Besser schlafen - Birgit Högl - E-Book

Besser schlafen E-Book

Birgit Högl

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Beschreibung

Wer gut schläft, hat Energie, Konzentration und Kraft für den Alltag. Schlaf aber kann noch viel mehr: Er ist der wichtigste Faktor für ein langes, gesundes Leben und um Demenz vorzubeugen. Doch immer mehr Menschen leiden unter Schlafproblemen – ob beim Einschlafen, Durchschlafen, oder wenn der Schlaf nicht erholsam ist. Ebenso verständlich wie fundiert teilt die international renommierte Schlafforscherin Birgit Högl mit uns bahnbrechende neue Erkenntnisse der Wissenschaft, räumt mit Mythen und falschen Vorstellungen auf und liefert das Wissen, um endlich besser zu schlafen. Gibt es den einen richtigen Rhythmus für Jung und Alt, für Frauen und Männer? Wann spricht man von einer echten Schlafstörung, und wie lässt sie sich heilen? Helfen Melatonin, Hausmittel oder Apps? Welche Rolle spielen Schlafphasen, Träume oder Schnarchen? Wie beeinflussen Krisen wie die Pandemie oder Krieg, gesellschaftliche Erwartungen und Lebensstil unser Schlafverhalten? Und wie kommen wir da wieder raus?

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INHALT

Prolog: Nächte bei den Mosetén

1 WARUM SCHLAFEN WIR?

1.1. Rauchender Spiegel: Kurzer Nachtflug durch die Geschichte

1.2. Ein hellwaches Fach: Was macht die Schlafmedizin und wozu brauchen wir sie?

1.3. Schlafforschung: Was passiert, wenn äußerlich nichts passiert?

1.4. Unter Strom: Was macht das Gehirn im Schlaf?

1.5. Die Architektur des Schlafes: Von Wellen und Spindeln

1.6. Ein besonderer Zustand: Die REM-Phase

1.7. Träume: Hüter der Psyche

1.8. Orchester der Botenstoffe

1.9. Was passiert im restlichen Körper?

2 GUT GESCHLAFEN? NACHTRUHE FÜR FORTGESCHRITTENE

2.1. Sind es nur die Hormone? Frauen brauchen mehr Schlaf!

2.2. Im Bunker: Über den circadianen Rhythmus

2.3. Die Wolfsstunde

2.4. Licht als Zeitgeber

2.5. Allein unter Lerchen? Die Schlaftypen

2.6. Schlafdruck und circadianer Rhythmus

2.7. Wenn die innere Uhr verstellt ist: Der Jetlag und die Phasen-Reaktions-Kurve

2.8. Die Schlafrhythmen im Lauf des Lebens

2.9. Der sozioökonomische Status

3 SCHLAFMANGEL UND SEINE FOLGEN

3.1. Schlafmangel, Schlafentzug oder schlechter Schlaf?

3.2. Kein Schlaf ist keine Option

3.3. Der Schlaf und das Immunsystem

3.4. Fit im Kopf

3.5. Schlaf, Alter und Gehirn

3.6. Übermüdung und Unfälle: Fährst du noch oder schläfst du schon?

3.7. Ernährung und Schlaf: Warum macht Schlafmangel dick?

4 SCHLAFSTÖRUNGEN UND SCHLAFKRANKHEITEN

4.1. Insomnien

4.2. Schlafbezogene Atmungsstörungen

4.3. Hypersomnolenzsyndrome

4.4. Störungen der inneren Uhr

4.5. Parasomnien

4.6. Schlafbezogene Bewegungsstörungen

4.7. Neue schlafmedizinische Erkrankungen

5 BESSER SCHLAFEN: WAS WIRKLICH HILFT

5.1. Therapien und Behandlungsoptionen

5.2. Schlafpflege statt Schlafhygiene

5.3. Wann, wo und wie schläft es sich am besten?

5.4. Und was bringt die Technologie?

Schluss: Die richtige Zeit

Anhang: Fragebogen zum Chronotyp

Dank

Prolog:Nächte bei den Mosetén

Ich liege wach, es ist einfach zu heiß zum Schlafen. Ein wenig wehmütig denke ich an das kühle Schlafzimmer und das komfortable Bett zu Hause, während ich versuche, es mir auf den Brettern bequem zu machen. Doch dafür kann ich einen Sternenhimmel betrachten, wie wir ihn in Europa aufgrund der Lichtverschmutzung nur noch an wenigen einsamen Orten zu Gesicht bekommen. Wir befinden uns in Bolivien, Stunden entfernt vom nächsten Dorf mit Stromanschluss oder Stromgenerator und damit in absoluter nächtlicher Dunkelheit, vor allem wenn der Mond nicht scheint. Es gibt hier kein elektrisches Licht, kein Flimmern und Leuchten von Glühbirnen, Bildschirmen oder Leuchtreklamen. Es stören keine lärmenden Fernseher oder vorbeirauschende Autos.

Wie schläft es sich an einem Ort abseits jeglicher künstlichen Störung?

Der Schlaf kann eine zarte Pflanze sein und oft gehen wir nicht gerade zimperlich mit ihr um. Wir verbiegen sie und machen sie uns untertan, wie es uns gerade passt. Aber wie wächst sie, wenn sie ungestört sein darf? Haben die Menschen hier die gleichen Schlafprobleme wie wir im Westen? Diese Fragen haben mich umgetrieben und zur Entscheidung gebracht, mir eine Auszeit von meinem zeitlich eng getakteten Alltag als Schlafmedizinerin, Schlafforscherin und Neurologin und ein Sabbatical zu nehmen. Seit bald dreißig Jahren beschäftige ich mich als Medizinerin und als Wissenschaftlerin mit dem Schlaf. In dieser Zeit haben wir in der Forschung immense Sprünge gemacht und viele Zusammenhänge und Faktoren erkannt, die einerseits unseren Schlaf beeinflussen, und wie der Schlaf andererseits unseren Körper und unser Gehirn beeinflusst. An der Spezialambulanz für Schlafstörungen und Schlaflabor der Universitätsklinik für Neurologie Innsbruck untersuchen wir tausende Patient*innen pro Jahr. In diesem Sabbatical-Jahr wollte ich den Schlaf wieder einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Wenn man so will: von der dunklen Seite.

Eine Freundin, die selbst jahrelang in der Gegend gelebt und gearbeitet hat, hat mir den Kontakt zu den Mosetén vermittelt, einer indigenen Volksgruppe, die im Alto Beni lebt, einer entlegenen Region im bolivianischen Tiefland. Die Reise dorthin dauert mehrere Tage. Mein Partner und ich sind in alten Kombis und Kleinbussen unterwegs, bis zu dem Dorf Palos Blancos, wo wir uns mit Vorräten eindecken wollen.

Es ist kein angenehmer Ort: staubige Straßen, Neonlicht, knatternde Mopeds, lärmende Stromgeneratoren, überall plärren Fernseher und Radios. Ich freue mich schon auf die Natur, während uns ein Verkäufer Reis und Nudeln, Öl, Zucker, Salz, Zwiebeln, Zündhölzer und einiges mehr abfüllt. Dann steigen wir in ein kleines, zerbrechlich aussehendes Holzboot, das an eine Nussschale erinnert.

Nach einer langen Fahrt legen wir an und nach einer mehrstündigen Wanderung erreichen wir die kleine Siedlung, in der die Mosetén, eine der autonomen Volksgruppen Boliviens, leben. Sie ernähren sich hauptsächlich von den Erträgen ihrer Äcker, die teilweise mehrere Stunden oder sogar Tagesmärsche von ihren Hütten entfernt liegen, selten auch von etwas Fisch oder von einem erlegten Tier. Nur Zucker, Salz und Öl, Streichhölzer und andere unabdingbare Dinge des täglichen Bedarfs kaufen sie in der Stadt. Es gibt hier keinen Strom, und auch keine Duschen oder Toiletten mit Wasserspülung.

Das autonome Territorium der Mosetén ist keine Gegend, die man so einfach touristisch bereisen kann. Wer unangemeldet kommt, riskiert, unwirsch verjagt zu werden, denn die Mosetén haben seit dem 19. Jahrhundert schlechte Erfahrungen gemacht mit Eindringlingen, auch bis in die Gegenwart. Man muss ein offizielles Ansuchen stellen, und zwar, wie in unserem Fall, getrennt: eines beim Präsidenten der Männer des Volks, und eines bei der Präsidentin der Frauen. In einer öffentlichen Sitzung wird dann besprochen, ob das Ansuchen genehmigt wird, die Gäste anreisen und wo sie ihr Zelt aufstellen dürfen.

Das sind die Regeln. Wenn man die offizielle, schriftliche Erlaubnis hat, das Territorium zu betreten, bringt man Geschenke mit – am besten die heißbegehrten, aus höheren Regionen des Landes stammenden Cocablätter.

Während er ein solches Blatt abzupft, erzählt uns ein Mann in den Vierzigern, dass er das Leben in der Zivilisation gut kenne, weil er einst als ungelernter Arbeiter in einer nahe gelegenen Stadt gewohnt hat. Doch der fremdbestimmte Tagesablauf war nichts für ihn: „Wohnen, Schlafen, Essen, Trinken – alles kostet Geld. Dein Auftraggeber bestimmt, wann du anfangen musst zu arbeiten und wann du fertig bist.“ Hier auf dem Land baut er selbst an, was er braucht, und muss keine Miete zahlen. Er geht auf seine Felder, wann er es bestimmt. Bei vielen Mosetén ist es eine bewusste Entscheidung, hier zu leben.

Wann sie schlafen, bestimmen weder Vorgesetzte noch die Uhr, sondern die Sonne. Die Menschen ziehen sich in ihre Hütten zurück, wenn es dunkel wird. Sie stehen auf, wenn es hell wird. Weil wir in Äquatornähe sind, kommt die Nacht plötzlich und dauert ziemlich lang. Von circa sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens ist es dunkel, bis auf das sich verändernde Mondlicht.

Deshalb verbringen die Mosetén mehr Zeit auf ihren Schlafstätten als wir. Dabei geht es gesellig zu: Die Kinder schlafen bei den Eltern, oft liegt traditionell das jüngste Kind bei der Mutter und das zweitjüngste beim Vater. Doch die lange Nacht bedeutet nicht, dass die Mosetén zwölf Stunden lang durchschlafen. Sie liegen in der Dunkelheit, unterhalten sich, kauen Coca oder lieben sich. Selbst in der allertiefsten Nacht und mitten aus dem Schlaf heraus müssen sie oft aufstehen und nach den Tieren sehen, wenn zum Beispiel ein Schrei auf einen Eindringling oder die Gefahr durch Raubtiere hinweist. Und dann sind da die Moskitos: Zwar gibt es über jeder Schlafstätte ein Moskitonetz, ohne das an Schlaf gar nicht zu denken ist. Aber wenn man beim Hineinkriechen nicht aufpasst, ist ein ungebetener Gast dennoch gleich drinnen. Außerdem ist es drückend heiß. Der Schlaf der Mosetén ist also alles andere als ungestört.

Dass die langen Nächte im autonomen Territorium der Mosetén nicht nur erholsam sind, werden mein Partner und ich in den kommenden Tagen und Wochen am eigenen Leib erfahren. Wir haben Moskitonetz, Zelt und Isomatten mitgebracht, aber sie bieten uns auch eine traditionelle Schlafstätte an, ein einfaches, aus Holz gezimmertes Gestell, auf das eine dünne Bastmatte gelegt wird, umgeben von einem Moskitonetz. An Schlaf ist aber erst einmal nicht zu denken, denn es ist drückend heiß. Erst als ein leiser Wind aufkommt und unsere schweißnassen Körper durch die feinen Ritzen der hölzernen Liegefläche kühlt, verstehe ich, warum die Mosetén die harten, aber eben luftdurchlässigen Pritschen einer Matratze vorziehen. Und ich schlafe endlich ein.

In den kommenden Tagen führe ich mithilfe unseres Führers und Übersetzers Juan Huasna Bozo, der selbst dem Volk der Mosetén angehört, viele lange Gespräche mit den Indigenen. Viele sprechen ohnehin Spanisch, aber nicht alle, und dann übersetzt er. Was mir von Beginn an besonders auffällt: Sie scheinen sich keine Sorgen zu machen, dass sie nicht durchschlafen. Es scheint niemanden zu stressen, dass man mal kürzer, mal auch länger wach ist. Man kümmert sich um die Kinder, hört, was draußen passiert, und geht auch einmal nachsehen.

Als Schlafmedizinerin müsste ich mit Blick auf die gängigen Empfehlungen sagen: Die Mosetén haben keine günstigen Schlafbedingungen. Ihre Betten sind unbequem, und sie teilen sie oft mit mehreren anderen. Ihre Schlafumgebung ist heiß, und äußere Störungen, etwa durch Geräusche, kommen häufig vor.

Aber mit so einer Einschätzung läge ich wohl daneben. Denn die Mosetén beklagen sich nicht. Sie nehmen ihren Schlaf hin, wie er unter diesen Umständen eben ist. Wenn ich sie frage, ob sie genügend geschlafen haben, bejahen sie das fast immer. Von so einem Gleichmut können wir nur träumen. Aber das liegt natürlich auch an unseren komplett anderen Lebensgewohnheiten.

Nach meinem Aufenthalt bei den Mosetén kehrte ich zurück in die Welt der Uhren. Nein, komfortabel war es sicher nicht gewesen im bolivianischen Hinterland. Aber den natürlichen Rhythmus des Lebens mitzuerleben war ein Privileg. Was ich hier am eigenen Körper erfahren habe, hat mich auch in meiner Forschungsarbeit bestätigt: Der Schlaf ist der natürliche Rhythmus unseres menschlichen Lebens. Vielleicht kann er uns daran erinnern, unser Leben wieder etwas artgerechter zu leben.

Das klingt natürlicher erst einmal einfacher, als es ist: Unser Alltag ist geprägt von Stress und vielen Verpflichtungen. Viele schlaflose Patient*innen leiden deshalb unter den negativen Gedanken der Nacht. Unter der Sorge, morgens nicht ausgeruht zu sein. Unter der Furcht vor dem stundenlangen Wachliegen. Und unter der Vorstellung, dass frühmorgens der Wecker klingelt, aber der Schlaf nicht ausgereicht hat, um den Tag zu meistern.

Dieses Buch wird ergründen, was es mit dem Schlaf auf sich hat: eine faszinierende Reise, auf der es auch aus wissenschaftlicher Sicht noch vieles zu entdecken gibt. Dabei geht es darum, mit Mythen aufzuräumen, ungeahnte Zusammenhänge zu erkennen und die Zeichen, die unser Körper sendet, besser zu verstehen. Denn der Schlaf ist gemeinsam mit der Ernährung und der Bewegung die wesentliche Säule für unsere körperliche und geistige Gesundheit.

Guter Schlaf lässt sich nicht erzwingen, wir können aber einige seiner Geheimnisse lüften und ihm dadurch Schritt für Schritt näherkommen. Machen wir uns auf den Weg!

1

WARUM SCHLAFEN WIR?

Unsere Gliedmaßen und Gesichtszüge erschlaffen, unsere Gedanken gehen ihre eigenen, rätselhaften Wege. Für unsere Mitmenschen wirken wir nicht mehr ansprechbar. Würden sie nicht sehen, wie sich unser Brustkorb hebt und senkt, könnten sie sich nicht einmal sicher sein, ob wir noch leben. Denn zumindest im REM-Schlaf sind jene Muskeln, die wir willentlich kontrollieren können, tatsächlich gelähmt. Ob es um unsere bisweilen bizarren Träume geht oder die komplexen biochemischen Vorgänge in unserem Gehirn – Schlaf ist eines der faszinierendsten und geheimnisvollsten Phänomene des menschlichen Lebens.

Zugleich heilt uns der Schlaf physisch und psychisch. Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir in diesem regenerativen Zustand – und müssen in der Regel nicht einmal etwas dafür tun. Bei einigermaßen gesunden Schlafenden kommt der Schlaf – früher oder später – von ganz allein.

Trotzdem ist er alles andere als simpel. Das spürt jede Person, die schon einmal schlecht oder zu wenig geschlafen hat. Erst, wenn es mit dem Schlafen nicht mehr klappt, wird uns klar, wie wichtig er ist. Überraschenderweise wurde dieser essenzielle Zustand von der Naturwissenschaft lange links liegen gelassen.

Auch die Medizin sah den Schlaf lange als einen „Zwischenzustand zwischen Wachsein und Tod, wobei der Wachzustand als der aktive Zustand aller tierischen und intellektuellen Funktionen gesehen wird und der Tod als deren totale Aufhebung“. So jedenfalls beschrieb ihn 1834 der schottische Arzt Robert Macnish in „The Philosophy of Sleep“. Diese Aussage ist nur ein Beispiel dafür, dass die Medizin den Schlaf bis vor etwa hundert Jahren als passiven, „halbtoten“ Zustand sah.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir aus naturwissenschaftlicher Sicht mehr über den Schlaf gelernt als in den Jahrhunderten davor. Mit den Möglichkeiten der Technik können wir den Schlaf wie nie zuvor in seine Bestandteile zerlegen und analysieren. Die medizinische Forschung hat gezeigt, dass er kein passiver, sondern ein dynamischer und aktiver Zustand ist, in dem sehr viel passiert, und der für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden von zentraler Bedeutung ist. Gleichzeitig bereichert die Chronobiologie das Wissen der Schlafmedizin, indem sie zeigt, wie stark unsere inneren Uhren unseren Schlaf- und unseren Wachzustand mitbestimmen.

Wir haben verstanden, dass der Schlaf nicht das Gegenteil von Wachsein ist, sondern vielmehr ein höchst komplexer, in sich organisierter Zustand des Gehirns. Er entsteht im Gehirn, er dient dem Gehirn, und er dient uns. In diesem Zustand sind verschiedene Areale des Gehirns unter Beteiligung einer Vielzahl an Botenstoffen und ausgeklügelten biochemischen Mechanismen aktiv und interagieren. Erst langsam erkennen wir, wie stark gesunder und ausreichender Schlaf auf unser Wohlbefinden und unsere Alterungsprozesse wirkt.

Wie essenziell der Schlaf ist, erkennen immer mehr große Organisationen an, in Europa, in den USA und weltweit. Sie anerkennen den Schlaf mittlerweile neben den beiden Dauerbrennern Ernährung und Bewegung als dritten entscheidenden Faktor für unsere Gesundheit.

Außerdem hat die WHO dem Schlaf und den ihn betreffenden Krankheiten in der neuen Version der International Classification of Diseases, ICD-11, also der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, erstmals ein eigenes Kapitel gewidmet. Dies ist ein großer Fortschritt, denn früher waren Erkrankungen, die mit Schlaf zu tun haben, über ganz verschiedene Kapitel „verstreut“. Damit, dass in der neuen Klassifikation der Schlaf und alle seine Erkrankungen in einem eigenen großen Kapitel, dem Kapitel 7, zusammengefasst sind, wird die Klassifikation der Bedeutung dieser Gruppe von Erkrankungen gerecht.

Auch wenn es heute beinahe täglich neue Forschungsergebnisse gibt, ist die Faszination für den Schlaf so alt wie die Menschheit selbst. Ohne es beweisen zu können, haben bereits unsere Vorfahr*innen gewusst, wie wichtig der Schlaf ist. Das zeigen Mythen und Legenden in allen Teilen der Welt, die den Schlaf und seine wundersame Wirkung thematisieren.

1.1. RAUCHENDER SPIEGEL: KURZER NACHTFLUG DURCH DIE GESCHICHTE

Götter haben viele Aufgaben. Die aztekische Göttin Xilonen beispielsweise war nicht nur die Göttin des Maiskorns, sondern auch zuständig für die menschliche Fruchtbarkeit. Auch ihr Kollege Tezcatlipoca hatte zwei ähnlich eng zusammenhängende Aufgaben: Er war der Gott der Nacht und gleichzeitig der Erinnerung. Ist es nicht faszinierend, dass diese jahrtausendealten Vorstellungen mit den neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaft übereinstimmen? Heute wissen wir, dass der Schlaf und die Erinnerung wirklich untrennbar miteinander verbunden sind. Denn unser Gedächtnis wird im Schlaf konsolidiert. Oder weniger medizinisch ausgedrückt: Während wir schlafen, sortiert, ordnet und speichert unser Gehirn all unsere Erinnerungen.

Der Spitzname von Tezcatlipoca war übrigens „Rauchender Spiegel“, weil er außerdem noch als Gott des Vergessens galt. Wenn wir nicht gut schlafen, schadet dies unserer Gedächtnisleistung. Nach akutem Schlafmangel ist das Arbeitsgedächtnis gestört. Wenn wir in den mittleren Jahren unseres Lebens zu wenig Zeit in den Schlaf investieren, erhöht dies das Risiko für Demenzerkrankungen. Die Azteken hatten offenbar die herausragende Bedeutung des Schlafs für die mentale Gesundheit verstanden.

Der Schlaf beschäftigt und erstaunt uns Menschen, seit es uns gibt. Wir versuchen ihn zu ergründen und zu verstehen. Und, wie wir Menschen eben ticken, versuchen wir natürlich auch, ihn zu „optimieren“. Dabei „verschlimmbessern“ wir aber manchmal alles, wenn wir zum Beispiel mithilfe von allen möglichen Schlafmitteln und Wachmachern versuchen, ihn herbeizuzwingen oder zu überlisten.

Aber schon in der griechischen Antike haben die Menschen am Schlaf herumgedoktert. In der Mythologie hat Hypnos, der Gott des Schlafes, verschiedene Gesichter. Mal wird er als hübscher Jüngling, mal als erschöpfter Greis beschrieben. Oft trägt er als Erkennungsmerkmal ein mit Schlaftrunk gefülltes Horn. Der Versuch, den Schlaf zu beeinflussen, gehört wohl untrennbar zu ihm. Hypnos hatte die erstaunliche Gabe, alle Menschen, Tiere und sogar Götter auf der Stelle in den Schlaf zu versetzen. Seine Mutter ist Nyx, die Göttin der Nacht, und sein Zwillingsbruder war niemand Geringerer als Thanatos – der Gott des Todes. Später heiratet der Gott des Schlafes Pasithea, eine der Göttinnen der Anmut und der Freude. Schlaf und Anmut bekommen drei Kinder, Phantasos, Morpheus und Phobetor, die gemeinsam die Götter des Traumes verkörpern.

Aber der Schlaf hatte in der Antike neben der spirituellen Bedeutung auch eine ganz konkrete medizinische Funktion. Ärzte schickten Kranke zum Schlafen in einen Tempel. Im Traumschlaf erhoffte man sich Hinweise auf eine wirksame Therapie oder ein passendes Heilmittel. Auch bei anderen Lebensfragen wählte man diesen sogenannten Tempelschlaf. Meistens war die Aussage der Träume nicht gerade offensichtlich, deshalb halfen Priester bei der Deutung.

Wie bei den Azteken überrascht auch hier die bereits enge Verbindung von Schlaf und Gesundheit, die wir heute wiederentdeckt haben und in verschiedenen Facetten und Wechselwirkungen erforschen. Die alten Griechen hatten etwas verstanden, was die Medizin danach fast zwei Jahrtausende lang unterschätzte: die Heilkraft des Schlafs.

Auch bei den alten Römern hatte der Schlaf eine immense Bedeutung: Das zeigt die beeindruckende Zahl ihrer Betten. Wer es sich leisten konnte, hatte ganze drei Stück: ein Nachtbett, wie wir es kennen; außerdem ein Tagbett; und sozial besonders Höhergestellte hatten sogar noch ein sogenanntes Tragbett, das bei Bedarf nach draußen getragen und – vielleicht im Schatten eines Olivenbaumes – aufgestellt wurde. Klingt das nicht einladend? Auch heute machen viele Menschen ihr Nachmittagsschläfchen gerne in einer Hängematte im Garten oder auf einer Decke im Park.

Aber die Römer schätzten nicht nur den Genuss des Schlummerns, sie erkannten auch das Potenzial, ihn zu ihrem Vorteil zu nutzen und zu beeinflussen. Den Legionären machten sie es dafür absichtlich besonders unbequem: Sie durften nicht bequem ausgestreckt auf flachen Liegen schlafen, sondern mussten sich mit harten, am Kopfteil erhöhten Holzpritschen zufriedengeben. So schliefen sie weniger tief, und die halb aufrecht gebetteten römischen Legionäre konnten schneller aufspringen, wenn der Feind im Anmarsch war.

Die Inka wiederum kauten Cocablätter, um lange Strecken, harte Arbeit ohne Essen oder lange Zeit ohne Schlaf zu bewältigen. Im europäischen Mittelalter waren Aufputsch- und Beruhigungsmittel in den Adelshäusern gang und gäbe. Das Volk hingegen griff zu Alkohol, pflanzlichen Mitteln und anderen Substanzen, die nicht selten giftig oder gar tödlich waren.

Tendenziell gingen die Menschen einst zeitiger ins Bett als heute. Da Kerzen oder Lampenöl teuer waren, richtete man sich nach dem Tageslicht. Auch die Jahreszeiten spielten eine viel größere Rolle: Im Winter schlief man länger, weil es länger dunkel war. Im Sommer fiel die Nacht auch wegen der Arbeit auf dem Land deutlich kürzer aus.

Es gibt auch historische Berichte aus der mittelalterlichen Literatur, die vermuten lassen, dass die Menschen damals in zwei Etappen schliefen. Die erste Phase dauerte etwa drei Stunden und wurde manchmal als „erster Schlaf“ bezeichnet. Danach standen viele für ein bis zwei Stunden auf und werkelten in Haus und Stall herum. Der „zweite Schlaf“ dauerte ebenfalls nur wenige Stunden. Die Unterbrechung galt als normal und wurde nicht als schlechter Schlaf gewertet.

Diese natürlichen Rhythmen änderten sich durch die Industrialisierung und die Erfindung des elektrischen Lichts. Plötzlich konnte man in den Fabriken auch nachts arbeiten. Mit allen negativen Folgen für den Schlaf.

Auch die Mosetén in Bolivien berichten, dass sie viel später und kürzer schlafen, wenn sie sich in der Stadt befinden, wo es elektrisches Licht, hell erleuchtete Straßen, Restaurants, Häuser und große leuchtende Bildschirme gibt, auf denen das Fernsehprogramm in großer Lautstärke läuft. Das Licht einer Kerze stört die natürliche Ausschüttung des Hormons Melatonin nicht. Elektrisches Licht sehr wohl – wobei es auf die Helligkeit ankommt und auf das Spektrum. Auf die immer noch stark unterschätzte Wirkung des künstlichen und natürlichen Lichts auf unseren Schlaf-Wach-Rhythmus werde ich noch eingehen.

Im letzten Jahrhundert haben aber nicht nur elektrisches Licht und Bildschirme Einzug in unsere Häuser gehalten. Es begann auch die Erfolgsgeschichte der synthetischen Schlafmittel. Vieles, was zu Beginn des Jahrhunderts, mit großen Hoffnungen verknüpft, verfügbar wurde – zum Beispiel bromhaltige Schlafmittel, von denen das erste im Jahr 1906 patentiert wurde, und Barbiturate, die ebenso zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts auf den Markt kamen –, ist heute schon längst wieder obsolet. Nicht nur Wirkungsverluste wurden festgestellt, auch gefährliche Nebenwirkungen, bis hin zum großen Conterganskandal, bei dem Anfang der 1960er-Jahre bekannt wurde, dass die Einnahme des Medikaments zu schweren Missbildungen der Föten führte, wenn es in der frühen Schwangerschaft eingenommen wurde.

Auch manche der neueren Schlafmittel wurden zunächst als sehr vielversprechend gehypt und stellten sich später doch als weniger hilfreich heraus, als man es sich versprochen hatte. Manche Medikamente zeigen einen raschen Wirkungsverlust, oder machen sogar abhängig.

Besser also, wir stützen uns auf die Erkenntnisse der Wissenschaft und kümmern uns gut um unseren Schlaf. Eine erholsame Nachtruhe ist unbezahlbar – und vieles, was wir dafür tun können, ist einfach, natürlich und kostenlos.

1.2. EIN HELLWACHES FACH: WAS MACHT DIE SCHLAFMEDIZIN UND WOZU BRAUCHEN WIR SIE?

Die Somnologie, die Schlafmedizin und -forschung, ist ein vergleichsweise junges Gebiet. Mittlerweile kann eine Zusatzbezeichnung in Schlafmedizin aber in vielen Ländern von Ärzt*innen erworben werden. In den USA ist Schlafmedizin ein anerkanntes Teilfach innerhalb der Anästhesiologie, Inneren Medizin, Familienmedizin, Pädiatrie, HNO-Heilkunde, Psychiatrie und Neurologie. Viele Schlafforscher*innen sind Neurolog*innen, was sich daraus ergibt, dass der Goldstandard in der Schlafmessung, die sogenannte Polysomnographie, ein neurophysiologisches Verfahren ist, in dem die Schlafstadien mittels der Elektroenzephalographie (EEG) klassifiziert werden, und dass man die Muskelaktivität im Schlaf kontinuierlich mittels Elektromyographie (EMG) messen kann. Auch Psychiater*innen, Internist*innen, insbesondere Kardiolog*innen, Pulmolog*innen, HNO-Ärzt*innen und Kinderärzt*innen gehören dazu. Selbst Zahnärzt*innen können sich in Schlafmedizin spezialisieren, ebenso Psycholog*innen, naturgemäß Pfleger*innen und Techniker*innen, aber es gibt auch immer mehr Ingenieur*innen, Physiker*innen und Biolog*innen etc., die vor allem in der Forschung arbeiten.

„Wer am offenen Gehirn operiert, ist ein Künstler. Wer ein Herz transplantiert, ist ein Held. Wer als Schlafmediziner tätig ist, ist selbst schuld“: Mit diesen ironischen Worten hat Prof. Reinhold Kerbl, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Schlafmedizin und Primar der Kinder- und Jugendabteilung in Leoben, vor einigen Jahren einen Kongress eröffnet. Unsere Disziplin fristete tatsächlich lange ein Schattendasein und galt als „verschlafenes“ Fachgebiet, in dem es um nichts Akutes geht. Schuld war vor allem das Unwissen: Der Schlaf und seine Bedeutung für Körper und Psyche waren noch zu wenig beforscht. Die Medizin ließ den Schlaf als vermeintliche Nebensache links liegen und kümmerte sich lieber um die vermeintlich lebenswichtigeren Aspekte der Gesundheit.