Besenkammer mit Bett. Das Schicksal einer illegalen Hausangestellten in Lateinamerika - Eva Karnofsky - E-Book

Besenkammer mit Bett. Das Schicksal einer illegalen Hausangestellten in Lateinamerika E-Book

Eva Karnofsky

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Beschreibung

Lateinamerika ist ein Kontinent der krassen sozialen Gegensätze. Für die wenigen Reichen ist er das Paradies, für die vielen Armen die Hölle. Sie schinden sich für Hungerlöhne, nehmen Misshandlungen, Ungerechtigkeiten oder ein Leben in der Illegalität in Kauf. Vor allem Frauen sind Opfer der Verhältnisse. Über zwanzig Millionen verdingen sich als Hausangestellte, weil die Gesellschaft ihnen keine Ausbildung ermöglicht, ihnen der erlernte Beruf kein Auskommen bietet oder weil sie keine Stelle finden. Weil sie überleben müssen. Für ihre Herrschaften sind sie Maschinen: Man kauft sie, und dann haben sie zu funktionieren. Bleiben sie stehen, haut man mit der Faust dagegen. Und wenn das nicht hilft, kauft man neue. Wie die Maschinen haben Hausangestellte keine Geschichte, keine Gefühle, keine Gesundheit. Und keine Sorgen. Sie laufen oder sie laufen nicht. So einfach ist das. Schon nach wenigen Tagen in Stellung macht Catalina Vázquez diese bittere Erfahrung. Catalina ist eine Kunstfigur, doch was sie erleidet ist traurige Wirklichkeit, von der Autorin in zwanzig Jahren journalistischer Arbeit in Lateinamerika recherchiert. So ist Catalinas Geschichte eine wahre Geschichte. »Niemand, der dieses Buch liest, wird unberührt bleiben können von der Geschichte dieser Frauen. Und vielleicht führt die Lektüre sogar dazu, dass diejenigen, deren Wohnungen von einer Filipina oder Ukrainerin geputzt werden, einmal ein paar Fragen stellen, sich für das Leben ihrer stillen, ständig von Abschiebung bedrohten Helferinnen zu interessieren. « SWR2

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Über das Buch
Lateinamerika ist ein Kontinent der krassen sozialen Gegensätze. Für die wenigen Reichen ist er das Paradies, für die vielen Armen die Hölle. Sie schinden sich für Hungerlöhne, nehmen Misshandlungen, Ungerechtigkeiten oder ein Leben in der Illegalität in Kauf. Vor allem Frauen sind Opfer der Verhältnisse. Über zwanzig Millionen verdingen sich als Hausangestellte, weil die Gesellschaft ihnen keine Ausbildung ermöglicht, ihnen der erlernte Beruf kein Auskommen bietet oder weil sie keine Stelle finden. Weil sie überleben müssen. Für ihre Herrschaften sind sie Maschinen: Man kauft sie, und dann haben sie zu funktionieren. Bleiben sie stehen, haut man mit der Faust dagegen. Und wenn das nicht hilft, kauft man neue. Wie die Maschinen haben Hausangestellte keine Geschichte, keine Gefühle, keine Gesundheit. Und keine Sorgen. Sie laufen oder sie laufen nicht. So einfach ist das. Schon nach wenigen Tagen in Stellung macht Catalina Vázquez diese bittere Erfahrung. Catalina ist eine Kunstfigur, doch was sie erleidet ist traurige Wirklichkeit, von der Autorin in zwanzig Jahren journalistischer Arbeit in Lateinamerika recherchiert. So ist Catalinas Geschichte eine wahre Geschichte.

»Niemand, der dieses Buch liest, wird unberührt bleiben können von der Geschichte dieser Frauen. Und vielleicht führt die Lektüre sogar dazu, dass diejenigen, deren Wohnungen von einer Filipina oder Ukrainerin geputzt werden, einmal ein paar Fragen stellen, sich für das Leben ihrer stillen, ständig von Abschiebung bedrohten Helferinnen zu interessieren.«SWR2Über die AutorinEva Karnofsky, 1955 in Wesel geboren, schreibt seit fast 30 Jahren über Lateinamerika. Sie hat zehn Jahre als Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Argentinien gelebt und für ihre Bücher und Reportagen die übrigen Länder des Kontinents immer wieder bereist. Sie veröffentlichte u.a. den Roman »Die Straße der Tugenden« (Horlemann Verlag 2008), der auf Kuba spielt. Gemeinsam mit Barbara Potthast schrieb sie »Mächtig, mutig und genial. Vierzig außergewöhnliche Frauen aus Lateinamerika« (Rotbuch Verlag 2012). Zuletzt erschien von ihr die Anthologie »Brasilien fürs Handgepäck« (Unionsverlag 2013). 2012 erhielt sie von Amnesty International für die Hörspielbearbeitung ihres Krimis »Bogotá Blues« (éditions trèves 2010) den Marler Medienpreis Menschenrechte. Sie arbeitet als Literaturkritikerin, u.a. für SWR, WDR und DLF, und lebt in Hamminkeln am Niederrhein.

Eva Karnofsky

Besenkammer mit Bett

Das Schicksal einer illegalen Hausangestellten in Lateinamerika

CulturBooks Verlag

Impressum eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2013www.culturbooks.de Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg Tel. +4940 31108081, [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Erstausgabe Print: Horlemann 2005 Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Inhalt

Vorwort
Der Überfall
Die Krankheit
Die Reise
Der Job
Die Freundin
Das Gesetz
Die Drohung
Die Hütte
Die Betrogenen
Der Mann
Das Kind
Die Trennung
Die Rückkehr

Rezepte

Fischsalat (Ceviche)
Kartoffelpüreetorte (Causa Limeña)
Hühner-Gemüsesuppe (Sopa de pollo y verduras)
Argentinisches Rinderfilet mit Kartoffelgratin (Bife de lomo con papas a la crema)
Paraguayische Gemüsesuppe (Sopa de verdura)
Paraguayischer Reiseintopf mit Rind (Arroz con carne)
Kurzgebratenes Rindfleisch mit Paprika (Lomo saltada)
Rinderherz-Spießchen (Anticuchos)
Truthahn mit Süßkartoffelpüree (Pavo con puré de camote)
Tintenfisch mit schwarzer Olivensauce (Pulpo al olivo negro)
Miesmuscheln nach Chalaca-Art (Choros a la chalaca)
Kartoffeln nach Huancaina-Art (Papas a la huancaina)
Fischfilet mit Meeresfrüchten (Jalea)

Für Lidu

Vorwort

Das Wohnzimmer meiner ersten Wohnung in Buenos Aires glich einem Tanzsaal. Dazu ein geräumiges Schlafzimmer, ein Gästezimmer, ein Büro. Nur die Kammer hinter der Küche war winzig. Ein schmaler Schlauch, in den die Küchendämpfe zogen. Daran grenzte die Miniaturausgabe eines fensterlosen Badezimmers. Die Toilette hatte keine Brille, aus der hinteren Wand ragte eine Dusche. Wollte man sie benutzen, hieß es, sich zwischen Klo und Wand zu zwängen und sich so geschickt zu verbiegen, dass der kalte Strahl den Körper und nicht direkt die Toilette traf. Für einen Vorhang war kein Platz. Der Abfluss, ein Loch im Boden, war verstopft, und man musste höllisch aufpassen, dass das Wasser nicht in die Kammer floss. Ein Waschbecken von dreißig Zentimeter Länge und eine nackte Glühbirne darüber vervollständigten das ärmliche Bad. Ich beschloss, das Zimmer als Abstellraum für meine Koffer zu nutzen. Einem Gast konnte ich den Raum schwerlich zumuten.

Auch die Küche war erbärmlich ausgestattet. Für eine Spülmaschine gab es keinen Platz, der Gasherd war vorsintflutlich und konnte sich nie dazu durchringen, Fett so stark zu erhitzen, dass ein Steak außen kross und innen saftig wurde. Der Backofen hatte seine Dienste eingestellt.

In den kommenden Wochen erfuhr ich, dass fast jede größere Wohnung in meiner neuen Heimat über ein solches Zimmer hinter der Küche verfügte. Und dass das meine noch recht geräumig war. Nicht für Koffer oder Besen ist die Kammer gedacht, vielmehr leben die Dienstmädchen darin! Wie deprimierend musste das sein!

Ich lernte, dass die eine Million argentinischer Dienstmädchen Mucamas heißen. In den folgenden Jahren traf ich viele von diesen meist namenlosen, schattenhaften Wesen, die nur schnell in das Esszimmer huschten, schüchtern einen guten Abend wünschten, die Speisen servierten und wieder in die Küche verschwanden. Die Hälfte von ihnen kam aus den argentinischen Nordprovinzen oder aus den Nachbarländern Peru, Paraguay und Bolivien. Die Armut hatte sie in die Metropole am Río de la Plata mit seinen elf Millionen Einwohnern oder in andere argentinische Großstädte verschlagen. Ihre kohlschwarzen Mandelaugen, ihre hohen Wangenknochen und ihre braune Haut wiesen sie gewöhnlich als Indianerinnen oder Mestizinnen aus. Sie waren es, die den Abwasch bewältigten, so dass man sich die Anschaffung einer Spülmaschine sparen konnte. Wenn sie bis in die Nacht abwuschen, störte das ihre Herrschaften wenig. Und sie schlugen sich mit den altersschwachen Gasherden herum. Wie sie es anstellten, das Fleisch zu braten, war ihren Arbeitgebern offenbar gleichgültig.

Wenn man ihren Arbeitgeberinnen aus der guten Gesellschaft glauben durfte, gab es zwar die eine oder andere Perle unter den Mucamas, und ein Sprichwort besagt, dass hinter jeder tollen Frau eine tolle Mucama steht, doch viele waren »schlampig, verlogen, unpünktlich und faul«. Drehte man ihnen den Rücken, klauten sie. Und sie waren dumm. Wären sie es nicht, wären sie nicht Mucama geworden, behauptete so manche Señora, wenn sie sich mal wieder über ihr Mädchen geärgert hatte. Und wehe, man reicht ihnen den kleinen Finger! Dann nehmen sie gleich die ganze Hand. Nur ja nicht großzügig sein, denn sie danken es nicht. So esse man Filet und Krabben besser am Sonntag, wenn sie ihren freien Tag haben, um sie nicht zu sehr zu verwöhnen. Solche Empfehlungen hörte ich oft, von Europäerinnen wie von Argentinierinnen. Und wehe, sie haben einen Freund! Dann trennt man sich besser von ihnen, denn wer weiß, ob der nicht vielleicht ein Dieb ist, und die Wohnung ausräumt, während man in Urlaub fährt? Bis Argentinien 1823 unabhängig wurde, war es weiblichen Hausangestellten verboten, zu heiraten. Heute verbietet es ihnen zwar kein Gesetz mehr, doch wer einen Freund hat und dies zugibt, findet oft keine Arbeit. Wer würde da nicht aus Not zur Lügnerin?

Nach Jahren entschloss ich mich, ebenfalls die Dienste eines guten Geistes in Anspruch zu nehmen. Das Mädchen hieß Amelia Villalba und stammte aus einem kleinen Dorf im Süden Paraguays. Meli war nicht gebildet, aber schlau, ehrlich, sauber und fleißig. Sie war die erste, die mir zeigte, wie die Welt aussieht, wenn man sie mit den Augen einer Mucama betrachtet, die illegal im Land lebt: Sie wurde vorwiegend von geizigen, kleinlichen, misstrauischen Ausbeuterinnen regiert, die ihre Not ausnutzten. Meli und ihre jüngere Schwester ernährten mit ihrer Arbeit ihre jüngeren Geschwister in Paraguay.

Die Idee zu diesem Buch aber habe ich der peruanischen Krankenschwester Liduvina Campos zu verdanken, die mir in den fast drei Jahren, die sie meine Wäsche bügelte, meine Wohnung putzte und mich mit ihren außergewöhnlichen Kochkünsten verwöhnte, zur Freundin wurde. Wie Meli erzählten mir auch Lidu und ihre beiden Schwestern ihre Lebensgeschichten und berichteten von ihren Erfahrungen als Mucamas ohne Papiere in Argentinien. Sie berichteten von ihrer Kusine, die fast vergewaltigt worden war, als sie ein Zimmer suchte. Sie klagten über Vermieter, die sie und ihre Freundinnen aussaugten, über Señoras, die sie wie Menschen zweiter Klasse, fast wie Leibeigene behandelt hatten und ihnen ihr Geld oder ihren wohl verdienten, zweiwöchigen Jahresurlaub schuldig blieben. Die Campos-Schwestern ließen mich an ihren Sorgen und Nöten und denen ihrer Verwandten, Freundinnen und Bekannten teilhaben. Ich erfuhr, was es heißt, als Frau mit Universitätsexamen putzen zu müssen. Laut einer Studie der Internationalen Migrations-Organisation waren die über Hunderttausend peruanischen Hausangestellten, die bis zur Wirtschaftskrise im Januar 2002 in Argentinien lebten, im Schnitt besser ausgebildet als ihre Señoras. Ich begriff, wie es ist, in einer Besenkammer mit Bett zu hausen, in einer der bis 2002 teuersten Städte der Welt zwischen 240 und 500 Dollar zu verdienen, als Mestizin in Buenos Aires zu leben, als „Illegale“ Angst vor der Ausweisung zu haben, den Arbeitgebern ausgeliefert zu sein oder das eigene Kind in der Heimat zurücklassen zu müssen.

Dank Meli und Lidu, ihrer Verwandten und Freundinnen lernte ich den lateinamerikanischen Kontinent aus der Sicht der Dienstmädchen kennen. Und davon gibt es viele: Sie machen die größte weibliche Berufsgruppe aus, denn etwa jede vierte berufstätige Frau arbeitet als Hausmädchen, das heißt, knapp zwanzig Millionen Lateinamerikanerinnen verdingen sich im Haushalt fremder Leute. Allein in Brasilien sind es gut sieben Millionen Frauen. Das besagen offizielle Zahlen. Sie berücksichtigen aber die Frauen nicht, die bereits das Rentenalter überschritten haben und aufgrund fehlender Altersversorgung immer noch für andere Leute schrubben müssen. Und die Statistiken zählen die Kinder nicht mit, die mit zwölf oder dreizehn Jahren in einem fremden Haushalt spülen, waschen und kochen. Und sie rechnen Hunderttausende von illegal eingewanderten Beschäftigten nicht mit ein. Der Strom der Hausangestellten fließt immer in die Länder, deren Währung gerade mehr wert ist als die der Heimat. Über Jahre war das Argentinien, dann zogen die Frauen weiter nach Chile oder Brasilien.

In den letzten Jahren hat sich Einiges zum Besseren gewendet, denn in vielen Ländern haben sich die Hausangestellten ihre eigenen Interessenvertretungen geschaffen, weil die Gewerkschaften kaum je einen Finger für sie gerührt hatten. Ihre Organisationen haben erreicht, dass etliche Regierungen die Arbeitsgesetze für Hausangestellte verschärft haben. So wurde in Argentinien die Wochenarbeitszeit für Mucamas Anfang 2013 von 66 auf 48 Stunden reduziert. Auch die Zahl der Frauen, die nicht sozialversichert sind, hat sich verringert, weil einige Regierungen in öffentlichen Kampagnen dafür geworben haben, die Hausangestellten zu versichern. So sind in Chile heute rund vierzig Prozent sozialversichert, in Paraguay jedoch sind es immer noch traurige 0,2 Prozent. Wer ohne gültige Papiere arbeitet, profitiert nicht von den neuen Gesetzen.

Viele Frauen und Mädchen, die in ihrem eigenen Land als Dienstmädchen oder Putzfrau arbeiten, werden meist nicht viel besser behandelt als die „Illegalen“, denn auch heute trauen sich trotz verbesserter Arbeitsgesetze viele von ihnen nicht, für ihre Rechte zu streiten, aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Und so sind sie weiterhin vom guten Willen ihrer Arbeitgeberinnen abhängig.

Ich schlage mich in diesem Buch bewusst auf die Seite der Mucamas, selbst auf die Gefahr hin, dass mir so manche Señora dies nicht verzeihen wird. Doch die Señoras brauchen keine Fürsprecher, ihr Dasein ist paradiesisch verglichen mit dem ihrer Hausangestellten. »Aus Not verzichten wir auf ein eigenes Leben, um denen, die mehr Geld haben, das Leben zu erleichtern«, klagte mir einmal eine fast siebzigjährige Brasilianerin ihr Leid. Sie war ledig und kinderlos geblieben, weil sie als Hausangestellte nie die Möglichkeit hatte, einen Mann kennen zu lernen. Die Organisationen der Hausangestellten raten heute ihren Mitgliedern, nicht im Haus der Arbeitgeber, sondern in ihrer eigenen Bleibe zu wohnen, damit sie sich nicht die Chancen auf einen Freundeskreis und eine eigene Familie nehmen. Zumindest in Brasilien halten sich auch vermehrt Frauen daran.

Catalina Vázquez und ihre paraguayische Freundin Adriana Villegas erleben in diesem Buch, was Lidu, Meli und ihre Verwandten und Freundinnen ausgestanden haben und was viele Millionen von Frauen in Lateinamerika täglich erleiden. Und was wohl auch Tausende von »illegalen« Putzfrauen aus Osteuropa oder Lateinamerika in Deutschland erdulden. Catalinas und Adrianas Erfahrungen sind verbürgt. Und so ist ihre Geschichte eine wahre Geschichte.

Der Überfall

Lima ist das Ziel aller Wünsche. Zumindest, wenn man in der tiefsten peruanischen Provinz geboren ist. In der Hauptstadt ist alles besser, größer, schöner, moderner. Lima steht für Arbeit, für Erfolg, für unbegrenzte Möglichkeiten. Für einen Ehemann, dessen Hände nicht schwielig sind von der Feldarbeit. Auch Catalina Vázquez träumte von Lima, als sie noch eine beschwerliche Tagesreise von der Hauptstadt entfernt in der Nordprovinz Cajamarca lebte. Acht Jahre in Lima haben sie gelehrt, dass auch die Hauptstadt kein Paradies ist. Sie ist Chaos und Kampf, Korruption und Ausgeliefertsein, Lärm und Gestank. Und die Männer mit den glatten Händen sind nicht besser als die Bauern aus ihrem Dorf. Auch sie versprechen mehr als sie halten. Doch Cata glaubt, dass sie Lima ein Quäntchen Glück abgetrotzt hat.

Sie schiebt eine widerspenstige, schwarze Locke unter ihr weißes Kopftuch und wischt sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn. Es ist brütend heiß in der Küche. Das Wetter in Lima ist tatsächlich besser als in Cajamarca, wo es jedes Jahr monatelang gießt. Es regnet nie in der Hauptstadt. Von Juni bis August kostet es allerdings einige Anstrengung, den tief grauen Himmel und die schwere, feuchte Luft ohne Depressionen zu überstehen. Doch neun Monate Sonne entschädigen für die bleierne Zeit. Nur heute flucht Cata über die Hitze, denn am Mittag hat die alte Klimaanlage ihre Dienste eingestellt.

Es ist wieder einmal nach Mitternacht geworden. Die Limeños haben von ihren spanischen Vorfahren die schlechte Gewohnheit geerbt, erst sehr spät zu Abend zu essen. Doch gleich hat Cata es geschafft. Der letzte Gast hat Jalea bestellt, eine der Spezialitäten auf ihrer Speisekarte und ihr Lieblingsgericht. Mit einem Schaumlöffel hebt sie die Meeresfrüchte aus der Pfanne, tupft das Öl mit Küchenpapier ab und schichtet Garnelen, Tintenfisch und Miesmuscheln auf ein in Sojasauce mariniertes, gebratenes Fischfilet, das sie bereits auf einem Teller angerichtet, mit Würfeln von Tomaten und Zwiebeln sowie Salatstreifen belegt, mit Kreuzkümmel gewürzt und mit Zitrone beträufelt hat. Als Beilage gibt sie eine mit Ailloli gefüllte, ausgehöhlte Tomate und zwei in Olivenöl goldbraun gebratene, dicke Kartoffelscheiben dazu.

»Die Jalea für Tisch fünf«, ruft sie und stellt den Teller in die Durchreiche zum Gastraum. Nun muss sie noch aufräumen und spülen, denn die Küchenhilfe hat sich krank gemeldet. Ausgerechnet heute, da Cata zumindest noch eine Weile auf der Hochzeitsfeier einer ihrer vielen Kusinen vorbeischauen will. Sie legt viel Wert darauf, die Kontakte zur Familie zu pflegen, denn auf die Familie ist immer Verlass. Nie würde ihr eine Tante oder ein Vetter die Tür weisen, wenn sie kein Dach mehr über dem Kopf hätte. In der Familie steht einer für den anderen ein. In Lima ist das erst recht vonnöten, kann man doch schon morgen seine Arbeit verlieren. Oder die Hälfte seines Gehalts. Man steht schnell mit leeren Händen da. Ein Federstrich des Präsidenten genügt, und Zehntausende stehen auf der Straße, die nicht die Familien zusammenhielten. Das hat auch Cata bereits erfahren. Sie fühlt sich immer wohl im großen Kreis ihrer Brüder und Schwägerinnen, Kusinen und Vettern, Onkel und Tanten. Da braucht man sich nicht zu verstellen, da ist man wer, auch wenn man nichts ist. Sie freut sich schon auf das Hochzeitsfest.

Für mehr als eine Stunde Schlaf wird es heute Nacht kaum reichen, denn morgen früh um vier Uhr muss sie zum Fischmarkt, die Bestände auffüllen. Doch Cata liebt es, zu so früher Stunde über den Markt der Hafenstadt Callao im Norden von Lima zu schlendern, wenn die Fischer gerade ihre nächtlichen Fänge abgeliefert haben. Beim ersten Mal hatte sie sich ihre Schuhe verdorben, denn auf dem Zementboden des Marktes fängt sich das Wasser, das aus den bunten Plastikwäschekörben läuft, in denen die Meerestiere angeboten werden. Seitdem vergisst sie nie ihre Gummistiefel. Besonders gern schaut sie die Körbe mit den Muscheln an, denn die hat sie am liebsten. Fast jeden Tag gönnt sie sich eine Portion. Sie isst schrecklich gern, darum schmeckt es so gut im »Nautilus«, glaubt sie, denn sie kocht immer, als wäre es für sie selbst oder jemanden, den sie mag. Wenn sie die nassen Muscheln unter dem grellen Neonlicht der Markthalle schillern sieht, stellt sich Cata sie immer schon auf dem Teller vor: Die riesigen, schwarzen Miesmuscheln und die Austern klappt sie auf und mariniert sie in Limonensaft mit fein gehackten Zwiebeln, Tomaten und Koriander, die zungenförmigen Machas überbäckt sie mit Parmesan, Herzmuscheln mischt sie unter pikanten Safranreis, mit Meeresschnecken und Jakobsmuscheln verfeinert sie den Fischsalat. Für ihren Fischsalat wird sie morgen wieder einen Tollo mitnehmen. Das weiße Fleisch des einen Meter langen Hundshais eignet sich besonders dafür. Krebse von der Größe einer Handfläche wird sie wieder gleich mehrere Dutzend kaufen. Sie krönen die Jalea, die sie für den letzten Gast zubereitet hat, und sie geben ihrer Fischsuppe das gewisse Etwas.

Anfangs hat sie der strenge Geruch nach Meerwasser und Fisch auf dem Markt gestört, doch inzwischen nimmt sie ihn kaum noch wahr. Längst kennt sie die Händler, und diese wissen, dass sie Cata nichts Minderwertiges verkaufen können. Sie schnüffelt an der Ware, bevor sie sie einpacken lässt, denn sie kann am Geruch feststellen, wenn der Fisch nicht mehr ganz frisch ist. Alter Fisch stinkt nach Ammoniak, erklärt sie immer den erstaunten Verkäufern. Als typische Peruanerin feilscht sie um jeden Cent. Die Männer würden sie für dumm halten, wenn sie die Preise gleich akzeptierte. Oder hinter ihrem Rücken Witze über die mangelnde Geschäftstüchtigkeit von Frauen reißen. Mit den Männern, die am Ausgang die Fische für ein paar Cent filetieren, muss man auf der Hut sein, denn sie lassen gern ein Stück Fisch oder den Rogen unter ihrer Theke verschwinden, um sie später selbst zu verkaufen. Rogentortilla ist eine Köstlichkeit. Cata vermengt die Fischeier mit gehackten Tomaten und Zwiebeln, paniert sie mit etwas Mehl und brät sie vorsichtig in Öl. Wie hat es sie aufgebracht, als sie die Rogen nach ihrem ersten Besuch auf dem Fischmarkt vergeblich in ihren vielen Plastiktüten suchte. Zwei Tage später hat sie dem diebischen Filetierer so zugesetzt, dass er nur noch stumm auf seine Theke stierte. Danach fehlte nichts in der Plastiktüte. Doch Cata ist jetzt immer wachsam. Sie ist mit sich und der Welt zufrieden. Ein Jahr ist es nun her, dass sie sich entschlossen hat, ein eigenes Fischrestaurant zu eröffnen. Oft kann sie es selbst kaum fassen, doch das Restaurant hat gut eingeschlagen. Ihr Ceviche [Rezept 1] hat inzwischen seine Stammkunden in San Miguel, dem bürgerlichen Stadtviertel in Limas Norden. An jeder Straßenecke der peruanischen Hauptstadt wird der Salat aus rohem Fisch angeboten, doch nur wenige wissen ihn zu würzen wie Cata. Ihre Mischung aus Limonensaft, geriebenem Ingwer, Korianderblättern und Ají ist schlicht perfekt. Nicht zu sauer, nicht zu scharf. Und vor allem stets frisch, weil sie immer pünktlich auf den Fischmarkt kommt, wenn das Angebot noch groß ist.

Vor ein paar Wochen konnte sie ihren Brüdern das Geld zurückzahlen, das sie ihr für die Einrichtung des »Nautilus« geliehen hatten. Wenn der Erfolg anhält, würde sie bald den gebrauchten Herd durch einen größeren ersetzen, eine neue Klimaanlage und eine Spülmaschine kaufen können. Cata hätte den Speiseraum gern etwas luxuriöser ausgestattet, doch den Gästen gefallen die blauweiß karierten Tischdecken mit den passenden Servietten, die sie selbst genäht hat. Auch die Fischernetze unter der Decke machen sich gut. Sie muss lachen, wenn sie daran denkt, wie sie sie mit ihrem Bruder José angebracht hat. Immer wieder fielen sie ihm über den Kopf, als er auf der Leiter stand, und er hatte Mühe, sich aus den Maschen zu befreien. »Du zappelst wie ein Fisch an der Angel«, hatte sie ihn geneckt.

Hätten ihr die Brüder damals nicht zur Seite gestanden, wäre Cata völlig verzweifelt, als Juan ihr eröffnete, dass er ihre Studienfreundin und Kollegin Inés heiraten würde. Sie hat es noch im Ohr, sein »Inés erwartet ein Kind von mir«. Es schmerzt nicht mehr, doch geblieben ist die Wut. Auf den Mann, der sie betrogen hat. Auf sich selbst, die sie ihm so blind vertraut hat. Unwillkürlich schrubbt sie heftiger an der teuren, französischen Pfanne mit der Spezialbeschichtung, mit der sie gewöhnlich besonders sorgfältig umgeht. Sie war mit Jungen ausgegangen in Cajamarca, doch Juan war ihr erster Mann. Sie hatte lange überlegt, bevor sie sich ihm hingab, doch alles schien so klar, so sicher. Sie hatte geglaubt, dass er der Einzige bleiben würde. Das Schlimme war, dass sie sich damals selbst die Schuld dafür gab, als Juan sie wegen Inés hatte sitzen lassen. »Hätte ich ihn doch nur nicht allein in den Süden fahren lassen«, hatte sie sich vorgeworfen. Es half ihr nichts, dass ihr Bruder José sie immer wieder damit zu trösten versuchte, dass Juan ihr früher oder später ohnehin untreu geworden wäre, weil er sie eben nicht genug liebte. Und wahrscheinlich hatte José Recht. Doch es nagt immer noch an ihrem Stolz.

Cata hatte den jungen Arzt Juan Ocampo am Militärkrankenhaus kennen gelernt, an dem sie nach ihrem Universitätsexamen als Krankenschwester eine Stelle gefunden hatte. Er war ihr gleich aufgefallen. Er war groß und schlank, und seine blauen Augen waren etwas Besonderes in ihrem Land, in dem die meisten Menschen wie sie selbst die schwarzen Mandelaugen der Inkas geerbt haben. Vor allem aber war er freundlich zu den Krankenschwestern, die von den meisten Ärzten oft abgekanzelt wurden.

Doch besonders nahm sie für Juan ein, dass er wie sie von einem großen Bauernhof in der Nordprovinz Cajamarca stammt und wie sie neun Geschwister hat. Das verbindet in Lima, wo man aus einer der alteingesessenen Familien der Stadt kommen muss, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Ihr Vater ist ein angesehener Mann in Cajamarca, mit guten Verbindungen zum örtlichen Parlamentsabgeordneten, und in seinem Dorf ist er der Kazike, der einflussreichste Bauer, auf den jeder hört. Er hat die Schule gebaut, und er hat durch seine Beziehungen erreicht, dass die Stromleitung bis in ihr Dorf San Andrés geführt wurde. Doch für die Leute in Lima bleibt er ein Provinzler und damit ein Niemand. Nur wer sehr viel Geld hat, wird in der Hauptstadt anerkannt, wenn er nicht von dort stammt. Reichtümer aber konnten Cata und Juan beide nicht aufweisen, ihre Eltern haben nur ihr Land, das ihnen ihr Auskommen sichert. Juan und Cata trafen sich bald auch nach Feierabend und redeten bis in die Nacht hinein über ihre Familien, über das einfache Leben auf dem Hof, als es noch keinen Strom und kein fließendes Wasser gab und das Brennholzsammeln zu den Pflichten der Kinder gehörte.

Wenn ihre Schichten im Krankenhaus es zuließen, verbrachten sie die Abende gemeinsam in Catas Haus in San Miguel. Der Vater hatte Land verkauft und das Haus erworben, als Catas ältester Bruder zum Studium nach Lima gegangen war. Inzwischen haben alle sieben Brüder ihr Examen gemacht. Fünf leben heute wieder in Cajamarca, zwei haben sich in Lima verheiratet, und Cata bewohnt das blaue, mit weißem Stuck verzierte Häuschen aus den Dreißigerjahren jetzt allein. Wie oft hatte sie Juan in ihrem Wohnzimmer vorgelesen, während er ihr sanft über den Rücken streichelte. Gekrümmt vor Lachen hatten sie sich, als sie Mario Vargas Llosas Roman über den Hauptmann Pantoja lasen, der für die Streitkräfte im Urwald einen mobilen Bordelldienst aufbauen musste. Hätte es ihn doch nur gegeben, diesen Dienst, dann wäre Juan vielleicht nicht mit Inés ins Bett gegangen, hat Cata später oft gedacht. Obwohl: Einen Mann, der zu Prostituierten geht, hätte sie auch nicht haben wollen.

Und natürlich kochte Cata für Juan. Nichts entspannt sie so sehr wie am Herd zu stehen und mit Zutaten und Gewürzen zu spielen, wie es ihr die Phantasie gerade eingibt. Die Nonnen auf der Klosterschule haben ihr die Grundlagen der Kochkunst beigebracht, und schon mit zwölf Jahren war Cata ihren Klassenkameradinnen überlegen, wenn es darum ging, ohne Kochbuch etwas Gutes zuzubereiten. Zu besonderer Form lief sie auf, wenn sie die Speisen garnierte. Für eine Weihnachtsfeier in der Schule hat sie einmal einen gebratenen Truthahn mit Broccoli und Tomaten in einen Christbaum verwandelt. Juan wusste ihre Künste in der Küche sehr zu schätzen, zumindest lobte er sie immer überschwänglich. Doch offensichtlich ging bei ihm die Liebe nicht durch den Magen, denn die ungestüme Inés kann nicht kochen. Während Cata Gemüse putzte und Kartoffeln schälte, schmiedeten sie Zukunftspläne. Sie wollten sparen, und wenn Juans Verpflichtung beim Militär endete, eine eigene Praxis eröffnen. Cata sollte Juan als Assistentin zur Seite stehen. Und Kinder wollten sie haben.

Er hatte sie zu ihren Eltern begleitet, und ihre Mutter war von dem jungen Arzt begeistert, der sich benahm, als hätte er schon immer zur Familie gehört. Er hockte sich mit den Eltern und der unverheirateten Tante, die bei den Vázquez lebt, in der Küche auf die Bänke um den Herd, er stand morgens mit Cata und ihrer Mutter in aller Herrgottsfrühe auf, um die Kühe zu melken, und er schien glücklich dabei. Nach einer Weile wusste es das gesamte Hospital: Catalina Vázquez und Juan Ocampo waren ein Paar. Fast zwei Jahre lang glaubte Cata, die Welt läge ihr zu Füßen, bis Anfang 1995 die ersten Schwerverletzten ins Militärkrankenhaus eingeliefert wurden. Cata denkt oft an den achtzehnjährigen Indianerjungen, den sie waschen musste, weil auf der Intensivstation die Schwestern nicht mehr ausreichten und sie von der Geriatrie-Station abgezogen wurde, um dort auszuhelfen. Eine Mine hatte ihm die Beine zerfetzt. Er weinte, vor Schmerzen und weil er Angst vor der Zukunft hatte. Wovon er künftig leben solle, fragte er sie. Er sei Maurer, und da brauche man doch seine Beine. Sie murmelte etwas von staatlicher Hilfe, um ihn zu trösten, doch sie wusste genau so gut wie er, dass es die nicht geben würde. Und wenn, würden Politiker und Beamte das meiste davon in die eigenen Taschen stecken. So war es immer gewesen in Peru. Die Armen hatten keine Chance, sie hatten kein Geld für einen teuren Anwalt, der ihre Rechte geltend machen und wenn nötig einen Richter bestechen könnte. Der Junge würde vergeblich viele Male im Rollstuhl zu den Behörden fahren, endlose Stunden Schlange stehen, unfreundliche Beamte zu überzeugen versuchen, um dann doch mit leeren Händen dazustehen.

Niemand weiß bis heute, wer damals im Januar den ersten Schuss abgegeben hat, doch Peru befand sich über Nacht im Krieg mit dem Nachbarn Ecuador, dem Erzfeind, mit dem man sich seit sechzig Jahren um ein paar Quadratkilometer unbewohnten Urwald stritt. Allerdings soll dort Öl im Boden verborgen sein. Cata hatte zuvor noch nie von dem Grenzposten Tiwintza im Süden gehört, zu dessen Verteidigung nun die jungen Männer des Landes ausrücken mussten. Glaubte man Präsident Alberto Fujimori, hing plötzlich das Schicksal Perus von dem Grenzposten ab.

Einige Tage später rief dann der Präsident die Ärzte und Krankenschwestern des Militärkrankenhauses auf, sich an die Front zu melden. Er versprach ihnen doppelten Sold, wenn sie bereit waren, in einem Lazarett Dienst zu tun.

Juan war gleich begeistert: »Cata, lass uns zusammen in den Süden gehen. Das Geld können wir gut brauchen. Nur ein paar Monate. Und wir können den ganzen Tag zusammen arbeiten.«

Zudem hoffte er auf eine Beförderung, die ihm eine Solderhöhung eintragen würde. Doch Cata weigerte sich.

»Ich halte das nicht durch, Juan. Ich will das nicht, tagtäglich halbe Kinder sterben sehen, für ein Stückchen Urwald. Ich will nichts zu tun haben mit dem Krieg. Lass mich bei meinen Alten, die brauchen mich auch.«

An jenem Abend gingen sie im Streit auseinander, und bereits am nächsten Tag war Juan fort.

Er schrieb ihr von der Front, doch seine Briefe waren knapp gehalten, was sie mit dem harten Dienst entschuldigte. Dabei hätten die kühlen Briefe ihr eine Warnung sein müssen. Doch sie war blind dafür. Im Juli kam er zurück. Er hatte abgenommen, aber er sah gut aus. Und dann das Geständnis. Cata stand am Herd, um ihn mit seinem Lieblingsgericht willkommen zu heißen. Es war so demütigend:

Stunden hatte sie eingekauft, das Essen vorbereitet und den Tisch festlich gedeckt. Und dann das »Ich werde Inés heiraten«. Sie war wie versteinert, unfähig, ein Wort zu sagen. Nicht einmal weinen konnte sie. Er wollte, dass sie ihm verzieh, doch sie blieb stumm. Machte ihm keinen Vorwurf, stand nur einfach da. Schon als Kind hatte sie für Stunden nur geschwiegen, wenn sie traurig oder wütend war. Sie habe die stoische Ruhe ihrer indianischen Ahnen geerbt, sagte der Vater dann immer. Irgendwann ließ Juan die Tür ins Schloss fallen.

Ausgerechnet Inés. Cata hatte sie auf der Universität kennen gelernt, zusammen hatten sie für das Examen gelernt und danach gemeinsam am Militärkrankenhaus angefangen. Im Gegensatz zu Cata war Inés immer eine Draufgängerin gewesen, auch, wenn es darum ging, einen Mann zu erobern, der ihr gefiel. Sie fand es aufregend, in den Krieg zu ziehen. Dass sie sie so hintergehen würde, hätte Cata nie für möglich gehalten. Sie war sogar noch froh gewesen, zumindest die Freundin in Juans Nähe zu wissen. In den darauf folgenden Wochen lebte Cata wie in Trance. Mechanisch stand sie auf, um ins Hospital zu gehen, mechanisch versah sie ihren Dienst, um danach erschöpft ins Bett zu sinken, um zu weinen, und doch keinen Schlaf zu finden. Nicht einmal das Kochen munterte sie auf. Im Krankenhaus versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, und die Kollegen sahen über die schwarzen Ringe unter ihren Augen hinweg. Aber gewiss tuschelten sie hinter ihrem Rücken. Mit Inés wechselte sie nie wieder ein Wort. Nur einmal begegnete sie ihr im Treppenhaus, unter dem weißen Kittel wölbte sich bereits der Bauch. Cata schaute sie nicht einmal an, doch es tat schrecklich weh, dass nun eine andere von dem Mann schwanger war, mit dem sie ihre Kinder geplant hatte. Als sie erfuhr, dass er Kollegen im Hospital zur Hochzeit eingeladen hatte, glaubte sie, vor Scham im Boden versinken zu müssen. Dass er sie so vor allen demütigen musste. Sie rannte zur Toilette, um sich zu übergeben, und meldete sich krank. Am Abend fasste sie den Entschluss, das Militärhospital an der Avenida Javier Prado nie wieder zu betreten.

Als sie ihre Stelle angetreten hatte, war sie mit ihrem Einkommen ganz zufrieden, konnte sogar etwas zurücklegen. Doch im Zuge der Sparprogramme des Präsidenten wurden zunächst die Essensmarken, das Fahrgeld und das dreizehnte Monatsgehalt gestrichen, und inzwischen waren sogar die festen Verträge der Krankenschwestern in Dreimonatsverträge zu gekürztem Gehalt umgewandelt worden. Nicht einmal Urlaub gab es mehr. In den letzten Monaten hatten ihr die Brüder immer mal etwas zum Anziehen geschenkt, weil sie dafür nun kein Geld mehr hatte. Seit einer Weile fragte sie sich bereits, warum ihr Vater wertvolle Traberpferde aus seiner Zucht verkauft hatte, um ihr das fünfjährige Studium an der Privatuniversität zu finanzieren, wenn eine studierte Krankenschwester inzwischen nicht mehr Geld bekommt als eine Putzfrau. So viel wie im Krankenhaus würde sie auch anderswo verdienen können, ihr würde schon etwas einfallen. Ihr ältester Bruder Néstor hatte dann die rettende Idee. Sie solle ihr Hobby zum Beruf machen, schlug er ihr vor. Zwar war sie sehr gern Krankenschwester, denn es gefiel ihr, Menschen zu helfen. Doch noch lieber kochte sie, und sie träumte bereits seit langem von einem eigenen Restaurant. Als Krankenschwester hatte sie immer einen Chef, in einem eigenen Restaurant dagegen hätte sie das Sagen. Néstor nahm ihr die undankbare Aufgabe ab, José und die übrigen fünf älteren Brüder um Kredit für den Schritt in die Selbständigkeit zu bitten. Den Vater anzupumpen, das kam nicht in Frage, musste er doch schon für die Privatschulen der beiden jüngeren Schwestern aufkommen, die außerdem demnächst zum Studium nach Lima kommen würden. Als Néstor sie eines Abends telefonisch in die Avenida Castilla bestellte, um dort mit ihm ein Lokal anzuschauen, hatte Cata erstmals wieder das Gefühl, dass in ihren Adern Blut floss. Seit jenem »Ich werde Inés heiraten« war es zu Eis gefroren. Die Miete für das Lokal ist zwar hoch, doch die Lage erstklassig. Und in fünf Minuten zu Fuß von zuhause zu erreichen.

Die Kellnerin, eine Kusine zweiten Grades, betritt die Küche, sie hat sich bereits umgezogen: »Ich mache dann jetzt Feierabend. Wir sehen uns gleich auf der Hochzeitsfeier. Für morgen Mittag ist bereits eingedeckt, und durchgefegt habe ich auch. Die Abrechnung stimmt Gott sei Dank, du musst nur noch die Kasse abschließen.«

Cata schaut vom Spülbecken auf. Nachzuzählen braucht sie das Geld nicht, denn zu Fernanda hat sie Vertrauen. Sie hat mit ihr die Nonnenschule besucht, und Fernanda muss allein ein kleines Kind durchbringen.

»Ich bin auch gleich so weit. Ich muss mich dann nur noch umziehen. Ich habe mir mein rotes Minikleid mit den Spaghettiträgern mitgebracht. Ich habe es schon so lange nicht mehr getragen.«

Zuletzt, als sie mit Juan zu einem Fest eines Kollegen eingeladen war. Seitdem war sie nicht mehr ausgegangen. Sechs Abende die Woche ist das »Nautilus« mindestens bis Mitternacht geöffnet, und danach fällt sie nur noch ins Bett. Zweimal die Woche muss sie morgens um vier Uhr zum Fischmarkt, und an ihrem freien Montag hat sie Buchführung und Behördengänge zu erledigen. So spürt sie nicht einmal, dass sie allein lebt, zumal Néstor und José mit ihren Frauen regelmäßig vorbeischauen. Nur manchmal, abends im Bett, fehlt es ihr, sich an einen Mann zu schmiegen. Oder vor dem Einschlafen noch über den Tag zu reden.

Sie wäscht sich auf der Gästetoilette und streift das rote Kleid über. Es macht sich gut zu ihrer braunen Haut. Es ist nur ein bisschen weit geworden, die Sache mit Juan hat sie einige Kilos gekostet. Wochenlang hat sie kaum etwas essen können. Das schwarze Haar fällt ihr in großen Naturlocken fast bis zur Hüfte. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der leicht gekrümmten, indianischen Nase ist guter Durchschnitt, findet sie, doch sie mag ihr Haar, das sie beim Kochen nur mit dem Kopftuch bändigen kann. Sie wäre auch gern etwas größer, mit 1,50 m ist sie selbst für peruanische Verhältnisse klein. Doch seit sie ein junges Mädchen war, ist sie es gewohnt, auf schwindelerregend hohen Absätzen durch die Welt zu staksen. Sie läuft kilometerweit damit. Sie streift ein Paar rote Sandaletten über und legt sich die Kette mit dem Brillanten um den Hals. Ihr einziges Schmuckstück von Wert. Sie hängt sehr daran, denn die Eltern haben es ihr zum Examen geschenkt. Sie nimmt sich ein Bündel Soles für den Einkauf auf dem Großmarkt aus der Kasse und steckt das Geld zu Jeans, Pullover und Gummistiefeln in eine Reisetasche, den Kassenschlüssel verstaut sie in ihrer Handtasche. Sie wird über Nacht bei ihrer Kusine bleiben und von dort aus zum Großmarkt aufbrechen. Noch ein letzter Blick durchs Lokal, das sie wie jeden Abend mit Stolz erfüllt, und dann tritt sie auf die Straße, um die Tür hinter sich abzuschließen. An der nächsten Ecke wird sie sich ein Taxi heranwinken.

Sie hört, dass neben ihr am Straßenrand ein Auto hält, und dann geht alles blitzschnell. Sie spürt etwas Kaltes, Hartes im Nacken.

»Wenn du schreist, drücke ich ab«, raunt ihr eine männliche Stimme ins Ohr. »Schließ wieder auf und geh rein in den Laden.«

Sie gehorcht wortlos, fast starr vor Schreck. Der Mann schiebt sie vor sich her in den Gastraum, zwei weitere Männer folgen ihm, dann schließen sie von innen die Tür. Sie haben schwarze Wollkapuzen über den Kopf gezogen, wie sie sie von den Sinchis kennt, den Sonderkommandos der Streitkräfte, die Ende der Achtzigerjahre immer wieder in ihr Dorf kamen, um die Häuser der Bauern nach Terroristen vom »Leuchtenden Pfad« zu durchkämmen. Im Schutze ihrer Kapuzen begingen die Sinchis damals die schlimmsten Greueltaten. Sie folterten und töteten, wenn sie auch nur den leisesten Verdacht hegten, ein Gefangener könnte etwas über die Terroristen wissen. Auf Befehl des grausamen Generals Cisneros hatte man ihnen eingeimpft, dass es sich lohnt, zwanzig Menschen zu töten, wenn sich darunter auch nur ein Terrorist befand. Sie waren Tötungsmaschinen, denen man jede menschliche Regung abgewöhnt hatte. In ihrer Ausbildung mussten die Sinchis einen jungen Hund aufziehen. Nach einigen Monaten erhielten sie dann den Befehl, ihn umzubringen. Das hatte eine Psychologin am Hospital Cata erzählt, die eine Weile an einer Militärakademie gearbeitet hatte. Nach seiner Entlassung aus den Streitkräften fand so mancher ehemalige Sinchi keinen Job. »Sinchis. Wenn die drei Männer Sinchis sind, dann gnade mir Gott«, denkt Cata. »Eine falsche Bewegung, und sie bringen mich um und werfen meine verstümmelte Leiche in den Rimac-Fluss.«

Der Mann mit der Pistole fordert den Kassenschlüssel. Als sie ihn nicht gleich in ihrer Handtasche findet, entreißt einer der Männer sie ihr und schüttet den Inhalt auf den Boden. Ihr Portemonnaie steckt er ein, dann leert er die Kasse und findet beim Durchstöbern ihrer Reisetasche das Geld für den Großmarkt. Entsetzt muss sie zusehen, wie sie dann noch den Gefrierschrank mit den Meeresfrüchten von der Küche in den Gastraum rollen. Sie hat ein Vermögen dafür bezahlt. Die Männer sperren die Tür auf und laden ihn auf ihren Pickup. All ihre Ersparnisse stecken in dem Kühlgerät. Doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Sie fühlt nur die Kälte der Pistole in ihrem Nacken. Auch die Weinkisten aus der Küche laden sie auf. Zu guter Letzt reißt ihr der Mann hinter ihrem Rücken noch die Kette mit dem Brillanten vom Hals. Dann spürt sie einen heftigen Schmerz am Hinterkopf, und danach nichts mehr. Als Cata wieder aufwacht, dröhnt es in ihrem Schädel, als habe sie zu viel getrunken. Sie liegt auf dem Boden des Gastraumes, und nur mit Mühe kann sie sich an einem Stuhl hochziehen. Als sie aufstehen will, muss sie sich übergeben. »Gehirnerschütterung«, diagnostiziert sie. Der Verbrecher hat fest zugeschlagen, wohl mit dem Knauf seiner Waffe. Es dreht sich alles in ihrem Kopf. »Ich muss aufräumen, ich muss am Mittag das Lokal öffnen«, ist ihr erster Gedanke. Ihr Blick fällt auf die Uhr an der Wand: Sie muss eine Stunde bewusstlos gewesen sein, denn es ist bereits fast zwei Uhr morgens. Langsam kriecht sie auf allen Vieren in die Küche. Sie braucht einen Schluck Wasser, gegen den sauren Geschmack des Erbrochenen.

Cata schafft es schließlich, sich am Spülbecken aufzurichten. Sie öffnet den Wasserhahn, spült sich den Mund aus und lässt sich Wasser über das Gesicht laufen. Trotz der Wärme in der Küche ist ihr kalt, als hätte sie Fieber. Doch sie ist ruhig, ganz ruhig. Sie kennt das: Wenn Probleme anstanden und sich ihre Geschwister, die Eltern oder Juan aufregten, wurde sie immer ganz ruhig und still. Wie oft hatte man ihr vorgeworfen, es interessiere sie wohl gar nicht, was um sie herum geschehe. »Was nützt es, wenn ich mich aufrege?«, antwortete sie dann.

Sie setzt sich an einen der Tische und stützt den Kopf in beide Hände. Sie wird morgen kaum öffnen können. Denn was soll sie den Gästen servieren? Die Vorräte sind aufgebraucht, und ihr bleibt nicht ein Cent. Selbst wenn sie sich Geld für den Fischmarkt liehe ‒ sie hat keinen Kühlschrank mehr, um die Waren zu lagern. Alles, was sie je besaß, haben die Dreckskerle mitgenommen. In ein paar Tagen wird obendrein die Miete fällig, auch die wird sie nicht bezahlen können. Es bleiben ihr nicht einmal ein paar Soles für ein Taxi.

»Ich muss die Polizei holen«, denkt sie. Sie geht zum Telefon in der Küche, hebt ab und stellt fest, dass die Leitung frei ist. Die Verbrecher haben sie also nicht durchtrennt. Sie zögert einen Moment, denn die Polizei in Lima hat einen schlechten Ruf. Doch dann wählt sie den Notruf und erklärt dem Beamten, was geschehen ist. Er nimmt die Adresse auf und verspricht, einen Streifenwagen vorbeizuschicken. »Am besten nichts anrühren, bis sie kommen«, sagt sie sich und hockt sich wieder in den Gastraum.

Es dauert nicht lange, bis jemand heftig gegen die Tür hämmert. Nicht sehr sanft, die Polizei, denkt Cata. Sie öffnet und zwei Männer um die Dreißig in grünen Uniformen stehen vor ihr.

»Avenida Castilla 178? Sie haben einen Überfall gemeldet?« Besonders freundlich sind sie nicht, nicht einmal einen guten Abend haben sie gewünscht. Doch Cata bittet sie mit einer Handbewegung herein. Sie berichtet, dass man sie niedergeschlagen hat, zählt auf, was alles gestohlen wurde, zeigt den Platz in der Küche, an dem noch vor zwei Stunden ihr Kühlschrank gestanden hatte. Wortlos schauen sich die beiden um. Sie sind untersetzt und Mestizen wie sie. Die tiefschwarzen Haare haben sie so kurz geschoren, dass die Kopfhaut durchscheint.

»Ich werde wohl schließen müssen, wenn Sie meinen Kühlschrank und mein Geld nicht wiederfinden«, bricht Cata schließlich mit leiser Stimme das Schweigen, doch sie erhält keine Antwort. Die beiden schauen sich an und beginnen, die Hängeschränke zu öffnen.

»Vom Geschirr fehlt nichts«, sagt Cata verwundert. Wieder keine Antwort. Schließlich entdeckt der größere der beiden in einem der Hängeschränke die Spirituosen. Die Flaschen sind alle noch fast voll, denn nur selten verlangt ein Gast mal einen Whisky.

»Gib mir ein paar Plastiktüten«, herrscht der Größere sie an. »Aber ..., ich verstehe nicht«, stammelt Cata.

»Nun mach schon, wir haben nicht ewig Zeit. Wenn du den Laden dicht machst, brauchst du das Zeug nicht mehr.«

Auch diese beiden sind bewaffnet, und sie sehen nicht so aus, als ob sie lange zögern würden, wenn man ihren Befehlen nicht Folge leistet. So zieht Cata einige Plastiktüten unter der Spüle hervor. Hastig packen die beiden die rund zwanzig Flaschen ein.

»Hat keinen Zweck, dass du auf der Wache anrufst oder sonst irgendwie Ärger machst. Dir wird sowieso keiner glauben, denn du hast keine Zeugen, und wir sind zu zweit. Also halte schön dein Maul und freu dich, dass wir dir nicht noch dein Höschen ausziehen. Aber du stinkst uns zu sehr mit deinem vollgekotzten Kleid.«

Dann nehmen sie die Tüten und gehen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen.

Sie hatte schon mal gehört, dass Polizisten Überlandbusse anhalten, den Passagieren befehlen auszusteigen, und dann ihr Gepäck ausrauben. Doch dass sie sich auch in der Hauptstadt wie die Schweine aufführen, das hätte sie nicht für möglich gehalten. »Was soll’s, ich mag ja ohnehin keinen Whisky«, versucht sich Cata zu trösten. Sie trinkt höchstens einen Schluck Rotwein oder süßen Sekt, und die Brüder wie die Eltern haben sich der Adventisten-Gemeinde angeschlossen, sie rühren keinen Tropfen Alkohol an.

Die Krankheit

Cata lässt sich erschöpft in den Sessel fallen. Es ist zum Verzweifeln: Zwei Wochen lang ist sie nun schon zehn Stunden täglich von Haustür zu Haustür unterwegs und hat so gut wie nichts verkauft. Dabei erklärt der Präsident den Peruanern unermüdlich, dass es ihnen wirtschaftlich viel besser geht als vor ein paar Jahren, doch das spüren wohl nur die Reichen. In ihrem Stadtviertel San Miguel, wo kleine Geschäftsleute, Lehrer und Ingenieure zuhause sind, scheint es kaum Frauen zu geben, die Geld für Kosmetika ausgeben können. Von einem Stück Seife, einem Fläschchen Nagellack und ein paar Lippenstiften kann sie aber nicht leben. Fünfzig Soles hat sie in den zwei Wochen verdient, die reichen nicht einmal zum Sattwerden.

Kusine Fernanda hatte ihr über eine Freundin die Arbeit als Kosmetikvertreterin vermittelt: »Die Marke ist toll. Und nicht teuer. Meine Freundin macht gutes Geld damit. Und du magst doch so gern Parfums und Cremes. Den Musterkoffer stellt dir die Firma, und dann gehst du damit von Haus zu Haus, nimmst die Bestellungen auf und eine Woche später lieferst du sie aus.«

Fernanda hatte sie jeden Tag besucht, als sie die Gehirnerschütterung zwang, eine Woche im Bett zu bleiben. Mit letzter Kraft hatte Cata das Mobiliar des »Nautilus« auf einen gemieteten Lastwagen gepackt und in ihrem Haus verstaut, doch dann konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten. Zum Ausruhen gezwungen, hatte sie alle Möglichkeiten durchgespielt: An einem Krankenhaus wollte sie nicht wieder arbeiten, da verdiente sie nicht genug, um leben zu können.

Ihr Vater hatte ihr am Telefon angeboten, sie könne nach Hause kommen und der Mutter zur Hand gehen. Doch nach Cajamarca zurück kehren? Sie mag das Leben auf dem Land, wenn sie dort ihre Ferien verbringt, doch müsste sie immer dort wohnen, würde sie sich furchtbar langweilen. Und sie würde in ihrem Dorf nie einen Mann finden und nie eine eigene Familie haben, sondern die Kinder ihres Bruders Pedro hüten, der als einziger Agraringenieur in der Familie inzwischen mit dem Vater den Hof führt und ihn einmal übernehmen wird. Sie wäre willkommen, das weiß sie, doch sie würde sich als die lästige Schwester fühlen, die man durchfüttern muss. Ein schrecklicher Gedanke. Seit sie in Lima wohnt, trifft sie ihre eigenen Entscheidungen. Zuhause aber bestimmen die Mutter und die Schwägerin. Oft hasst sie Lima, aber sie hat sich doch an die Großstadt gewöhnt. Daran, gelegentlich ins Kino zu gehen oder in einer Buchhandlung oder in einem Modegeschäft zu stöbern. In ihrem Dorf gibt es keine Modegeschäfte, keine Buchhandlung, kein Kino. Da leben die Menschen das ganze Jahr lang von der Vorfreude auf das Fest des Heiligen Andreas, des Schutzpatrons. Als junges Mädchen hat sie die mehrtägigen Feierlichkeiten immer sehr genossen, das Feuerwerk, die Ausstellung von Malern der Umgebung, die Musik und die Volkstänze. Verwandte aus ganz Peru reisen dazu an, und es wird viel getrunken und gelacht. Doch für den Rest des Jahres bleibt man zuhause, sitzt abends am Kamin, strickt Pullover oder webt Ponchos und Pferdedecken und geht spätestens um neun Uhr zu Bett. Das ist nicht mehr ihre Welt.

Sie hatte auch mit dem Gedanken gespielt, sich eine Stelle als Köchin zu suchen. Doch ohne ein Zeugnis über eine entsprechende Ausbildung bräuchte sie Kontakte, jemanden, der sie an ein gutes Restaurant empfiehlt. Aber sie kennt in Lima niemanden, der sie vermitteln könnte.