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Als er den ersten Brief der 18-jährigen, ihm unbekannten Erika Mitterer in Händen hält, fühlt sich Rilke unmittelbar angesprochen. Rasch entsteht zwischen der jungen Enthusiastin und dem bereits berühmten Dichter ein poetischer Briefwechsel, zeitweise in atemloser Folge. Ein erotischer Pas de deux auf Distanz realisiert sich in Grenzüberschreitungen zwischen Leben und Fiktion ebenso wie in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod. Auf dem Höhepunkt kreist der Liebesaustausch um das Besitzen, ohne doch dahin zu gelangen. Das einzige Zusammentreffen der Briefpartner, ein Jahr vor Rilkes Tod, markiert das nahende Ende eines Gesprächs, das den Rang eines gemeinsamen Meisterwerks erreicht.
Die neue Edition bietet erstmals mit erschließendem Kommentar den Rilke-Mitterer-Briefwechsel in ungekürzter Form und, chronologisch geordnet, mit allen Texten, die dem ›Umkreis‹ der Dichtung zugehören. Knapp 100 Jahre nach seiner Entstehung kann dieser briefliche Dialog nun endlich als Gesamtwerk und als Juwel inmitten der ungemeinen Fülle von Rilkes Briefwechseln betrachtet werden.
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Seitenzahl: 675
Veröffentlichungsjahr: 2018
Rainer Maria RilkeErika Mitterer
Besitzlose Liebe
Der poetische Briefwechsel
Herausgegeben von Katrin Kohl
Insel Verlag
Rainer Maria RilkeErika Mitterer
Besitzlose Liebe
Der poetische Briefwechsel
Gewidmet ist dieses BuchMartha Fabian und Loni Lorscheidt,stellvertretend für all die Lehrerinnen und Lehrer,die junge Menschen für Literatur begeistern
Einführung
Briefwechsel mit Gedichten und Prosa aus dem Umkreis
Erika Mitterer Besuche in Muzot, 1925 und 1926/1927
Nachwort
Der Dialog zwischen Erika Mitterer und Rainer Maria Rilke
Kommentar
Zur Edition
Briefwechsel mit Gedichten und Prosa aus dem Umkreis
Stellenkommentar
Erika Mitterer: Besuche in Muzot, 1925 und 1926/1927
Anmerkungen
Dank
Abbildungen
Bildnachweis
Zeittafel
Siglen und Literaturverzeichnis
Titel und Anfänge der Gedichte und Prosatexte
Personenregister
Der Dialog zwischen Erika Mitterer und Rainer Maria Rilke nahm seinen Anfang in den frühen 1920er Jahren. Die 1906 geborene Wiener Schülerin und angehende Sozialfürsorgerin wurde von ihrer Deutschlehrerin Martha Fabian an die Lyrik des 1875 in Prag geborenen Kult-Dichters herangeführt und verarbeitete das begeistert auch mit Freundinnen Gelesene in eigener Dichtung. Dem ersten Brief, den sie am 25. 5. 1924 an Rilke schickte, gehen Widmungsgedichte an den Dichter sowie Briefentwürfe in Lyrik und Prosa voraus. Diese sind im Folgenden als Vorspiel wiedergegeben.
Mitterer wählt für ihren ersten Brief die reine Versform, ohne namentliche Nennung Rilkes, und stellt einem der zwei übersandten Gedichte ein Zitat aus den Ende März 1923 erschienenen Sonetten an Orpheus voran; unter dem Gedicht stehen ihr Name, das Datum und der Ort. Auf der Rückseite des Blattes befindet sich ein weiteres, mit der Anrede »Du« an Rilke gerichtetes Gedicht, das sie drei Monate vorher zunächst als Prosa-Brief verfasst und dann umgearbeitet hat. Sie schickt den Brief an den Insel-Verlag, der ihn weiterleitet.
Rilke fühlt sich unmittelbar angesprochen. Er verfasst zunächst im Rahmen seines Taschenbuches zwei Gedichte, in denen er dem unverhofft in sein Leben eingetretenen Mädchen imaginative Gestalt verleiht, und entgegnet am 3. 6. 1924 mit einem Briefgedicht in der von Mitterer vorgegebenen Form: Sein Brief besteht aus einem Gedicht, dem ein Zitat aus ihrem Brief vorangestellt ist, und es folgen Name, Datum und Ort — Château de Muzot im Schweizer Wallis. Vor seinen Namen setzt er jedoch eine Widmung: »für Erika Mitterer«. Damit gestaltet sich der Austausch von Anfang an als ein Werk, das am Ende seines Lebens eine Schlüsselstellung in seinem Schaffen einnehmen wird. Denn es verkörpert eine einzigartige Verbindung zwischen seinem reichhaltigen epistolarischen Werk — er schrieb etwa 10 000 Briefe — und seiner Dichtung mit deren bedeutendem Anteil von Widmungslyrik. Der Briefwechsel in Gedichten wird damit auch zu einem hochrangigen Medium für die dichterisch ertragreiche Zusammenführung von Lebensstoff und künstlerischem Werk.
Der Briefwechsel intensivierte sich rasch von beiden Seiten. Der Austausch erfolgte häufig mit Überschneidungen auf dem Postweg, woraus sich ein hochkomplexes Gefüge von textuellen Bezügen ergibt. Seinen Höhepunkt erreichte der Dialog im Juli/August, bis Rilke ihn am 18. 8. 1924 unvermittelt mit einem Brief abbrach, in dem er beiden Liebenden das Schweigen auferlegte. Vermutlich ließen eine von ihm initiierte Einladung und ein von Mitterer gesandtes Foto die Beziehung zur fernen Geliebten bedrohlich real werden. Eine für seine Liebesbeziehungen charakteristische Ambivalenz hatte Rilke bereits am 7. 8. 1924 vermittelt: »Halb ruf ich dich, halb halt ich dich von mir, | dass ich den schönen Zauber nicht verstöre«. Auf Mitterers Versuche neuerlicher Kontaktaufnahme antwortete Rilke Anfang Januar 1925 und dann erst wieder am 30. 10. 1925, nachdem sie ihn gebeten hatte, ihr eine etwaige Krankheit mitzuteilen. Ihr einfühlsamer Zugang bewog ihn zu einer emotional wie formal so vielschichtigen wie dichterisch virtuosen Antwort, die Mitterer zu einem viertägigen Besuch in Muzot veranlasste.
Mitterer dokumentierte die im November 1925 erfolgte Begegnung in einem ausführlichen, erst 1926/1927 über viele Monate hin sporadisch verfassten Bericht. Sie wohnte in einem Hotel in Sierre, besuchte Rilke mehrfach in seinem Turm, und abends aß man gemeinsam in einem Hotel. Das Treffen war eher von freundschaftlicher Nähe als von Erotik geprägt. Rilke war der führende Gesprächspartner, und er zeigte sich aufgeschlossen für den Dialog mit der neunzehnjährigen Freundin. Er erzählte aus seiner Jugendzeit, sie — wohl zurückhaltender — von ihrer Erlebniswelt; sie sprachen über literarische Themen, und es wurden Gedichte ausgetauscht. Mitterers lyrischen Mitteilungen im Zeitraum des Treffens lässt sich entnehmen, dass sie sich eine Fortsetzung und Erfüllung der Liebesbeziehung erhofft hatte.
Insgesamt überwiegen nach dem August 1924 Mitterers Briefe bei weitem. Während Rilke durchgängig im Laufe des Briefwechsels streng an der Versform festhielt — wiewohl zuweilen in prosaischerem Ton —, drängte es Mitterer ab Weihnachten 1924 auch zur Kommunikation in Prosa, besonders unter dem Druck seines Schweigens. Ihre Briefe fanden nach dem Treffen in Muzot nur noch einmal Resonanz, als Rilke ihr im August 1926 die formvollendete, in seinem Werk einzigartige Ode »Taube, die draußen blieb« sandte, in der er ihre Genesung von einer lebensbedrohlichen Operation feiert. Es war eines der letzten Gedichte vor seinem Tod am 29. 12. 1926.
Die aus dem schriftlichen Medium heraus entstehende Beziehung endete für Mitterer nicht mit Rilkes Tod. Nachdem sie die Nachricht über die Presse erhalten hatte, fuhr sie — nun in Begleitung ihrer Mutter — in die Schweiz und besuchte die Kapelle mit seinem Sarg. Sie sprach mit dem Arzt, der ihn in seiner Krankheit betreut hatte, besuchte noch einmal Muzot, begegnete Rilkes Freundin, Mäzenin und Nachlassverwalterin Nanny Wunderly-Volkart und nahm an der Beerdigung teil. Auch diesen Besuch hielt sie im Tagebuch fest, und ihre fortdauernde Auseinandersetzung mit dem Verlust findet sich in Gedichten der folgenden Monate und Jahre. Sie bilden in der vorliegenden Ausgabe ein Nachspiel des Briefwechsels.
Auch während der Zeit des Briefverkehrs verfassten beide Dichter — und insbesondere Rilke — Gedichte, die dem ›Umkreis‹ des Briefwechsels zuzurechnen sind. Sie begleiten und ergänzen den dialogischen Austausch mit einer jeweils privaten Perspektive auf die Beziehung und verdeutlichen, dass sich auch Rilke in den Zeiten des unterbrochenen Dialogs weiter mit der Beziehung befasste. Diese Gedichte sind unter Hinzuziehung von Rilkes Taschenbüchern und Mitterers Gedichtheften in die chronologische Folge integriert. Ebenfalls wiedergegeben sind einige Tagebucheinträge von Mitterer, in denen sie sich zu Rilke äußert; von Rilke dagegen sind offenbar keine Texte erhalten, die in prosaischer Form die Beziehung kommentieren. In der Abfolge der Texte sind die Briefe der beiden Gesprächspartner immer als Ganzheit wiedergegeben; Gedichte und Tagebuchtexte aus dem Umkreis des Briefwechsels, die im Zeitraum der Entstehung eines längeren Briefes mit mehreren Gedichten verfasst wurden, sind dem jeweiligen Brief nachgeordnet.
Für Erika Mitterer ist Rilke der so beseligend wie schmerzvoll Geliebte und zugleich der große Meister, an dem sie sich dichterisch schult und dem sie auch anderweitig verfasste Gedichte schickt. Er nimmt diese zum Anlass für den über drei Briefe hin entwickelten, neunteiligen Zyklus Die Liebenden, der aus zwei frühen Widmungsgedichten Mitterers an ihre Freundin Melitta hervorgeht. Er beschränkt sich jedoch insgesamt auf die Mitteilung von Gedichten, die direkt aus der Reaktion auf das von ihr Gesandte entstehen, wobei die poetische Präsenz der fernen Geliebten für ihn auch zu jenen Zeiten eine Quelle dichterischer Inspiration bleibt, in denen er Mitterer gegenüber schweigt. Noch im Herbst 1926, in seiner vorletzten poetisch verdichteten Äußerung überhaupt, antwortet er auf eine Briefstelle vom 18. 12. 1924, in der Mitterer in Prosa Folgendes schreibt: »Es gehört alles dir, alles Niegeschriebene.« Rilkes späte, ihr nicht mitgeteilte Entgegnung ist getragen von der Spannung einer schon im früheren Leben und Werk immer wieder erprobten ›besitzlosen Liebe‹, die in diesem lyrischen Dialog so lebendige wie spannungsreiche Form angenommen hatte: »und alles Nie-gehörende sei Dein!«.
Wenn das Titelblatt der vorliegenden Ausgabe Rilke zuerst nennt, so ist dies der weltliterarischen Bedeutung seines dichterischen Werkes geschuldet. Es ist jedoch festzuhalten, dass Mitterer die Form des Briefwechsels vorgab und dass sie die treibende Kraft blieb, die dem Druck von Rilkes selbstbezogen wechselhaftem Kommunikationsverhalten standhielt und immer wieder von Neuem an ihn herantrat, um ihn zur Entgegnung zu bewegen. Es liegt in der Natur dieses Austausches zwischen der zu Beginn des Briefwechsels achtzehnjährigen jungen Frau und dem fünfzigjährigen, berühmten Dichter, dass die in der Ausgabe enthaltenen Gedichte qualitativ in hohem Maße differieren. Der Dialog lebt aus der Spontaneität der dichterischen Erwiderung auf soeben empfangene Anregungen und erhält seine kommunikative Kraft aus der Verwendung zumeist einfacher Formen, die überwiegend mit Reim und leichten Metren Gefühlen und Bildern sprachlich lebendige Gestalt verleihen. Die Ausgabe enthält Nachlassmaterial aus Mitterers Jugendzeit und aus ihren fortlaufenden Tagebüchern, das der privaten Sphäre eines heranwachsenden Mädchens angehört und deshalb hier erscheint, weil es den Kontext für einen dichterischen Prozess bildet, der seine Vitalität aus dem vielschichtigen Umgang nicht nur mit dichterischen, sondern auch mit lebensbezogenen Möglichkeiten und Impulsen gewinnt. Der Briefwechsel entsteht aus einer beiderseitig rückhaltlosen Bereitwilligkeit, ohne moralisches oder ästhetisches Urteilen mittels der bildlichen Sprache auf die Welt des anderen einzugehen.
Die von Mitterer so wirkungsvoll für den Austausch etablierte Form des Briefgedichtes schafft den Rahmen für eine Dichtung, die als frei sich entfaltender Prozess Gestalt gewinnt. Als Gattung ist das Briefgedicht offen und aufnahmefähig für Prosa und Vers, für Lebensinhalte und deren künsterische Sublimierung, für Gelegenheits- und Gebrauchslyrik sowie für Lyrik ohne einen unmittelbaren Bezug zur Person oder Situation. Fließend ist auch die Verbindung zum jeweils eigenen Werk. In der vorliegenden Ausgabe lässt sich dies bei Mitterer an der Beziehung zwischen Gedichten und Tagebucheinträgen verfolgen und bei Rilke an den unterschiedlichen Versionen von Gedichten, die vom Dialog mit Mitterer inspiriert sind, um dann in weitere dichterische Räume seines Werkes zu führen. Aus dem lyrischen Wechselspiel zwischen den beiden Dichtern entwickelt sich auf diese Weise eine einzigartige, von Liebe getragene sprachliche Bewegung zwischen Leben und Kunst.
1. Erika Mitterer, »An Rainer Maria Rilke (Es war ein warmer Tag)«, 30. 4. 1921
An Rainer Maria Rilke
Es war ein warmer Tag; in einem Garten
Saß ich, zwischen den weißen Orchideen
Es war in mir ein sehnendes Erwarten
Als sollt' am selben Tag ich Wunder sehn.
Und bald erklangen Worte, glockenreine,
So fremd und meiner Seele doch bekannt;
Es war, als riefe aus den Worten eine
Die größer sei, doch irgendwie verwandt.
Was war es? Eine wundervolle Weise
Von Liebe und vom Tode; Melodien
Die nie ich noch gehört; so sacht und leise
Und doch so männlich stark und göttlich kühn.
Nimm' heut' meine Begeistrung; zwar ich sende
Dir nur banale Worte; doch fürwahr
Sie loht in mir; es zittern meine Hände —
Ich schreib dem Dichter, der so wunderbar . . .
2. Erika Mitterer, »Einem Dichter (Rilke)« und Briefgedichtentwurf, Frühjahr 1922
Einem Dichter (Rilke)
Verschwiegnen Klanges einen Bronnen tief
Hast aus dem Meer der Schönheit du gerettet
Du, nach dem lange Gottes Stimme rief
Hast Licht an Nacht und Nacht an Licht gekettet
Was andre säten und was niemals sie
Geerntet haben, weil sie müde waren —
Du hattest Zeit und du versagtest nie
Und hast des Erntens schwere Lust erfahren
Die Früchte reifen nun in unserm Schoße
In den du, uns vertrauend sie gesenkt . . . .
– — — Und wir begreifen jetzt die übergroße
Tiefheilge Liebe, die uns Gott geschenkt.
3. Erika Mitterer, »Rilke (Wohl, das ergreift dich)«, 4. 12. 1922
Rilke.
Wohl, das ergreift dich: dies aus Trümmern sprießen
Von schweren Blumen, die kein Wind berührt.
Und du erschauerst ahnend, weil man spürt:
Zuerst gestorben um dann zu genießen.
4. Erika Mitterer, »Das Buch der Bilder (Rilke)«, zwischen dem 21. 1. und 21. 2. 1923
Das Buch der Bilder (Rilke)
Von irgendwo aus dämmernden Gründen
Blickt einer her mit kristallenem Blick.
Ich bin ganz eingeengt in mein Sein —
Und doch: in diesem Augenblick münden
Unzählige Schicksale, Leid und Glück
Und Fremder Gefühle in mich ein.
Sieh, alles dies kommt irgendwoher
Und geht alles irgendwo hin.
Und dein Leben ist wie das Jener so schwer
Und ebenso dunkel sein Sinn
Und du stehst wie vor einem Wald:
Seine Tiefen sind unerhört reich;
Doch seine dunklen Gründe sind kalt —
Und die Farben der Wiesen sind weich.
Vielleicht gehst du hinein; und dann
Ist alles ohnegleichen.
Vielleicht kamst du auch nie heran —
Und doch: was je dein Leben sann,
Das stand in seinem Zeichen.
5. Erika Mitterer, Briefentwurf an Rainer Maria Rilke, am oder kurz vor dem 14. 2. 1924
Oft habe ich nur den einen Wunsch: wenn Sie nur ganz Vergangenheit wären. Sehr vergangen, so daß alles Äußerliche und Wirkliche nicht mehr da ist, außer in seinen inneren Beziehungen. Der Dichter müßte zeitlos sein. Es müßte ausgeschlossen sein, daß man liest — er vertrat sich letzten Dienstag den Fuß. Oder er heiratete die Tochter des Herrn Soundso.
Sie waren bis jetzt zeitlos für mich, weil ich nichts von Ihnen wußte — als daß Sie leben . . . und das, was Sie selbst sagen. Deshalb versetzte es mich in namenlose Bestürzung, in einem Buch Ihren Namen zu lesen . . . irgendwie, ganz alltäglich und vertraulich. Berge traten zwischen uns mit ein paar Worten. Grenzenloses Entferntsein durch ein bißchen alltägliches Näher-sein anderer.
Der aus wunderbaren Traumländern Ausgeschlossene hat nicht die Kraft, seine Phantasie vor dem Schwelgen in jenseitigen Vorstellungen zu behüten. Ich las weiter — meine Spannung wuchs. Ich ertrage es nicht — ohne den Versuch die Berge zu verdrängen. Mir kam es zum erstenmal klar zum Bewußtsein — Sie leben. Und ich mußte alles daransetzen, um ein — Ich lebe von Ihnen zu erreichen.
Verstehen Sie — versuchen Sie zu verstehen. Verstehen Sie, daß es Verrat ist, daß es Dinge gibt, die für Einen »Kunst« sind, im Sinne irgend etwas Schönen, Freudigen, Erhebenden. Und für den Andern Leben, Impuls, Religion — Ich.
Ich weiß nicht, was ich von Ihnen will. Irgendetwas, was keiner kaufen kann um ein paar tausend Kronen. Auch nicht, um es nur von außen, ganz außen zu betrachten. Etwas ganz Unverkäufliches. Wenn Sie lächeln, ist das schon mehr, als wenn tausend sich rühmen können, Sie gesehn zu haben.
Und ärgern wirst Du Dich nicht. Du hast viel, und die ganze Welt. Aber es darf kein Gott, der allmächtig ist, eine Seele belächeln, die nichts will, als Vater sagen dürfen — statt Herr. Denn sie ist seine Jugend, die er verstößt und seiner Güte bestes Gut.
Erika Mitterer
Wien I. Hegelgasse 7.
6. Erika Mitterer, Tagebucheintrag, 14. 2. 1924
14. II.
Endlich wieder ich vor mir selbst. Und ziemlich erregt. In den letzten Wochen schlief und wachte ich mit Rilkes Fürstenkind — mit und ohne Moissiaufführung. Und nun kam mir ein Buch in die Hände — Briefe Paula Becker-Modersohns, in denen Rilke oft, aber nebensächlich vorkommt. Es hat mich sehr erregt; es kommt immer wieder etwas, was mich beunruhigt. Jetzt wurde es mir klar, daß er lebt — lebt, und nicht nur in Gedichten. Und dann zu lesen: Gestern Rainer Maria Rilke — ein feiner Lyriker . . . Oder: Gestern machten Rilkes Gegenbesuch. Oder in einem Brief an Clara Westhoff: Ja lieber Rainer Maria Rilke ich hetzte gegen Sie und Ihre bunten Siegel, die Sie nicht nur auf Ihre feingeschriebenen Briefe drücken . . . .
Die Widmung des Fürstenkindes entdeckte ich erst jetzt.
Ich schrieb einen Brief . . .
Sonst ist es sehr schön auf der Welt. Jeden Tag eine kleine Überwindung und ein reicher werden dadurch — wie beim Skifahren.
Melitta ist sehr lieb. Sie weiß jetzt, wie gern ich sie habe und tut mir viel zulieb. Gestern als ich nach Tisch schlief und dann erwachte, war sie bei mir. Ich habe es fast lieber, wenn sie so zu mir kommt, um mich zu erfreuen, als wenn sie um ihretwillen kommt und meinetwillen. Ich glaube noch immer, sie überschätzt mich oder schätzt mich falsch. So bin ich so ruhig und geborgen.
Das Handeln fällt mir schon leichter. Aber es ist immer noch: Und Lebens — Liebe — Wonnetrunkne Lieder — Und ein Nirwanatraum, sehr süß, zuletzt.
Ich habe Rilke geschrieben, daß ein allmächtiger Gott, der eine Seele verstößt, die Vater sagen möchte, statt Herr seine Jugend verrät und seiner Güte höchstes Gut.
Wenn ich nur die Adresse hätte . . . . ich bin im Stand und schreibe nichts als: Rilke, Prag.
7. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Wien, 25. 5. 1924
»Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.«
Sieh: das Buch fällt schon auf! Oh du großer Erlöster!
Durchs Leben Erlöster — dir kann nichts geschehn.
Hinter dir schlossen sich dunkelnde Klöster —
Stießen hinaus dich in blühn'de Alleen.
Haben wir Maße für unsere Freude?
– Alles, was froh ist, ist ganz. Doch es wird
Wie ein in sich schon bewegtes Getreide
– Weht es im Winde — herrlich beirrt
Durch immer wachsender Lüfte Bewegung —
Dankbar gibt es den Winden sich hin.
Dank dir, danke für jegliche Regung
Meines Gemütes, das ahnet: Ich bin.
Erika Mitterer.
Im Mai 1924.
Wien I. Hegelgasse 7.
Du warst in mir. Da nahm dich Einer her
Im Alltagslicht und war mit dir vertraut;
Und vieles war nun nie erträumbar mehr
Was ich in stillen Stunden auferbaut.
Da ging ich aus, um die Brücke zu finden
Die wieder mit dir mich vereint.
Ich kann nicht fassen, daß die Blinden
Die Sonne besitzen, die mir nicht scheint.
Ich fasse nicht, daß irgendwo
Gestern ein Fremder dir sprach —
Während ich ahne: du lächelst so —
Und wann dir ein Lächeln gebrach.
Versteh: bis heut' warst du nicht in der Zeit
Und nie und durch nichts zu erkunden.
Ich wünschte, du wärest Vergangenheit
Durch nichts und mit niemand verbunden. —
Doch da du bist, jetzt, im Leben verfußt
Gönn' mir ein Lächeln, ein kleines,
Lenzhaft sich freuendes, wenn du ruhst
Im herbstlichen Schatten des Haines . . .
Wien, Februar.
8. Rainer Maria Rilke, »Noch fast gleichgültig«, 2.-3. 6. 1924
Noch fast gleichgültig ist dieses Mit-dir-sein . . .
Doch über ein Jahr schon, Erwachsenere, kann es vielleicht dem Einen,
der dich gewahrt, unendlich bedeuten:
Mit dir sein!
Ist Zeit nichts? Auf einmal kommt doch durch sie
dein Wunder. Dass diese Arme,
gestern dir selber fast lästig, einem,
den du nicht kennst, plötzlich Heimath
versprechen, die er nicht kannte. Heimath und Zukunft.
Dass er zu ihnen, wie nach Sankt-Jago di Compostella,
den härtesten Weg gehen will, lange,
alles verlassend. Dass ihn die Richtung
zu dir ergreift. Allein schon die Richtung
scheint ihm das Meiste. Er wagt kaum,
jemals ein Herz zu enthalten, das ankommt.
Gewölbter auf einmal, verdrängt deine heitere Brust
ein wenig mehr Mailuft: dies wird sein Athem sein,
dieses Verdrängte, das nach dir duftet.
______________
(Junÿ 1924: Muzot)
9. Rainer Maria Rilke, »An der sonngewohnten Straße«, 2.-3. 6. 1924
x
An der sonngewohnten Straße, in dem
hohlen halben Baumstamm, der seit lange
Trog ward, eine Oberfläche Wasser
in sich leis erneuernd, still ich meinen
Durst: des Wassers Heiterkeit und Herkunft
in mich nehmend durch die Handgelenke.
Trinken schiene mir zuviel, zu deutlich;
aber diese wartende Gebärde
holt mir helles Wasser in's Bewusstsein.
Also, kämst du, braucht ich, mich zu stillen,
nur ein leichtes Anruhn meiner Hände,
sei's an deiner Schulter junge Rundung,
sei es an den Andrang deiner Brüste.
x x
(Junÿ 1924)
10. Rainer Maria Rilke, Brief an Erika Mitterer, Muzot, 3. 6. 1924(Antwort auf Nr. 7)
»Alles, was froh ist, ist ganz.«
Dass du bist genügt. Ob ich nun wäre,
lass es zwischen uns in Schwebe sein.
Wirklichkeit ist wahr in ihrer Sphäre;
schließlich schließt das ganz Imaginäre
alle Stufen der Verwandlung ein.
Wär ich auch der abgethanste Tote,
da du mich erkanntest, war ich da;
folgend deinem innern Aufgebote,
nahm ich leise theil an deinem Brote:
du ernährtest mich, und ich geschah . . .
Soll mich nun dafür der Zweifel ätzen,
ob du wirklich bist, die zu mir spricht?
Ach, wie wir das Unbekannte schätzen:
nur zu rasch, aus Gleich- und Gegensätzen,
bildet sich ein liebes Angesicht!
für Erika Mitterer
Rainer Maria Rilke▲
am 3. Junÿ 1924
Château de Muzots/ Sierre (Valais)
Schweiz.
11. Erika Mitterer, Gedichtbüchlein mit Briefgedicht an Rainer Maria Rilke, Wien, 5. 6. 1924(Antwort auf Nr. 10)
Ernster war mir nie das Glück gewogen
– Nie ein Zweifel größer als vorher —
Höher gehen meines Lebens Wogen
Und nur eine Sehnsucht hab' ich mehr:
All mein Wesen vor dir auszubreiten
Einen Teppich, der — vielleicht — erfreut.
Magst du lächelnd auch vorüberschreiten —
Ich weiß fürder, daß ich benedeit.
5. Juni. 1924.
Gott schuf mich als ein Blatt im Wind —
Ich laß vom Sturm mich wiegen —
Ich bin ein haltlos-armes Kind
Und will ihn nicht besiegen.
Ich freu' mich, wenn ein starkes Weh'n
Mich auf den Schwingen trägt
Und liebe den und den und den
Nur — weil er mich bewegt.
Lichtwärts!
Ich steige, ich steige, es wachsen mir Schwingen —
Es müßte dem Menschen doch endlich gelingen —
Ich will die Sonne, die Sonne sehen
Und dann vergehen.
Schon seh ich so golden bethörenden Schein —
Ich sauge die reinsten der Lüfte ein —
Und senke geblendet den Blick
Und taumle zurück . . .
Und taumle zurück in die Nacht ohne Ende
Wo tausend und tausende heben die Hände —
Und wollen nur einmal die Sonne sehen
Und dann vergehen.
Liebe — menschlich-seliges Genießen.
Leid — ein Wort von göttlichem Verstehn.
Trauer — ein verweichlicht Tränen-Fließen —
Ehre — ein auf schwankem Pfade gehn.
Hunger — Erdennot zu jeder Frist.
Glück, ein Traum, der nie erfüllbar ist.
Sehnsucht: unsrer Seele Flügelschlagen
Nach dem Gott von nie gewes'nen Tagen.
Geliebte, tausend Quellen sind in mich
Verschlossen worden, als ein Gott mich schuf.
Und sind bereit, bei eines Gottes Ruf
Wie Regen hinzuströmen über dich.
Du bist die Göttin, du, Geliebte! Rufe!
Du bist ein Mal, das Gott mir eingebrannt
Als ich ganz nackt und ärmlich vor ihm stand.
Er war wie eine marmorhelle Stufe
Die zu besteigen mir noch nie gelang.
Er war so hart. Doch eine Stimme sang
Von seiner Liebe Sieg im Hintergrunde.
Das war — Geliebte, weißt du's noch? die deine!
Jetzt stehe ich, und warte auf die reine
Erlöserbotschaft aus geweihtem Munde.
1922.
So sprich das Wort! Läßt du mich lange warten
Wird alles überreif und fällt zur Erde.
Sprichst du es nicht, wird Gott aufs Neu zum harten
Grausamen Nein, dem Liebe nur Gebärde.
Oh, sprich es aus! In meiner Jugend Garten
Blüht alles! Oh, entkette meine Lieder,
Geliebte! Läßt du mich zu lange warten
Verwelken sie, und werden müd, wie Flieder,
Der lang an eines Kranken Bette steht.
Sag' — ist mein Flehen nicht schon fast Gebet?
Warum erfüllst du nicht? Sind deine Hände
Schon müde, armen Stirnen wohl zu tun?
Oh sag', Geliebte, wünschest du das Ende
Der großen Liebe, um dich auszuruhn
Vom vielen Geben, dess' du stets gepflegt?
Dann sag' es mir! Die durch dich aufgeregt,
Die heißen Sinne will ich müde betten
Daß niemals mehr zu dir sie auferstehn —
Dann sag' es mir: will meine Wünsche ketten,
Daß sie in keiner Nacht mehr betteln gehn —
Dann sag' es mir: will meine Augen lehren,
Daß sie fortan in Niedrem Schönheit sehn!
Doch rede nur! Befrei mich von dem schweren
Zwiespalt des Seins und laß mich untergehn.
1922.
Oh, deine Hände — wie sie sich bemühen
Deines lebend'gen Geistes Bild zu sein!
Ich weiß gewiß: in irgendwelchen frühen
Verklung'nen Stunden warn sie einmal mein.
Einmal vergaßen sie gewiß, daß Wunden
Sind, die zu heilen ihre Pflicht auf Erden.
Einmal, in mir geweihten, heil'gen Stunden
War auch ihr Zweck — geliebt, geküßt zu werden.
1922.
Das Einz'ge, was noch Sinn hätt', wäre dies:
Mit dir zu stehn, auf hohem Berg, allein —
Zu zweit allein — entronnen dem Verlies
Hastender Städte — und voll Sehnsucht sein . . .
Und dann zu sterben — und nur fliegen, fliegen —
Endlich den Traum zur Wahrheit werden lassen.
Und nicht sich schämen vor dem Geist der Welt —
Und noch im Tode beieinander liegen
Und sich wie Kinder an den Händen fassen.
1922.
Doch ich gehe ohne Mühe,
Ohne Freude meine Bahn;
Sehe die, die viel zu frühe
Dich erkannt und sich dir nahn.
Viel, viel schwerer, als durch eine
Große Tat sich zu befrein
Ist [das] täglich arme, kleine
Stumm- und Still- und Schüchternsein.
Herrlich ist, durch Ungemeines
Zu ergründen tiefen Sinn.
Doch ich stehe stets an meines
Lebens schwerem Anbeginn.
1922.
Sie sagt:
»Ich soll euch alle aus Zweifeln erlösen —
Nach gütigen Worten dürstet ihr.
Ihr wißt nicht — abends kommen die bösen,
Irren Gedanken auch zu mir.
Ich soll mit euch reden, soll euch trösten —
Verzagte auf herrliche Zukunft verweisen . . .
Warte ja selber noch auf den Größten
Und um mein Herz ist ein Ring von Eisen.
Wüßtet ihr, wie in Nächten ich weine,
Wie meine Seele vom Alltag bedrängt —
Käme doch endlich der Einzige, Eine,
Der mir innern Frieden schenkt.
Ihr seid glücklich! Ihr wollt noch erkennen —
Oh, wie bin ich Wissende arm!
Tausend Wünsche brennen
In euren Herzen, die jung sind und warm . . .
Ich ströme mein Sein in das Eure an Tagen —
Doch Nächte gibt es, die fürchterlich —
Nächte mit lang vergessenen Fragen . . .
Ich bange, irre — suche mich . . .
Vergebens. Bin ja längst zersplittert
In tausend Teile fremden Seins.
Und in euren Gedanken zittert
Brennend, brünstig manchmal meins.«
1922.
Doch sieh: mein Blick reißt alle Schranken nieder,
Dringt in dich ein — umfaßt der Freude Bogen
Und faßt die tiefsten Gründe deines Leids;
Kehrt zu dem sonnenfrohen Antlitz wieder,
Umspielt erregt dann deiner Haare Wogen
Und ruhet müd im sanften Fall des Kleids.
1922.
Pagenlied.
Tausend heiße Küsse liegen
Wohl bereit auf meinem Munde.
Möchte stürmen, möchte fliegen —
Doch von dir kommt keine Kunde.
Möcht' dir roten Wein kredenzen —
Sehen dich im Marmorsaale,
Wenn der Leuchter Kerzen glänzen
Und der Tafel güld'ne Schale.
Blaue Fraue — sieh, ich schaue
Täglich aus nach deinem Gang,
Deines Lächelns Morgenthaue,
Deines Lachens tiefer Klang —
All dies liegt mir im Geblüte —
Nächte sind blautraumumschlungen,
Und es haben im Gemüte
Helle Glocken aufgeklungen.
Nein, ich werd' es nie bereuen
Daß ich mich an dich verloren.
Zwar: noch steh' ich vor den neuen
Welten vor verschloss'nen Toren —
Doch du breite die Gewänder,
Breit' sie aus und hüll' mich ein!
Alle die verlass'nen Länder
Sollen dann vergessen sein.
Welt und Himmel gehn zur Ruh
Und nur ich . . . und du und du . . .
1922.
Melitta.
Ich möchte dann mit dir auf grünem See
Umgeben sein von Schilf und weißen Rosen
Die bleich aus dunklen Moores Gründen steigen.
In Freude wandelte sich bald das Weh
Und aus dem kinderspielerischen Kosen
Wüchse ein großes, ernstes, heil'ges Schweigen.
Dann sprächen deine Lippen, rot wie Wein
Der irgendwo aus schwerem Becher quillt —
Sie sprächen irgendwie ganz leise ein
Versung'nes Lied, das alle Unrast stillt.
Der Himmel oben scheint uns der Talar
Des Segnenden, der gnädig unsrer Feier.
Und rings um uns, ganz ruhig, ein Altar
Der Liebe, liegt der friedevolle Weiher.
1922.
Der Knabe glitt an der Mauer vorbei
Die nackt durch das Herbstlaub glänzte.
Die Gräfin kam. Es trafen zwei
Sich, ganz vom Mondschein Bekränzte.
Er sprach: »Du bist schuld.« Sie erschauert. Im Wind
Ein hülflos Blatt zittert so.
»Du hast mich über die andern gestellt
Und machtest mich edel und hoh.
Ich war ein Kind und du hobst mich empor
In die Höhenluft herrlicher Reine —
Jetzt bin ich allein und verlassen und groß
Und Freuden habe ich keine.
Du kannst's nicht begreifen, denn ebenso hoh
Bist du ganz eingesponnen
In Netze von eignem, vergangenem Weh
Und in Strahlen erstorbener Sonnen. —
Ich aber sehe das Treiben der Welt —
Meine Augen müssen es tragen . . .
Du hast mich auf eine Kanzel gestellt
Und ich hab' nichts zu sagen. —«
Die Gräfin schwieg; sie lächelte leis,
Verschwindend hinter den Bäumen
Der Knabe blieb still. Sie leuchtete weiß,
In seinen düstersten Träumen.
1922.
So — endlich fällt des Tags bleierne Masse
Und sinkt in Tiefen, die nicht zu ergründen.
Und alles Lebens trübe Ströme münden
In eine Gottheit, die ich nicht umfasse.
Und warum trüb?: In ewiger Bewegung
Malt selbst das klarste Wasser dir kein Bild.
Nur in der Ruhe — sanft, getrost, gestillt
Reift höchste Gnade dir der Überlegung.
So komm. So ruhig und klar. In deinen Armen
Erbebe ich und mein Herz schlägt an deinem.
Nur so ist dieses Seins Sinn zu ergründen,
So ganz gestillt; nun wollen wir erwarmen
Und in dem stillsten Glück, in selig reinem
Ewigen Schlafe ew'gen Frieden finden.
1923.
Manchmal steht sie von ihrer großen
Ermüdung auf und hebt die Hände
Um irgend Einen von Schmerz zu befrei'n.
Dann träumt sie wieder mit teilnahmslosen
Verseelten Augen in nüchterne Wände
Oder in blinde Fenster hinein.
Als suche sie irgendwo in dem grauen
Himmel nach Ziel und Weg und Sinn.
Und ihr Leben, tief im Schauen,
Fließt zum großen Strome hin.
1923.
Stimme des Verbannten.
Ein Engel kam; nach seltsamen Gebärden
Ward seine Botschaft mir: »Willst du erlösen?
Willst sie erlösen? Zu den Bösen
In ew'ges Dunkel kehren?« »Ja! Auf Erden
War sie mir alles. Jetzt kann ich's ihr sein!«
»Gut.« Und ich schmachtete in tausend Flammen,
In höchster Qual. Ganz selten einmal kamen
Wir — denn der Engel führte dort mich ein —
Nach Eden. Zwischen Palmen, von Zephiren
Umsäuselt, sah ich sie. Und dann zurück . . .
Jedoch Verzweiflung faßte dann mich nie.
Was ich besitze, kann ich nicht verlieren.
Und Gott war gnädig, als er mir ein Glück
Das keine Hölle rauben kann, verlieh.
1923.
Dies möcht' ich: einmal noch mit dir allein
Auf sonnenüberstrahltem Lande sein.
Einmal noch solch ein glücklich Lächeln sehen
In dem Vergangenheiten untergehen.
Noch einmal in die Strahlenaugen blicken
Um drin zu lesen: Künft'ges wird beglücken.
Dich einmal küssen dürfen, hingegeben
Der Gegenwart — und wissen, daß wir leben.
1923.
Berge verdämmerten ferne — die Sonne sank.
Doch flüchtigen Feuerwerks Spiel zischte zum Himmel empor
Ich war ruhig und gelassen und dachte lang
An dich und — ein strahlender Gruß — brachen die Sterne hervor.
Und du schienst mir im Schutz all dieser Gestirne zu wandeln,
Flüchtiger Kummer verblaßt, Wünsche werden da klein.
Hilflos schwach ist der Mensch, sein Sinnen, Trachten und Handeln —
Aber herrlich fügst du dem großen Gedanken dich ein.
Innsbruck, 1923.
Wenn die Nebel abendlich
Aus der Weser steigen
Weiß ich: bald verlier' ich dich
Ganz: denn bald kommt über mich
Tiefes, großes Schweigen.
Aber erst noch Geigenklang,
Erst noch Abschiedsgrüße!
Kann ja dann ein Leben lang,
Wenn mein Los vollendet, bang
Trinken ihre Süße.
Du, die ganz alleine
Niemals mich verstieß —
Nimm die Grüße — keine
Aus dem Paradies.
1923.
Du bist das Meer. Liegt es schlummernd im Winde
Des Abends, wie Schleier leicht bewegt,
Gleicht es einem frommen Kinde
Das sich betend schlafen gelegt.
Aber steigen aus ihm Orkane
Tobt es, sprüht Gischt in die Lüfte u. schäumt —
Und ist wieder die ruhende Fahne
Die von den Siegen des Kaisers träumt . . .
Manchmal, in sehr begnadeten Stunden
Habe ich Perlen am Strande gefunden!
1922.
Wenn blasse junge Mönche in Alleen
Die voll weißblühender Kastanien sind
Oder durch prunkende Straßen gehen
In denen lebhafte junge Frauen
Ihnen in die Gesichter schauen
Und leise lächeln und nicht verstehen —
Lächeln auch sie. Doch im Herzen klagen
Sie und eine fremde Stimme sagt:
Warum haben wir all unsere Sehnsucht
Zu so fernen Tagen
Vertagt?
1922.
Oh, kommt, ihr Unbekannten, Namenlosen,
Daß die Erregung sich an euren Küssen
Satttrinke, und in trunkenen Ergüssen
Noch einmal Stürme wehn und Welten tosen.
Kommt, um ein letztes Mal den dunklen Sinn
Des Seins, zu früh erkannt, mir zu verdrängen . . .
O, einmal noch in glühenden Gesängen
Rauschender Lust am Rand des Abgrunds hin . . .
Daß mich die Welle einmal noch erhebe
Eh ich sie kühn verachte und ertrinke . . .
Daß ich noch einmal weiß: ich lebe, lebe —
Eh ich, das Leben leugnend, drin versinke.
1923.
Wie diese Frühlingsabende verwirren!
Kaum müd geword'ne Glut flammt neu empor.
Wie roten Weines heitres Gläserklirren
Wie heimlich flüstern in erregtes Ohr.
Und meine Liebe läßt mich plötzlich bloß
In wunderbar erstaunter Nacktheit glänzen . . .
Das Meer des Lebens ist wie nie noch groß
Wie niemals blau und gänzlich ohne Grenzen.
1923.
Ich habe noch nie einen Menschen geliebt,
So, wie ich dich jetzt liebe.
Und habe noch nie meine Mutter betrübt
Wie ich sie jetzt betrübe.
Und alles um dich. Du weißt nicht von mir
Und weißt nicht, wie ich glühe.
In nächtlichen Träumen bin ich bei dir —
Und weine in der Frühe.
1922.
Dann tratst du plötzlich mitten in mein Leben
Und stehst am stillen Abend wieder auf.
Erniedriget — und dem gemeinen Lauf
Der Dinge in Gedanken eingereiht —
Doch noch von jeder Wirklichkeit befreit —
Dann seh ich dich, und fühl' die Stürme wieder
Die einst, beim hohen Klange deiner Lieder
Das junge Herz zum höchsten Schmerz geweiht . . .
Schmerz oder Glück — wer zieht da noch die Grenzen
Wenn einmal Wesen sind, die sich ergänzen
Und lächerlich Bewußtsein, Raum und Zeit.
1923.
Oh Herr — ich weiß es: du kannst Wunder tun —
Bin ich nicht eines reichen Wunders wert?
Oh wär' ich du! Ich würde Seinem Ruhn
Ein Wort zuflüstern, blinkend, wie ein Schwert
Daß er aufspränge — Raserei der Mienen
Die Raserei des Wort's verklingen ließe
Und sucht' — und fände! Herr, soll ich dir dienen,
Sieh, daß mein Herzblut nicht zu reichlich fließe!
Ich wollte nicht nackt vor den Menschen stehn
Und sucht' meiner Seele Gewand.
Da ward ich, von ihnen allen durchsehen
Ein schlechter Komödiant.
Und mein todtrauriges Gesicht
Belegt ich mit brennendem Rot —
Ich pries das Leben in manchem Gedicht
Und freute mich stets auf den Tod.
Vielleicht, hätt'st du zur rechten Zeit
Mich unverhüllt erkannt
Hätt' ich des Lebens Narrenkleid
Zu andrem Tand verbannt
Und läg' jetzt, groß und frühbefreit
Als Glanz in deinem Blick — —
Und blieb, ein Hauch der Ewigkeit,
Um deinen Mund zurück.
Herbst 1923.
Melitta gewidmet.
»Du hast aus jenem Sein dich mir entzogen
In dem ich dich am ehesten begriff.
Jetzt schwanke ich, ein steuerloses Schiff
Auf eines grenzenlosen Meeres Wogen.
Sag', warum hast du mich um dich betrogen,
Wegweiser, trügerischer Regenbogen,
Der Brücke scheint und Ziel? Wie viele Meilen
Irrte ich schon!« Mein Kind, Ich liebe dich.
Doch horche auf: Ich bin zu königlich,
Um Meinen Ruhm mit meinem Werk zu teilen.
Gib dich mir selbst. Nicht der Gestalt, dem Kleid.
Wunschlos und schmerzlos. Sieh: ich bin bereit.
1924.
Ich möchte mich gänzlich mit Abend umgeben,
Mit allen Möglichkeiten der Nacht.
Verblassende Sorgen — ihr seid nicht das Leben,
Ich habe es bis an den Rand gedacht.
Oh seliges Tauchen in schaurige Tiefe,
Müd' freudiges Schwelgen in Wunsch und Traum . . .
Warum nicht folgen, wenn das Wunder jetzt riefe?
Gibt es noch Gegenwart — Enge — Raum?
Losgelöstsein von irdischer Schwere,
Wäre es möglich, bleibst du bestehn?
Süßes Versinken in sühnende Leere —
Sinken und ruhen und nie auferstehn . . .
Frühling 1924.
Moissi.
Mich dauert deine königliche
Schmerzlich umworbne Einsamkeit.
Beengt mich meine jungfräuliche
Und mädchenhafte Frühlingszeit?
Du siehst: Er ist. Nur du kannst sagen:
Der Frühling ist. — Die Winde tragen
Die fremden Düfte her — von weit.
Er ist — wir sind. Wir haben Namen —
Der deine klingt. Wer »Frühling« sagt —
Bist es nicht du — sagt nichts — ein Ding.
Er aber ist — und du vergißt
Es nie — mehr, als die Dinge sind.
Frühling 1924.
[Zwischen dem vorderen Buchdeckel und der ersten Seite des Büchleins war getrocknetes Heidekraut eingelegt.]
12. Erika Mitterer, »Sollte es schon bald zu Ende gehen?«, 8. 6. 1924
Pfingsten Breitenau
Sollte es schon bald zu Ende gehen?
Ich bin froh und möchte nicht mehr tauschen —
Sanfte, dünne, spitze Gräser rauschen
Neben [mir] und alle Sinne lauschen
In die Ferne in der du zu sehen.
Süßer Vogelsang, wenn du es wüßtest,
Wie du überholt in Seligkeit —
Du, rotgold'ner Strahl, der du mich küßtest —
Naht ein Leben, wo ich ganz bereit?
Gestern noch versuchte mein Erkennen,
Unerhörte Landschaft, dir zu nahn.
Was die Augen nie noch wirklich sahen
Fühl ich heute in der Seele brennen.
Wer vermöchte dieses Glück zu nennen?
Weiße Engel in den Bogengängen
Dieser Gärten, spielend zu Gesängen
Sanfte Harfen, wären fast banal
Neben diesem unerhörten Glanze
Wel[cher] hinter deiner Worte Schanze
Leuchtend aufging meiner Seele Saal.
13. Rainer Maria Rilke, »Für E. M. Ach, wie beschäftigt wir sind«, 4.-12. 6. 1924 (Erste Fassung zu Nr. 14)
Ach, wie beschäftigt wir sind,
weil die Libellen einander nicht
genügend anstaunen . . .
Wenn sich dein Körper nun aus der Kindheit strafft
und, wie Knaben in Schritt fallen, fällt
in ein gemeinsames Gehn
deiner Kräfte,
wenn Melodie aufsteht, wo lang
nichts als ein Stimmen war, ein gemeinsames Lied
Du: Mädchen, aufsteht, deiner Glieder
Heimatlied, mit darüber dem Vorgesang
deines Blicks, — daß du dann
wüßtest, was du vermagst. Wie in dir
die an tausend Stellen
verschwendete Kreatur
ein geschontes Vermögen wird, ein Besitz
und Ertrag in die Zukunft.
14. Rainer Maria Rilke, Brief an Erika Mitterer, Muzot, 18. 6. 1924(Antwort auf Nr. 11)
Für E. M.
Ach, wie beschäftigt wir sind,
weil die Libellen einander nicht
genügend anstaunen,
weil ihre Pracht
ihnen einander kein Räthsel ist
und kaum Versuchung,
sondern ein Gegenwerth.
Genau dem, was sie opfern,
ihrer Lebenskürze genau
entspricht es, so prächtig zu sein,
und von der Pracht, die sie leicht zueinander spielt,
geht ihre Liebe nicht über.
Wir, vor Überflüssen stehen wir, Verschwendungen,
oder, plötzlich, vor zuwenig Dasein.
Über das Übermaaß Aufgangs,
mit dem die Geliebte heraufglänzt,
verfügt ein sich trübender Tag.
Wind zerstreut ihren Duft,
und ein stürzender Bach überstimmt sie . . .
Wer war ihr gewachsen, wer ihrer Übermacht,
wer ertrug sie auch nur,
da sie heraufkam —,
und bald schon,
da noch Mittag nicht ist,
begreift er das Andere nicht: ihre Armuth.
Seine und ihre.
Oder des Reichthums Unbrauchbarkeit,
oder das nicht mehr Zugleichsein
im Reichthum.
Oder die Überflüsse verschütten ihn,
sein eignes Bewundern
war zu wagend gewölbt,
bricht!
(Tempel sind rechnender.)
Ach, sein Bewundern verpflichtete
jene Bewunderte —, aber
wer ist herrlich aus Pflicht?
Aus Entzücken war sie's vielleicht einen Augenblick,
herrlich. Und das Bewundern,
wie wo versteigert wird,
schrie den nächst höheren Preis,
immer noch höhern . . . ,
bis die Erwerbung,
getrieben,
unter die Sterne sprang:
Sternbild,
beiden unmöglich.
(Als ein erster Entwurf.) RMR▲
(Am Abend des 17 Junÿ 1924)
15. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Wien, 21. 6. 1924(Antwort auf Nr. 14)
Sieh: ich wollte flehen: gib mir Zeit —
Und nun weiß ich, daß ich's nicht vermag
(Wer holt nach, der nicht zur Zeit bereit!?)
Und ich fass' ihn jetzt noch nicht, den Tag.
Kaum an die rot-grauen Dämmerungen
Hat das Auge sich erstaunt gewöhnt.
Oh, es will sie abtun — wenn die jungen
Morgenstunden auch das Bild verschönt.
Und es wagt nun nicht zu bitten: warte
Süßes Licht, bis ich dich tragen kann . .
Brich herein! — ich flehe dich, die harte
– Gute — Klarheit — nur um Milde an.
Doch bist du nicht vielmehr wie Morgenschimmer,
Wie jener, der am Hochaltar erstrahlt?
Denn nur in Kirchen leuchtest du! Im Zimmer
Habe ich Thörin deinen Brand gemalt.
Suchte ich dich wirklich zu begreifen —
Ach, ich weiß es, könnt' ich nicht bestehn.
Doch du, herrlicher, vermagst mit weichem
Lächeln viel, sehr viel zu übersehn.
Erika Mitterer.
Wien, am 20. VI. 24.
16. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Wien, 23. 6. 1924
Denn Liebe ist nur eingeschränkten Maßes,
So unermeßlich sie sich selbst erscheint.
Was du mir früher warst — sieh, ich vergaß es —
Kaum weiß ich noch, was ich damit gemeint.
Sie ist nur Gegenwart und Selbstgenügen
Und dennoch: ist sie nicht ein Berg aus Glas
Den jene, die sich nimmermehr begnügen
Versuchen müssen — ihrer Kräfte Maß?
Du bist ein hohes Schloß mit hellen Fahnen
Und bist ein Kloster, schwarz gen Abendglut.
Du bist Kristall; und dennoch sagt mein Ahnen:
Im Rytmus eines Meeres rauscht dein Blut.
____
Du bist, welcher sich niemals überhoben
Und der doch höher steht, als jede Stadt
Und Baum und Berg. Und nur, um dich zu loben
Murmelt die Masse, rauscht der Strom, das Blatt.
Mir gab kein Gott die Stimme, dich zu preisen,
Sehr traurig seh ich meine Ohnmacht ein.
Und dennoch sang ich. Oh vergib! Die Weisen
Nur gehn getrost in großes Schweigen ein.
____
Manchmal erfreute ich mit meines Klanges
Wohllaut ein Herz, das sich nach mir gesehnt.
Doch weiß ich: meines heutigen Gesanges
Sämtliche Bilder sind von dir entlehnt.
Erika.
22. Juni 24.
17. Erika Mitterer, »Mir bangt nur vor dem Ende«, 23. 6. 1924
Mir bangt nur vor dem Ende. Daß es wieder
Klaglos erlischt, das große Wunderbare —
Wie es gekommen (beinah monoton).
Was bleibt zurück? Ein paar verträumte Lieder,
Briefe (nach Jahren nur verstaubte Ware)
Ein Herz, beraubt um eine Illusion.
18. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Wien, 26. 6. 1924
25. VI. 24.
Sag', ist es recht, daß ich nun nicht mehr bange,
Da ich mein Schicksal dir verwoben weiß?
Vergib die Schwäche! Doch ich bangte lange
Und sehe nun geschlossen meinen Kreis.
Ist es zuviel, vielleicht auch zu beschwerend
Für deine Demut, wenn man so vertraut?
Du bist vielleicht schon längst entwichen, während
Mein Auge noch am alten Platz dich schaut.
26. VI.
Sehr selten dämmert mir ein Ahnen auf,
Dann meine ich, ich könnt' es nicht ertragen —
Müßte beschleunigen der Dinge Lauf
Und allem Volk von deiner Größe sagen.
Und ich begreif es nicht: Was kommt dir bei,
Mich Unbekannte neben dich zu stellen?
– Du bist ein Meer. Mir träumte einst, ich sei
Sekundenlang der Kamm auf deinen Wellen.
____
Laß mich Weihrauch sein in deinem Dom,
Laß mich Rahmen sein an deinem Bild,
Laß mich Weg sein — du bist Ziel, bist Rom
Das auf sieben Hügeln sich erfüllt.
Du bist Stille; ich bin Klang, der ihre
Schöpferische Schweigsamkeit erhöht.
Du bist Donner — ich die Angst der Tiere
Wenn der Sturm um ihre Hütte weht.
Erika Mitterer.
19. Erika Mitterer, Tagebucheintrag, 29. 6. 1924
29. VI.
3 Briefe habe ich abgesandt. Der einzige Trost dabei ist, daß sie sich steigern. Wird er begreifen? Daß ich es wohl verstanden habe und trotzdem — trotzdem: rühmen, das ist's. — Gestern schenkte mir Irene die Duineser Elegien. Es ist wieder über alles Maß und ich begreife wieder nicht — wie es ertragen. Mein Los ist unter keinen Umständen hart. Denn wenn jetzt alles verstummt, so ist es zwar ein Schmerz, aber ein Schmerz, den man in Tränen ausweinen kann und dann daraus hervorgehen. (Wozu?) Ich liebe es, mein Herz zu fühlen, wörtlich, beklemmt. Von Größe beklemmt. Oh, Leben ich ahne, daß ich dir erst gewachsen sein muß, eh du mich läßt.
Ich werde den ganzen Tag mit Kindern zusammensein, und [mein] Ziel wäre: ganz allein zu sein in mir selbst. Aber ich hoffe, zu bestehn. Ich will froh sein (denn wer hätte Grund, wenn nicht ich.) — Das Heft schließt. Ich habe doch viel erlebt. Kann ich je wieder versiegen. Viel Schönes.
»Das Schöne ist nichts
Als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen
Und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht
Uns zu zerstören. —
20. Rainer Maria Rilke, Brief an Erika Mitterer, Ragaz, 1. 7. 1924(Antwort auf Nr. 16 und 18)
An E. M.
Warum vergessen? Sag, wie du mich sahst
und mich erschlossest aus erkannten Zeichen.
Bedenk es immer: ohne mir zu gleichen,
war mir das Bild doch innig angemaaßt.
Vielleicht auch hilft es mir, dass ich gewahr,
wie du dich rührst. Denn deine Verse sind
Herzlandschaft, ganz gestickt aus deinem Haar.
Nun aber wünsch ich in dein Haar den Wind.
Lauf wider ihn, dass er dich mir umreißt
mit allem was du warst und bist und meinst:
dass du mir, Heide, als Gestalt erscheinst,
du junger Körper wider meinen Geist.
____
x
Du »Kamm auf meinen Wellen« . . .: Kämme schäumen
nur wo das Meer im Wüthen stürmt den Damm;
und dann, je wilder sich die Wogen bäumen,
je weißer glänzt, je schöner schäumt der Kamm.
So willst du mich erregter? Oder denkst du
an jene Kämme, die ein sanftres Meer
am Strande kräuselt? Unbekannte, schenkst du
dich als der Milderungen Wiederkehr?
R▲
____
21. Erika Mitterer, »Verstumme Herz!«, 4. 7. 1924
Verstumme Herz! Du hattest angeboten
Was irgend nur dir zur Verfügung stand.
Du triebest Rosen und du wolltst die roten
Betreuen lassen von des Gärtners Hand.
Der aber weilt indeß in andern Zonen
Wohl gänzlich von des Südens Pracht bethört.
Oh freu dich dennoch: mag er dich verschonen —
Du hattest seiner kund'gen Hand begehrt.
22. Rainer Maria Rilke, Brief an Erika Mitterer, Ragaz, 5. 7. 1924(Antwort auf Nr. 11 und 18)
Die Liebenden(Erika und Melitta)
I
Bist du's? Oh sei's!
Wandle dich, wenn du's nicht bist,
werde, was keiner vergisst,
bieg mir den Kreis.
Lauter Beweis
geht von dir aus. Meine Arme sind
aufgeschlagen von deinem Wind.
Bist du's? Oh sei's!
Zeig dich mir leis,
so wie Musik, die man wiedererkennt,
durch die Luft, die sie bringt, von ihr getrennt . . .
Bist du's? Oh sei's!
Flamme und Eis
schließen dich ein wie ein einziger Brand.
Siehe, ich warte abgewandt:
Bist du's? Oh sei's!
___
II
Spielt mit Spiegeln der Gott?
Blenden uns jagende Scheine?
Ist dies Glänzen das Deine,
oder sein spielender Spott?
Aufglänzt dein klares Gefühl,
stürm ich wie Wind deine Thüre —,
doch wenn ichs glühend berühre,
scheint es mir kühl.
____
(Die Liebenden)
III
Ach, wie bist du dennoch, Wunderbare,
mir im Innersten verhundertfacht:
Jahreszeit im längsten meiner Jahre,
dunkler Tag und helle Nacht.
Neue Blumen riefest du aus meiner
jungen Erde, die sich dir ergab,
niemals öffneten sich Kelche reiner
als geweckt von deinem Zauberstab.
Meine Vögel bauten nicht, sie sangen . . .
Oh bewahre mir den schönsten Schrei:
dass in dir dem wagenden Verlangen
reines Maaß gegeben sei.
________
Dauer der Kindheit
(für E. M.)
Lange Nachmittage der Kindheit . . . ., immer noch nicht
Leben; immer noch Wachsthum,
das in den Knien zieht —, wehrlose Wartezeit.
Und zwischen dem, was man sein wird, vielleicht,
und diesem randlosen Dasein —: Tode,
unzählige. Liebe umkreist, die besitzende,
das immer heimlich verrathene Kind
und verspricht es der Zukunft; nicht seiner.
Nachmittage, da es allein blieb, von einem Spiegel zum andern
starrend; anfragend beim Räthsel des eigenen
Namens: Wer? Wer? — Aber die Andern
kehren nachhause und überwältigen's.
Was ihm das Fenster, was ihm der Weg,
was ihm der dumpfe Geruch einer Lade
gestern vertraut hat: sie übertönens, vereiteln's.
Wieder wird es ein Ihriges.
Ranken werfen sich so manchmal aus dichteren
Büschen heraus, wie sich sein Wunsch auswirft
aus dem Gewirr der Familie, schwankend in Klarheit.
Aber sie stumpfen ihm täglich den Blick an ihren gewohnteren
Wänden, jenen, den Aufblick, der den Hunden begegnet
und höhere Blumen
immer noch fast gegenüber hat.
Oh wie weit ist's von diesem
überwachten Geschöpf zu allem, was einmal
sein Wunder sein wird, oder sein Untergang.
Seine unmündige
Kraft lernt List zwischen den Fallen.
Und das Gestirn seiner künftigen Liebe
geht doch schon längst unter den Sternen,
gültig. Welches Erschrecken
wird ihm das Herz einmal reißen dorthin,
dass es abkommt vom Weg seiner Flucht
und geräth in Gehorsam und heiteren Einfluss?
________
Für
E. M.
Vertraust du so? Nicht meine Demuth nur,
mein Wesen zittert vor so viel Vertrauen.
Mein Grund ist zu geheim, um drauf zu bauen;
ich bin Gefahr, sonst wär ich nicht Natur.
Doch weißt du's nicht? Sooft es seelig war,
rief dir dein Blut nicht immer feierlicher:
Gewagtes Kind, nun bist du nirgends sicher
als in Gefahr.
x
für Heide
Sieh mich nicht als Stetes und Erbautes,
weder Brücke kann ich sein, noch Ziel.
Höchstens Mund dem Wagnis eines Lautes,
der mich unbedingter überfiel.
Höchstens Wind in deinem Blumengrunde,
höchstens weichen Regens Niederfall —,
oder, plötzlich, in der freisten Stunde,
beides: Fangender und Ball.
R▲
______________
(in den ersten Julÿtagen 1924)
23. Rainer Maria Rilke, »Oh erhöhe mich nicht!«, 1.-4. 7. 1924(Zeitraum Brief Nr. 22)
Oh erhöhe mich nicht!
Wer weiß, ob ich rag.
Heb nur leise dein Angesicht,
daß dir mein Niederschlag
fast wie dein eigenes Weinen sei.
Stürmt meine Stärke an dir vorbei,
stelle dich aufrecht in meinen Wind;
schließe die Lider vor meinem Wehn,
sei blind
vor lauter Mich-sehn.
24. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Salzerbad, 7. 7. 1924(Antwort auf Nr. 20)
4. Juli 1924.
O bilde mich wie einen Klumpen Ton
(Vergiß, daß ich schon je Gestalt besaß)
Ball mich zusammen, daß kein Merkmal von
Dem Gestern spricht, das gerne ich vergaß.
Ich will dich schauen, wie die Blumen frühe
Die Welt besehn: erstaunt und doch verwandt;
Und dennoch Feuer sein, denn ich, ich glühe
Und glühe rot dich an, geliebtes Land.
____
Doch willst du, daß ich sei, so wisse: ganz
Bin ich nur eins und dies in selt'nen Stunden.
Die sich Verlierende, die sich im Glanz
Von fremden Sonnen strahlender erfunden.
Die sich Verschweigende, die gern Erkannte,
Die Selige, die sich zu früh ergab.
Die beinah Wankende, der die verwandte
Trostreiche Stimme Berg zugleich und Stab.
Juli
2. Aug. 1924.
Wer ist bewahrt, wenn du, du Umgestalter,
Wenn du nicht tiefst geborgen bist in mir?
Ich weiß gewiß: du bist ein reiner Psalter
Und alle Stimmen singen auf in dir.
Du hast verwandelt, was schon fast erstarrte
Und warst selbst weich in jenes Bildners Hand
Er nahm dich her, der sich dir offenbarte
Und du warst ihm sein sanfteres Gewand.
Erika.
bis 3. August: Salzerbad, Schweizerhaus, bei Hainfeld,
Post Kleinzell. N. Ö.
Sonst: I Hegelgasse 7.
25. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Salzerbad, 9. 7. 1924(Antwort auf Nr. 22)
abends, Dienstag, den 8. July 24.
Ich bin es nicht, jedoch daß ich es werde
Fleh ich die Berge an, die waldig stehn.
Daß von der Kraft, die ihnen aus der Erde
Aufsteigt, sie mir ein wenig zugestehn.
Vertrau den Engeln! Magst du sie begegnen,
Das Herz ist träge, mich erschlug es nicht.
Worauf, worauf es wartet? Mehr als segnen
Kann es kein Gott und du, du kannst es nicht.
____
Doch wie kann ich's, Kleingläubige, ermessen
Und im Entfernt'sten dein Vermögen ahnen?
Du strafst mich nicht? Durch schweigen und vergessen?
Ziehst sie nicht ein, die schon bereiten Fahnen
Die eine Größre zu begrüßen wehten?
– Oh, wie ertrage ich es, so verkannt,
So süß verkannt zu werden? Um zu beten
fügt sich die eine in die andre Hand.
____
Oh, ich wollte strömen und verschwenden
Und auch darin kommst du mir zuvor.
Oh wie soll, wie soll, wie soll es enden
Da ich gänzlich mich in dir verlor?
____
Mir ist, als wärn meine Thränen ein Thor
Durch dessen fallenden Bogen du schreitest!
Ich gehe vor. Wie weit du mich begleitest,
Wie weit! Auch wenn ich längst den Weg verlor.
Der Führer, wandelnd hinter der Geführten!
(Die Sonne, leuchtend hinter eignem Strahl!)
Der Dichter, weinend über den Gerührten.
Oh grenzenloser Güte Wundermal!
9. Juli, früh.
Wenn ich ermüde, bin ich ganz verloren,
Wenn ich versage, bin ich mir entbrannt,
Dann wär' es besser, ich wär' nie geboren
Und besser wär's, ich hätt' dich nie erkannt.
Ach, ist es herrlich, alles Maß in sich,
Für Glück und Leid allein in sich zu spüren?
Ist's fürchterlich? Oh, angstvoll frage ich
Mich stets aufs Neue: wohin soll es führen?
____
Du siehst, mir sind die Laute neu
Ich brauch sie wie ein Kind.
Manchesmal lassen sie mich frei
Im Fühlen wie im Wind.
Sie ragen über mich hinaus,
Schließen mich doch nicht ein.
Und sind doch ein umblühtes Haus
Und dieses Haus ist mein.
So mein, wie jene Zweite
Die liebend du erkannt.
Oh, niemals benedeite
Ich tiefer deine Hand.
Dank dir. Das war das Größte —
Nun bin ich gänzlich frei
(Wissend, daß die Erlöste
die sehr Gefang'ne sei.)
Heide.
26. Rainer Maria Rilke, Brief an Erika Mitterer, Ragaz, 12. 7. 1924(Antwort auf Nr. 11, 24 und 25)
Die Liebenden
(Erika und Melitta)
Folge
IV
Wieviel Abschied ward uns beigebracht,
jedes Mal so oft wir uns begrüßten,
wieviel Morgen war in unsrer süßsten
Nacht gelöst und übertraf die Nacht.
Alles ist den Liebenden vertheilter,
jeder Theil hat Glanz des Gegentheils;
Glücke stürzen sich mit übereilter
Sorge in die Bahn des nächsten Pfeils.
Doch der Gott zeigt niemals zwei Gesichter
und hat nicht Gefallen am Verrath,
nur: er ist ein Bringer und Verzichter,
und sein Mund hat beides gleich bejaht.
____
V
Etwas vom Munde des Gotts
spiegelt im Mund der Geliebten
zwischen Tröstung und Trotz.
Dieser unsägliche Zug,
spiegelnd im Mund der Geliebten,
macht sie ihm ähnlich genug.
VI
Wie Kinder, wenn sie genügend versteckt sind im Spiel,
im gewählten Versteck fürchten und wünschen zugleich,
dennoch gefunden zu sein:
also müsstest du mich, hinter dir selber, Geliebte,
zwiefach erwarten. Oh, das Gefundensein,
wenn dann die ganze
Angst der Verborgenheit, dieses verschworene Eins-Sein
mit Verduckung und Schutz
umschlägt und, als zu lang schon
heuchelnd verhaltene Lust, den erhofftesten Schrecken,
seelig, der Findung vermehrt.
Lockt dich nicht so viel Sichtbarkeit? Denk:
aus dem jubelnden Zugriff des Andern
plötzlich, Überfluss, übergehn! . . .
x x
x
VII
Was der Mann mitbrächte an Habgier,
diese Spur Mord, ist nicht zwischen uns, Schwester.
Nichts von dem gefährlich verwandelten
Hasse des Andern, der uns beneidet
um Unerreichbarkeit. Wir, wir, Geliebte,
Gleiche im innigen Anderssein,
wir erfüllen einander das Unerfüllbare
ganz ohne Täuschung, leise es tauschend.
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VIII
Auf der Flucht in's Unsichtbare,
die uns alle vorüberreißt,
dieses reine Verweilen,
das nach dir heißt.
In dem immer Verlieren,
darin alles uns flieht,
dieses wache Behalten,
das dich sieht.
Wie man einen Grabstein liest,
les ich meinen Lebens-Stein:
Weil du so schön geschiehst,
will ich sein.
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(5ten, 6ten, 7ten Julÿ, Ragaz.)
Für Erika
Dich, Heide, formen? . . . Und nach welchem Bild,
als dem, das du in wagenden Entwürfen
begannst, zu deiner Seeligkeit gewillt?
Dich formt die Wahl, die aus dir überwallt.
Und das der Gott gewährt, das Leidendürfen,
entschließt dir schön die zögernde Gestalt.
____
Und womit willst du Glück und Leid ermessen,
als mit dem Herzen, das dir übergeht?
Freilich, die Quelle, die zu stark stürzt, dreht
im Becher um, der sie schon fast besessen.
Doch langsam wird er diesem Übermaaße
zum vollen Maaß, wenn man ihn richtig hält.
Sieh, wie sie glänzt, des Überflusses Straße,
die über deine Hände fällt . . .
____
Dein Laut klingt auf wie ein Schritt
zwischen Kommen und Schwinden —.
Aber dein junger Duft geht mit
und weht weiter zu dritt
mit den Düften der Wiesen und Linden.
Mir sagt mein Gehör, dass du steigst —,
ach, was bin ich nicht oben,
wenn du Raum athmest und schweigst
und dich den offenen Fernen zeigst,
deine leichte Ankunft zu loben.
(Ragaz, am 12. Julÿ)
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27. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Salzerbad, 14. 7. 1924
(Aus einem Brief an Melitta 11. VII).
Es lege der Sturm sich, wir wollen das Land
Gestillter, das Land des Erlebens.
Denn ist er nicht Meister (bisher unerkannt)
Ein göttlicher Meister des Gebens?
Zu lernen von ihm, so in allem zu sein,
Mit allem sich ganz zu umgeben!
Jetzt Wein zu sein, im Lenze Wein,
Trauben und saftige Reben!
(Was sing' ich Lieder, die bald vergehn,
Die ich nicht sammeln mag!)
Die Erde bewegt sich, die Sonne bleibt stehn,
Es kommt ein neuer Tag.
Bist du Gestirn, bist du umkreist,
Bewegst dich in der Sphäre?
Bist du ein Berg, seit je vereist,
Im grenzenlosen Meere?
Was rede ich? So göttlich schön
War mir das Leben nie.
Still, Seele, still. Was wir verstehn,
Das liebten wir noch nie.
11. VII.
Abends bete ich, daß deine Weite
Sich in mir im Übermaß verbreite.
Daß die Luft um mich zum Raunen werde
Und zum tiefen Sinne die Gebärde.
Daß das Herz, das du nicht übersahst
Dem gewachsen sei, wenn du nun nahst.
Wolken, traget, traget mein Gebet
Weit zu dem, in dessen Macht es steht,
Ob es, kehrt es balde mir zurück
Qual bedeute, Tränen — oder Glück.
Erika.
28. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Salzerbad, 15. 7. 1924(Antwort auf Nr. 20, 22 und 26)
Ich soll dich sagen? Gib mir neue Laute,
Die mir bekannten reichen längst nicht aus.
Ich soll dich schildern? Als ich dich erbaute
War finstre Nacht — als ich dich endlich schaute
Am hellen Tag, warst fertig du, mein Haus.
Jetzt gehe ich durch deine hellen Räume
Und steige auf bis in den höchsten Erker.
Und abends, wenn ich müd vom gehn bin, träume
Vom dunklen Turm ich und verschlossnem Kerker.
Aber darf ich künftig mich verlieren
Da ich einst in dir gesammelt war?
Oh, in jeder Sphäre werd' ich frieren
Und ich werde rückwärts sehn mit stieren
Blicken in das schon vergang'ne Jahr.
____
Kann es vergehn (dies längste meiner Jahre)
In dem ich soviel Neuigkeit erfuhr
Deren jede doch nur offenbare
Inbrunst war, die nunmehr endlich klare
Längst geahnte Gottes-Weges Spur!
Ja, es kann. Ich kann mich so verzetteln
Daß mein Maß ins leere Nichts verrinnt.
Werde dann vielleicht, ein armes Kind
Voll Vertraun vor deiner Türe betteln.
Heide.
29. Erika Mitterer, Brief an Rainer Maria Rilke, Salzerbad, 18. 7. 1924(Antwort auf Nr. 22)
16. VII. 24.
Ich will jetzt schweigen, wie die Wiese, die
Sich sanft dem Fall des Regens vorbereitet —
Ich fürchtete, daß sie vorübergleitet,
Die hoffnungsvolle Wolke. Aber sie
Hielt an. Oh, welcher Wind vermochte diese,
Ihr Gehn und Bleiben herrlich zu verpflichten?
Ich fühle: bald! Und bin die matte Wiese —
Komm du, um ihre Halme aufzurichten.
Komm nicht zu stark. Die einmal sehr Verwöhnte
Durch Übermaß ist nicht mit Maß zufrieden
Denn allzubalde glaubt die reich Verschönte
Selbst, alle Schönheit sei ihr ganz beschieden.
Leg' mich nicht nieder durch zu starken Schauer
Sonst mußt du Wind sein, der mich wieder hebt.
Du kannst ja beides. Jedes Bild ist Mauer
(Vielleicht von Abendsonnenschein belebt).
Erika.
30. Rainer Maria Rilke, Brief an Erika Mitterer, Ragaz, 22. 7. 1924(Antwort auf Nr. 25 und 29)
x
Nein, du sollst mir nicht verfallen sein
in den schwülen Liebeszimmern;
sieh, wie meine Wege ziehn und schimmern
in dem Glanz von deinem Feuerschein.
Komm, Gefangene, ans schöne Fenster,
das mein Zeilengitter überspannt:
ein, von deiner Seeligkeit ergänzter
Himmel nimmt dahinter überhand.
Ihn den sehnend Liebenden zu zeigen,
wandte ich manch klares Angesicht . . .
Aber, ach, wie wäre er mein eigen:
ihn versprechen darf ich nicht.
(12. Julÿ)
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Lass uns, Heide, wie die Weisen reden
von Gefühl, Gefahr und Glanz —,
von dem hohen Himmel über Eden
und dem Ungenügen jedes Lands.
Da wir wissen, lass uns nichts verschweigen,
statt dass Herzen sich zur Qual bemühn . . .
Innen rosa, wie die reifen Feigen,
zeigen wir uns dunkelgrün.
(12. Julÿ).
(Wär es möglich, und du gingest neben
mir den sommerlichen Wiesenweg —,
junge Heide, überleg,
könnt ich anders, als dich weitergeben?
Ich bin jener, den man nicht erreicht,
und im Recht nur, wo ich mich erwehre.
Dicht an deinem Herzen wär ich Schwere,
aber aus der Ferne mach ich leicht.)
(12. abends)
Die Liebenden
(Erika und Melitta)
Folge
x
Kaum wie zu dem Zweiten, wie zum Dritten,
zu dem Liebes-Gott, der kühlt und bannt,
hob sich deine Stimme zu Melitten,
wie ein Bogen angespannt.
Dass dir die, die durch die Gartenwege
immer wie ein Flüchtling ging,
jenen Pfeil an deine Sehne lege,
welcher Richtung ist und Ding.
Dass sie dir die unbewährte Waage
prüfe durch gewagtestes Gewicht,
und dein Zeitlosbleiben überrage
mit dem stundenvollen Angesicht.
______________
für Erika
1
So schweige nun. Auch ich will schweigen, denn
wo wäre irgend Rede diesem Schweben?
Schon hast du ja dem leise neigenden
fühlenden Winde fühlend nachgegeben.
Befürchte nichts, er wird nie wilder sein;
doch, da uns Kräfte räthselhaft umkreisen,
schließt sich um uns ein Kreis: Gewalt ist ein
Entschlossenstes im Stärksten wie im Leisen.
____
2
Ob ich regnen kann, ich weiß es nicht,
über dir du sanfteste der Matten.
Vielleicht bin ich nur der Wolkenschatten,
der dein Glühendliegen unterbricht.
Bin der Wind, der diese Wolke treibt,
bin ihr leicht verwandeltes Volumen,
bin die Macht, die deinen klaren Blumen
schattige Verhaltung einverleibt.
____
3
Stille, wehende Wiese,
was du auch je verlörst —,
wisse die Paradiese,
denen du zugehörst.
Fühle die kühleren Haine,
die dich umgeben rings,
und bestärke das reine
Schwanken des Schmetterlings.
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4
Ja:jedes Bild ist Mauer. Lass uns ohne
dass wir ein Bild bemühn, vertrauter sein.
Ich denke zärtlich nur, wie ich dich schone —,
du aber winde eine Blumenkrone
und wirf sie in den nächsten Bach hinein.
Nichts ist verloren, alles giebt sich weiter.
Verschwende an den unbekannten Freund
die Freude deiner täglichen Begleiter
und alles, was dich heimlich macht und heiter,
bis zu der Luft, die dir die Hände bräunt.
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5
Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
wird das Erwarten selber zur Vollendung;
da geben sich die Fernen ohne Blendung, —
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.
Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
erscheinen diese Perlen lang getragen,
obwohl sie gestern noch im Meere lagen —
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.
Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,