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"Wer jammert wie ein kleines Kind? / das ist der Martin, der mich nicht find" - Wie aus dem Nichts taucht mitten im Ruhrgebiet ein Serienmörder auf, dessen Bestialität seinesgleichen sucht. Eine Frauenleiche nach der anderen präsentiert er ebenso grausam wie phantasievoll einer sensationslüsternen Öffentlichkeit. Und verschickt dazu per Mail auch noch selbstfabrizierte Gedichte. 'Mörderpoet' nennt er sich. Die Polizei kann nur hinterherlaufen. Denn der Täter inszeniert lustvoll ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die ermittelnden Kommissare immer zu spät kommen. Stets ist ihnen der Killer mindestens einen Schritt voraus. Und entpuppt sich bald auch für die Kommissare Langer und Steiner ganz persönlich als brandgefährlich ...
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Für meinen Vater Freddy Ballmann, der nach schwerer Krankheit im Januar 2019 verstarb. Ich vermisse dich!
(Allan Ballmann)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Ihre Schicht neigte sich dem Ende zu. Endlich. Es war ein langer Mittwoch geworden, in einem Spätdienst, der ruhig angefangen und hektisch geendet hatte. Wie so häufig in einem Krankenhaus. Die übliche Routine, bis der Notruf den schweren Verkehrsunfall angekündigt hatte.
Er kam zu früh, um ihn der Nachtschicht zu übergeben. Aleyna war sofort klar, dass es wieder später werden würde. Sie hatte den Operationssaal vorbereitet und die benötigten Instrumente bereitgelegt. Die Intensivstation war informiert worden und hatte sich für die Aufnahme mehrerer Schwerverletzter gerüstet.
Weit nach Mitternacht verließ Aleyna das Krankenhaus. Sie trat hinaus in die kühle Dezembernacht. Die automatische Tür schloss sich surrend hinter ihr. Schneeflocken schwebten lautlos aus dem grauen Himmel zu Boden. Seit Tagen fielen die Flocken immer wieder auf die Stadt. Eine dünne Schicht weißen Puders überzog die Straßen.
Müde und erschöpft trat Aleyna auf den Gehweg. Sie spürte leichte Kopfschmerzen. Nichts Besonderes also. Langsam schlenderte sie zur Innenstadt hinauf. Aus den Kneipen hörte sie Stimmen und Gelächter angetrunkener Nachteulen und sie beneidete die Menschen mit Arbeitszeiten, die ein Privatleben zuließen. Sehnlichst wünschte sie sich eine Arbeit, die erholsame Nachmittage und ein freies Wochenende mit Freunden garantierte. Doch so fand sie kaum Zeit, intensive Freundschaften zu pflegen. Häufig fand sie Freunde nur im Krankenhaus, und so teilte sie die Probleme mit ihren Kolleginnen. Für eine Beziehung blieb keine Zeit.
Sie bog nach links zum Bochumer Hauptbahnhof ab und beschleunigte ihren Schritt. Mit ein wenig Glück erreichte sie noch die S 1 bis zum Höntroper Bahnhof. Sie war so müde. Sollte sie in Wattenscheid ein Taxi zu nehmen? Aber es war ja dann nur noch ein kurzer Weg nach Hause. Bei dem Gedanken an einen Spaziergang im Schnee schüttelte sie sich, verschob aber die Entscheidung bis zum Eintreffen am S-Bahnhof.
Plötzlich rempelte sie jemand an. Ein Betrunkener, der eine Entschuldigung lallte und in einer Toreinfahrt verschwand. Ein Blick auf die Uhr trieb Aleyna zu größerer Eile an. Gehetzt erreichte sie den Bahnhof. Die Anzeigetafel verriet ihr, dass nur noch zwei Minuten bis zum Eintreffen der S-Bahn blieben. Sie rannte die Treppe hinunter und nahm zwei Stufen auf einmal. Aus den Tunneln hörte sie das Rauschen des herannahenden Zuges. Mit einem Sprung landete sie auf dem Bahnsteig. Die S-Bahn kam soeben zum Stillstand. Schnaufend stieg sie in den Zug und setzte sich in die hintere Reihe.
Sie legte den Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Die Bahn rumpelte über die Schienen. Das Licht flackerte. Vorne saßen Jugendliche, die sich lautstark unterhielten. Einer sang ein Fanlied. Aleyna verstand den Text nicht, Fußball war ihr egal. Eine Bierflasche kreiste. Sie beobachtete die Gruppe, die von ihr keine Kenntnis nahm. Sie nickte ein.
Erschrocken zuckte sie zusammen. Orientierungslos schaute sie aus dem Fenster. Mit der Hand deckte sie die Augen ab, um draußen etwas sehen zu können. Erleichtert stellte sie fest, dass sie den Höntroper Bahnhof nicht verpasst hatte. Verwundert bemerkte sie, dass die Jugendlichen nicht mehr in der Bahn saßen. Vermutlich waren sie in Bochum-Ehrenfeld ausgestiegen. Der Zug wurde langsamer.
Aleyna zog sich an der Haltestange hoch und tappte schlaftrunken zu den Türen, die sich zischend öffneten. Sie trat hinaus auf den Bahnsteig. Ihr war plötzlich kalt, bitterkalt. Sie stieg die Treppen hinunter. Der Schnee rieselte unaufhörlich weiter. Aleyna hielt sich links, vorbei an der Pizzeria, die natürlich jetzt geschlossen war. Ein Taxi war nicht zu sehen. Dann fiel ihr der Pendlerparkplatz ein. Manchmal pausierte dort ein Taxi.
Eine Reihe Büsche versperrte die Sicht. Sie betrat den Parkplatz und schaute in beide Richtungen. Nichts zu sehen! Ein Kombi mit abgedunkelten Scheiben stand in einer Ecke, nahe der Pizzeria. Auf der anderen Seite war alles leer. Sie seufzte. Also ging es doch zu Fuß weiter.
Plötzlich hörte sie dumpfe Schritte, die sich blitzschnell näherten. Erschrocken zuckte sie zusammen. Jemand stieß ihr hart in den Rücken, ein Tuch legte sich von hinten auf Mund und Nase. Sie roch den süßlichen, vertrauten Geruch von Chloroform.
»Diesen Mist benutzt doch keiner mehr«, schoss ihr noch durch den Kopf.
Dann nichts mehr.
Hauptkommissar Martin Langer legte stöhnend die Hände vor sein Gesicht. Wie üblich war er der Erste auf der Dienststelle, trotz der Schneedecke auf den Straßen. Er war spät eingeschlafen und ein mieser Traum hatte für eine ruhelose Nacht gesorgt.
Mit einem kurzen Stöhnen setzte er sich im Bürostuhl auf. Der Computer ratterte beim Hochfahren.
»Scheißkiste«, entfuhr es ihm.
Ein kleines Fenster poppte auf dem Monitor auf. >Neue Viva-Updates laden< stand dort in großen Lettern.
Viva! Die neue Superwaffe der Vorgangsbearbeitung.
»Oh nee, nicht jetzt«, raunzte Langer den Bildschirm an.
Er war in dem neuen Programm geschult worden und schlug sich mit den ständigen, nervigen Updates herum. Die Kollegen lachten ihn aus, wie er andauernd über die umständliche und zeitraubende Software schimpfte. Unaufhörlich und öffentlich. Gegenüber der Leiterin der Kriminalgruppe, Frau Winkler, hatte er das Programm einmal als >gezielten terroristischen Angriff auf die Funktionsfähigkeit der Polizei NRW und einen Fall für den Generalbundesanwalt< bezeichnet.
Langer schlurfte zum Sozialraum und setzte Kaffee für die Kollegen auf. Eine Tür quietschte, klappernde Schritte hallten über den Flur. Peter Steiner, sein Bürokollege, erschien zum Dienst.
»Kaffee fertig?«, brüllte er über den Flur.
Langer lachte.
»Hab' die erste Kanne schon intus. Die zweite Plörre ist für euch«, antwortete er laut.
»Alles klar. Hast du dein Update gestartet oder soll ich es für dich anstoßen?«, rief Steiner.
»Arschloch!«
Langer hörte seinen Kollegen im Büro losprusten. Er schlenderte zurück und ließ sich in den Schreibtischstuhl plumpsen.
»Harte Nacht?«, fragte Steiner. »Du siehst scheiße aus.«
»Danke. Schon mal in den Spiegel geschaut?«
»Ja, und die personifizierte Herrlichkeit gesehen.«
Langer griff sich einen Vorgang von seinem stetig wachsenden Stapel. Missmutig überflog er die Anzeige, die wieder einmal von Fehlem nur so strotzte. Frustriert warf er den Vorgang auf seinen Schreibtisch.
»Anzeige der Trachtengruppe?«, fragte Steiner mit einem Augenzwinkern.
»Jepp.«
»Dann bist du ja wieder den ganzen Tag mit unserem neuen Superprogramm beschäftigt.«
»Jepp.«
»Schade, ich wollte mit dir nachher beim Elektronikmarkt ermitteln«, gab Steiner mit einem Lächeln zu verstehen.
»Dafür ist immer Zeit. Der Innenminister gibt die Korrekturen gerne solange für mich ein!«
Steiner lachte.
Ping!
Langer schaute irritiert auf seinen Bildschirm.
»Wer in aller Welt schickt mir um diese Zeit eine Mail?«
»Ist der Chef schon da und beglückt dich mit neuen Viva-Informationen?«
Langer verzog das Gesicht. Der Leiter kam nie vor acht Uhr ins Büro, und von Viva hatte er so viel Ahnung wie eine Kuh vom Rollschuhlaufen.
»Sicher«, gab er spöttisch zurück. Er öffnete die Mail und stutzte. »Ich habe hier eine Mail von >[email protected]<. Was ist das denn für ein Mist?«
»Lass mich sehen.« Steiner stand auf und schaute seinem Kollegen über die Schulter. Gemeinsam lasen sie den Text:
Advent, Advent, Advent
tote Haut so lodernd brennt,
doch kein Geschrei in tiefer Not,
war sie doch schon lange tot.
Leuchtend brennt das lange Haar,
die Hitze schmilzt das Augenpaar,
festgenagelt an der Pforte,
fehl'n dem Pfarrer tröstend Worte.
Ihr Körper schwer geschunden,
hat hier den Tod gefunden.
Von welchem Ort die Rede ist?
Geh zum Haus von dem Baptist.
Langer starrte auf den Monitor. Sein Kollege pfiff leise.
»Du ziehst die Verrückten ja schon am frühen Morgen an, alle Achtung«, staunte Steiner. »Außerdem haben wir noch keine Adventszeit, die beginnt erst am kommenden Wochenende. Nicht einmal der Weihnachtsmarkt ist eröffnet.«
Er schien nicht im Geringsten besorgt.
»Haben wir hier eine Baptistenkirche in Bochum?«, fragte Langer.
»In der Hermannshöhe, wenn ich mich recht erinnere. Wieso?«
»Ich weiß nicht. Das hört sich nicht nach einem Scherz an.«
»Du glaubst doch diesen Scheiß nicht etwa, oder?«
Langer schwieg. Die Mail war an seine dienstliche Adresse gesandt worden und nicht an die Polizei Bochum im Allgemeinen. Jemand hatte ihm eine persönliche Nachricht geschickt und verfolgte damit einen Zweck. Doch welchen?
»Warum hat der Kerl mir diese Nachricht zukommen lassen und nicht der Behörde?«, fragte Langer laut. »Das macht mich etwas nervös.«
»Weil du bekanntermaßen der zuständige Sachbearbeiter für Bekloppte bist!«, stellte Steiner entschieden fest.
»Sehr witzig, aber mal ehrlich. Was hältst du davon?«
Steiner zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Schreib ihm doch zurück!«
Langer zog die Augenbrauen hoch.
»Das meinst du doch nicht im Emst.«
»Warum nicht? Vielleicht kommt ja ein Kollege aus dem Gebüsch und freut sich einen Ast, dich am frühen Morgen so verarscht zu haben. Wer weiß?«
Das hatte etwas für sich. Der Absender konnte eine Reaktion erwarten.
»Was antworte ich denn darauf?«, fragte Langer. »Mir fällt zu diesem Scherz, wenn es denn einer ist, absolut nichts ein.«
»Wie wäre es damit: Ich habe herzhaft gelacht, aber nimm zukünftig die Hälfte der morgendlichen Tabletten.«
»Lass den Scheiß! Ich meine es ernst.«
»Dann frag ihn doch, was er mit der Mail bezweckt. Mit etwas Glück antwortet der Kerl.«
Langer überlegte. Er fiel nicht gerne auf einen üblen Scherz herein, doch die Sache schien zu heikel, um ignoriert zu werden. In all den Jahren in der Mordkommission war ihm das noch nicht untergekommen. Spinner gab es immer wieder. Jeder Sachbearbeiter erlebte im Laufe seiner Dienstjahre solche Sachen. Doch etwas in dieser Art war ihm nie passiert. Hatte es das überhaupt schon einmal gegeben?
Das Telefon riss Langer aus den Gedanken. Im Display erschien die Nummer des Dienstgruppenleiters der Kriminalwache, der sofort auf den Punkt kam.
»Du bist diese Woche Leiter der MK IV?«, fragte er Langer. In Bochum gab es sechs verschiedene Mordkommissionen, die nacheinander die wöchentlichen Bereitschaften übernahmen.
»Ja, was hast du?«
»Wir haben hier einen Toten für die Mordkommission.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Weil der Tote an eine Tür genagelt wurde und in Flammen steht!«
»Was?«, fragte Langer laut und winkte Steiner zu.
»Der Tote hängt brennend an einer Kirchentür!«
»Wo? In der Hermannshöhe?«
»Woher weißt du das? Wurdest du schon informiert?«
Langer ignorierte die Frage und sprang auf.
»Ich mach mich auf den Weg!«
Er legte auf und schaute zu Steiner, der fassungslos vor seinem Schreibtisch stand.
»So viel zum Thema Scherzmail. Das klingt nach einer verdammt üblen Geschichte.«
Langer und Steiner rasten wenige Minuten später durch die Unterführung am Bochumer Hauptbahnhof. Sie bogen in die Hermannshöhe und wurden sofort von einem Großaufgebot an Feuerwehr- und Streifenwagen aufgehalten. Langer parkte mitten auf der Straße und zeigte den uniformierten Kollegen seinen Dienstausweis.
»Sorgt dafür, dass keiner dem Tatort zu nahe kommt«, befahl Steiner einer Streifenwagenbesatzung. Und schob gleich ein >Danke< hinterher.
Die Sorge war unbegründet, eine weitläufige Absperrung stand seit einigen Minuten. Hektisch liefen Feuerwehrleute über die Straße. Niemand schien sich für den Leiter der Mordkommission zu interessieren. Langer befragte den Einsatzleiter der Feuerwehr.
»Es wurde ein Brandbeschleuniger benutzt, irgendein Öl oder ein Benzingemisch, das extrem heiß wurde. Wir setzten Löschschaum ein«, erfuhr er.
»Damit sind unsere Spuren hinüber, oder?«
Der Einsatzleiter zuckte mit den Schultern.
»Ich lösche nur den Brand und verhindere eine Ausbreitung. Der Rest ist euer Problem.«
»Wann können wir an den Tatort?«, fragte Steiner.
»Wir sind gleich fertig, etwa in fünfzehn bis dreißig Minuten.«
Damit verschwand er und ließ die Kommissare zurück.
Langer informierte telefonisch den Dienststellenleiter, der sofort das Team zusammenrief.
»Spurensicherung und Rechtsmediziner sind unterwegs.«
Steiner ging zum Haupteingang der Kirche. Er sah die verkohlte Leiche eines sitzenden Menschen vor der Tür. Die Arme waren seitlich erhoben und an einem Holzrahmen festgemacht. Er näherte sich vorsichtig und stapfte in den Löschschaum. Fluchend wich er einen Schritt zurück. An einigen Stellen stieg leichter Qualm auf.
»Da kann nichts mehr passieren«, rief ihm ein Feuerwehrmann zu.
»Ich weiß«, rief Steiner und deutete auf seine Füße, »Teure Schuhe.«
Er grinste. Der Feuerwehrmann lächelte spöttisch zurück.
»Was meinst du?«, fragte Langer, der unvermittelt neben ihm auftauchte.
»Schwer zu sagen. Der Größe nach zu urteilen ein Erwachsener. Kleine Hände und Füße, ich tippe auf eine Frau. Mehr ist nicht drin.«
»Hm, möglich, denn in der Mail war von einer Frau die Rede«, ergänzte Langer. »Der Kerl lügt mit Sicherheit nicht. Er hat mich ja angeschrieben und uns hierhin geschickt.«
»Ich glaube, du hast einen neuen Freund, der uns auf Trab halten wird.«
Langer telefonierte erneut mit seinem Dienststellenleiter. Eindringlich erwähnte er die Nachricht am frühen Morgen.
»Das hört sich nach einer großen Sache an«, äußerte der Leiter frustriert. »Kann ich euch von hier aus unterstützen?«
»Ich brauche schnellstens das Team. Mach Druck. Wir müssen Klinken putzen und nachfragen, wer etwas gesehen hat. Und besorge mir schnell einen IT-Spezialisten, der sich um die Mail kümmert. Kannst du das in die Wege leiten?«
»Klar. Erste Besprechung in drei Stunden. Schafft ihr das?«
»Das wird eng, aber lass den Termin stehen. Ich glaube nicht, dass die Spurensicherung etwas Brauchbares finden wird. Der ganze Löschschaum hat den Tatort ruiniert, wir werden die Ergebnisse der Rechtsmedizin abwarten müssen. Steiner und ich versuchen, einen Verantwortlichen für die Kirche zu finden. Unser Täter könnte ein religiöser Fanatiker sein.«
Langer beendete das Telefonat und sah Steiner mit einem Mann reden, der energisch seinen hochroten Kopf schüttelte. Er trat zu ihnen.
»Sie wollen mich allen Ernstes glauben machen, dass Sie nichts von dieser Sauerei mitbekommen haben?« Steiner schüttelte den Kopf und fauchte ein »Wirklich?« hinterher. Der Mann fuchtelte überängstlich mit den Armen herum. Er wich sogar einen Schritt zurück.
»Ich versichere Ihnen, dass ...«
Er schaute Langer hilfesuchend an.
»Was ist mit Ihnen? Haben Sie die Leiche verbrannt?«
Der Mann wurde kreidebleich, er stotterte.
»Ich ... ich ... ich ... um Gottes willen, nein!«
»Langsam, Kollege, das ist Pastor Thomas Ockner. Er steht dieser Gemeinde vor.«
Langer schaltete einen Gang zurück, stellte sich kurz vor und übernahm das Gespräch.
»Herr Pastor, Ihnen ist nichts aufgefallen?«
»Nein, wie ich schon Ihrem Kollegen sagte. Ich wurde von einem Gemeindemitglied angerufen, das ...«
»Von wem?«, warf Steiner ein.
Langer griff Steiner an den Unterarm und schüttelte kaum merklich den Kopf. Der Kollege war ihm jetzt zu forsch.
»Fahren Sie bitte fort, Herr Ockner.«
»Ich wurde heute Morgen angerufen. Ein Gemeindemitglied sah die Feuerwehr an der Kirche und die Rauchentwicklung. Von einem Toten war nie die Rede, wir sind von einem gewöhnlichen Brand ausgegangen.«
»Gehört zu der Kirche ein Wohnbereich? Für Sie oder einen anderen Verantwortlichen?«
»Nein, nachts ist hier niemand. Wie Sie sehen, gibt es hier einige Anwohner, aber die haben keinen direkten Blick auf den Eingangsbereich.«
»Wird der Eingang nachts videoüberwacht?«
»Nein, natürlich nicht. Wir sind eine friedliebende Gemeinde und pflegen eine ausgezeichnete Nachbarschaft mit den Anwohnern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Nachbar zu einem solch grauenhaften Mord fähig wäre.«
»Könnte es sich bei dem Toten um ein Mitglied der Gemeinde handeln?«
Ockner tänzelte von einem Fuß auf den anderen. Die Fragerei war ihm hoch peinlich. Er sorgte sich um die Kirche und die Gemeindemitglieder.
»Wie soll ich darauf antworten? Wenn Sie mir den Namen des Toten verraten, könnte ich Ihnen sagen, ob es sich um ein Mitglied der Gemeinde handelte.«
Langer ignorierte den Einwand und gab keine Antwort. Stattdessen wandte er sich Steiner zu.
»Haben wir die Personalien und die Erreichbarkeiten von Herrn Ockner?«
Steiner nickte. Der Geistliche kramte eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und reichte sie Langer.
»Sie können sich jederzeit bei mir melden. Ich stehe Ihnen selbstverständlich für Fragen zur Verfügung.«
Ockner verschwand eilig.
»Den können wir mit Sicherheit ausschließen«, meinte Steiner.
Langer zuckte nur mit den Schultern und musterte die Umgebung.
»Hier wohnt kaum jemand«, murmelte er vor sich hin. »Unser Freund hat gewusst, wo sich in der Stadt ungesehen ein Körper verbrennen lässt.«
Er versteckte sich hinter der Garderobe. Das Auto hörte er früh kommen. Sein Körper zitterte wie Espenlaub. Die schöne Zeit, die Ruhe, der Frieden, das war vorbei. Die nächsten Monate würden wieder hart und qualvoll werden. Wie immer in den letzten dreizehn Jahren.
Draußen wurde die Autotür zugeworfen. Stampfende Schritte im Schnee drangen an sein Ohr. Er führte die geballte Faust vor den Mund und biss hinein. Fast hätte er geschrien. Seine Mutter stand in der Küche und kochte. Er roch das Essen, auf das er sich bis vor wenigen Minuten so gefreut hatte.
Jemand trat mehrfach gegen den Pfeiler, um den weißen Ballast von den Schuhen zu entfernen. Klimpernde Schlüssel vor der Haustür.
Der Junge verkroch sich tiefer hinter dem Möbelstück. Tränen rannen über sein Gesicht. Bitte nicht! Er hielt sich die Ohren zu, konnte aber den Blick nicht von der Tür lösen. Sie öffnete sich langsam, Millimeter für Millimeter, immer weiter.
Der große Mann blieb einen Augenblick in der Tür stehen und atmete hörbar tief aus. Behutsam zog er sich die alte Wollmütze vom Kopf und warf sie zielsicher auf einen Haken an der Wand.
»Niemand daheim?«, rief er in das Haus.
Die Mutter schlurfte von der Küche zur Tür und küsste den Mann flüchtig auf den Mund. Was für eine Begrüßung nach Monaten des Wartens!
»War das schon alles?«, fragte er enttäuscht.
Sie drehte sich zu ihm und küsste ihn erneut. Länger, aber ohne jede Leidenschaft. Eilig hastete sie zum Herd und rührte in einem Topf. »Dein Lieblingsessen ist gleich fertig«, gab sie ihm ängstlich lächelnd zu verstehen. »Es soll doch nicht anbrennen.«
Der Vater warf den Mantel in die Ecke und schmiss den Schal hinterher. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Tisch. Mit einem Feuerzeug öffnete er die Flasche.
»Sohn!«, schrie er durch das Haus.
Der saß noch immer versteckt hinter der Garderobe und zitterte.
Vorsichtig erhob er sich und schlich leise zur Küchentür.
»Sohn!«
Dieser Ruf war lauter und aggressiver. Zaghaft schielte er in die Küche, verschüchtert und voller Angst. Er sah seinen Vater am Tisch sitzen. Der trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Holz.
»Aaaaah«, gab er von sich. »Der Mann im Haus besitzt die Gütigkeit, uns mit seiner Anwesenheit zu erfreuen.«
Sein widerliches Lächeln ließ den Jungen erstarren. Er schluckte.
»Hast du nicht trainiert, wie ich es dir gesagt habe?«, fragte er seinen Sohn lachend. »Du siehst ja noch immer wie ein Hänfling aus.«
Er stand in der Tür und zitterte. Kein Wort kam über seine Lippen.
»Antworte, wenn ich dich etwas frage!«, schrie der Vater.
Die flache Hand landete laut klatschend auf der Tischplatte. Die Mutter zuckte zusammen. Der Sohn setzte zögernd einen Fuß vor dem anderen. Vor dem Tisch blieb er stehen.
»Und?«
»Hallo Papa«, hauchte er leise.
»Habe ich dich sprechen hören oder habe ich gefurzt?«
»Hallo Papa«, wiederholte er lauter. Eine Träne rann über seine Wange.
»Komm her und begrüße mich richtig«, befahl ihm sein Vater und breitete die Arme aus.
Vorsichtig setze er sich in Bewegung. Innerlich bereite er sich auf die Umarmung vor. Er hob die Arme und schloss die Augen. Unvermittelt erhielt er eine schallende Ohrfeige. Die Finger hinterließen rötliche Spuren auf der jugendlich blassen Haut. Mit einem Ausfallschritt glich er die Wucht des Schlages aus. Er hörte den erschrockenen Ausruf seiner Mutter, die ansonsten keine weitere Regung zeigte. Mit wässrigen Augen musterte er den Schläger, der nur lächelte.
»Beim nächsten Mal erwarte ich eine andere Begrüßung«, flüsterte der Vater. »Und du musst mehr trainieren. Du bist riesig, aber hast ein Kreuz wie ein ausgewachsener Marienkäfer.«
Der Sohn nickte.
»Und hör auf zu flennen wie ein altes Waschweib.« Der Vater beugte sich vor zu seinem Sohn. »Oder soll ich dir einen Grund zum Heulen geben?«
Hektisch schüttelte der Junge den Kopf.
»Verschwinde!«, schrie der Vater. »Ich kann den Anblick einer Heulsuse nicht ertragen.«
Der Junge drehte sich um und rannte aus dem Haus.
Langer und Steiner betraten den Besprechungsraum der Mordkommission. Die Gespräche verstummten. Steiner setzte sich an den Tisch und nickte den Anwesenden zu. Langer begrüßte die Kommissionsmitglieder einzeln per Handschlag und blieb vor der Pinnwand stehen. Jemand hatte einen Zeitstrahl mit Uhrzeiten auf das weiße Papier gemalt. Auf der linken Seite fand sich der Eintrag >Mail an Langer< mit Datum und Uhrzeit. Direkt daneben stand >Unterrichtung durch Kriminalwache<, ein Stückchen weiter >Auffinden der Leiche<.
Schweigend schlenderte Langer an der Pinnwand entlang. Er atmete tief durch.
»Ich habe vor wenigen Minuten mit der Rechtsmedizin telefoniert. Bisher steht nur fest, dass es sich um eine Frau handelt. Sie war schon tot, bevor sie verbrannt wurde.«
Er schaute in die Runde. Niemand ergriff das Wort.
»Okay, Ralf und Iris, ihr fahrt sofort zur Rechtsmedizin. Wir brauchen dringend Antworten. Die Identifizierung des Opfers hat höchste Priorität. Los.«
Die Angesprochenen erhoben sich und griffen sich einen kleinen Koffer.
»Ruft mich sofort an, wenn es neue Informationen gibt. Okay?«
»Sicher, bis nachher«, rief ihm Iris von der Tür zu, die sie leise schloss.
»Was gibt es zur Spurensicherung?«, fragte Langer.
Frank Solowski räusperte sich kurz. Er öffnete eine Mappe und verteilte Fotos an die Gruppe. Schweigend wurden die Bilder weitergereicht.
»Nun, viel haben wir nicht. Der Täter nutzte einen Brandbeschleuniger, ein Benzingemisch. Handelsübliches Zeug. Der Brand wurde vermutlich eine Stunde vor dem Eintreffen der Feuerwehr gelegt. Wir haben keine Hinweise gefunden, wie der Täter die Leiche zum Fundort brachte. Er wird die Tote aber nicht durch die Stadt getragen haben. Er nutzte mit Sicherheit ein Fahrzeug, möglicherweise einen Kleintransporter. Die Frau war jung, so dreißig oder fünfunddreißg Jahre alt, zierlich, um die 50 bis 55 Kilogramm schwer, auf keinen Fall ein Kind oder eine Jugendliche. An den Handgelenken fanden wir einen Draht, der an den oberen Scharnieren der Tür festgemacht war. Der hielt die Arme oben und deutete eine Kreuzeshaltung an. Keine Ahnung, ob das etwas zu bedeuten hat.«
Solowski zuckte mit den muskulösen Schultern. Er hob ein Bild in die Höhe.
»Hier«, er deutete auf die Holztür oberhalb der Leiche, »fanden wir Fingerabdrücke. Die Abgleiche laufen und ich werde die Ergebnisse bald haben. Ich gehe aber davon aus, dass es sich um die Fingerabdrücke von Gemeindemitgliedern handelt, nicht vom Täter.«
Solowski legte eine kleine Pause ein.
»Viel ist das nicht«, warf Langer ein.
»Die Leiche war nackt. Wir haben keine Kleidungsreste gefunden«, entgegnete Solowski. »Ob ein Sexualdelikt in Betracht kommt, kann ich nicht sagen. Das wird sich bei der Obduktion zeigen.«
»Noch mehr?«, fragte Langer.
Solowski schüttelte den Kopf.
»In Ordnung, ein zweites Team fährt zur Kirche und holt den Geistlichen. Nehmt seine Aussage auf. Vielleicht fällt ihm bei der Beschreibung der Leiche etwas ein. Und wir brauchen die Namen der Mitglieder und deren Fingerabdrücke. Mit Glück sind die Abdrücke an der Tür doch vom Täter, das muss unbedingt abgeklärt werden. Wir haben heute Morgen nicht alle Anwohner erreicht. Ein Team ist vor Ort. Sie brauchen Unterstützung, zwei Mann. Sprecht euch ab und teilt euch auf. Wer fährt?«
Zwei Hände schnellten in die Höhe.
»Dann macht euch auf den Weg. Um 16:00 Uhr treffen wir uns und tauschen die neuesten Informationen aus.«
Langer hakte einen weiteren Stichpunkt seiner Notizen ab.
»Haben wir Erkenntnisse über die Mail?«, fragte er.
»Keine Chance,« schaltete sich der IT-Spezialist Beckmann ein. »Bubble ist ein Freemailanbieter, die Registrierungsdaten werden nicht verifiziert. Trotzdem habe ich sie angefordert. Aber der Kerl weiß, wie er vorzugehen hat. Er nutzt einen Anonymisierungsdienst oder etwas in der Art. Mehr ist nicht möglich.«
»Können wir die Mailadresse überwachen? Ich meine in Echtzeit, falls der Täter sich erneut meldet?«, fragte Langer.
»Die Betreiber sitzen im Ausland, daher wird es unmöglich, richterliche Anordnungen umzusetzen. Das bringt uns nicht weiter. Und da der Täter Computerkenntnisse hat, ist davon auszugehen, dass er diese Mailadresse nicht mehr nutzen wird. Wenn er sich wieder meldet, verwendet er eine andere Mailadresse. Freemailanbieter gibt es wie Sand am Meer.«
»Scheiße!«, schnaubte Langer. »Aber bleib dran, wer weiß. Kannst du eingehende Mails vom Täter auf mein Handy schicken?«
»Das ist schon erledigt. Ich habe einen selbstgeschriebenen Filter über deinen Posteingang gelegt, sonst bekommst du jeden Mist auf das Telefon«, informierte Beckmann stolz.
Langer nickte. Er stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Den Beginn einer Mordermittlung hasste er. Zu viele Fragen und keine Antworten. Tatenlos auf Informationen warten.
»Durchstöbert die Vorgangsbearbeitung, sprecht mit den Wachen. Gibt es Vermisstenmeldungen? Ist jemand nicht nach Hause gekommen oder hat sich nicht gemeldet? Und denkt daran: Bei der Toten handelt es sich um eine Erwachsene. Die Kollegen könnten einen Angehörigen deshalb weggeschickt und keine Anzeige aufgenommen haben. Ruft die Wachen an, ob es einen solchen Vorfall gegeben hat.«
Die Kommission löste sich auf. Jeder nahm seine zugewiesene Aufgabe in Angriff. Steiner und Langer blieben an den Tischen sitzen. Der Leiter der Kriminalpolizei, Thomas Saller, ergriff das Wort.
»Die Presse hat Wind von der Sache bekommen«, warf er ein.
»Das war zu erwarten.«
»Die Pressestelle wird mit Anfragen bombardiert. Wir werden nichts Konkretes veröffentlichen, aber wir müssen schnell Antworten liefern.«
»Aber kein Wort von der Mail«, warf Steiner ein.
Langer nickte zustimmend.
»Sollten wir Unterstützung vom LKA anfordern?«, fragte Saller.
»Ist das nicht ein wenig verfrüht?«, erkundigte sich Langer.
»Wir haben nichts und brauchen dringend Ideen und Ansätze. Schaden wird es meiner Meinung nach nicht. Ich halte es für sinnvoll.«
»Ich kümmere mich darum«, gab Steiner zu verstehen.
Langer stimmte zu. Die Rädchen drehten sich, die Weichen waren gestellt.
Die Jagd begann!
Ingrid Seemann eilte die Treppe hinunter. Die Zeit lief ihr davon. Ihr Ärger über sich selbst wurde immer stärker. Ihr Chef, Rechtsanwalt Meier, hatte sie mit einem wichtigen Schreiben beauftragt, das vor dem Wochenende aufgesetzt werden musste. Sie hatte getrödelt, mal wieder. Jetzt fehlte ihr die halbe Stunde.
Sie riss die Ausgangstür auf und stürmte über den Parkplatz. Der Schneefall hatte zugenommen und eine zentimeterdicke Schicht aufgebaut. Ingrid fluchte. Nun würde alles noch länger dauern. Ihre ledernen Sohlen rutschten. Im letzten Moment verhinderte sie einen Sturz. Aus der Handtasche zog sie einen Schlüssel. Sie öffnete die Fahrzeugtür und glitt erneut aus. Gerade rechtzeitig ergriff sie den Türrahmen und verhinderte, dass sie in das nasse Weiß fiel. Krachend knallte die Autotür gegen den Wagen daneben und hinterließ eine sichtbare Macke im Lack. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz.
»Leck mich doch am Arsch!«
Sie warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz. Der Motor orgelte.
»Oh, Mann. Nicht jetzt!«
Der Wagen sprang widerwillig an. Ingrid jubelte. Rückwärts fuhr sie aus der Lücke und schlug das Lenkrad ein. Das Fahrzeug rutschte und kam schwerfällig zum Stehen. Ein Autofahrer hupte.
»Jaja, Arschloch«, murmelte sie.
Sie legte den Gang ein und schlingerte vorwärts. Die Musik dröhnte. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, drückte sie eine Taste am Radio. Der Moderator teilte den Hörern mit, dass der Schneefall heute nicht mehr aufhören würde. Die kleine, zierliche Ingrid schlug auf das Lenkrad.
»Scheiße!«
Das Wetter war nicht zu beeinflussen. Sie hatte sich dem Schicksal zu fügen. In ihrem Kopf durchforstete sie die Einkaufsliste. Thomas, ihr Freund, würde heute Abend von der Montage heimkehren. Früher als geplant. Er hatte merkwürdige Andeutungen von sich gegeben und Ingrid hoffte, nein, glaubte, dass er ihr einen Heiratsantrag machen würde. Mit einem würdigen Abendessen wollte sie ihn begrüßen. Sie war aufgeregt, aber fest entschlossen, dies nicht zu zeigen. Trotzdem zitterten ihre Hände freudig.
»Na, mach schon«, rief sie dem Fahrer im Auto vor ihr zu, der nicht sofort bei grün losfuhr.
In einer langen Schlange ging es die Hauptstraße entlang. Die ersten Räumfahrzeuge fuhren über die Hauptverkehrswege und sorgten für zusätzliche Behinderungen.
Ingrid steuerte ihr Fahrzeug auf den vollbesetzten Parkplatz eines Discounters. In einer Ecke fand sie eine freie Lücke. Der Einkaufswagen war schnell gefüllt. Sorgfältig prüfte sie den Inhalt und nickte lächelnd. Die Schlange an der Kasse war lang. Ungeduldig trommelte sie mit ihrem Fingern auf den Griff des Wagens. Eilig warf sie die Waren auf das Kassenband und bezahlte mit ihrer Karte.
Wieder am Wagen angekommen, verstaute sie alles in einer Klappkiste im Kofferraum. Die Räder des Einkaufswagens blockierten immer wieder im Schnee. Ingrid hatte mit ihrer schmächtigen Figur Probleme, den Wagen zur Sammelstelle zu schieben. Eilig stieg sie ins Auto und legte den Rückwärtsgang ein. Ein dunkler, großer Bulli versperrte ihr den Weg. Sie hupte, doch der Fahrer reagierte nicht. Keifend schwang sie sich aus dem Auto. Sie ließ den Motor laufen und die Wagentür offen.
»Verpiss dich, du Arschloch«, rief sie.
Die Scheiben waren mit schwarzer Folie beklebt, der Fahrer war nicht zu sehen. Sie hastete zur Beifahrerseite und klopfte gegen das Fenster.
»Ich hab's eilig, verdammt noch mal.«
Sie hörte ein kurzes Rumpeln aus dem Fahrzeug. Neugierig wandte sie sich der Schiebetür zu und versuchte, durch die abgedunkelte Scheibe im Fahrzeuginneren etwas zu erkennen. Die Tür flog plötzlich auf. Ingrid sah einen schweren Knüppel auf sich zu fliegen, der sie an der Schläfe traf. Sie sackte zusammen. Vorsichtig lugte ein Kopf aus der Tür und schaute sich um. Niemand schien etwas bemerkt zu haben.
Ein großer Mann stieg aus dem Bulli und hob die zierliche Frau auf seinen riesigen Unterarmen in den Wagen. Er legte sie auf den Boden, der mit einer Plastikplane ausgelegt war. Mit Kabelbindern fesselte er die Frau, die am Kopf blutete. Der Mann fühlte den Puls und nickte lächelnd. Sie lebte. Innerlich schwor er sich, zukünftig nicht mehr so fest zuzuschlagen. Aber die Erregung hatte ihn übermannt und das richtige Maß vergessen lassen. Er freute sich auf den Abend und die Schreie. Bis er dann das Leben aus den Augen der Frau schwinden sehen würde. Seine Erektion wunderte ihn nicht, doch er zwang sich, an andere Dinge zu denken. Zunächst musste er schleunigst verschwinden. Leise schob er die Wagentür zu und startete den Bulli. Langsam, ohne Aufsehen zu erregen, rollte der Wagen vom Parkplatz und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein.
Wenige Minuten später erreichte ein Streifenwagen den Discounter. Polizeikommissar Müller schlenderte in den Laden. Er hatte Hunger und brauchte eine Kleinigkeit zu essen. Währenddessen steuerte Oberkommissar Laszinsky einen freien Parkplatz an und bemerkte dann den Opel Astra mit laufendem Motor und offenstehender Tür.
Zuerst dachte er, dass der Fahrer gerade den Einkaufswagen zur Sammelstelle brachte. Dort war aber niemand zu sehen. Laszinsky konnte sich nicht recht vorstellen, dass der Besitzer seinen Wagen ungesichert stehen ließ und in den Discounter zurückgekehrt war. Langsam stieg er aus.
»Was ist los?«, fragte Müller, der sich mit einer Brötchentüte in der Hand neben ihn stellte.
»Schau mal da«, sagte Laszinsky und deutete mit dem Zeigefinger auf den Astra.
Stirnrunzelnd inspizierte Müller den Wagen.
»Einkaufswagen wegbringen?«, fragte er kurz. Doch niemand war zu sehen. »Komisch«, ergänzte er daher.
»Ich geh mal rein und frage nach«, antworte Laszinsky.
Wenige Minuten später tauchte er achselzuckend wieder auf. Die Leitstelle nannte ihm die Fahrzeughalterin, doch die erschien nicht am Fahrzeug.
Steiner saß vor seinem Computer und schrieb einen Bericht zum Ermittlungsverfahren. Die beiden Zeigefinger suchten die einzelnen Buchstaben. Kollegen nannten dies manchmal >Terroristensystemc jeden Tag ein Anschlag.
Langer telefonierte. Resignation legte sich in seine Stimme.
»Okay«, sprach er in das Telefon, »halt mich auf dem Laufenden.«
Nachdenklich setzte er sich wieder auf den Bürostuhl.
»Und? Gibt es was Neues?«, fragte Steiner.
»Nein, nichts«, entgegnete Langer. »Die gesicherten Fingerabdrücke gehörten den Gemeindemitgliedem. Wir haben keine Spuren, die wir einem Unbekannten zuordnen könnten.«
»Davon war auszugehen.«
»Stimmt, aber ich hatte etwas Hoffnung.«
»Was ist mit der Toten?«
»Sie wurde erwürgt und war schon tot, als sie angezündet wurde. Keine Verbrennungen der Atemwege oder der Lunge.«
Langer nahm den Bericht der Rechtsmedizin in die Hand und überflog die Zeilen.
»Es ist jetzt vierundzwanzig Stunden her und wir haben keine Hinweise auf die Identität. Jemand muss sie doch vermissen, verdammt noch mal.«
Seine Hand klopfte ungeduldig auf die Tischplatte. Er schaute zu Steiner, der sich wieder am Bericht versuchte.
»Vielleicht war sie arbeitslos oder eine Studentin. Oder sie kam von einer Party. Sex, Drugs and Rock'n'Roll! Wie junge Leute eben sind«, spekulierte Steiner.
»Sie hatte weder Alkohol noch Drogen im Blut.«
»Ein heißes Date mit einem Latin-Lover?«, warf Steiner ein.
»Na ja, würde der seine Geliebte nicht am nächsten Tag vermissen?«
Steiner lachte auf. »Heutzutage verwirrt es den Mann, wenn die Gespielin am Morgen danach nicht verschwunden ist.«
»Deine schmutzige Phantasie bringt uns jetzt nicht weiter.«
»Vielleicht kam sie von der Arbeit. Eine Studentin, die in einer Kneipe oder einem Restaurant arbeitete. Oder in einem Pflegeheim oder Krankenhaus. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Spekulationen bringen uns keinen Schritt vorwärts.«
Steiner hatte recht. Das führte zu nichts. Noch standen sie vor einem Rätsel, niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Von den Firmen nahe der Kirche kam auch nichts Neues.
Thomas Saller betrat den Kommissionsraum und setzte sich zu Langer.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte er.
Langer schüttelte den Kopf.
»Das LKA wird in den nächsten Tagen hier auflaufen. Sie schauen sich den Tatort an und teilen uns ihren ersten Eindruck mit. Mal sehen, ob uns das weiterbringt.«
Steiner hämmerte unbeeindruckt auf die Tastatur. Ein kurzer Klingelton kündigte eine Mail an. Auf dem Monitor öffnete sich ein kleines Fenster. Eine neue Nachricht. Von >[email protected]<. Steiner wurde kreidebleich. Seine Hände zitterten. Langer sah ihn an und erschrak. Das Nachrichtenfenster schloss sich.
»Was ist los?«
Steiner sagte kein Wort und zeigte auf seinen Bildschirm.
»Verdammte Scheiße!«, murmelte er leise.
Langer und Saller eilten um den Tisch und sahen auf den Monitor. Die Nachricht war verschwunden.
»Was?«, fragte er Steiner.
»Ich glaube, dein Freund hat mir eine Mail geschickt.«
»Dann mach sie auf, verdammt noch mal!«
Steiner reagierte nicht. Langer griff sich die Maus und öffnete das Postfach. Sie lasen die Mail gemeinsam:
Hab' Eure Neugier ich geweckt?
Seid Ihr vom Schreibtisch aufgeschreckt?
Für die Arbeit müsst Ihr leben,
denn Tote wird es weiter geben.
Und wenn Ihr mich nicht stoppen könnt,
gibt es hier kein Happy End
Langer schwieg und starrte auf den Text. Steiner schluckte.
»Dieses Arschloch!«, schrie er in den Raum und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Er verkroch sich im Schuppen. Tagsüber mied er das Monster, soweit es eben möglich war. In seinem Versteck las er Bücher und Gedichte. Werke, in denen er vergeblich Trost und Hoffnung suchte. Doch keiner der berühmten Dichter und Denker erlebte seine Hölle. Niemand half oder hielt eine Lösung bereit. So vertrieb er wenigstens kurzfristig alle Gedanken an die Bestie und hoffte auf eine bessere Zukunft.
Die Dämmerung brach herein. Schnell versteckte er die Bücher wieder im Schuppen. Schweigend und ängstlich aß er zu Abend. Er ertrug die Beleidigungen, Erniedrigungen und Andeutungen ebenso wie das Schweigen der Mutter. Drohend bedeckte die Dunkelheit die Welt, die Nacht breitete das Böse aus. Und die Finsternis gebar dann das Monster, das ihn immer tiefer in den Abgrund stieß.
Tief vergrub er sein Gesicht in das Kissen. Langsam zog er die Bettdecke über den Kopf. In dem alten Haus knackte und raschelte es. Er lauschte. Wie immer. Voller Angst, zitternd. Sein Herz raste. Der Schlaf stellte sich nicht ein. Die blauen Flecken schmerzten nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt. Die täglichen Schläge und Tritte stumpften ihn ab. Eine Eule stieß ihren Ruf aus. Ein Windhauch umschmeichelte die Bäume. Blätter raschelten leise. Er spitzte die Ohren und suchte angstvoll das Geräusch, das neue Schmerzen und Qualen ankündigte.
Das Zittern nahm zu.
Er musste leicht eingenickt sein. Ein leises Knacken schreckte ihn auf. Es kam aus dem Hausflur. Der Junge verkroch sich bis in die hintere Ecke seines Bettes. Ein Knirschen im Holz ließ ihn erstarren. Das Geräusch kam näher. Unter der Bettdecke hörte er sein eigenes Herz wild pochen. Da! Wieder knarrte es. Dicke Tränen rannen über seine Wangen und befeuchteten die Decke. Voller Angst knirschte er mit den Zähnen.
»Bitte nicht!«, hauchte er.
Die Geräusche kamen unaufhaltsam näher. Tapp, tapp, tapp. Ruhe. Er nahm die Decke vom Kopf und starrte in die Dunkelheit. Mondlicht schien in sein Zimmer und tauchte alles in ein dunkles Blau. Seine Augen weiteten sich. Die Türklinke bewegte sich langsam nach unten. Die Tür öffnete sich lautlos. Ein Schatten betrat den Raum. Er verharrte wenige Sekunden dort und schlenderte langsam zum Bett. Die Bettdecke wurde zurückgeworfen. Ein eiskalter Körper legte sich zu ihm.
»Hat mein Liebling mich vermisst?«, hauchte der dunkle Schatten.
Der Junge unterdrückte den Würgereiz.
Eiskalte Hände streichelten ihn.
»Zeig mir, wie sehr du mich vermisst!«
Eine riesige Pranke umschloss seine Hand und begann, sie zu führen. Er spürte die haarige Brust. Langsam wurde die Hand immer tiefer geführt. Weiter und weiter. Er schluchzte. Der Schatten grunzte. Das Blut schoss in den Schwellkörper, die Erregung stieg unaufhörlich.
»Ich habe meinen geliebten Sohn den ganzen Tag so vermisst«, hauchte ihm der Schatten ins Ohr.
Er rieb sich an der kleinen Hand und stöhnte. Die Zeit schien still zu stehen. Der Junge ließ es über sich ergehen. Träumte von einer einsamen grünen Wiese, vom Sommer. Befreit und sorgenlos hüpfte er durch das hohe Gras. Ohne Schatten, ohne Vater, der wieder für Monate auf der Bohrinsel arbeitete. Der Geruch frisch gemähten Grases flutete seine Nase.
Sein Traum wurde vom jähen Zucken und Stöhnen des Schattens unterbrochen. Der Körper sackte leicht zusammen. Er atmete auf und zog vorsichtig die Hand fort. Feuchte Lippen küssten seine Stirn.
»Träum was Schönes«, flüsterte ihm der Schatten zu und verließ das Zimmer.
Der Junge weinte bitterlich und vergrub sich in das Bettzeug. Feuchtwarme Flüssigkeit berührte seinen Oberschenkel. Voller Ekel schreckte er zurück und verkroch sich ans Bettende. Mutter würde wieder eilig die Bettdecke wechseln und kein Wort über die Ereignisse verlieren. Wie immer. Es war ja erst die erste Woche. Die Qualen würden Tag für Tag unerträglicher werden. Und die eklige Flüssigkeit würde sich irgendwann mit seinem Blut vermischen. Und Mutter? Sie würde neue Bettwäsche aufziehen und die besudelten Beweise verschwinden lassen. Wie lange würde er mit diesem Martyrium leben können? Er musste handeln. Schon bald!
Die Kommission saß zusammen und tauschte die neuesten Informationen aus. Keine aussichtsreichen Ermittlungsansätze. Und alle Spuren verliefen im Sande. Die Identität der Toten stand noch immer nicht fest.
Langers Frust stieg.
»Haben wir irgendetwas, was uns weiterbringt?«, fragte er in den Raum. Die Stille war erschreckend. Langer schnaubte. Vereinzelte aus dem Team schauten zu Boden.
»Okay. Die neue Mail brachte nichts, wie zuvor. Wir gehen davon aus, dass der Täter wieder zuschlägt und uns weiterhin beschäftigen wird. Die Fallanalytiker vom Landeskriminalamt geben nach dem Wochenende eine Einschätzung ab. Bis dahin nur die üblichen Phrasen an die Presse. Wir arbeiten unermüdlich und gehen neuen Hinweisen nach und so weiter.«
Der Pressesprecher im Raum nickte und schrieb einige Zeilen in sein Notizbuch.
»Weicht den Fragen aus«, wies Langer an. »Kein Wort darüber, dass wir völlig im Dunkeln tappen. Konkrete Nachfragen bitte nicht kommentieren. Kein Wort über die Gedichte. Wir brauchen Zeit.«
»Sollen wir Pflegeheime, psychiatrische Kliniken, Pflegedienste oder Krankenhäuser kontaktieren?«, fragte einer aus der Kommission.
Langer runzelte die Stirn.
»Na ja, dort wird rund um die Uhr gearbeitet. Möglicherweise wird eine Mitarbeiterin vermisst. Die Verantwortlichen könnten von einer Krankheit ausgehen und sich deshalb nicht bei uns melden.«
»Was ist mit Restaurants, Fastfoodketten, Studentenkneipen?«, entgegnete Steiner. »Das sind zu viele Möglichkeiten. Es macht keinen Sinn. Die Medien berichten von dieser Geschichte mit fetten Schlagzeilen. Besorgte Arbeitskollegen oder Führungskräfte würden sich melden, wenn eine Mitarbeiterin grundlos nicht zur Arbeit erscheint.«
»Und wenn es der letzte Arbeitstag war? Urlaub, ein freier Tag oder Überstundenabbau?«, fragte jemand aus der Gruppe.
Langer überlegte kurz. Dann nickte er.
»Alles besser als abzuwarten. Macht eine Liste und klemmt euch an die Telefone. Fangt mit den Pflegeheimen und Krankenhäusern an. Beeilt euch, morgen ist Samstag. Da wird niemand aus den Personalabteilungen erreichbar sein. Wir werden am Wochenende weitermachen. Die Kneipen und Restaurants haben dann auf. Beginnt im Bereich des Bermudadreiecks und weitet die Suche von dort weiter aus. Die nächste Besprechung ist hier um ...«, Langer schaute auf die Uhr, »15:00 Uhr. Los!«
Leises Gemurmel entstand. Nach und nach verschwanden die einzelnen Mitglieder der Mordkommission. Langer schaute auf den Zeitstrahl, der nicht weiter zu ergänzen war.
»Ich hasse solche Fälle«, flüsterte Steiner, der sich unbemerkt neben ihn stellte. »Nur ins Blaue schießen und warten ist echt scheiße.«
Langer nickte.
»Wir müssen wissen, wer sie war«, hauchte er. »Ich will nicht auf die nächste Leiche warten.«
Steiner klopfte ihm auf die Schulter.
»Ich glaube, dass dieses Arschloch lange noch nicht fertig ist. Es wird übel, und verdammt blutig. Er spielt mit uns und scheint Spaß daran zu haben, uns in den Arsch zu treten.«
»Macht die Telefonaktion Sinn?«, fragte Langer.
»Willst du lieber Däumchen drehen? Es gibt keine Alternative. Mit der Kirche und den Gemeindemitgliedern kommen wir nicht weiter. Es fehlen zwar zwei oder drei Personen, die wir bislang nicht erreichen haben. Aber mit Sicherheit bringt das nichts. Das hier läuft auf eine Serie hinaus. Der Arsch wird nicht schon bei der ersten Leiche Fehler begehen, die uns zu ihm führen«, führte Steiner aus. »Bei der nächsten Toten haben wir bestimmt mehr Glück«.
Das schlimmste Szenario für einen Ermittler bahnte sich an.
»Warum sie?«, fragte Langer. »Zufall?«
»Hoffentlich nicht«, entgegnete Steiner.
Es klopfte an der Tür. Ein uniformierter Beamter stand im Durchgang. Sein hilfesuchender Blick blieb an Langer hängen.
»Ich habe unten auf der Wache eine Frau sitzen, die ihre Tochter vermisst. Es könnte sich ...«
»Wir kommen«, fuhr Steiner dazwischen.
Gemeinsam eilten sie den Treppengang hinunter. Der Polizist führte sie in einen Raum, wo normalerweise Strafanzeigen aufgenommen wurden. Eine Frau saß alleine vor einem Schreibtisch. Ihre Augen waren gerötet. Mit einem Taschentuch wischte sie Tränen fort.
Langer stellte sich vor.
»Demir«, antwortete die Frau, »Nesrin Demir.«
Langer nahm die Personalien auf. Seine Hände zitterten leicht. In seinem Bauch grummelte es.
»Was können wir für Sie tun? Was ist passiert?«, fragte er.
Die Frau atmete tief ein und aus. Langer schwieg. Er wartete, bis sie mit ihrer Schilderung begann.
»Die Frau aus der Zeitung. Die vor der Kirche ...«
Ihre Stimme brach ab. Sie weinte heftig. Mit einem Taschentuch rieb sie sich die Wangen trocken. Sie lächelte, kurz, der Versuch scheiterte.
»Vielleicht ist sie ja auch in den Urlaub gefahren und hat nichts davon erzählt. Aber so was macht Aleyna normalerweise nicht. Oder sie hat jemanden kennengelernt und sie sind spontan weggefahren. Wie junge Leute so sind.«,
Ein Weinkrampf unterbrach ihren Redefluss. Sie klammerte sich an den kleinsten Funken Hoffnung, das Undenkbare durfte nicht eintreten.
>So viele >Vielleicht<, so viele Möglichkeiten<, dachte Steiner.
»Wer ist Aleyna? Ihre Tochter?«, fragte Langer.
»Ja.«
»Wie alt ist sie?«
»32.«
Die Frau putzte sich die Nase. Sie drehte Langer das Gesicht zu und lächelte verlegen.
»Sie arbeitet im Elisabeth, hier im Zentrum. Die Arbeit ist hart, aber sie geht gerne hin. Sie ist da sehr beliebt, wissen Sie?«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Wir sehen uns nicht regelmäßig, aber wir telefonieren einoder zweimal die Woche. Die Wechselschichten lassen nicht mehr zu, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Langer nickte. Er verstand das nur zu gut.
»Heute Morgen hat mich das Krankenhaus angerufen. Aleyna ist gestern nicht zur Nachtschicht erschienen. Das ist ungewöhnlich. Auf sie ist Verlass. Sie hätte das Krankenhaus und mich informiert.«
»Haben Sie sie angerufen?«
»Ja, aber bei ihr springt nur der Anrufbeantworter an. Sie meldet sich einfach nicht.«
»Das muss noch nichts heißen«, antwortete Steiner leise.
»Und dann habe ich den Zeitungsbericht gelesen.«
Sie weinte wieder. Langer seufzte. Die hässlichen Momente seines Berufes. Der schmale Grat zwischen Hoffnung geben oder zerstören. Was war der richtige Weg?
»Wo wohnt Ihre Tochter? Bei Ihnen?«
»Nein, sie hat ihre eigene Wohnung in Wattenscheid, auf der >Op de Veih<. Sie ist vor drei Jahren bei uns ausgezogen. >Meine Wechselschichten rauben dir den Schlaf<, das hat sie immer gesagt.«
»Waren Sie schon dort?«, fragte Steiner.
»Ja. Ich habe einen Schlüssel. Sie war nicht da. Das Bett ist unberührt. Ich weiß nicht, wo sie ist.«