Tod im Schatten - Allan Ballmann - E-Book

Tod im Schatten E-Book

Allan Ballmann

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Beschreibung

Durchlöchert - vergiftet - geköpft. Eine Serie brutaler Hinrichtungen erschüttert ein russisches Verbrecher-Syndikat. Läuft hier ein Rachefeldzug? Oder findet ein interner Machtkampf statt? Auch für die Polizisten, die überall in Deutschland mit der Aufklärung der bizarren Morde zu tun haben, wird nur langsam ein Muster sichtbar. Aber was sich da zeigt, stürzt Kriminalhauptkommissar Laumann erneut in einen privaten und beruflichen Albtraum. Den Tod seines Freundes und Kollegen Schramm hat er noch nicht überwunden, da reißen die Wunden erneut auf. Ein unglaublicher Verdacht wird immer mehr zur Gewissheit. Und eine mörderische Jagd zwischen Gangstern und Ermittlern beginnt ...

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Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Die Zitate an den Kapitelanfängen stammen aus ›Die Kunst des Krieges‹ des chinesischen Generals, Militärstrategen und Philosophen Sun Tsu (um 544 – um 496 v. Chr.), zitiert nach der Ausgabe des Anaconda-Verlags, Köln 2016

Für meine einzige Liebe, meine Frau Andrea, die viele Stunden, Tage und Wochen auf mich verzichtet hat. Danke

Und für meine Eltern Fred und Ulla, die schwere Zeiten hinter sich und noch vor sich haben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel: Nichts zu vergessen

Kapitel: Vergangenes bestimmt Gegenwärtiges

Kapitel: Vermutungen

Kapitel: Indizien

Kapitel: Der Tod kommt näher

Kapitel: Angriff

Kapitel: Licht und Schatten

1. Kapitel Nichts zu vergessen

›Greife an, wenn der Gegner unvorbereitet ist, mache einen

Schachzug, wenn er es am wenigsten erwartet.‹

Sun Tsu, ›Die Kunst des Krieges‹

Eduard Ramanov sitzt am Tisch. Er nippt an einem Bier. Täglich kommt er in das schäbige Bordell auf der Reeperbahn mit den alten, schmuddeligen Sitzmöbeln.

Die Luft riecht nach abgestandenem Bier, kaltem Rauch und dem Schweiß geiler Freier. Vereinzelt sitzen abgerissene Typen in dunklen Ecken. Ein halbnacktes Mädchen tanzt gelangweilt an der Stange. Klebrige Ringe alter Getränke auf den Tischen spiegeln sich im roten Licht der Bar.

Die letzte Reinigung liegt Wochen zurück, doch niemand scheint sich daran zu stören, auch Eduard nicht. Immer wieder fragt er sich, warum er hierher kommt. Er findet keine Antwort. Gelegentlich nutzt er die privaten Dienste der Frauen, deren Preis er kennt. Er muss nur einem der Mädchen zunicken und sie macht sich mit ihm auf den Weg in eines der hinteren Zimmer. Jetzt stehen sie alle plaudernd am Tresen. Sie haben kein Interesse an zusätzlichen Einnahmen.

Umständlich fingert Eduard eine Zigarette aus der Schachtel. Verstohlen beobachtet er die leicht bekleideten Mädchen, die anscheinend kein Schamgefühl mehr besitzen. Er empfindet geringen Genuss bei ihren Dienstleistungen. Es geht doch nur ums Geld. Sein Verlangen nach Liebe, Zweisamkeit und Leidenschaft können sie nicht stillen. Heute hat er die Dienste von Colette in Anspruch genommen, aber sie war der größte Reinfall der letzten Zeit. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihm einen Hauch von Liebe oder Verzückung vorzuspielen. Er ließ sie machen. Sie erledigte ihre Arbeit eilig und verschwand zügig wieder zu den anderen an die Bar.

Gemeinsam kichern die Mädchen unentwegt. Eduard fühlt die aufkeimende Wut in seinem Bauch. In solchen Lebenslagen beschleicht ihn das Gefühl, dass sie über ihn lachen. Keines von ihnen schaut zu ihm herüber.

Angewidert schiebt er sein Bierglas weg. Gerne hätte er Frau und Kinder, aber welche Frau sollte sich freiwillig mit ihm abgeben? Er sieht nicht aus wie Adonis. Einen regelmäßig bezahlten Job kann er nicht vorweisen. Eduard ist ein Verlierer, der nur von einer Karriere und Geld träumt. Aber das will er sich selbst nicht eingestehen.

Seinen Lebensunterhalt bestreitet er als Gelegenheitskrimineller, der Jobs zugespielt bekommt. Ein Handlanger, der Befehle entgegennimmt. Ein kleines Rädchen im System. Eine Schachfigur, die vom Meister über das Brett geschoben wird. Er stellt nie Fragen, keine Forderungen und erledigt zuverlässig jeden Job. Er ist nicht hochintelligent, aber auch nicht dämlich.

Neugierde kann in diesem Geschäft tödlich sein. Daher schweigt er die meiste Zeit. Häufig hat er tote Fragesteller gesehen. Den einen oder anderen Neugierigen hat er selbst ins Jenseits befördert. In den letzten Jahren konnte er sich hocharbeiten, stieg vom einfachen Befehlsempfänger zum gefragten ›Problemlöser‹ auf. Hierbei verdient er viel Geld, aber unregelmäßig. Zwischen diesen Aufträgen führt er schlechtbezahlte Handlangerdienste aus, um sich über Wasser zu halten: als Türsteher, als Botenjunge oder einfach nur als Schläger.

Er ist auf Aufträge angewiesen, unfähig, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Jemand muss ihm sagen, wann er was und wie zu erledigen hat. Dann ist er gut. Wochenlang sitzt er vor seinem Handy, wartet auf eine Anforderung. Dann muss er sich Geld pumpen oder lässt anschreiben. Gelegentlich führt er aber auch innerhalb weniger Tage mehrere Aufträge aus. Im Anschluss hat er reichlich Geld, das er zügig für vollbusige Frauen, Wetten und zur Tilgung der Schulden ausgibt. Kredite bei den falschen Leuten haben fatale Folgen, besonders für das persönliche Wohlergehen. Dieses Risiko vermeidet er.

Gerade jetzt geht sein Geld mal wieder zur Neige. Er kann sich nur noch zwei oder drei Tage über Wasser halten, bevor er wieder anschreiben lassen muss. Anfang letzten Jahres hat er einen Job ausgeführt, bei dem die Bezahlung großzügig ausfiel. Den Job hat er gemeinsam mit einem gewissen Mikael erledigt, der eine Übergabe oder etwas Ähnliches filmte. Dieser Mann war ihm merkwürdig vorgekommen, passte nicht zum Auftrag. Er hatte die elegante und teure Kleidung eines Geschäftsmannes getragen.

Eduard fragt sich immer noch, warum der Typ bei der Ausführung dabei gewesen war. Doch die Frage behält er wieder für sich, wegen der Gesundheit. Eduard war wie befohlen in alten, dunklen, abgerissenen Klamotten gekommen. Er war nur als Begleitung und Fahrer angestellt. Mikael hatte ihm gesagt, was er wie zu tun hatte. Er sollte einen Text sprechen. Eduards Worte sollten auf der Aufnahme zu hören sein. Stirnrunzelnd hatte er den Anweisungen zugehört. Stundenlang hatte er üben müssen, bis der Text sattelfest saß und glaubwürdig klang. Aber er hatte nicht gefragt und alle Befehle exakt ausgeführt. Die Übergabe, oder was immer dort ablaufen sollte, hatte auf einem Feldweg stattgefunden. Unvermittelt hatte er mehrere Schüsse gehört. Dann gab es zwei Leichen.

Das hatte ihm Probleme bereitet. Nicht die Morde an sich.

Aber das Töten hatte er nicht vorausgesehen. Er musste sich zuvor gedanklich auf einen solchen Auftrag vorbereiten. Vor seinem geistigen Auge spulte er dann den Ablauf immer wieder ab und bekam mit der Ausführung keine Probleme. Überrascht zu werden, sich auf andere verlassen zu müssen und die Absicherungen nicht zu kennen, das bereitete ihm erhebliches Unbehagen. Diese Morde waren im gelernten Text nicht vorgekommen. Er hatte improvisieren müssen. Aber seine Reaktionen hatten durch die Überraschung echt und glaubwürdig gewirkt. Die Auftraggeber waren zufrieden gewesen, lobten ihn überschwänglich. Er hatte das Geld genommen und war verschwunden. Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen – die Verhaltensregeln für ein langes Leben.

Seine vage Hoffnung, die Karriereleiter mit diesem Job höher hinaufzusteigen, wuchs zunächst mit jeder Stunde in ihm, doch vergeblich. Er blieb nur ein Gelegenheitsarbeiter, ein Verlierer. Die Hoffnung, in die höheren Ränge aufzusteigen, zerschlug sich. Die Erwartung von Ruhm und Ehre musste er begraben, abgestellt wie ein altes, nicht mehr gebrauchtes Fahrzeug auf dem Schrottplatz.

Sein letzter Auftrag hatte ihn vor einigen Wochen nach Wien geführt. Finanziell hatte ihm das etwas Luft verschafft. Zwei Bauunternehmer mussten von der Rücknahme ihrer Angebote für ein Ausschreibungsverfahren überzeugt werden. Den beiden brach er die Arme, worauf sie jede Lust verloren, ein unterschriebenes Gebot einzureichen. Fotos ihrer Ehefrauen und ihrer Kinder auf dem Schulhof hatten ihr spontanes Desinteresse am Ausschreibungsverfahren weiter gesteigert. Die Bezahlung für diesen Auftrag war in Ordnung gewesen.

Seitdem wartet Eduard sehnsüchtig auf einen Anruf, der frisches Geld in seine Tasche spült. Seit vier Wochen hat er nichts gehört. Das Schweigen des Telefons raubt ihm den letzten Nerv. Eduard kann selbst keinen Kontakt aufnehmen. Er wird angerufen, wenn seine Fähigkeiten für den Auftraggeber nützlich erschienen. So ist das auf den unteren Stufen der Nahrungskette. Jetzt sitzt er wieder hier in dieser Spelunke und kann nur warten. Selbst der Sex ist lausig. Er legt 20 Euro auf den Tisch. Langsam schlendert er Richtung Ausgang. Zwei der Frauen winken ihm zum Abschied zu. Er bringt ein kurzes Lächeln zustande, das sein Gesicht wie eine Grimasse aus einem Werk von Mario Peinze erscheinen lässt.

»Käufliches Pack«, murmelt er von sich hin. »Für euch geht es doch wirklich nur ums Geld. Heuchlerinnen.«

Ein leichter Kopfschmerz macht sich bemerkbar. Er schlendert einen kleinen Flur entlang. Der Türsteher schaut regelmäßig durch einen winzigen Spion in der Tür.

»Bis morgen?«, fragt er Eduard.

»Mal sehen, vielleicht. Eure Frauen sind langweilig«, gibt er bissig zurück. Er reibt sich die Stirn.

»Seit wann öden dich denn unsere Mädels an?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Ich bin einfach nur scheiße drauf.«

»Morgen ist ein besserer Tag, du wirst sehen. Also bis dann.« Er öffnet für Eduard die Tür.

»Ja, wir werden sehen. Vielleicht bis morgen.«

Eduard klopft dem Türsteher, dessen Name er nicht einmal kennt, auf die Schulter. Ein kalter Windhauch empfängt ihn, als er über die zwei Stufen hinab auf den Gehweg tritt. Einzelne Tropfen klatschen ihm auf die Stirn. Langsam rinnen sie auf der Haut hinunter. Seine Stimmung fällt weiter. Die Kühle des Regens mildert immerhin die Kopfschmerzen. Er will sich nur noch zuhause in den Sessel setzen, die Reste der Pizza vom Vortag aufwärmen, sich einige Bierchen genehmigen und das Handy anstarren. Für den Fall, dass es heute klingelt und jemand ihm einen lukrativen Job anbietet.

Langsam schleicht Eduard mit hängendem Kopf die Straße hinunter. Vorbei an Schaufenstern mit nackten Frauen, die ihn anlächeln. Sie preisen ihre vollbusigen Vorteile mit einem kräftigen Wippen an. Er weicht einigen Passanten aus, die sich den Fenstern nähern. Sie wechseln leise Worte mit den Damen. Vertragsverhandlungen nennt er dies immer. Er bevorzugt ein Bordell, wo ihm solche peinlichen Gespräche erspart bleiben. Kurz überlegt er, wo er den Wagen geparkt hat. Er merkt, dass er ein Bier zu viel getrunken hat. Oder auch zwei. Den Autoschlüssel findet er nach intensiver Suche in der Jackentasche. Seine 9 mmim Schulterhalfter stößt ihm gegen die Rippen. Die Pistole gehört zu ihm wie eine Hose.

Ein Parkhaus taucht vor ihm auf. Ihm fällt wieder ein, dass er den Wagen dort abgestellt hat. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. Die dunkle Einfahrt liegt wie das aufgerissene Maul eines Ungeheuers vor ihm. Er schleicht am Wachhäuschen vorbei. Ein Wachmann sitzt auf einem wackligen Bürostuhl und schläft. Eduards Schritte auf dem Betonboden bemerkt er nicht einmal.

Eine Neonröhre am Fahrstuhl flackert unentwegt. Quietschend öffnet sich die Fahrstuhltür. Eduard betätigt den Knopf für die dritte Parkebene. Überraschend sanft stoppt der Lift in der gewünschten Etage. Ein Signalton ertönt. Eduard drückt die Tür auf.

Ausgesprochen spärlich ist das Licht auf der Ebene. Die meisten Lampen sind seit langer Zeit zerschlagen. Nicht einmal Glasscherben liegen noch auf dem Boden. Eduard wendet sich nach rechts. Langsam nähert er sich der Dunkelheit. Fahrzeuge stehen hier nicht mehr. Das Ende des Parkhauses ist in der Finsternis nicht auszumachen. Seinen Wagen hat er in einer dunklen Ecke geparkt, da er nicht gesehen werden will. Außerdem fühlt er sich hier besser geschützt vor überraschenden Angriffen. Er marschiert an einem Stützpfeiler vorbei. Die Gestalt, die lautlos hinter dem Pfeiler kauert, bemerkt er nicht. Er steckt den Schlüssel in das Schloss. Eine helle, klare Stimme dringt aus der Dunkelheit zu ihm.

»Eduard? Eduard Ramanov?«, fragt jemand.

Erschrocken dreht er sich um. Eine kleine Gestalt steht neben dem Pfeiler. Sie verharrt in der Dunkelheit und hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Dämmerlicht trifft nur die dunklen Hosenbeine mit den zierlichen blauen Turnschuhen.

Eine Frau? Was hat eine Frau allein hier zu suchen, fragt sich Eduard. Dann erkennt er die Waffe mit dem Schalldämpfer in ihrer rechten Hand, die zu Boden zeigt. Träge hebt sie die Pistole in seine Richtung. Sie hat ihm aufgelauert und die Dunkelheit, die er als Schutz empfunden hat, gegen ihn ausgenutzt.

»Was wollen Sie, Lady?«, fragt er die Gestalt.

Er fürchtet sich nicht vor der Frau. Zittern der Frau nicht die Hände? ›Scheiß auf die Knarre‹, denkt er.

»Eduard Ramanov?«, will die Frau erneut wissen.

»Ja verdammt. Wer will...«

Er hört das leise Ploppen des Schalldämpfers. Rasender Schmerz explodiert augenblicklich in seinem linken Oberschenkel. Mit einem Schrei rutscht er an der Fahrzeugtür entlang. Er fällt seitlich zu Boden. Die Hände presst er gegen das blutende Bein. Mühselig setzt er sich auf. Das Sitzen bereitet ihm Qualen. Warmes Blut durchtränkt den Stoff seiner Hose. Er kann nur noch an seine eigene Schusswaffe im Schulterhalfter denken.

Ihn beschäftigt die Frage, ob die Gestalt exakt gezielt oder nur versehentlich sein Bein getroffen hat. Wahrscheinlich ein zufälliger Treffer. Er will die Pistole ziehen, wenn sich die Chance bietet. Als er zur Waffe greift, führt die Frau ihm seinen fatalen Denkfehler vor Augen. Die zweite Kugel trifft die Schulter. Schmerzen explodieren im Oberkörper. Die Wucht des Einschlags schleudert ihn wieder zu Boden. Er hat noch den Griff der Waffe erwischt. Jetzt rutscht sie mit einem kratzenden Geräusch unerreichbar für ihn über den Betonboden.

Der Schmerz macht ihn wahnsinnig. Keuchend schaut er die Gestalt an.

Fassungslos.

»Scheiße verdammte! Was soll das?«, schreit er der Frau zu.

Er bleibt auf dem Rücken liegen. Die Entspannung mildert die Qualen nur wenig.

»Eduard Ramanov, Sie sind für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden«, entgegnet die Gestalt.

»Was?«, schreit er. »Wer sind Sie und was ...«

Mit dem dritten Ploppen kommt er nicht mehr drum herum: Seine Zeit ist abgelaufen. Die Kugel bohrt sich in die andere Schulter, durchtrennt Sehnen und lässt Knochen splittern. Sein lautes Schreien hallt auf der ganzen Parkebene wider. Er beginnt zu wimmern und Urin durchtränkt die Hose, vermischt sich mit dem Blut. So hat er sich sein Ableben nicht vorgestellt. Vollgepisst und erschossen im Dreck zu liegen, empfindet er als erniedrigend. Eine kleine Träne rinnt an seiner Wange hinunter. Die Arme kann er nicht mehr bewegen.

Er dreht sich auf den Bauch, versucht, von der Gestalt wegzukriechen. Der angeschossene linke Oberschenkel versagt ihm den Dienst. Mühselig drückt er sich mit dem rechten Bein vom Boden ab, entfernt sich nur Millimeter von der Gestalt. Der Schmerz im Fuß tritt ein, noch bevor er das vierte Ploppen hört. Er wimmert und bettelt. Rotz läuft seine Nase hinunter, der den Uringestank nicht überdeckt. Wie kann ihm das nur passieren? Was ist aus ihm geworden, und warum?

»Lady, bitte. Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen.«

»Das ist gut«, flüstert die Stimme, »denn ich will dein Leben.«

Tränen laufen in langen Bahnen Eduards Wangen hinab. Für ihn steht nun fest, dass sein Flehen ungehört bleibt. Aber er will nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht auf diese Weise. Die Gestalt macht einen Schritt auf Eduard zu, der trotz der Verletzungen versucht, wegzukriechen. Sein Oberkörper fährt kurz hoch, als der fünfte Schuss sein Gesäß trifft.

»Schuldig des Mordes.«

Ein weiteres Geschoss trifft Eduards andere Gesäßhälfte. Er schreit nur noch. Sämtliche Fluchtversuche scheitern kläglich.

»Schuldig der Beihilfe zum Mord«, spricht die Gestalt, die den sechsten Schuss auf ihn abfeuert. »Schuldig der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.«

Die siebte Kugel trifft das linke Knie.

Das ist das Letzte, was Eduard noch mitbekommt. Er versinkt in eine gnädige Bewusstlosigkeit.

»Schuldig. Schuldig. Schuldig.«

Der achte Schuss trifft Eduards Hinterkopf, der wie eine reife Frucht zerplatzt. Ein Knochenstück des Schädels knallt gegen das Fahrzeug, Hirnmasse verteilt sich auf dem Kotflügel und dem dreckigen Boden. Sein Körper liegt in einem dunklen See aus Blut, der sich immer weiter vergrößert.

Die Gestalt beugt sich über Eduards Leichnam und zieht einen Schlüssel aus seiner Jackentasche. Sie schaut sich um, kann jedoch keine unliebsamen Zeugen sehen oder hören. Langsam schlendert sie die Ausfahrt des Parkhauses hinunter. Vereinzelten Kameras weicht sie aus.

Sie zieht sich die Kapuze noch tiefer über das Gesicht, schaut vorsichtig um die Ecke. Der Parkhauswächter sitzt noch immer schlafend auf seinem Stuhl. Von dem Treiben in der dritten Parkebene hat er nichts mitbekommen. Gemächlich schleicht die Gestalt am Kassenhäuschen vorbei. Sie verschwindet in die dunkle, nasskalte Nacht.

Die kleine Kamera am Häuschen übersieht sie.

***

Der kleine Vorort von Frankfurt gleicht einer typischen amerikanischen Vorstadt aus einem Hollywood-Film. Künstlich, geometrisch, eben langweilig.

Ein herrlicher Tag. Der blaue Himmel und die Sonnenstrahlen treiben die Kinder mit ihren Fahrrädern ins Freie. Eine leichte Brise weht über die Straße. Der Wind bläst die Kinderjacken auf, die für die Zwillinge Boris und Vladimir Temenov trotz des milden Wetters nötig sind.

Sie hören, wie ein Wagen auf die Garagenauffahrt fährt. Ihre kleinen, trippelnden Füßchen fliegen über den gepflegten Rasen. Ihre winzigen Hände greifen nach der Klinke der Gartenpforte. Laut johlend laufen sie ihrem Vater entgegen.

»Karussell! Karussell!«, schreien beide im Chor.

Mikael Temenov kennt die Verspieltheit seiner Kinder. Er macht sich den Spaß, sich hinter dem Fahrzeug zu verstecken, bevor die Kleinen den Gartenzaun erreichen. Leise kichert er in sich hinein. Die Jungs stehen sprachlos vor dem Auto.

»Papa?«, fragt einer der Zwillinge. »Papa ... bist du?«

Enttäuscht stellen sich die beiden Dreijährigen auf die Zehenspitzen. Sie schauen durch das Fenster auf der Fahrerseite. Kein Papa zu sehen. Vladimir, der Erstgeborene, scheint den Tränen nahe.

»Papa ... bist du? Hallo?«, ruft der Junge immer wieder.

Die deutsche Sprache macht den beiden Schwierigkeiten. Das hat Mikael sich anders vorgestellt. Russisch lernen die Kleinen zwar viel schneller. Aber als Vater sorgt er sich darum, dass die Zwillinge am Ende keine Sprache perfekt beherrschen. Natasha erscheint am Küchenfenster. Sie sieht ihren Mann hinter dem Fahrzeug knien. Gleich wird er aus seinem Versteck springen und mit den Kindern Karussell spielen. Sie öffnet das Fenster und ruft den Kindern zu, dass sie ins Haus kommen sollen.

»Papa kommt später«, fügt sie noch grinsend hinzu.

In diesem Moment springt Mikael laut schreiend aus dem Versteck. Boris und Vladimir erschrecken. Sie laufen lachend in seine ausgestreckten Arme. Riesige Pranken umschließen die kleinen Körper. Langsam, um Hilfe rufend, gleitet Mikael mit den Zwillingen auf den gepflegten Rasen.

»Karussell! Karussell!«, schreien die Kinder wieder.

Das Spiel beginnt zur Gewohnheit zu werden, aber sie alle haben ihren Spaß daran. Die Kleinen hängen sich an Papas muskulösen Oberarme. Er dreht sie im Kreis, bis ihre Füße die Bodenhaftung verlieren. Dabei quietschen sie aufgeregt. Sie können von dem Spiel nicht genug bekommen.

»Meine Arme werden ja immer länger. Bald muss ich wie ein Affe laufen«, lacht er.

»Schneller! Schneller!«, erhält er zur Antwort.

Vorsichtig stellt er die Kinder auf dem Boden ab, die lachend in den Garten rennen. Wieder ruft Natasha die Zwillinge ins Haus. Mikael schließt die Haustür auf. In der Küche küsst er seiner Frau auf die Lippen. Mit einer Tasse Kaffee setzt er sich an den Wohnzimmertisch. Die Kinder kommen kreischend ins Haus.

»Wollen wir denn gleich zum Fest fahren«, fragt er sie mit einem schelmischen Grinsen.

»Kirmes! Kirmes!«, ruft Boris.

»Oder wollt ihr lieber ins Bett?«

Er schmunzelt über die bestürzten Kindergesichter.

»Gleich«, sagt Mikael. »Lasst Papa nur noch den Kaffee austrinken.«

Vladimir verfolgt auf einem Stuhl stehend das Gespräch. Er schiebt Mikael langsam die Kaffeetasse hin. Lachend schnappt der sich Vladimir und setzt ihn auf seinen Schoß.

»Das kannst du verstehen, wenn du willst, nicht wahr?«

»Was? Papa trinken jetzt.«

Boris steht vor der Couch. Mit seinen kleinen Fingern zupft er an Mikaels Hose.

»Okay, okay«, sagt Mikael resignierend. Er stellt Vladimir auf den Boden und nippt an der Tasse.

»Holt schon mal eure Schuhe. Wir ziehen uns an und fahren gleich.«

Die Kinder rennen in den Flur. Boris kommt postwendend mit den neuen Sportschuhen zurück. Mikael zeigt ihm, wie eine Schleife gebunden wird. Den Jungen interessiert es nicht. Natasha beobachtet Vater und Sohn. Vladimir kommt um die Ecke. Er hält seine Pantoffeln in den Händen.

Mikael lacht auf. Er runzelt die Stirn und schaut Vladimir an.

»Also bleiben wir zu Hause? Ich dachte, wir fahren zur Kirmes?«

»Schuh?«

»Nein, das sind deine Pantoffeln. Du brauchst richtige Schuhe, also bring mir die neuen Turnschuhe. Dann können wir auch gleich fahren. Okay?«

Der Junge trippelt wieder in die Diele. Mikael hört, wie er die Latschen auf den Boden wirft. Dann steht er lächelnd im Türrahmen und hält die Sportschuhe in die Höhe.

»Schuh?«

»Ja, die sind richtig. Komm her, damit ich sie dir anziehen kann.«

Vladimir schmeißt ihm die Schuhe vor die Füße, breitet seine Arme aus und erwartet, dass Mikael ihn auf den Schoß nimmt.

»Soll ich mich auch fertig machen oder willst du erst noch in Ruhe Kaffee trinken?«, fragt Natasha.

Mikael zieht die Schleifen zu. Er stellt Vladimir auf den Boden, der sofort zu seinem Bruder in die Küche rennt.

»Wir können gleich fahren. Ich kann später noch einen Kaffee trinken«, gibt er zur Antwort.

Mikaels Handy klingelt. Er zieht es aus der Tasche, geht ins Arbeitszimmer und verschließt die Tür. Natasha kennt diese Abläufe. Er hat geschäftliche Sachen zu besprechen, die sie nichts angehen. Sie interessiert sich auch nicht dafür. Meist erhält er Anrufe von einem der Väter, die viel Geld mit dubiosen Angelegenheiten verdienen.

Mikael soll später die Organisation ihres Schwiegervaters in Wien übernehmen. Ihre Ehe verbindet zwei Clans zu einer Familie, die damit den Machtbereich erheblich erweitert. Im letzten Sommer waren sie deshalb nach Frankfurt gezogen. Dort arbeitet Mikael für Natashas Vater, der ihn auf das Geschäft und die Führungsrolle vorbereitet. Bis zu ihrer Rückkehr nach Wien.

Natashas Aufgaben beschränken sich auf die Kinder und den Haushalt. Sie muss ihrem Ehemann den Rücken freihalten. Eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihren Eltern und den Schwiegereltern, die die Ehe arrangiert haben. Sie liebt ihren Mann nicht, aber sie mag und schätzt ihn. Er behandelt sie fürsorglich und schlägt sie niemals. Mikael kümmert sich vorbildlich um die Kinder. Alles in allem ist sie zufrieden und froh darüber, dass sie sich nicht gegen die arrangierte Ehe gewehrt hat. Es hätte eh nicht viel geholfen. Die Entscheidung des Familienoberhauptes gilt. So kennt sie es.

Das Haus in Frankfurt und die Umgebung empfinden ihre Familien als nicht standesgemäß. Doch Mikael und Natasha wollen unauffällig leben. Die Kinder sollen in der Nachbarschaft Freundschaften schließen. Und Mikael hat das gegen die Vorbehalte seiner Eltern durchgesetzt. Jetzt kommt er aus dem Arbeitszimmer zurück und lächelt sie freundlich an.

»Ich muss am Wochenende nach Berlin. Allein. Tut mir leid.«

»Das macht nichts. Ich fliege mit den Kindern zu deiner Mutter. Sie hat die Kleinen schon lange nicht mehr gesehen.«

Sie verschwindet im Schlafzimmer und öffnet den Kleiderschrank.

»Ich warte unten auf dich«, ruft er ihr zu.

»Ich brauche nur fünf Minuten«, verspricht sie.

Boris und Vladimir rennen ins Wohnzimmer.

»Mama zieht sich noch um, dann können wir losfahren. Wo sind eure Jacken?«

Er zieht ihnen die Anoraks an. Die roten Baseballkappen verdecken ihre Haare. Einen Schal wollen beide Kinder nicht.

»Kratzt«, ruft Boris.

»Piekt«, pflichtet Vladimir mit ernstem Nicken bei.

So hängt Mikael die Schals, für die es vielleicht doch zu warm ist, wieder an die Garderobe. Er zieht sich eine leichte Jacke über.

»Wir gehen zum Auto«, ruft er laut in Richtung Schlafzimmer. »Boris und Vladimir werde ich fesseln ... und knebeln ... und in den Kofferraum sperren«, fügt er noch lachend hinzu. Boris und Vladimir kreischen kurz auf. Sie jagen zur Haustür.

»Bin in einer Minute unten«, ruft sie. Sie schaut die Treppe hinunter und legt sich Ohrringe an. »Du kannst die Frechdachse auch in einen Sack packen. Der liegt in der Garage«, ruft sie laut, da sie die Kleinen an der Haustür stehen sieht.

Die beiden nehmen sich in den Arm, stampfen gemeinsam mit den Füßen auf den Boden und lachen. Mikael sieht die Kinder an. Er ist glücklich mit seinem Leben, mit Natasha und den Kleinen. Die Zwillinge toben viel und machen Krach, aber sie versprühen immer gute Laune. Er bedauert, dass sie später einmal erwachsen sein und in die Welt hinaus ziehen müssen.

Er packt die Kinder in ihre Kindersitze und schnallt sie fest. Dann öffnet er die Fahrertür. Als er einsteigen will, bemerkt er einen kleinen Zettel hinter dem Scheibenwischer auf der Fahrerseite. An der offenen Tür bleibt er stehen. Er schaut sich um. Die Straße ist leer. Niemand ist zu sehen. In den Fenstern der Nachbarhäuser sieht er keinen Menschen. Eine leichte Brise zieht durch die Bäume. Die Hecken der Nachbarn wackeln. Er vernimmt das leise Rascheln der Blätter. Eine Gänsehaut bildet sich auf seinen Armen.

Natasha kommt die Treppe hinunter und zieht sich die Schuhe an. Mikael greift sich den Zettel, der in der Mitte gefaltet ist, und liest die Worte:

›Schuldig der Beihilfe zum Mord‹

Erneut dreht er sich um die eigene Achse und beobachtet die Straße. Seine Augen suchen die Umgebung ab. Nichts. Niemand zu sehen. Leichte Falten legen sich auf die Stirn. Der Zettel hing auf keinen Fall vorher schon am Auto, das hätte er bemerkt. Jemand muss ihn erst vor wenigen Minuten hinter den Scheibenwischer gesteckt haben. Eine Hand legt sich auf seine Schulter. Er erschreckt.

»Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Natascha sieht ihn sorgenvoll an. Mikael ist kreidebleich. Er zerknüllt heimlich den Zettel und steckt ihn in die Hosentasche.

»Nichts. Ich war in Gedanken und habe dich nicht gehört«, lügt er. »Alles in Ordnung. Können wir?«

Natasha schaut ihn eindringlich an. Sie erkennt sofort, wenn er lügt, widerspricht ihm aber nicht. Es macht keinen Sinn, den eigenen Mann zur Rede zu stellen.

»Ja.«

Sie zieht die Beifahrertür auf und steigt ein. Mikael sucht mit seinen Augen noch einmal die unmittelbare Umgebung ab.

»Können wir jetzt fahren?«, fragt sie ihn. Sie beugt sich zu ihm hinüber.

»Entschuldigung«, entgegnet Mikael und steigt ein.

Er startet den Wagen und fährt rückwärts aus der Garageneinfahrt. Die Kinder klatschen in die Hände. Mikael ist tief in Gedanken versunken. Wer hat ihm den Zettel an den Scheibenwischer gesteckt? Von welchem Mord sprach der Kerl? Natürlich hatte Mikael gemordet, mehrfach. Aber die Nachricht erscheint zu subtil für einen Racheakt. Verfeindete Organisationen kämen mit vielen Männern und würden ihm eine Kugel in den Kopf jagen. Peng! Schluss! Aus! So einfach. Er kann sich keinen Reim auf den Zettel machen.

Während der Fahrt schaut er immer wieder in den Rückspiegel, beobachtet die anderen Fahrzeuge und Passanten am Straßenrand. In Gedanken kehrt er zurück zu dem Zettel mit den kryptischen Worten. Schuldig der Beihilfe zum Mord.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragt Natasha.

»Äh, bitte?«

»Wo bist du mit deinen Gedanken?«

»Nirgends. Was hast du gesagt?«, fragt er erstaunt. Er hat ihr nicht zugehört.

»Dass du an der Straße vorbeigefahren bist und die Kinder glauben, dass wir nicht zur Kirmes fahren.«

Erst jetzt bemerkt er das Geschrei der Zwillinge.

»Schon gut, schon gut. Ich habe mich nur mit dem Kindergarten vertan. Alles okay, ich drehe sofort.«

Er wendet das Fahrzeug in einer Auffahrt. Die Kleinen schweigen. Mikael fährt auf den Jahrmarktplatz zu. Die Kinder strahlen. Ihre Augen leuchten. Aus der Ferne erkennt man die Fahrgeschäfte und Buden, sieht die Ballons und die bunten Zelte. Mikael stellt das Fahrzeug ab.

Halbherzig schimpft er mit den Zwillingen, die die Sicherheitsgurte bereits gelöst haben, obwohl das Auto noch nicht steht. Natasha beschwört sie, sich nicht unbemerkt wegzuschleichen und immer in ihrer Nähe zu bleiben. Trotzdem, es wird schwierig werden, die Knirpse im Zaum zu halten.

Der Duft von Popcorn und gebrannten Mandeln weht bis zum Parkplatz. Sie spazieren über den Jahrmarkt, lassen die Kinder Karussell fahren oder auf einem Pony reiten. Natasha kauft Lose. Sie will einen riesigen Bären für die Beiden gewinnen. Doch die interessieren sich nur für die Fahrgeschäfte, Teddybären haben sie genug.

»Jungs, sollen wir etwas trinken?«, fragt Mikael.

»Ja, ja.«

Sofort rennen sie zu einem Getränkestand. Mikael bestellt den Kindern Orangensaft und sich selbst ein Bier. Natasha will wie immer nur Mineralwasser. Sie setzen sich an einen kleinen Tisch in der Nähe des Kamelgeheges. Erstaunt beobachten die Kinder die Tiere, die kein Interesse am Trubel um sie herum zeigen.

»Also ich möchte jetzt etwas essen. Was ist mit euch?«

»Eis«, schreien beide. »Eis! Eis! Eis!«

Natasha lächelt Mikael an. »Sie hatten bereits Mittagessen. Eis ist okay.«

»Schokolade und Erdbeere für die Herren?«

Sie nicken.

»Doch nicht zwei Kugeln?«

Mikael setzt dabei eine ungläubige Miene auf. Die Kinder nicken wieder heftig mit dem Kopf und grinsen.

»Ich hole das Eis. Bleibt solange hier und haltet den Platz für mich frei.«

Mikael geht über den Jahrmarkt, findet den Eisstand und kehrt zurück zu dem Tisch, wo die Kinder bereits gierig auf ihr Eis warten.

»Ich könnte etwas zu Essen vertragen. Was ist mit dir?«

»Nein, danke«, antwortet Natasha. »Holst du dir Pizza?«

»Natürlich, was denn sonst?«

Er sucht einen Pizzastand auf dem Jahrmarkt. Pizza gehört für ihn zwingend zu jedem Kirmesbesuch. Schließlich findet er eine kleine Bude, anscheinend die einzige auf der Kirmes. Kurz schaut er sich die angebotenen Variationen an. Die Bedienung trägt eine rötliche Uniform, die eine Nummer zu groß scheint. Sie trägt eine Mütze mit der Aufschrift ›Pizza Now‹ auf dem Kopf. Wenige Kunden besuchen den Stand. Aus ihrer leicht erhöhten Position sieht die Frau zu Mikael herab und wartet auf seine Bestellung.

»Was können Sie mir empfehlen?«, fragt er die Bedienung. Hungrig schaut er auf die Pizzableche.

»Ich habe hier eine frische Spinatpizza mit Krabben. Sehen Sie, sie dampft noch.«

Mikael sieht den Dampf von der Pizza aufsteigen. Er riecht den Spinat und den Knoblauch.

»Sieht verdammt lecker aus. Ich nehme zwei Stücke.«

»Gerne, gute Wahl. Die anderen sind so ... lala«, gibt sie zu verstehen und macht mit ihrer rechten Hand diese ›so là là-‹Geste. Sie schneidet zwei extra große Streifen ab und packt jeden auf einen eigenen Teller.

»Soll ich die Teller in Alufolie wickeln, damit die Pizzen noch einen Moment heiß bleiben?«

»Ja, danke.«

Er reicht ihr 10 Euro über den Tisch. Sie wickelt die Pizzastücke ein, bedankt sich und wünscht ihm noch einen schönen Tag. Mit den Tellern in der Hand stiefelt Mikael zurück. Boris und Vladimir sind über und über mit Eiscreme beschmiert. Boris sieht verheult aus. Unter seiner Nase sammelt sich eine kleine Pfütze. Mikael runzelt die Stirn und schaut Natasha an.

»Boris hat sich die Kamele angeschaut und eines wollte das Eis. Eine lustige Aktion kann ich dir sagen. Boris' Reaktion weniger«, erklärt sie.

Mikael lacht auf. Er kann sich den verdutzt blickenden Jungen vorstellen, der zum eisfressenden Kamel hinaufschaut.

»Sie dürfen gleich noch ein Eis essen«, sagt Natasha.

»Karussell?«, fragt Vladimir.

Die Kinder kennen einfach keine Grenzen. Mikael schon.

»Willst du mit den beiden noch einmal zum Kettenkarussell gehen? Ich esse nur die Pizza. In einigen Minuten komme ich nach.«

Natasha steht auf. Sofort ertönt das Freudengeschrei der Kinder. Die drei ziehen los. Mikael sieht ihnen hinterher und stürzt sich auf sein Essen. Die Pizza ist lecker, frisch und heiß. Mit viel Knoblauch, wie er es liebt. Mit den Servietten wischt er sich den Mund ab. Gedanklich ist er schon in Berlin. Er schaut sich kurz um und sieht den Mülleimer in der Nähe des Kamel-Geheges. Er will die Pappteller hineinwerfen, da stutzt er. Steht da etwas auf dem oberen Teller? Er wischt die Reste der Pizzasoße zur Seite. Jemand hat mit Kuli etwas auf den Teller geschrieben. Mikael starrt einige Sekunden auf die Worte, versteht sie nicht sofort.

›Schuldig des Mordes‹

Die Farbe weicht ihm aus dem Gesicht. Sein Herz rast. Die Hände beginnen zu zittern. Langsam zieht er den Zettel von vorhin aus der Hosentasche. Die gleiche Schrift! Dort hat der Unbekannte nur von der Beihilfe gesprochen, jetzt spricht er von Mord.

»Was zum Himmel geht hier vor?«, fragt Mikael sich leise. Er greift nach dem anderen Teller, wischt auch den sauber und findet eine zweite Botschaft:

›Schuldig der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung‹

Er wischt beide Pappteller mit der Serviette ab, die noch oben auf dem Müll liegt. Die Teller faltet er und stopft sie in die Jackentasche. Mit zusammengekniffenen Augen sondiert er die Umgebung, kann aber niemanden ausmachen, der ihn beobachtet. Langsam, als Reflex, schiebt er seine Hand unter die Jacke, zur Schulter. Verärgert stellt er fest, dass er die Waffe nicht eingesteckt hat.

Natürlich nicht.

Er hat nie eine Pistole dabei, wenn sie mit den Kindern unterwegs sind.

Die Finger kribbeln. Durst macht sich bemerkbar. Zurück am Tisch trinkt er das restliche Bier aus. Er bekleckert sein Hemd. Ein leiser Fluch kommt ihm über die Lippen. Er findet kein Taschentuch und wischt das Hemd mit dem Jackenärmel ab. Der Durst steigert sich ins Unerträgliche. Das Kribbeln weitet sich auf die Arme aus.

»Blöde Schlampe«, sagt er leise. »Dir werde ich es geben.«

Zielstrebig steuert er den Pizzastand an, wo einige Jahrmarktbesucher anstehen. Hungrige Kunden schimpfen über die Wartezeit, darüber, dass sich niemand um ihre Wünsche kümmert. Langsam schreitet Mikael auf die Auslage zu, an den anstehenden Menschen vorbei.

Er drängelt sich durch die Warteschlange und stolpert. Ein Mädchen kichert beim Anblick des stolpernden Mannes. Mit einer Hand stützt er sich am Stand ab. Im letzten Moment kann er einen Sturz noch vermeiden. Er greift in die Jackentasche und will die Pappteller herausnehmen. Doch er findet die Taschen nicht, verheddert sich mit dem Ärmel am Reißverschluss.

Schwer auf die Auslage gestützt, schaut er in die Bude. Keine Bedienung zu sehen. Sein Mund ist taub. Sein Ruf nach der Pizzabäckerin von vorhin verwandelt sich in ein unverständliches Nuscheln. Zwei Jugendliche in der Warteschlange schütteln den Kopf. Sie fragen laut, wie man sich um diese Zeit nur so volllaufen lassen kann.

Schweißperlen bilden sich auf Mikaels Stirn. Seine Handflächen sind feucht. Ein Bein knickt ein, doch er hält sich soeben noch am Mantel des neben ihm stehenden Mannes fest. Dieser schüttelt Mikaels Hand ab, der zu Boden stürzt und ein unverständliches Grunzen von sich gibt. Mikael rappelt sich auf, stolpert um die Verkaufsbude herum und sieht den Anbau dahinter. Mit verschwommenem Blick findet er zufällig den Zeltreißverschluss. Immer wieder rutscht er mit den feuchten Fingern ab, sucht mehrfach die Griffplatte des Verschlusses und bekommt das Zelt schließlich auf. Ein dumpfes, weit entferntes Wimmern dringt an sein Ohr. Er sieht eine ältere, dunkelhaarige Frau halbnackt auf dem Boden liegen. Isolierband verklebt ihren Mund. Sie strampelt mit den Füßen. Der schmierige Holzboden verdreckt ihre Unterwäsche.

Sein Herz hämmert, sein Puls rast immer schneller. Er versteht nicht, warum die Frau gefesselt auf dem Boden liegt. Sie hat ihm die Pizza nicht gegeben. Die hat er von einer anderen Angestellten bekommen. Er dreht sich teilnahmslos um und torkelt über den Jahrmarkt zum Auto. Kirmesbesucher weichen dem breitbeinig gehenden, anscheinend betrunkenen Mann aus. Mikael nuschelt ständig vor sich hin. Der Schweiß fließt in Strömen.

Umständlich zieht er die Jacke aus, die er zu Boden fallen lässt. Mehrfach stützt er sich an verschiedenen Fahrzeugen ab. Er rutscht aus, will den Sturz abfangen und reißt einen Außenspiegel herunter. Dunkle Schweißränder durchziehen das Hemd. Sein Atem geht stoßweise. Er setzt den Weg fort. Schließlich findet er den Wagen. Mikael greift zum Fahrzeugdach, verfehlt jedoch den Holm. Mit dem Oberkörper schlägt er schwer auf die Motorhaube. Langsam rutscht er die Haube hinunter. Vor dem Kühler bleibt er liegen. Er hechelt, bekommt keine Luft, sein Puls rast wie nach einem Mittelstreckenlauf.

Mit letzter Kraft setzt er sich auf. Mit dem Rücken lehnt er an der Stoßstange. Die Beine zucken unkontrolliert. Er erbricht sich auf das Hemd und die Hose. Feine Speichelfäden hängen von den Lippen hinunter, Mikael bleibt hechelnd sitzen. Sein Herz trommelt immer heftiger. Den Kopf kann er nicht mehr bewegen. Er kotzt erneut. Den Schwall lässt er einfach aus dem Mund fließen. Er bringt nicht mehr die Energie auf, sich den Mund abzuwischen. Seine Augen starren auf die Füße.

Zwei Füße tauchen in seinem verschwommenen Blickfeld auf. Mühsam hebt er den Kopf, der immer wieder auf die Brust zurücksinken will. Er sieht eine kleine zierliche Person, eine Frau. Mehr kann er nicht erkennen, sie hat die Kapuze zu tief ins Gesicht gezogen. Er versucht, gleichmäßig zu atmen, will sie ansprechen und um Hilfe bitten. Doch er bringt einfach keine Worte heraus. Speichel fließt unkontrolliert aus seinem Mund.

»Mikael Temenov. Sie sind für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Das Urteil wird vollstreckt.«

Die Stimme der Frau erkennt er sofort. Die Pizzabedienung. Sie starrt auf ihn herab. Jetzt versteht er. Sein Weg ist hier zu Ende. Er wird Natasha und die Zwillinge niemals mehr wiedersehen.

Die Gestalt tritt einen Schritt zurück. Mikael sieht, dass sie eine Jacke, seine Jacke in der Hand trägt. Liebend gerne will er ihr den Hals umdrehen, sie schlagen, foltern und quälen. Aber er kann sich einfach nicht bewegen.

Die letzten Gedanken drehen sich um die Frage, wie die Frau an seine Jacke gekommen ist, wann und wo er sie ausgezogen hat. Mikael sackt in sich zusammen. Den gebrochenen Blick auf die Füße gerichtet. Die Gestalt kniet sich neben den Toten, nimmt die Pappteller und den Zettel aus seinen Taschen. Unbemerkt verschwindet sie zwischen den geparkten Fahrzeugen.

***

Es ist kühl für den Frühlingsanfang. Nieselregen dringt durch die Kleidung. Der Wind treibt neben der Nässe auch die Kälte durch die Jacke. Der Rhein führt ein wenig Hochwasser mit sich, was den Schiffsverkehr aber nicht beeinträchtigt. Touristenströme streifen trotz des Wetters durch die Düsseldorfer Altstadt, auf der Suche nach der längsten Theke der Welt.

Piotr Wozniak ist bleiern müde. Die Augen brennen wegen des fehlenden Schlafes. Der Hunger treibt ihn in die Altstadt; ›Scheiß auf die Müdigkeit‹, denkt er, aber es hilft nicht. Er verkriecht sich in eine dunkle Ecke seiner Stammkneipe.

Piotr bestellt Rheinischen Sauerbraten, den er in Deutschland lieben gelernt hat und gerne isst. Dazu trinkt er ein Pils, da er Altbier nicht ausstehen kann. Gierig nimmt er einen Schluck. Aber er ist nicht bei der Sache, sein Blick geht in die Ferne. Die Gedanken schweifen ab. Seine polnische Familie, die er als Jugendlicher verlassen hat, kommt ihm in den Sinn. In Deutschland hatte er arbeiten wollen, Karriere machen und die Eltern finanziell unterstützen.

Laute Musik ertönt. Sie bringt Piotr zurück in die Gegenwart. Die vorletzte Nacht ist arbeitsreich gewesen, aber auch sehr erfolgreich. Er hat endlich wieder auf eigene Rechnung gearbeitet und mit seinen Partnern den Tresor eines Juweliers geknackt. Die perfekte Planung hat fast drei Monate gedauert.

Zufällig haben sie den Einbruch einige Tage früher als geplant starten können. Innerlich dankt Piotr der Stadt für die Errichtung einer Baustelle am passenden Ort. Das war zu verlockend gewesen. Solch eine Chance lässt man nicht verstreichen.

Die Beute ist mindestens 6 Millionen Euro wert: Diamanten und Edelarmbanduhren. Den Coup hatte er lange ins Auge gefasst. Er musste die Durchführung aber wegen zu hoher Risiken, fehlender Fachleute oder Informationen mehrmals verschieben.

»Nur intensive Vorbereitung garantiert den Erfolg« sagt er sich häufig. »Nur nichts überstürzen und Fehler vermeiden.«

Die Planung eines solchen Bruchs nimmt immer mehrere Monate in Anspruch. Für Eventualitäten hat Piotr keinen Platz. Den Zufall gibt es für ihn nicht. Er sucht die Leute für die Ausführung selbst aus. Niemand, der mit ihm arbeitet, darf polizeibekannt sein. Und die Beteiligten können sicher sein, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Für sein Team bleibt immer ein nettes Sümmchen, da er sich ausschließlich auf gewinnbringende Jobs einlässt.

Alle beachten daher das eiserne Schweigegebot, das Piotr seinen Kumpanen stets auferlegt. Bisher hat das auch funktioniert. Keiner seiner Einbrüche wurde je aufgeklärt, keiner der Beteiligten jemals überführt. Er bleibt bei der Kriminalpolizei ein dunkler Geist, ein namenloser Schatten.

Der Aufbau einer Baustelle direkt vor dem Juweliergeschäft hatte ihn überrascht. Aber er roch die Chance, und entschied schnell. Das Ding musste einfach früher als geplant über die Bühne gehen. Eine bessere Chance konnte es nicht geben.

Penibel achtete er auf den Zeitplan und die Durchführung. Sorgfältig darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen. Den Vortag hatte er damit verbracht, die Beute in Sicherheit zu bringen. Er nahm Kontakt mit dem Hehler auf. Die Übergabe musste vereinbart werden, aber zuerst sollte der Medienrummel abflauen. Die Medien überschlugen sich und brachten ausschweifende Berichte über den Einbruch. ›Ein wahres Meisterwerk des klassischen Diebstahls‹, schrieb die Zeitung, ›elegant, leise, lukrativ und ohne Spuren zu hinterlassen.‹ Den Wert der Beute nannten die Zeitungen nicht. Das kannte Piotr schon. Die Polizei verheimlichte die Summe, da sie Nachahmer verhindern wollte. Die Kripo tappte völlig im Dunkeln, stand jedoch erst am Anfang der Ermittlungen.

Piotr glaubt fest daran, dass keine Gefahr besteht. Noch nie ist ihm jemand auf die Spur gekommen. Mit Einbrüchen konnte Piotr sich in den letzten Jahren ein ansehnliches Polster schaffen. Er hat vorsichtig begonnen, den eigenen Lebensstil zu ändern. Zuerst kaufte er sich eine Eigentumswohnung mit Rheinblick in Düsseldorf. Danach erfüllte er sich den Traum von einem Porsche. Seine Computerkenntnisse nutzte er in einer Scheinfirma, die er vor einigen Jahren eröffnet hatte. Für das Finanzamt wies er als selbständiger Softwareentwickler geregelte Einnahmen nach. Das stärkte die Reputation bei den Banken. Die Geldeingänge hinterfragten sie nicht. Niemand schöpfte Verdacht.

Piotr braucht das Geld aus seinen Coups nicht mehr. Er kann auch so ein ruhiges und bequemes Lebens führen. Nicht im überschwänglichen Luxus, doch beruhigt und ohne verpflichtende Arbeit. Aber er will sich beweisen, dass auch das Unmögliche möglich ist. Er braucht den Nervenkitzel, die Anerkennung, egal ob von Kriminellen, der Polizei oder den Medien.

Auch von Dimitri, einem Russen, den er schon in seiner Jugend kennengelernt hat, bekam er Aufträge. Anfangs freute ihn das Geld, das er dringend brauchte. Dankbar nahm er jeden Job an. Er zerstreute früh aufkommenden Bedenken, solange die Bezahlung stimmte. Nach und nach stieg der Lohn, aber dafür nahm die Gefährlichkeit der Aufträge zu. Im Laufe der Zeit erkannte Piotr aber, dass er für eine durch und durch russische Organisation arbeitete. Für diese hatte Verschwiegenheit, Schnelligkeit, Loyalität, fehlerfreies Arbeiten und totale Skrupellosigkeit oberste Priorität.

Früh bemerkten sie sein Talent für Sicherungsanlagen und Computer. Der Preis für die langjährige Zusammenarbeit brachte ihn jedoch in eine Abhängigkeit, die nicht wie ein Mietvertrag gekündigt werden konnte. In Gedanken spielte er verschiedene Variationen durch, wie er die Beziehung zu Dimitri beenden konnte und trotzdem überlebte.

Dimitris letzten Job hatte er vor ungefähr einem Jahr mit einem Russen ausgeführt, den er noch nie gesehen hatte, dessen Name er nicht kannte. Dieser Mann hatte ihn am Dortmunder Hauptbahnhof mit einem schwarzen Golf abgeholt. Wortlos waren sie nach Gelsenkirchen in ein kleines Wohnviertel gefahren. Sie hatten einen Kerl beobachtet und verfolgt, der Piotr an einen ewigen Studenten erinnerte.

Er hatte sich gewundert, dass sie ihn für einen solchen Einsatz ausgewählt hatten. Bisher war er nur als Einbrecher oder Softwarespezialist eingesetzt worden. Observationen fand er langweilig. Darin war er kein Fachmann. Vielleicht hatte der Student Schulden und der Russe sollte der Forderung Nachdruck verleihen? Piotr wusste es nicht. Schweigend waren sie dem jungen Mann hinterhergefahren. Sie hatten dabei bemerkt, dass ein weiteres Fahrzeug dem Mann folgte. Ein schwarzer BMW, den der Russe mit einem leichten Lächeln zur Kenntnis nahm, aber ansonsten ignorierte.

Der Student stellte seinen Wagen in der Wattenscheider Innenstadt auf einem Parkplatz ab. Piotr bekam ein Handy und folgte ihm zu Fuß, während der Russe im Fahrzeug blieb. Der Verfolgte betrat ein kleines Café.

Wenige Sekunden später rief Piotr den Russen per Handy und beschrieb ihm den Weg. Sie trafen sich unmittelbar vor dem Café, ohne gesehen zu werden. Der Student hatte inzwischen mit einem Mann gesprochen, der sich kurz zuvor zu ihm an Tisch gesetzt hatte. Piotr dachte sich, dass es sich vielleicht um den Typen mit dem schwarzen BMW handelte. Aber das war nur eine Vermutung. Wenig später stand der Mann auf und verschwand aus dem Sichtfeld. Der Russe nickte. Jetzt war die Situation günstig. Er wollte zuschlagen, lächelte Piotr zu und drückte ihm eine Pistole in die Hand.

Piotrs Hände begannen zu zittern, da er Schusswaffen und Brutalität nicht ausstehen konnte. Er musste jedoch nur die Türen des Cafés im Auge behalten.

Der Russe betrat den Laden und eröffnete sofort das Feuer auf einen alten Mann. Menschen schrien. Piotr versperrte den Eingang und beobachtete die kleine Einkaufsstraße. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er bekam Angst. Mit weit aufgerissenen Augen hatte er das bisherige Geschehen betrachtet. An einem kaltblütigen Mord hatte er nicht beteiligt sein wollen. Doch nun fand er sich mitten drin in den entsetzlichen Ereignissen und gehörte zu den Bösen.

Zitternd stand er an der Eingangstür. Er schaute kurz die kleine Einkaufsstraße hinunter, aber dann drehte er sich um und schaute wieder ins Innere des Cafés, wo der Russe gerade auf den schlaksigen Studenten zuging. Auch ihn streckte er eiskalt nieder, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Hirnmasse und Knochenfragmente verteilten sich auf der Wand hinter dem Mann, der wortlos mit einem erstaunten Gesichtsausdruck zu Boden fiel. Auf den Fliesen bildete sich um den Kopf oder vielmehr, was davon übrig war, eine Blutlache. Piotrs Nackenhaare stellten sich auf. Er fragte sich, was der Student angestellt hatte, dass er so hingerichtet wurde. Trotzdem beeindruckte ihn die Zielstrebigkeit und Konsequenz des Russen beeindruckt.

Auch seine Kaltschnäuzigkeit. Der Russe folgte dem Mann, der zuvor mit dem Studenten gesprochen hat, zur Toilette. Piotr hörte keine Schüsse mehr, aber seine Unruhe wuchs. Zunächst sorgte er sich darum, dass er alleine an der Tür stand. Die Bullen konnten jeden Moment aufkreuzen. Dann durchfuhr ihn plötzlich der schreckliche Gedanke, dass er diesen Tag nicht überleben würde. Entweder starb er durch die Hand dieses Killers oder durch die Kugeln der Polizei.

Er stellte sich vor, dass er in einer dunklen Ecke in die Knarre des Russen schaute und erschossen im Rinnstein landete. Panisch wollte er das Café verlassen. Da tauchte der russische Mörder wieder auf. Noch immer hielt er die Pistole in der Hand. Mit der anderen Hand umklammerte er eine kleine Eisenstange. Piotr fragte sich, woher er die nun wieder hatte. Er starrte den Russen voller Angst an und glaubte, dass er noch weitere Leute erschießen wollte. Wollte er auch ihn auf der Stelle umlegen? Doch der Killer grinste ihn nur kurz an. Gemeinsam verließen sie das Café.

Der Russe verklemmte mit der Stange die Eingangstür. Sie bogen nach rechts ab, dem Ende der Einkaufsstraße entgegen. Zügig, aber nicht zu eilig überquerten sie eine Kreuzung. Ihr Wagen stand in einer Seitenstraße an einem kleinen Park. Unbehelligt verschwanden sie aus Bochum. Piotrs Puls wollte sich nicht beruhigen. Die Waffe legte er in das Handschuhfach, das er mit seinen zittrigen Händen fast nicht aufbekommen hätte.

Auf der Flucht sprach der Russe nicht mit ihm. Am Dortmunder Hauptbahnhof ließ er ihn aussteigen. Er verabschiedete sich mit russischen Worten, die Piotr nicht verstand. Der Wagen schoss vorwärts und bog an der nächsten Kreuzung ab. Piotr atmete beruhigt auf. Natürlich war er nicht in Sicherheit, jederzeit konnte er an einer Ecke den Tod finden. Doch mit jedem Tag, der verstrich, nahm seine Angst ab.

Aber sie hatten einen Fehler gemacht. Die Videoüberwachung im Café hatten sie nicht bemerkt. Piotr fand das eigene Gesicht und das des Russen auf Fahndungsfotos in den Medien, später auf Plakaten an öffentlichen Plätzen. Er verschwand nach Polen. Fünf Monate später kehrte er mit verändertem Aussehen zurück. Nur langsam traute er sich wieder unter Menschen.

Er gewöhnte sich an sein geändertes Erscheinungsbild. Aber die Erinnerung an den Vorfall im Café blieb. Er bereute es, diesen Auftrag angenommen zu haben. Aber hatte er wirklich eine Wahl gehabt? Schließlich hatte Dimitri nie von Auftragsmorden gesprochen. Den Auftrag hatte er nur vage beschrieben. Die Bezahlung fiel immerhin außerordentlich aus. Piotr wünschte sich trotzdem, er hätte auf sein Bauchgefühl gehört. Doch es war zu spät, nichts ließ sich mehr ändern. Mit dem Aufenthalt in Polen und dem Schweigen erkaufte er sich Sicherheit.

Diesen Job hatte er überlebt. Es zahlte sich eben aus, keine Fragen zu stellen, das Maul zu halten und geduldig zu sein. Den Russen hat er nie wieder gesehen. Darauf legte er auch keinerlei besonderen Wert. Später begannen die Planungen für den Einbruch in das Juweliergeschäft und er fand eine willkommene Ablenkung. Die Erinnerungen an den Russen verblassten.

Ausgerechnet heute kommen sie wieder hoch. Piotr schüttelt den Kopf. Er ist bereits seit 24 Stunden auf den Beinen, hat dunkle Ränder unter seinen blutunterlaufenen Augen. Er sehnt sich nach einem gemütlichen Bett, schiebt den leeren Teller zur Seite, bestellt noch ein Pils und bezahlt die Rechnung mit einem großzügigen Trinkgeld. Dann wünscht er der Bedienung eine angenehme Nacht und verlässt das Lokal. Der hochgestellte Kragen seiner Jacke hält die kalte Feuchtigkeit nicht ab. Eine leichte Gänsehaut bildet sich auf seinen Armen. Gerne hätte er sich eine Zigarette angezündet, doch dieses Laster hat er aufgegeben. Aus einer Dokumentation im Fernsehen hat er gelernt, wie viele Informationen die Polizei allein aus einer weggeworfenen Kippe ziehen kann.

Der Verkehr auf der Flinger Straße nimmt ab, je weiter er sich von der Altstadt entfernt. Von der Kasernenstraße biegt er rechts ab, um zum Parkhaus zu gelangen. Vereinzelt fahren Taxen an ihm vorbei. Seine Aufmerksamkeit lässt nach.

Er überquert die Fahrbahn. Das heranrasende Fahrzeug bemerkt er nicht. Der Wagen rammt ihn seitlich. Er wird hochgeworfen, hört die eigenen Knochen brechen. Schmerzen fluten seinen Körper. Hart schlägt er mit einem Ellenbogen auf die Kühlerhaube. Sein Kopf zertrümmert die Windschutzscheibe. Grelle Lichtblitze tauchen vor den Augen auf. Die Welt dreht sich im Kreis.

Er prallt ab, fliegt über das Fahrzeugdach und knallt auf den Kofferraum, bevor er auf der Straße landet. Sein Körper rutscht rasant über den Asphalt, der ihm die Kleidung und die Haut von Armen und Beinen brennt. Die Blutspur, die er dabei auf der Fahrbahn hinterlässt, reicht bis zu dem Punkt, an dem er schließlich bewusstlos liegen bleibt.