee?«, fragte Hermine freundlich.

»Was ist das?«, Bernadette sah Hermine fragend an.

»Kaffee? Nun, das ist Kaffee!«, sagte Hermine und schenkte Bernadette etwas von dem dampfenden Getränk ein.

Sie nahm die Tasse in die Hand und roch daran. Dann setzte sie sie wieder ab, ohne etwas getrunken zu haben. Bernadette schien völlig verwirrt. Dann griff sie nach dem Wasser, das auf dem Tisch stand. Das trank sie. Danach nahm sie sich ein Stück Brot und einen Apfel.

Felix hatte inzwischen mit seinem Rekorder etwas Musik gemacht. Bernadette schien die Musiker zu suchen und verstand nicht, wo die Musik herkam.

»Ich gehe mal Josie ablösen«, sagte Theo und Josie kam herunter und setzte sich zu den anderen an den Frühstückstisch.

»Wo ist euer Steuermann?«, fragte Bernadette.

»Ich bin der Steuermann«, rief Josie und lachte.

»Aber Frauen können das nicht!«, wandte Bernadette ein.

»Natürlich können Frauen das. Ich habe dich ja auch von dem Steuerstand aus trotz der Dunkelheit entdeckt, weil ich gut Ausschau gehalten habe.«

Josie war sofort fasziniert von Bernadette. Sie wollte unbedingt ihr Geheimnis lüften und fragte und fragte. Aber sie bekam nur ausweichende Antworten von ihr oder gar keine.

Hermine war praktisch veranlagt und meinte, Josie und Bernadette sollten sich die größte Kabine teilen. Und dann zeigte Josie Bernadette die Bedienung der Toilette, ein schwieriges Teil auf jedem Schiff.

Der Salon war ziemlich geräumig, ein großer Tisch, der manchmal auch als Navigationstisch für die Seekarten diente und Bänke drumherum, die Hermine noch vor der Fahrt mit blauem Cord überzogen hatte. Die Kabinen waren vollständig eingerichtet mit all den Dingen, die man für eine Weltumsegelung, die drei Jahre dauern sollte, brauchte.

Bernadette hatte keinerlei Gepäck dabei und so überlegten Josie und Hermine, wie sie das Thema Kleidung für Bernadette handhaben sollten. Da Bernadette etwas größer als Josie war, passten ihr deren Kleider sicher nicht. Sie müsste also von Hermine etwas zum Anziehen bekommen. Ihre Wäsche könnte sie sich mit Josie teilen und regelmäßig waschen.

Zu Josies täglichen Aufgaben an Bord gehörte die Abfrage der Wetterberichte. Dies machte sie mit einer Kurzwellenfunkanlage. Es dauerte immer etwas, bis Josie eine Verbindung aufgebaut hatte. Und wenn diese stand, konnte sie mit einem Meteorologen an Land sprechen. Bernadette beobachtete alles und hörte aufmerksam zu. Sie war fasziniert davon, eine fremde Stimme, eine Geisterstimme, zu hören. Sie fragte Josie, ob sie mit Geistern reden könne. Josie lachte, nein, das sei ganz normal. Mit diesem Gerät könne sie über ganz große Entfernungen mit jemandem sprechen, mit Menschen auf der ganzen Welt. Aber das verstand Bernadette nicht. Sie wusste zwar, dass ihr Vater und ihr älterer Bruder Schiffe nach Indien schickten, die mit Gewürzen beladen zurückkehrten. Aber wo war Indien?

Am nächsten Tag bekam Josie die Nachricht, dass sich weiter nördlich ein Sturm zusammenbraute. Sie rief Theo und beide sahen auf die große Seekarte des Atlantiks. Sie beschlossen, nach Süden auszuweichen. Wahrscheinlich würden sie ohnehin nur die Randausläufer des Sturms abbekommen.

»Wirst du seekrank?«, fragte Josie Bernadette besorgt.

»Nein, ich bin auf dem anderen Schiff auch nie seekrank geworden«, antwortete sie munter.

So war es dann auch. Zuerst nahmen der Seegang und der Wind etwas zu. Aber das dauerte nur einen Tag, dann war es vorbei und sie konnten ihren alten Kurs fortsetzen.

Bernadette staunte, dass Josie die gleichen Rechte und Fähigkeiten hatte wie ein Offizier auf einem Schiff, wie sie es kannte. Und vor allem wunderte sie sich, dass Theo ihr zuhörte, wenn Josie etwas sagte. Das kannte sie von ihrem Vater nicht.

Bernadette war nach wie vor verschwiegen und sagte nicht, wie sie in das Ruderboot gekommen war. Auf Fragen dazu lächelte sie nur und tat, als ob sie nichts verstünde. Aber Josie und Bernadette wurden schnell beste Freundinnen und so hoffte Josie, das Rätsel um Bernadette bald zu lösen. Sie war sehr gespannt, denn allen war aufgefallen, dass Bernadette nichts von dem wusste, was das Leben im Jahr 2012 ausmachte.

Bernadette war hübsch, ein bisschen älter und ein bisschen größer als Josie. Ihr volles Haar umrahmte ihr madonnenhaftes Gesicht. Ihre Züge waren glatt und ebenmäßig. Ihre Hände waren gepflegt, also konnte sie auch nicht hart gearbeitet haben.

Das Duschen auf so langen Reisen war wegen der knappen Wasservorräte ein Problem. Man musste mit Meerwasser duschen, ein Meerwasserduschgel benutzen und sich am Ende ganz kurz mit ganz wenig Süßwasser das Salz des Meeres abspülen. Gut war, dass Bernadette und Josie zusammen unter die Dusche gingen. Danach mussten sie sich eincremen mit einer speziellen Creme für Salzwasserduschen.

Bernadette war es nicht gewohnt ein Duschbad zu nehmen, schon gar nicht mit einer anderen Person. Sie kannte nur eine Badewanne und Dienstboten, die ihr halfen.

»Was hast du auf dem anderen Schiff gemacht?«

»Da stand plötzlich eine Wanne in meiner Kabine und danach war sie sofort wieder verschwunden. Ich habe nie darüber nachgedacht. Der Kapitän konnte so viel.«

»Aber das klingt nach Zauberei.«

Bernadette lachte nur. »Vielleicht.«

Kapitel 3

Jacobus, Theresa und Jaap, der Steuermann, machten lange Spaziergänge durch Ostende. Jaap entdeckte eines Tages schließlich Genevieve. »Ich habe ein junges Mädchen gesehen, das geeignet sein könnte – gleiches Alter und ähnliches Aussehen. Sie geht jeden Tag sehr früh auf den Markt. Eine junge Dienstmagd.«

Am nächsten Morgen folgten ihm die drei und siehe da, sie kamen zu dem gleichen Schluss.

»Ja, das ist sie!«, meinten sie übereinstimmend. »Und eine Dienstmagd wird so schnell keiner vermissen. Man wird denken, sie sei einfach abgehauen. Vielleicht wegen eines Liebhabers.«

Nun schmiedeten sie einen Plan. Das Wichtigste war, dass das Schiff nach der Entführung des Mädchens sofort auslaufen würde. Und die Wetterbedingungen müssten stimmen. Also dauerte es ein paar Tage. Und dann schlugen sie zu. Drei Mann der Schiffsbesatzung einschließlich des Steuermanns lauerten dem Mädchen bei Sonnenaufgang auf dem Weg zum Markt auf. Sie warfen ihr einen Mantel über den Kopf, hüllten sie darin ein, warfen sie sich über die Schulter und verschwanden sofort auf der VRIJHEID, wo sie das junge Mädchen in eine Kajüte sperrten, Bernadettes leere Kabine.

Natürlich hatte Genevieve Angst. Schließlich hatten drei grobe Kerle, Seeleute, sie entführt und auf ihr Schiff verschleppt.

Was sie noch nicht wussten, war, dass Genevieve eine Waise war. Sie war die uneheliche Tochter einer Dienstmagd aus einer Liaison mit einem unbekannten Mann. Ihre Mutter war gestorben als Genevieve sieben Jahre alt war. Das Mädchen blieb einfach in dem großen Haushalt, weil niemand so recht wusste, was man mit ihr anfangen sollte. So wuchs sie auf. Elise, eine Dienstmagd, kümmerte sich um sie und nahm die Stelle der Mutter ein. Niemand ahnte, dass Genevieve ziemlich intelligent war und heimlich Lesen und Schreiben gelernt hatte.

Genevieve wurde die Spielgefährtin des Sohns der Familie und als dieser älter wurde, war sie immer noch in der Familie. Als der Sohn Unterricht bekam, blieb sie einfach sitzen und nahm an den Lektionen teil, obwohl der Lehrer sich überhaupt nicht um sie kümmerte und das Mädchen völlig ignorierte. So lernte Genevieve Lesen, Schreiben und Rechnen und später auch noch alle anderen Schulfächer.

Theresa versuchte, Genevieve zu beruhigen. Schon die Tatsache, dass da eine Frau war, brachte das junge Mädchen zur Ruhe. Sie stellte kaum Fragen.

»Wir werden dir gleich sagen, worum es hier geht. Hab keine Angst. Es wird alles gut werden, vertrau mir«, sagte Theresa sanft.

Die VRIJHEID war klar zum Auslaufen. Sobald sie auf See war und Kurs nach Westen hielt, brachte Theresa das Mädchen in die Kabine des Kapitäns. Der Kapitän sollte das Gespräch eröffnen. Er stellte sich und die anderen Genevieve erst einmal vor. »Du brauchst überhaupt keine Angst zu haben. Niemand wird dir irgendetwas tun. Wir haben dir einen Vorschlag zu machen, der dich wahrscheinlich sehr überraschen wird. Aber wir brauchen deine Zustimmung dazu. Ohne dein Einverständnis und deine Mitwirkung lässt sich das Vorhaben nicht umsetzen.«

Genevieve schwieg. Natürlich hatte sie Angst.

»Fangen wir an. Wie heißt du und wie alt bist du?«, der Kapitän blickte Genevieve freundlich an.

»Ich heiße Genevieve Bos und bin siebzehn Jahre alt.«

»Wer sind deine Eltern?«

»Meine Mutter ist gestorben, als ich sieben Jahre alt war. Einen Vater habe ich nicht, kenne ich nicht. Elise, eine Magd, hat mich aufgezogen. Ich bin ihr sehr dankbar. Sie wird mich vermissen, wenn ich heute nicht nach Hause komme. Ich möchte sofort zu ihr zurückkehren.«

Darauf gab der Kapitän keine Antwort. »Ich will dir schildern, worum es geht. Du bist eine Dienstmagd und wirst wahrscheinlich bis ans Ende deiner Tage eine Dienstmagd bleiben. Es sei denn, es passiert etwas Außergewöhnliches. Und was wir dir vorschlagen, ist außergewöhnlich. Deine Stellung in der Gesellschaft wird sich erheblich verbessern. Du wirst eines Tages eine Herzogin sein.«

Genevieve hörte ungläubig zu und lächelte. Das könne ja wohl kaum sein, dachte sie sich.

»Ich will dir schildern, welchen Auftrag wir haben«, fuhr der Kapitän fort. »Wir haben in Hoorn eine junge Frau an Bord genommen, Bernadette de Haan, so alt wie du, siebzehn Jahre. Sie ist die Tochter eines reichen Kaufmanns. Sie sollte in England den Herzog Edward von Somerset heiraten. Auf dem Weg dorthin ist Bernadette in einem Sturm über Bord gefallen und wahrscheinlich ertrunken. Wir haben keinerlei Ahnung von ihrem Verbleib.«

Jacobus schaltete sich ein. »Ich habe in jener Nacht das Kommando gehabt und bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht über Bord gefallen ist. Sie hat ihre Kabine nie verlassen. Wo ist sie? Für einen ganz kurzen Moment habe ich einen Viermaster in unserer Nähe gesehen und ein Flimmern in der Luft. Aber das war sofort wieder verschwunden. Unser Plan ist nun folgender: Wir bringen dich nach England, nach Somerset. Wir sagen dem Herzog, du seist Bernadette de Haan, seine künftige Schwiegertochter. Der Herzog kennt dich nicht. Weder er noch seine Frau werden daran zweifeln, dass du Bernadette bist. Aber Bernadettes Eltern werden zur Hochzeit kommen und dann natürlich feststellen, dass nicht ihre Tochter, sondern du vor dem Traualtar stehst. Theresas Aufgabe wird es sein, ihnen das vorher alles zu erklären. Wir glauben, gute Argumente zu haben. Das beste Argument ist deine Person mit all ihren Eigenschaften.«

Genevieve wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr kam das alles ziemlich verrückt vor. Und gefährlich war es oben-drein. Was, wenn einer der Beteiligten sich damit nicht abfinden wollte und sie um ihr Leben fürchten müsste. Aber Jacobus argumentierte eindringlich und stellte klar, warum nach der Meinung aller Anwesenden genau dies nicht passieren würde. Wichtig sei, dass nur Bernadettes Eltern von dem Austausch der Braut Kenntnis bekommen würden und keinesfalls der Herzog oder andere Verwandte des Sohnes.

Und dann schilderten sie Genevieve ihr künftiges Leben als Gemahlin eines Herzogs. Mit jedem Tag würde sie sicherer werden. Selbst wenn viel später irgendjemand den Betrug aufdecken würde, könnte er nichts verraten, weil dies eine Krise im Herzogtum auslösen würde und niemand daran ein Interesse haben könnte.

Genevieves Gedanken überschlugen sich. Es drehte sich alles im Kreise. »Ich bin einverstanden. Aber nur unter der der Bedingung, dass Elise eine Nachricht erhält, dass es mir gut geht. Ihr müsst ihr nicht sagen, wo ich bin, aber ich möchte, dass sie erfährt, dass es mir gut geht. Und eines fernen Tages werde ich sie wiedersehen. Sie ist seit ich sieben Jahre alt bin meine Mutter. Und sie sucht mich bestimmt schon.«

»Einverstanden. Schreib ihr eine Botschaft. Wir werden dafür sorgen, dass sie sie erhält.«

Sie gaben Genevieve ein Stück Pergament, einen Federkiel und Tinte. Und die drei waren ganz überrascht, wie flüssig Genevieve schreiben konnte. Das war für Dienstmägde nicht normal. Als Beweis, dass wirklich sie es war, schnitt sie eine Locke von ihrem Haar ab und fixierte das Haarbüschel mit Siegellack auf dem Dokument. »Ich möchte, dass sie die Botschaft schnell erhält. Sie soll sich keine Sorgen machen.«

»Wir werden im nächsten Hafen einen Boten losschicken. Wir legen in Dünkirchen noch einmal an. Nur für dich!«, versicherte ihr Jacobus.

Kapitel 4

Josie und Bernadette wurden schnell Freundinnen und nach einiger Zeit auf dem Atlantik war Bernadette endlich bereit, Josie von ihrer Herkunft zu erzählen.

»Ich wurde am 15. Januar 1575 in Hoorn geboren. Meine Eltern sind Maximilian und Elsa de Haan, Kaufleute in Hoorn. Mein Vater und mein älterer Bruder handeln mit Gewürzen aus Indien und anderen Ländern.«

»Moment mal, du hast dich versprochen. Du hast gesagt 1575, das ist unmöglich. In welchem Jahr bist du denn wirklich geboren?«

»1575!«, wiederholte Bernadette noch einmal.

»Das kann nicht sein. Dann wärst du ja ein paar Hundert Jahre alt!«, sagte Josie und sah Bernadette zweifelnd an.

»Ich will es dir beweisen«, erwiderte Bernadette und zog das kleine Päckchen hervor, das sie immer sorgsam bewachte. Sie wickelte es vorsichtig aus dem Wachspapier aus. Ein kleines Bild kam zum Vorschein, ein Porträt. Das Bild zeigte unzweifelhaft Bernadette. Aber das Gemälde wirkte unglaublich frisch und gar nicht gealtert, was es normalerweise hätte sein müssen.

»Mein Vater hat das Bild in Auftrag gegeben. Bei einem sehr berühmten Maler, Pieter Brueghel. Er hat mich gemalt. Es ist ein Hochzeitsgeschenk für den Herzog in England, den meine Eltern als meinen zukünftigen Mann bestimmt haben.«

Josie stockte der Atem. Das Bild war unglaublich fein ausgeführt. Jeder Pinselstrich stimmte, die Farben waren frisch und klar. Eine junge, aufgeweckte Frau war darauf zu sehen – Bernadette.

Josie war völlig verwirrt. »Darf ich meine Mutter fragen?«, bat sie Bernadette.

»Ja natürlich!« Josie holte Hermine hinzu. Sie drückte ihr wortlos das Bild in die Hand. Hermine betrachtete es sehr genau und las auch die Signatur: Pieter Brueghel.

»Ganz frisch, eine sehr gute Fälschung. Man könnte es für ein Original halten.«

Sie sah die beiden Freundinnen an, die kein Wort sagten.

»Es ist das Original«, erklärte Josie.

»Unmöglich. Pieter Brueghel lebte im sechzehnten Jahrhundert und war ein sehr berühmter Maler. Ich habe ein Buch über ihn. Ich zeige es euch!«, und sie ging das Buch holen. »Hier, seht euch seine Bilder an.«

Plötzlich stutzte sie. Auf einer Seite war ein kleines Porträt abgedruckt. Es war das Porträt von Bernadette mit der Jahreszahl 1590. Hermine verglich die beiden Bilder sehr genau. Sie sagte nichts. Erst später seufzte sie und meinte, die beiden Bilder würden sich erstaunlich ähnlich sehen. Für eine Fälschung sei das Bild fantastisch gut gelungen. Aber es müsse eine Fälschung sein. Und sie sah die beiden interessiert an.

»Ich habe Pieter Modell gesessen. Er hat mich gemalt«, sagte Bernadette.

Hermine sank auf die Bank. »Das geht doch gar nicht! Hier steht, dass das Bild verschollen ist.«

Josie dachte nach. »Das ist aber komisch. Das Bild wurde ja mal fotografiert, in einer Zeit, als es schon gute Kameras gab. Das ist unlogisch.«

»Ja, du hast recht«, sagte Hermine.

»Felix, komm doch mal mit deiner Kamera zu uns.«

Felix kam neugierig zu ihnen.

»Mach bitte mal ein Superfoto von diesem Bild.«

»Aber das ist ja Bernadette!«, rief Felix erstaunt aus.

Das Portrait lag auf dem Salontisch und Felix stellte seine Kamera ganz genau ein, nur das Bild und der Rahmen sollten zu sehen sein. Sonst nichts. Dann betrachteten die vier das Foto. Ja, es war perfekt, der Ausschnitt stimmte, die Beleuchtung stimmte. Sie verglichen das Foto mit der Abbildung in Hermines Buch. »Man könnte glauben, Felix‘ Foto ist dort abgedruckt. Felix, wenn wir in brasilianischen Gewässern sind, schick das Bild an Wiki. Ich schreibe noch etwas dazu.«

Nun entschied Bernadette, ihnen die Wahrheit zu sagen. »Ich werde euch erzählen, was mir widerfahren ist. Ich möchte einen Schluck Wasser. Die Geschichte begann so: Meine Eltern hatten beschlossen, dass ich alt genug wäre, um zu heiraten. Sie suchten einen Mann für mich aus. Einen Herzog, den Herzog Edward von Somerset in England. Ein Schiff namens VRIJHEID, es hieß wie euer Schiff, unter Kapitän Wilhelm van Leuwen sollte mich nach England bringen. Bevor wir in Plymouth ankamen, kam ein gewaltiger Sturm auf. Ich war in meiner Kabine, als plötzlich die Tür aufflog und zwei Gestalten in meine Kabine stürmten. Ich konnte sie kaum erkennen. Sie flimmerten und veränderten dauernd ihre Gestalt, wie Geister. Sie packten mich und plötzlich flog ich mit ihnen durch die Luft. Das kleine Päckchen presste ich fest an mich. In unserer Nähe war ein großer Viermaster. Er war genauso flüchtig und vage wie die zwei Gestalten –