Bestimmt - P.C. Cast - E-Book

Bestimmt E-Book

P.C. Cast

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Beschreibung

Zoey ist wieder zurück im House of Night in Tulsa, gemeinsam mit ihrem Krieger Stark, der sie beschützt. Doch nun wird ein Treffen mit der nach Rache dürstenden Hohepriesterin Neferet unausweichlich. Neferet ist noch immer mit den Mächten der Finsternis im Bunde, ihre Macht größer denn je. Ist Zoey wirklich sicher in diesem Haus? Und weiß sie, wer ihre wahren Freunde sind? Auch für Rephaim, der Stevie Rae nicht mehr aus den Augen lässt, entscheidet sich jetzt alles: Durch eine Gabe der Göttin Nyx hat er menschliche Gestalt angenommen und kann auf diese Weise endlich mit ihr zusammen sein.Doch wird er den Weg des Guten auch weiterhin gehen? Kann die Liebe siegen, wenn sie von den Mächten der Finsternis auf den Prüfstand gestellt wird?

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Seitenzahl: 516

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P.C. Cast | Kristin Cast

Bestimmt/House of Night 9

Aus dem Amerikanischen von Christine Blum

FISCHER E-Books

Für Allie Jensen in Liebe und Dankbarkeit.

Unsere Zauberei funktioniert, weil du so zauberhaft bist!

Danksagung

Danke an unsere großartige Familie bei St. Martin’s Press. Wir lieben unseren Verlag!

Wie immer danken wir unserer Agentin und Freundin Meredith Bernstein, ohne die es das House of Night nie gegeben hätte.

Ganz großen Dank an die Will Rogers High School für die Erlaubnis, in diesem herrlichen Gebäude herumschnüffeln zu dürfen und es in unseren Roman einzubauen. (Nein, während der Arbeiten an diesem Buch kam dieses Art-déco-Schmuckstück nicht zu Schaden!)

Und wo wir schon bei herrlich und großartig sind: ein RIESENDANKESCHÖN an unsere Heimatstadt. Es ist unglaublich, wie sehr ›T-Town‹ das House of Night unterstützt! Mit Fantastofitüre überzogen sind besonders: das Hotel Ambassador und das Chalkboard Restaurant, Moody’s Fine Jewellery, Starbucks am Utica Square, Miss Jackson’s, The Dolphin, The Wild Fork Restaurant, Little Black Dress, das Gilcrease- und das Philbrook-Museum und Street Cats. Und tausend Dank an unsere großartigen, treuen Fans, die eigens nach Tulsa kommen, um eine House-of-Night-Besichtigungstour zu machen! Unsere Fans sind einfach unschlagbar!

Und last, but not least: Danke, Josh! – für die Okisierungen, aber vor allem dafür, dass du die Zügel in die Hand genommen hast.

Prolog

Zoey

Ich glaube, meine Mom ist tot.

Stumm spürte ich den Worten nach. Sie fühlten sich falsch an, unnatürlich, als versuchte ich zu begreifen, dass die Welt sich plötzlich auf den Kopf gestellt hatte oder die Sonne im Westen aufging.

Ich holte tief und ein bisschen schluchzend Atem und rollte mich auf die Seite, um aus der Box neben meinem Bett ein frisches Taschentuch zu holen.

Stark runzelte die Stirn, bewegte sich und brummte etwas vor sich hin.

Behutsam stieg ich aus dem Bett, hob Starks riesiges Sweatshirt vom Boden auf, zog es mir über und kuschelte mich in den Sitzsack, der an der Wand unseres kleinen Tunnelzimmers stand.

Der Sitzsack gab dieses quatschige Geräusch von sich, das mich immer an die bunten Bälle in diesen aufblasbaren Kinder-Partyhäuschen erinnert, und wieder runzelte Stark die Stirn und murmelte etwas im Schlaf. Ich putzte mir die Nase. Sehr leise. Hör auf zu weinen hör auf zu weinen hör auf! Das bringt nichts, davon kommt Mom nicht zurück. Ich blinzelte sehr viele Male und putzte mir noch einmal die Nase. Vielleicht war es ja nur ein Traum. Aber der Gedanke half nichts. Mein Herz kannte die Wahrheit. Nyx hatte mich aus meinen Träumen gerissen, um mir zu zeigen, dass meine Mom in die Anderwelt eingegangen war. Und das hieß, Mom war tot. Während mir schon wieder Tränen über die Wangen rannen, erinnerte ich mich: Mom hat Nyx gesagt, dass es ihr leidtue, mich im Stich gelassen zu haben.

»Sie hat gesagt, dass sie mich liebt«, flüsterte ich.

Ich hatte kaum hörbar gesprochen, trotzdem warf Stark sich unruhig herum und murmelte: »Aufhören!«

Ich presste die Lippen aufeinander – aber mir war klar, dass es nicht mein Flüstern war, das ihn unruhig machte. Stark war mein Krieger, mein Wächter und außerdem mein Freund. Nein, ›Freund‹ ist zu einfach ausgedrückt. Zwischen uns besteht eine Verbindung, die weit tiefer reicht, als miteinander wegzugehen und Sex zu haben und all die Dinge, aus denen normalerweise Beziehungen bestehen. Deshalb war er so ruhelos. Er konnte meine Traurigkeit spüren – selbst im Schlaf spürte er, dass ich weinte und Angst hatte und –

Stark streifte sich die Decke von der Brust. Ich sah, dass seine Hand zur Faust geballt war. Mein Blick wanderte zu seinem Gesicht. Er schlief noch, aber seine Züge waren verkrampft und finster.

Ich schloss die Augen und holte tief Atem, um mich zu sammeln. »Geist«, flüsterte ich. »Bitte komm zu mir.« Sofort spürte ich, wie das Element meine Haut streifte. »Hilf mir. Oder nein, hilf vielmehr Stark, indem du meine Traurigkeit von ihm fernhältst.« Und vielleicht, fügte ich im Stillen hinzu, könntest du ein bisschen davon auch von mir fernhalten. Wenigstens für kurze Zeit. Mit einem weiteren tiefen Atemzug spürte ich, wie das Geistelement in mir und um mich herumwogte und dann zum Bett hinüberschwirrte. Als ich die Augen aufschlug, konnte ich sehen, wie die Luft um Stark sich leicht kräuselte. Seine Haut schien aufzuglühen, als das Element sich wie eine durchsichtige Decke über ihn legte. In mir breitete sich Wärme aus. Ich sah auf meine Arme hinunter – auch auf meiner Haut lag der sanfte Glanz. Wir stießen beide gleichzeitig einen langen Seufzer aus, während die tröstende Magie des Geistes in uns einsank, und zum ersten Mal seit Stunden wich ein ganz kleines bisschen meiner Traurigkeit von mir.

»Danke, Geist«, flüsterte ich und schlang die Arme fest um mich. Jetzt, in der tröstenden Umhüllung des Elements, dem ich mich am nächsten fühlte, wurde ich doch ein bisschen schläfrig. Da stahl sich eine andere Art von Wärme in mein Bewusstsein. Langsam, um den Trostzauber meines Elements nicht zu stören, löste ich die Arme und berührte den kleinen runden Stein, der an einer silbernen Kette zwischen meinen Brüsten hing. Warum ist der Seherstein warm? Seit Königin Sgiach ihn mir kurz vor meinem Abschied von der herrlichen magischen Insel Skye geschenkt hatte, hatte ich ihn nicht mehr abgenommen.

Verwundert zog ich den Stein hervor und strich mit den Fingern über die weiche Marmoroberfläche. Er sah immer noch aus wie die Unterseite eines sauren Apfelrings, nur glitzerte der Skye-Marmor jetzt auf unirdische Weise, als hätte meine Beschwörung des Elements ihn zum Leben erweckt – als wäre er deshalb warm, weil ihn ein geheimnisvolles Leben durchpulste.

Ich erinnerte mich an Königin Sgiachs Worte: »Von allen magischen Energien, die es gibt, reagiert der Seherstein nur auf die älteste. Diejenige, die ich auch hier auf der Insel beschütze. Ich schenke ihn dir, damit du sie erkennen kannst, falls es auf der Welt noch mehr davon geben sollte.«

Während ihre Worte in mir nachhallen, drehte der Seherstein sich langsam, fast träge um die eigene Achse. Das Loch in seiner Mitte war wie ein Mini-Teleskop. Als es auf Stark zeigte, fiel mein Blick durch es hindurch auf ihn, und meine ganze Welt begann sich zu drehen, schrumpfte zusammen, und dann veränderte sich alles.

Vielleicht lag es daran, dass das Geistelement mir gerade so nahe war, denn es fühlte sich kein bisschen so verrückt an wie beim ersten Mal, als ich auf Skye durch den Stein geblickt hatte und ohnmächtig geworden war.

Aber beunruhigend war es trotzdem.

Dort lag Stark auf dem Rücken, die Brust fast ganz entblößt. Der sanfte Schimmer des Geistes war verschwunden. Dafür sah ich etwas anderes – leider nur sehr unscharf, ich konnte keine Einzelheiten erkennen. Es sah aus wie der Schatten von jemandem. Starks Arm zuckte, und seine Hand öffnete sich. Auch die Hand des Schattens öffnete sich. Und vor meinen Augen nahm das Claymore – das massive Langschwert, das Stark in der Anderwelt bekommen hatte – in seiner Hand Gestalt an. Überrascht keuchte ich auf. Da drehte der Schattenkrieger den Kopf in meine Richtung und schloss die Hand um das Schwert.

Sofort begann die Klinge sich zu verzerren, wurde länger und nahm die Form eines langen schwarzen Speers an – gefährlich, tödlich, die Spitze in Blut getränkt, das mir viel zu bekannt vorkam. Furcht durchraste mich.

»Nein!«, schrie ich. »Geist, hilf Stark! Lass das Ding verschwinden!«

Mit einem Geräusch, das klang wie das Schlagen riesiger Flügel, erlosch die Erscheinung, der Seherstein kühlte ab, und Stark setzte sich auf und starrte mich finster an.

»Was machst du denn da drüben?« Er rieb sich die Augen. »Und warum schreist du so?«

Ich öffnete den Mund, um ihm die bizarre Erscheinung zu beschreiben, da seufzte er schwer, ließ sich zurücksinken, schlug die Decke zurück und winkte mich schläfrig heran. »Komm. Ich kann nicht schlafen, wenn du dich nicht an mich kuschelst. Und ich brauch echt ’n bisschen Schlaf.«

»Ja, ich auch«, sagte ich, schlüpfte mit zitternden Knien zurück ins Bett und kuschelte mich neben ihn, den Kopf an seine Schulter gelehnt. »Hey, also, gerade ist was total Komisches passiert«, fing ich an, aber als ich den Kopf in den Nacken legte, um ihm in die Augen zu sehen, waren im nächsten Moment seine Lippen auf meinen. Ich war nur ganz kurz überrascht, dann erwiderte ich den Kuss. Er fühlte sich so gut an – es war so schön, ihm nahe zu sein. Er legte die Arme um mich. Ich schmiegte mich an ihn, während seine Lippen die Neigung meines Halses nachfuhren. »Ich dachte, du brauchst ein bisschen Schlaf«, sagte ich ein bisschen atemlos.

»Dich brauch ich mehr.«

»Ja«, sagte ich. »Ich dich auch.«

Und wir verloren uns ineinander. Starks Liebkosungen verscheuchten Tod, Angst und Verzweiflung. In der Zweisamkeit erinnerten wir einander von neuem daran, was Leben, Liebe und Glück bedeuteten. Als wir schließlich einschliefen, lag der Seherstein kalt und vergessen zwischen uns an meiner Brust.

Eins

Aurox

Das Fleisch des Menschenmannes war weich und breiig gewesen.

Erstaunlich, wie leicht es gewesen war, ihn zu vernichten – das Schlagen seines schwachen Herzens zu beenden …

»Bring mich nach Nordtulsa«, hatte sie gesagt. »Ich will in der Nacht lustwandeln.« Mit diesem Befehl hatte der Abend begonnen.

»Ja, Göttin«, hatte er sofort geantwortet und den Winkel der Dachterrasse verlassen, in den er sich meist zurückzog.

»Nenn mich nicht Göttin. Nenn mich …« Sie hatte kurz nachgedacht. »… Priesterin.« Ihre vollen roten, glatten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich denke, es ist am besten, wenn alle mich schlicht Priesterin nennen – fürs Erste jedenfalls.«

Aurox hatte die Hand über dem Herzen zur Faust geballt, zu einer Geste, die er instinktiv als uralt erkannte, auch wenn sie sich irgendwie ungewohnt und gezwungen anfühlte. »Ja, Priesterin.«

Sie war an ihm vorbeigegangen und hatte ihm ungeduldig bedeutet, ihr zu folgen.

Er war ihr gefolgt. Er war erschaffen worden, um ihr zu folgen. Ihre Befehle entgegenzunehmen. Ihren Anweisungen zu gehorchen.

Sie waren in etwas eingestiegen, das sie Auto nannte, und die Welt war an ihnen vorübergeflogen. Sie hatte ihm befohlen, seine Bedienung zu verstehen, und er hatte ihr zugesehen und sich alles gemerkt, genau wie sie befohlen hatte.

Dann hatten sie angehalten und waren aus dem Auto gestiegen.

Die Straße hatte nach Tod und Verwesung, Schmutz und Verderbnis gerochen.

»Priesterin, dieser Ort ist nicht –«

»Du sollst mich beschützen!«, hatte sie ihn angefahren. »Nicht bemuttern. Ich werde immer gehen, wohin ich will und wann ich will, und genau das tun, was ich will. Dein Job – nein, deine Bestimmung – ist es, meine Feinde zu besiegen. Mein Schicksal ist es, mir Feinde zu schaffen. Beobachte alles. Handle dann, wenn ich dir befehle, mich zu beschützen. Das verlange ich von dir, sonst nichts.«

»Ja, Priesterin«, hatte er gesagt.

Die moderne Welt war ein verwirrender Ort. So viele ineinanderfließende Geräusche. So vieles, was er nicht kannte. Er würde ihr gehorchen. Er würde dem Sinn seines Daseins gerecht werden und –

Aus den Schatten trat ein männlicher Mensch und stellte sich ihnen in den Weg.

»Hey, Schnuckelchen, so hübsch und so spät in ’ner dunklen Gasse unterwegs mit nur ’nem kleinen Bürschchen als Begleitung?« Seine Augen weiteten sich, als er ihre Tattoos bemerkte. »Ach, ’n Vampyr. Ist der Grünschnabel da etwa dein Abendessen, hä? Weißt du was? Gib mir doch diese Handtasche, und dann unterhalten wir beide uns mal darüber, wie’s mit ’nem richtigen Kerl ist.«

Die Priesterin seufzte. Es klang überdrüssig. »Du liegst leider völlig falsch. Ich bin keine Vampyrin, und dies ist kein Bürschchen.«

»Was soll’n das heißen?«

Sie ignorierte den Mann und sah über die Schulter Aurox an. »Jetzt wäre es an der Zeit, mich zu beschützen. Zeig mir, über welche Waffe ich gebiete.«

Ohne nachzudenken, gehorchte er. In Sekundenschnelle stand er dicht vor dem Mann und rammte diesem seine Daumen in die gierigen Augen. Das war der Moment, als das Schreien begann.

Das Entsetzen des Mannes beflügelte ihn und verlieh ihm Kraft. Mit derselben Leichtigkeit, mit der man einatemte, sog Aurox die Qual in sich auf, die er verursacht hatte. Die ungeheure Panik des Mannes durchströmte ihn heiß und kalt. Aurox spürte, wie seine Hände anders – härter – als Hände wurden. Die zuvor ganz gewöhnlichen Finger verwandelten sich in Klauen. Er zog sie aus den Augen des Mannes, als aus dessen Ohren Blut zu rinnen begann. Die Angst und der Schmerz verliehen Aurox eine unglaubliche Kraft, als er den Mann hochhob und ihn gegen die Wand des nächsten Gebäudes schleuderte.

Der Mann schrie noch immer.

Welch herrliches, schreckliches Hochgefühl! Aurox spürte, wie sein Körper sich immer weiter veränderte. Seine menschlichen Füße wurden zu gespaltenen Hufen. Seine Beinmuskeln dicker. Seine Brust wölbte sich, bis das Hemd, das er trug, zerriss. Aber das Wundersamste waren die massiven, todbringenden Hörner, die ihm aus der Stirn wuchsen.

Als die drei Freunde des Mannes in die Gasse stürzten, um ihm zu Hilfe zu eilen, hatte der Mann aufgehört zu schreien.

Aurox ließ ihn in den Dreck fallen und sprang zwischen die Priesterin und diejenigen, die vielleicht glaubten, ihr Schaden zufügen zu können.

Der erste Freund blieb abrupt stehen. »Scheiße, was is’n das?«

»Das gibt’s doch nicht«, sagte der zweite.

Aurox sog bereits die Furcht in sich ein, die von den beiden auszugehen begann. Seine Haut pulsierte wie in einem eisigen Feuer.

»Sind das Hörner? Shit, nichts wie weg hier!« Der dritte Freund drehte sich um und rannte dorthin zurück, woher er gekommen war. Die beiden anderen bewegten sich langsam rückwärts, ihre Augen vor Angst geweitet.

Aurox sah die Priesterin an. »Was befehlt Ihr?« In einem fernen Winkel seines Bewusstseins wunderte er sich über seine Stimme – dass sie so kehlig, so tierhaft geworden war.

Die Priesterin sah erfreut aus. »Der Schmerz macht dich stärker. Und anders – wilder.« Sie betrachtete die beiden zurückweichenden Männer, und ihre sinnliche Oberlippe hob sich zu einem höhnischen Lächeln. »Ist das nicht spannend … Töte sie.«

Aurox bewegte sich so schnell, dass der Mann, der ihm am nächsten war, keine Zeit zum Reagieren hatte. Er rammte ihm die Hörner in die Brust und hob ihn darauf empor. Der Mann schrie und zappelte und entleerte sich vor Angst.

Das verlieh Aurox noch mehr Kraft.

Mit einem mächtigen Schwung seines Kopfes schleuderte er den durchbohrten Mann gegen die Wand. Er landete zusammengesunken neben dem ersten.

Der letzte verbliebene Mann rannte nicht weg. Er zog ein langes, gefährlich aussehendes Messer und stürmte auf Aurox zu.

Aurox täuschte eine Seitwärtsbewegung vor. Als der Mann viel zu weit ausscherte, stampfte er mit einem gespaltenen Huf dessen Fuß platt, und während der Mann nach vorn stolperte, riss er ihm mit den Hörnern das Gesicht ab.

Schwer atmend stand Aurox über den Leichen seiner gefallenen Feinde. Er drehte sich zu der Priesterin um.

»Sehr gut«, sagte sie in ungerührtem Ton. »Verlassen wir diesen Ort, ehe die Gesetzeshüter sich einfinden.«

Aurox folgte ihr. Sein Schritt war schwer, seine Hufe hinterließen tiefe Narben im verdreckten Asphalt der Gasse. Die Hände zu Fäusten geballt, versuchte er den wirren Strudel von Gefühlen zu verstehen, der ihn durchtoste und die Macht mit sich fortwehte, die zu seiner Kampfeswut geführt hatte.

Schwach. Er fühlte sich schwach. Und noch etwas. Da war noch etwas.

»Was ist?«, fuhr sie ihn an, als er zögerte, sich wieder ins Auto zu setzen.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich fühle –«

Sie lachte auf. »Du fühlst überhaupt nichts. Du grübelst eindeutig zu viel. Meine Klinge fühlt nichts. Mein Gewehr fühlt nichts. Du bist meine Waffe; du tötest. Dazu bist du da.«

»Ja, meine Priesterin.« Aurox stieg ins Auto und ließ die Welt an sich vorbeisausen. Ich denke nicht. Ich fühle nicht. Ich bin eine Waffe.

Aurox

»Was stehst du da und starrst mich an?«, fragte sie und musterte ihn mit einem Blick aus grünem Eis.

»Ich warte auf Euren Befehl, Priesterin«, sagte er mechanisch und fragte sich, womit er ihr Missfallen erregt hatte. Sie waren soeben in ihr Lager oben auf dem stattlichen Bauwerk, das man Mayo Building nannte, zurückgekehrt. Aurox war auf die Dachterrasse getreten, stand nun regungslos dort und sah die Priesterin an.

Sie ließ einen langen Atemzug entweichen. »Im Augenblick habe ich keine Befehle für dich. Und musst du mich ständig anstarren?«

Aurox wandte den Blick ab, betrachtete die Lichter der Stadt und den verlockenden Glanz, den sie in den Nachthimmel warfen.

»Ich warte auf Euren Befehl, Priesterin«, wiederholte er.

»Oh, bei allen Göttern! Muss das Gefäß, das für mich erschaffen wurde, wirklich so hirnlos sein, wie es hübsch ist?«

Aurox spürte die Veränderung in der Luft, schon ehe die Finsternis sich aus Rauch und Schatten und Nacht materialisierte. »Hirnlos, hübsch und tödlich …«, ertönte eine Stimme in seinem Kopf. Vor ihm nahm der gewaltige weiße Stier Gestalt an. Sein Atem war faulig und doch süß. Sein Blick war entsetzlich und zugleich wundervoll. Er war Mysterium und Magie und Chaos in einem.

Aurox fiel vor dem Wesen auf die Knie.

»Steh wieder auf. Steh auf und geh dorthin zurück …« Nachlässig deutete sie auf die Schatten, die in den äußersten Ecken der Terrasse lauerten.

»Nein, er soll bleiben. Es gefällt mir, meine Schöpfungen zu betrachten.«

Aurox blieb stumm und still. Die Priesterin beherrschte seinen Körper, doch dieses Wesen beherrschte seine Sinne.

»Schöpfungen?« Die Priesterin legte besondere Betonung auf den letzten Teil des Wortes, während sie sich lässig auf den riesigen Stier zubewegte. »Machst du deinen Anhängern oft Geschenke wie dieses?«

Das Gelächter des Stiers war schrecklich, aber die Priesterin zuckte nicht im Geringsten zusammen – im Gegenteil, es schien sie noch stärker anzuziehen.

»Wie spannend! Du zweifelst tatsächlich an mir. Bist du eifersüchtig, meine Herzlose?«

Die Priesterin strich dem Stier über ein Horn. »Habe ich denn Grund dazu?«

Der Stier liebkoste sie mit dem Maul. Dort, wo es sie berührte, schmolz die Seide ihres Kleides hinweg, und makellose nackte Haut kam darunter zum Vorschein.

Dann antwortete er seinerseits mit einer Frage. »Sag mir, was glaubst du, wozu mein Geschenk an dich dient?«

Die Priesterin blinzelte und schüttelte verwundert den Kopf. Dann wanderte ihr Blick zu Aurox, der noch immer auf den Knien ausharrte. »Zu meinem Schutz, mein Gebieter. Und zum Dank bin ich bereit, dir zu Diensten zu sein.«

»Ich nehme dein großzügiges Angebot gerne an, doch muss ich dir erklären, dass Aurox kein simpler Leibwächter ist. Aurox hat nur einen einzigen Daseinszweck, und das ist, Chaos zu schaffen.«

Die Priesterin sog staunend den Atem ein. Rasch blinzelte sie, dann wanderte ihr Blick von dem Stier zu Aurox und wieder zurück.

»Wahrhaftig?«, fragte sie ehrfürchtig. »Mit Hilfe dieser Kreatur kann ich über das Chaos gebieten?«

Die weißen Augen des Stiers glichen zwei trüben untergehenden Monden. »Wahrhaftig. Gewiss, er ist nur ein einziges Wesen, doch seine Macht ist groß. Er hat die Fähigkeit, eine Spur des Unheils zu hinterlassen. Er ist das Gefäß, das deinen tiefsten Sehnsüchten Gestalt verleiht, und kreisen diese nicht um völliges, bedingungsloses Chaos?«

»Ja, oh ja«, hauchte sie. Sie schmiegte sich an den Hals des Stiers und streichelte seine Flanke.

»Ah, was wirst du mit dem Chaos tun, nun, da es dir zu Gebote steht? Wirst du die Städte der Menschen einreißen und als Vampyrkönigin regieren?«

Ihr Lächeln war wunderschön und schrecklich. »Nicht als Königin. Als Göttin.«

»Göttin? Aber es gibt bereits eine Göttin der Vampyre. Das weißt du nur zu gut. Du standest einst in ihren Diensten.«

»Du meinst Nyx? Die Göttin, die ihren Untergebenen freie Wahl und einen eigenen Willen gestattet? Die Göttin, die sich niemals einmischt, weil sie so unerschütterlich an den Mythos vom freien Willen glaubt?«

Aurox glaubte in der Stimme der Bestie ein Lächeln zu hören und wunderte sich, wie das möglich war. »In der Tat meine ich Nyx, die Göttin der Vampyre und der Nacht. Würdest du ihr mit Hilfe des Chaos die Stirn bieten?«

»Nein. Ich würde sie besiegen. Was, wenn das Chaos das Gefüge der Welt selbst bedrohte? Würde dann Nyx nicht eingreifen und unter Missachtung ihrer eigenen Regeln ihre Kinder retten wollen? Und würde sie damit nicht ihr Edikt, das den Menschen den freien Willen gewährt, aufheben und Verrat an sich selbst üben? Was würde aus ihrer göttlichen Herrschaft, wenn sie den Lauf des Schicksals änderte?«

»Das kann ich nicht sagen, denn solches ist noch niemals geschehen.« Der Stier schnaubte sichtlich belustigt. »Doch es ist eine überraschend interessante Frage – und du weißt, wie gern ich überrascht werde.«

»Ich hoffe nur, dass ich dich wieder und wieder werde überraschen können, mein Gebieter.«

»Nur – welch ein kleines Wort …«, sagte der Stier.

Noch lange nachdem die Priesterin mit ihm verschwunden war, kniete Aurox unbeachtet und vergessen auf dem Dach. Er harrte aus, wo sie ihn zurückgelassen hatten, die Augen hinauf in den Himmel gerichtet.

Zwei

Zoey

»Ein Kleinbus? Das ist nicht dein Ernst.« Ich konnte nicht anders, als das gedrungene gelbe Ding anzustarren, auf dessen Seite in frischer schwarzer Farbe HOUSE OF NIGHT stand. »Ich meine, ist ja schön, dass mein Anruf bei Thanatos so schnell gewirkt hat und wir wieder zur Schule dürfen, aber ein Kleinbus?«

Erin war schon in Kichern ausgebrochen. »Die haben uns den Behindi-Express geschickt, Zwilling!«

»Das ist aber gemein, Zwilling«, sagte Shaunee.

»Und wie, Zwilling. Das gibt’s doch nicht, dass Neferet so scheiß-böse ist, dass sie uns ein Idiotentöfftöff schickt«, witzelte Erin weiter.

Shaunee verdrehte die Augen. »Ich mein’ doch nicht, dass Neferet gemein ist, ich mein’, es ist gemein, Behindi zu sagen.«

»Ich stimme dir voll und ganz zu, Shaunee, aber du solltest in Betracht ziehen, deinen Wortschatz zu erweitern. Dein ich mein’ ist redundant«, bemerkte Damien.

Shaunee, Erin, Stevie Rae, Rephaim und ich starrten ihn mit großen Augen an. Ich wusste, was wir alle dachten: nämlich dass wir uns wahnsinnig freuten, dass er sich wieder über unsere Ausdrucksweise aufregte, aber keiner von uns etwas sagen wollte, weil wir Angst hatten, dass er in Tränen ausbrechen und wieder in diesem depressiven Sumpf versinken würde, in dem er seit Jacks Tod gesteckt hatte.

Genau diesen Moment suchten sich Aphrodite und Darius aus, um aus dem Keller des Bahnhofs aufzutauchen, und wie immer überbrückte Aphrodite die Lücke zwischen Höflichkeit und Desaster mit Hilfe ihrer bewährten, unverrückbaren Methode: Was zählt, ist die Optik.

Sie schnaubte und warf ihr Haar zurück. »Oh nein. In das da steige ich nicht ein. Ich fahre mit keiner Sonderschulkutsche.«

»Ach Leute, so schlimm isses doch nich. Ich mein’, immerhin ist der Bus neu. Schaut mal, die Farbe ist noch ganz frisch«, mischte sich Stevie Rae ein.

Aphrodite sah sie vernichtend an. »Da kann ich auch gleich sozialen Selbstmord begehen.«

»Von dir lass ich mir nich die Nacht vermiesen. Ich geh gern in die Schule.« Stevie Rae stieg in den Bus und schenkte dem Sohn des Erebos, der ihr mit unnahbarer Miene die Tür aufhielt, ein Grinsen. »Priesterin«, begrüßte er sie schroff mit einem Nicken. Ohne unseren eigenen Sohn des Erebos, Darius, auch nur zu beachten, sah er mich an und sagte mit einem noch knapperen Nicken: »Zoey, mir wurde aufgetragen, dich und Stevie Rae darüber zu informieren, dass in dreißig Minuten eine Versammlung des Rats der Schule stattfindet. Ihr beide sollt daran teilnehmen.«

»Okay, gut, Stark ist ja schon unten und macht den anderen Dampf. Wir sind sofort bereit«, sagte ich lächelnd und tat, als ob sein Gesicht nicht wie eine Sturmwolke aussähe.

»Hey, Leute, der riecht sogar noch neu!«, schrie Stevie Rae. Ich sah ihren kurzen blonden Lockenschopf im Bus herumtanzen, während sie alles inspizierte. Dann kam sie wieder herausgehüpft, nahm Rephaims Hand und strahlte ihn an. »Willst du mit mir ganz hinten sitzen? Der Sitz federt total!«

»Ganz ehrlich«, sagte Aphrodite. »Du gehörst definitiv in diesen Bus. Und sosehr ich es hasse, dir die schlechte Nachricht mitteilen zu müssen – oh, halt, das ist gelogen, ich hasse es nicht – auch wenn der Hohe Rat Neferet offensichtlich so viel Druck gemacht hat, dass wir wieder in die Schule dürfen, dein Flattermann ist dort trotzdem nicht willkommen. Hat dich in den anderthalb Sekunden seit Sonnenuntergang, in denen er kein Vogel war und ihr sonstwas machen konntet, die Leidenschaft schon so benebelt?«

Stevie Raes Griff um Rephaims Hand verstärkte sich. »Und ich muss dir mitteilen, dass der Sonnenuntergang schon mehr als anderthalb Sekunden her ist, dass es dich nix angeht, was wir in der Zeit gemacht haben, und dass Rephaim in die Schule geht. Wie wir alle.«

Aphrodites blonde Brauen hoben sich bis zum Haaransatz. »Das ist wirklich dein Ernst, ja?«

»Ja«, sagte Stevie Rae fest. »Und grade von dir wär zu erwarten, dass du’s verstehst.«

»Ich? Verstehen? Was zum Teufel soll das schon wieder heißen?«

»Dass du kein Jungvampyr bist, weder ’n roter noch ’n blauer. Und auch kein Vampyr. Und vielleicht nich mal ’n Mensch.«

»Sondern ’ne Hexe«, hörte ich Shaunee flüstern.

»Der Hölle«, flüsterte Erin zurück.

Aphrodite funkelte die Zwillinge an, aber Stevie Rae war noch nicht fertig. »Genau wie Rephaim bist du was, was nich ganz normal ist, aber Nyx hat ihren Segen dazu gegeben – selbst wenn keiner von uns so recht kapiert, warum. Jedenfalls – du gehst in die Schule. Ich geh in die Schule. Also geht Rephaim auch. Punkt.«

»Da ist was dran«, bemerkte Stark, der an der Spitze der roten Jungvampyre auf dem Parkplatz eintraf. »Neferet wird Gift und Galle speien, aber Nyx hat Rephaim vergeben und ihn gesegnet.«

»Vor der gesamten Schule«, fügte Stevie Rae schnell hinzu.

»Das wissen sie«, sagte Rephaim leise zu ihr. Dann ließ er den Blick über uns alle schweifen und fasste zuletzt mich ins Auge. »Was denkst du?«, fragte er zu meiner totalen Überraschung. »Soll ich versuchen, ins House of Night zu gehen, oder würde das nur unnötigerweise zu Ärger führen?«

Alle starrten mich an. Mit einem raschen Blick auf den steinern blickenden Sohn des Erebos im Bus sagte ich: »Äh, würdet ihr anderen schon mal einsteigen? Ich muss mit meinem, äh …« Ich verstummte und machte eine Geste, die Aphrodite, Stevie Rae und den Rest meiner engsten Freunde einschloss.

Stevie Rae lächelte mich an. »Deinem Kreis. Du musst mit deinem Kreis reden.«

»Und dessen Appendizes«, sagte Damien und nickte Aphrodite, Darius und Kramisha zu.

Ich grinste. »Klingt gut. Okay, steigt ihr bitte in den Bus, während ich mit meinem Kreis und seinen Appendizes rede?«

»Weiß ich nicht, ob ich gern Appendix bin«, brummte Kramisha mit einem ungehaltenen Blick auf mich.

»Das heißt –«, wollte Stevie Rae anfangen, aber Kramisha schüttelte den Kopf. »Weiß ich, was heißt. Erstens Anhängsel, zweitens Blinddarm. Bin ich Blinddarm oder was?«

»Könntet ihr das später ausdiskutieren und jetzt die Klappe halten, damit wir uns beraten können?«, fragte Aphrodite. Kramisha holte Luft und funkelte sie an, aber Aphrodite fuhr fort: »Und fürs Protokoll: Ihr«, sie zeigte auf uns alle außer Darius, »seid die Streberclique. Ich bin euer Vorzeige-It-Girl.«

Die Zwillinge machten sich schon für den Gegenschlag bereit, deshalb sagte ich: »Lasst das bitte. Rephaims Frage ist echt wichtig.« Zum Glück brachte das alle zum Schweigen, und ich winkte meinen Kreis samt Appendizes und Aphrodite außer Hörweite, während die roten Jungvampyre in den Bus kletterten und ich mir krampfhaft zu überlegen versuchte, was ich auf Rephaims extrem wichtige Frage antworten sollte.

In meinem Kopf war ein ziemlicher Brei. Die Nacht war so scheußlich gewesen. Ich schielte zu Stark hinüber und spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Okay, nicht alles daran war scheußlich gewesen, aber trotzdem war mein Gehirn voll bitterer Fragen. Ich gab mir einen Ruck. Ich war kein Kind mehr. Ich war die erste Jungvampyr-Hohepriesterin aller Zeiten, und diese Leute sahen zu mir auf und erwarteten, dass ich den Durchblick hatte (na gut, außer in Geometrie, Spanisch-Übersetzungen und rückwärts einparken).

Bitte, Nyx, lass mich das Richtige sagen, schickte ich rasch ein Gebet in die Nacht. Dann sah ich Rephaim an und erkannte plötzlich, dass es nicht darauf ankam, was ich sagen würde.

»Was willst du denn?«, fragte ich.

»Also, er will –«, fing Stevie Rae an, aber ich hob die Hand, und sie verstummte. »Nein. Ich will nicht wissen, was du glaubst, was er will, oder was du für ihn willst. Ich wüsste gern, was er selbst denkt. Also, wie ist es? Was willst du?«, wiederholte ich.

Rephaim erwiderte unverwandt meinen Blick. »Ich möchte normal sein.«

Aphrodite schnaubte. »Tja, normal und noch nicht erwachsen bedeutet in die ätzende Schule gehen.«

»Schule ist nicht ätzend«, sagte Damien und wandte sich an Rephaim. »Aber mit dem normal hat sie recht. Normale Jugendliche gehen zur Schule.«

»Jep«, sagte Shaunee.

»Ist zwar nervig, aber jep«, bestätigte Erin. »Wenigstens gibt Schule normalerweise ’ne coole Modenschau ab.«

Shaunee nickte. »Hast recht, Zwilling.«

»Was bedeutet das?«, fragte Rephaim Stevie Rae.

Sie lächelte. »Im Prinzip, dass du mit uns zur Schule kommen solltest.«

Er erwiderte das Lächeln, und sein Gesicht erstrahlte vor Liebe und Wärme. Er strahlte immer noch, als er sich mir zuwandte, und ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

»Wenn es normal ist, zur Schule zu gehen, dann möchte ich das sehr gerne tun. Wenn es nicht zu große Probleme bereitet.«

»Probleme wird es geben, da darfst du dir nichts vormachen«, sagte Darius.

»Glaubst du, er sollte es lieber lassen?«, fragte ich.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich stimme dir zu, dass es seine Entscheidung ist. Aber Rephaim, ich will dir nur klarmachen, dass es leichter wäre, wenn du hier in Deckung bliebest, wenigstens bis wir wissen, was Neferet und Kalona als Nächstes planen.«

Mir kam es vor, als zuckte Rephaim bei der Erwähnung seines Dads ein bisschen zusammen, aber er nickte. »Ich verstehe, aber ich bin es leid, mich allein im Dunkeln verborgen zu halten.« Wieder sah er zu Stevie Rae, dann blickte er uns an. »Und vielleicht braucht mich Stevie Rae ja.«

»Hört mal, dieses ganze ›lass Flattermann entscheiden‹ und ›vielleicht braucht mich Stevie Rae‹-Gerede ist ja schön und gut, aber Tatsache ist, die Schule, von der wir reden, wird von einer verrückten Hohepriesterin beherrscht, die uns hasst und die vor nichts zurückschrecken wird, um uns, und damit meine ich spezifisch dich, Z, zu erledigen. Abgesehen davon ist Dragon, der Anführer der Söhne des Erebos, auch latent gestört, seit seine Frau von dem Typen, den wir wieder mit auf den Campus bringen, abgemurkst wurde. Neferet wird Rephaim gegen uns verwenden. Und Dragon wird sie darin unterstützen. Dann haben wir den Salat.«

»Na ja«, meinte ich, »wäre nicht das erste Mal.«

»Äh, darf ich mal was sagen?« Damien hielt die Hand hoch wie im Unterricht.

»Klar, du musst dich nicht melden«, sagte ich.

»Oh, okay, danke. Ich wollte nur erwähnen, wir sollten bedenken, dass Nyx, als sie Rephaim vor uns allen vergab und ihn segnete, uns damit praktisch die Erlaubnis gab, ihn in unsere Welt zu integrieren. Dagegen kann Neferet nichts tun – wenigstens nicht in aller Öffentlichkeit. Und Dragon auch nicht. Wie glücklich sie damit sind, steht nicht zur Debatte.«

»Aber sie haben schon was getan«, sagte Stark. »Neferet hat Dragon gefragt, ob er Rephaim akzeptieren würde, und als Dragon nein gesagt hat, hat sie Rephaim vom Campus geworfen. Und weil Stevie Rae das nicht auf sich hat sitzenlassen, sind wir schließlich alle gegangen.«

»Ja, und nur weil der Hohe Rat Neferet irgendwie dazu gebracht hat, uns wieder zur Schule kommen zu lassen, heißt das nicht, dass wir voll akzeptiert sein werden. Ich kann euch versprechen, dass sie und Dragon und vermutlich eine Menge anderer Leute das hier«, Aphrodite zeigte auf Rephaim, »überhaupt nicht mögen werden.«

Bevor ich etwas sagen konnte, ergriff Damien das Wort. »Aber eines ist klar: Weder Neferet noch Dragon können sich über das Verdikt der Göttin hinwegsetzen.«

»Wer tickt?«, fragte Shaunee.

»Wo dick?«, fügte Erin hinzu.

»Verdikt heißt Urteil«, erklärte Stevie Rae. »Das ist ’n spannender Punkt, Damien. Niemand kann sich über die Göttin hinwegsetzen, nich mal ’ne Hohepriesterin.«

Aphrodite hob die Augenbrauen. »Könnt ihr euch vorstellen, was der verklemmte Hohe Rat dazu sagen würde? Die würden Zustände kriegen. Multiple Zustände. Jede Einzelne von denen.«

Ich blinzelte und hatte plötzlich das Bedürfnis, Aphrodite zu umarmen. Okay, es verging schnell wieder, aber trotzdem.

»Aphrodite«, sagte ich, »du bist ein Genie. Und Damien auch.«

Aphrodite war nicht beeindruckt. »Ja, natürlich.«

»Du willst Neferet und Dragon beim Hohen Rat anschwärzen, ja?«, fragte Damien.

»Ich weiß nicht, ob man es ›anschwärzen‹ nennen sollte. Hast du deinen Laptop dabei?«

Damien klopfte auf die Männerhandtasche, die er immer über der Schulter trug. »Ist in meiner Mappe.«

»Männerhandtasche«, warf Shaunee ein.

»Wollte ich gerade sagen«, sagte Erin.

»Das ist eine europäische Schulmappe«, protestierte er.

»Wenn’s Federn hat …«, erklärte Erin.

»Und quakt …«, fügte Shaunee hinzu.

»Egal was es ist – gut, dass du den Rechner dabeihast«, ging ich dazwischen, bevor Damien sich angegriffen fühlen konnte. »Skype ist drauf, oder?«

»Ja.«

»Sehr gut. Ich würde ihn mir gern für die Ratssitzung ausleihen, wenn das okay ist?«

»Natürlich.« Damien sah mich mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.

»Was haste für’n Plan?«, stellte Stevie Rae seine Frage laut.

»Na ja, als ich Thanatos bat, uns zu helfen, dass wir wieder zur Schule gehen dürfen, hab ich nicht so wirklich erwähnt, dass wir hier sozusagen ’ne Art eigenes House of Night aufgemacht haben, aber trotzdem noch in unserem alten House of Night in die Schule wollen und so weiter.«

»Wir sollten uns einen richtig coolen Namen für unser House of Night ausdenken«, sagte Shaunee.

»Oooh! Auf jeden Fall, Zwilling!«, rief Erin.

»Hey, es ist ein Bahnhof, also wie wär’s mit ›House of Night Endstation‹?«

Ich sah die beiden an. Schüttelte den Kopf und sagte fest: »Nein.« Dann kehrte ich zu meinem vorigen Thema zurück. »Um die Erlaubnis dafür zu erhalten, sollte ich definitiv im großen Stil mit dem Hohen Rat konferieren. Und eine Schulratssitzung scheint mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein. Vor allem weil es Neferet total schmeicheln wird, wenn ich sie bitte, Zeuge dabei zu sein.«

»Z, der Plan ist scheiße«, sagte Aphrodite. »Neferet wird mit Freuden mit dem Hohen Rat reden und garantiert einen Weg finden, alles, was du sagst, so zu verdrehen, dass du wie ein durchgeknallter Teenie dastehst.«

»Ungefähr darauf will ich aber hinaus«, sagte ich. »Nur dass ich nicht wie ein durchgeknallter Teenie dastehen werde. Sondern wie eine Jungvampyr-Hohepriesterin, die dem Hohen Rat in allen Details erzählen wird, wie wundersam Rephaim, der Gefährte unserer roten Hohepriesterin, von Nyx beschenkt wurde und wie sehr er sich freut, im House of Night von Tulsa in die Schule zu gehen. Bestimmt wird der Rat Neferet sogar dazu gratulieren wollen, wie sie als Hohepriesterin mit all diesen erstaunlichen Neuheiten fertig wird.«

»Gerissener Plan. Gefällt mir«, sagte Aphrodite. »So bringst du Neferet und sogar Dragon in eine Lage, in der sie sich überhaupt nicht beliebt machen, falls sie es ablehnen, unseren Flattermann hier aufzunehmen, oder deswegen herummeckern.«

»Es wird trotzdem kein einfacher Weg«, sagte Stark.

Rephaim sah ihn ruhig an. »Egal wie steinig er sein mag, er ist besser als jener, der in Finsternis, Hass und Tod führt. Ich glaube, du weißt genau, was ich meine.«

»Ja. Ich weiß.« Auch Starks Blick war ruhig.

»Ich auch«, sagte Stevie Rae.

»Ich auch«, fügte ich hinzu.

»Dann ist es beschlossen. Rephaim kommt mit uns zum House of Night«, sagte Darius.

»Halt, wartet. Heißt das etwa, wir müssen jetzt doch in diesen verfluchten Deppenexpress steigen?«, fragte Aphrodite.

»Ja!«, riefen wir alle im Chor und fingen an zu lachen.

Ich fühlte mich so leicht wie seit Tagen nicht mehr, als ich mit meinen Freunden in den Bus einstieg. Während wir uns auf den Sitzen niederließen, rempelte ich Stark spielerisch mit der Schulter an. Er sah nicht mal richtig auf. Da wurde mir bewusst, dass er seit dem Aufstehen nur das Nötigste mit mir (oder irgendjemand anderem) geredet hatte. Das verwirrte mich, vor allem weil es in der Nacht so schön gewesen war und seine Zärtlichkeit meine Welt wieder zurechtgerückt hatte. Ich nagte an meiner Unterlippe und warf ihm verstohlen einen Blick zu. Er starrte aus dem Fenster und sah müde aus. Wahnsinnig müde.

»Hey, was ist los mit dir?«, fragte ich, während der Bus über die Cincinnati Street in Richtung Zentrum holperte.

»Was? Nichts.«

»Ehrlich, du siehst total müde aus. Alles okay?«

»Zoey, du hast mich tagsüber aufgeweckt und fast den ganzen Tag wach gehalten. Dann hast du mit Thanatos telefoniert, um diese Zurück-zur-Schule-Sache anzukurbeln, was nicht gerade leise war. Ich war gerade wieder eingeschlafen, da hast du irgendwas gebrüllt und mich wieder aufgeweckt. Okay, was dann kam, war echt schön.« Er hielt inne und lächelte flüchtig, was ihn fast normal aussehen ließ. Dann aber machte er den Eindruck wieder zunichte, indem er sagte: »Danach hast du dich noch ’ne Weile total heftig im Bett hin und her gewälzt, bevor du wieder weggetreten bist. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Das ist alles.«

Ich sah ihn an und blinzelte. Zweimal. Und versuchte, nicht das Gefühl zu haben, als hätte er mir gerade ins Gesicht geschlagen. Mit gesenkter Stimme, weil ich nicht wollte, dass all meine Freunde es mitbekamen, sagte ich: »Also, abgesehen von dem Anruf bei Thanatos, den ich machen musste, weil ich die amtierende Hohepriesterin bin, und der Tatsache, dass du plötzlich zur Sache gehen wolltest, als ich mich nur zusammenrollen und schlafen wollte, ist meine Mom gestorben, Stark. Nyx hat mich mit ansehen lassen, wie sie in die Anderwelt aufgenommen wurde. Ich hab immer noch keine Ahnung, wie und warum das passiert ist. Ich bemüh mich wie blöd, halbwegs normal zu handeln. Ich hab noch nicht mal mit meiner Grandma geredet.«

»Genau, hast du nicht. Ich hab dir doch gesagt, du hättest sie gleich anrufen sollen – oder von mir aus deine Mom persönlich. Was, wenn das Ganze nur ein Traum war?«

Ich starrte ihn in völligem Unglauben an und hatte Mühe, meine Stimme und meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Von allen Leuten auf der Welt bist du derjenige, der wissen sollte, dass ich sehr gut auseinanderhalten kann, ob ich von der Anderwelt träume oder ob ich sie wirklich sehe.«

»Ja, schon, aber –«

»Aber? Willst du etwa sagen, dass ich das alles mit mir allein hätte ausmachen sollen, statt deinen kostbaren Schlaf zu stören? Außer vielleicht um Sex mit dir zu haben?«

Da bemerkte ich, wie Aphrodite sich umdrehte und mich mit einem Fragezeichen im Gesicht ansah. Ich klappte den Mund zu und versuchte unbekümmert auszusehen.

Stark ließ langsam den Atem entweichen. »Nein, so meine ich das nicht. Sorry, Z.« Er nahm meine Hand. »Mann, ich klinge wie ein Arschloch.«

»Ja.«

»Sorry nochmals«, sagte er, und jetzt gab er mir einen Knuff mit der Schulter. »Können wir die Unterhaltung noch mal zurückspulen?«

»Ja«, sagte ich.

»Okay, von vorne: Ich bin müde, deswegen kann ich nicht mehr klar denken. Und was deine Mom angeht: Ich glaube, es macht uns beide ganz verrückt, dass wir nicht wissen, was passiert ist. Aber egal was, ich liebe dich, auch wenn ich ein Arschloch bin. Okay? Besser?«

»Ja. Besser.«

Ich ließ ihn weiter meine Hand halten und sah zum Fenster hinaus, während wir nach links in die Fünfzehnte Straße einbogen, Gumpy’s Garden passierten, wo es immer nach Piñon-Kiefern duftete, und weiter die Cherry Street entlangschaukelten. Auf der Utica Street, Ecke Einundzwanzigste Straße war ich ganz in der Sorge um meine Mom und meine Grandma versunken – und der Frage, ob Stark nicht vielleicht doch recht hatte, an dem zu zweifeln, wovon ich dachte, es sei eine Vision gewesen. Ich meine – ich hatte nichts von Grandma gehört. Was, wenn alles nur ein Traum gewesen war?

»Sie ist immer so schön«, erreichte mich Damiens Stimme vom vordersten Sitz, den er sich automatisch ausgesucht hatte. »Wenn man sie von hier aus sieht, kann man kaum glauben, was für schreckliche, jammervolle Dinge dort passieren konnten.«

In seiner Stimme schwang ein winziger Schluchzer mit. Ich drückte noch einmal Starks Hand, ließ sie los, balancierte den Mittelgang entlang und setzte mich neben Damien.

»Hey.« Ich hakte mich bei ihm unter. »Denk daran, dass dort auch schon herrliche, wundervolle Dinge passiert sind. Zum Beispiel haben du und Jack euch dort getroffen.«

Damien sah mich an, tieftraurig, aber irgendwie sehr reif. »Wie geht’s dir ohne Heath?«

»Ich vermisse ihn«, sagte ich ehrlich. Aus einem Impuls heraus fügte ich hinzu: »Aber ich will mich nicht wie Dragon vom Kummer zerfressen lassen.«

»Ich auch nicht«, sagte er leise. »Auch wenn’s manchmal schwerfällt.«

»Es ist noch so frisch.«

Mit zusammengepressten Lippen, als müsste er das Weinen unterdrücken, nickte er.

»Du kommst da durch«, sagte ich. »Und ich auch. Wir beide. Gemeinsam.«

Dann passierten wir das eiserne Tor mit dem Mondsichel-Wappen in der Mitte und fuhren um die Schule herum bis zum Seiteneingang.

»Die Ratssitzung beginnt um neunzehn Uhr dreißig«, erklärte der Sohn des Erebos, als der Bus stand. »Der Unterricht fängt wie immer um Punkt zwanzig Uhr an.«

»Vielen Dank«, sagte ich, als hätte er freundlich (oder wenigstens respektvoll) geklungen. Dann sah ich auf mein Handy: zwanzig nach sieben. Noch zehn Minuten bis zur Sitzung und vierzig, bis die Schule losging. Ich stand auf und ließ den Blick über die sichtlich nervösen Kids hinter mir schweifen.

»Okay«, sagte ich. »Geht am besten in eure alten Klassenräume und wartet dort ab. Stevie Rae, Stark und ich gehen zur Ratssitzung und tun uns nach euren Stundenplänen um, wie man auf der Isle of Skye sagen würde.«

»Und ich? Geh ich nicht zu Sitzung?«, fragte Kramisha. »Ist zwar meistens langweilig, wird aber heute bestimmt besser als sonst.«

»Hast recht«, sagte ich. »Wird Zeit, dass die dich auch automatisch einladen, so wie Stevie Rae und mich.«

»Und wohin soll ich gehen?«, fragte Rephaim aus der hintersten Sitzreihe.

Ich überlegte, wohin zum Henker er gehen sollte, da stand Damien auf. »Du kannst fürs Erste mit mir kommen. Falls Zoey und Stevie Rae nichts dagegen haben.«

Ich lächelte ihn an. Ich glaube, ich war noch nie so stolz auf ihn gewesen. Garantiert würden alle befürchten, dass er jederzeit in Heulkrämpfe ausbrechen würde, und ihn wie ein rohes Ei behandeln, und niemand würde offen etwas dagegen zu sagen wagen, wenn er sich mit Rephaim zusammentat. »Danke.«

»Superklasse, danke, Damien«, sagte Stevie Rae.

»Gut.« Ich wandte mich wieder an alle. »Versucht euch ganz normal zu verhalten. Nach der Schule treffen wir uns hier.«

»Ich hatte früher in der ersten Stunde Zauber und Rituale«, hörte ich Aphrodite Darius zuflüstern. »Da gibt’s jetzt diese neue Lehrerin, die aussieht wie zwölf. Das wird sicher lustig.«

Stevie Rae schenkte ihr einen bösen Blick. »Hallo, nett sein. Denk dran.«

Einer nach dem anderen stiegen wir aus dem Bus. Ich merkte Stevie Rae an, wie schwer es ihr fiel, Rephaim mit Damien ziehen zu lassen. Wir hatten keine Ahnung, was ihn erwartete, aber die Chance, dass man ihn freudig willkommen heißen und wie einen normalen Schüler behandeln würde, war gleich null.

Als Stevie Rae, Stark, Kramisha und ich allein waren, sagte ich: »Na, bereit für die Höhle des Löwen?«

»Kommt mir eher vor wie ekliges Wespennest. Aber bin ich bereit.«

»Ich auch. Augen zu und durch!«

»Und los geht’s!«, sagte ich.

»Los geht’s«, echoten sie.

Und wir schritten in die Zukunft hinein, was schon in diesem Moment dazu führte, dass sich mein Magen zusammenzog und ich das Gefühl hatte, gleich wieder nervösen Durchfall zu kriegen.

Mist aber auch.

Drei

Kalona

Er musste nicht lange fliegen, um seine Söhne zu finden. Mühelos folgte er dem unsichtbaren Faden, der ihn mit seiner Brut verband. Denjenigen, die mir die Treue halten, dachte er, während er über den bewaldeten sanften Hügeln südwestlich von Tulsa kreiste. Über dem Gipfel des höchsten Bergrückens ging er schließlich nieder, segelte elegant zwischen dicken, kahlen Winterästen hindurch und landete in der Mitte einer kleinen Lichtung. In die Bäume ringsum waren drei roh gezimmerte, aber stabile hölzerne Buden gebaut worden. In den Öffnungen erfasste Kalonas scharfer Blick mehrere rotglühende Punkte, die auf ihn gerichtet waren.

»Ja, meine Söhne, ich bin zurück!«

Das Schlagen der Flügel war Balsam für seine Seele. Aus allen drei Hütten schwärmten sie hervor, knieten rund um ihn nieder und neigten tief und respektvoll die Köpfe. Kalona zählte sie – es waren sieben.

»Wo sind die anderen?«

Alle Rabenspötter zeigten Anzeichen von Unruhe, doch nur einer hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Nur eine zischende Stimme antwortete ihm.

»Woandersss versssteckt. Wesssten. Nicht wisssen.«

Kalona musterte den Sprecher, Nisroc, und zog im Geiste Bilanz, was diesen Rabenspötter von jenem unterschied, der sein Liebling gewesen war. Nisroc war fast so fähig wie Rephaim. Seine Sprache war beinahe menschlich, sein Verstand beinahe scharf. Aber dieses beinahe, dieser feine Unterschied war es, der Rephaim zu Kalonas unentbehrlichem Begleiter gemacht hatte und nicht Nisroc.

Er presste die Kiefer aufeinander und lockerte sie wieder. Er war dumm gewesen, einzig Rephaim solche Aufmerksamkeit zu schenken, wo er doch so viele Söhne hatte, unter denen er seine Gunst aufteilen konnte. Rephaim indessen hatte sich bitteren Schaden zugefügt, indem er sich abgewandt hatte. Denn Rephaim hatte nur einen Vater und würde in einer unzugänglichen Göttin und einer Vampyrin, die ihn niemals wirklich würde lieben können, nur einen armseligen Ersatz finden. »Ich freue mich, dass ihr hier seid«, sagte er und versagte sich jeden weiteren Gedanken an seinen verlorenen Sohn. »Doch es wäre besser gewesen, wenn ihr zusammengeblieben wärt.«

»Konnte ssssie nicht aufhalten«, sagte Nisroc. »Rephaim tot –«

»Rephaim ist nicht tot!«, grollte Kalona, woraufhin Nisroc erzitterte und den Kopf senkte. Der geflügelte Unsterbliche zwang sich zur Ruhe, ehe er fortfuhr. »Auch wenn es besser für ihn wäre, tot zu sein.«

»Vater?«

»Er hat sich entschlossen, der roten Vampyrpriesterin und ihrer Göttin zu dienen.«

Die Rabenspötter zischten und duckten sich, als hätte er sie geschlagen.

»Wie issst möglich?«, fragte Nisroc.

»Schuld daran sind die Weiber und ihre heimtückischen Ränke«, gab Kalona düster zur Antwort. Er wusste nur zu gut, wie man diesen zum Opfer fallen konnte. Selbst ihn hatte ihre Arglist zu Fall gebracht …

In plötzlicher Erkenntnis blinzelte der Unsterbliche und sagte mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn: »Doch ihre Tücke ist nicht von Dauer!« Beinahe lächelnd schüttelte er den Kopf. »Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht? Rephaim wird es leid werden, der Roten als Spielzeug zu dienen. Dann wird er erkennen, welchen Fehler er gemacht hat – einen Fehler, der nicht nur ihm anzulasten ist. Die Rote hat ihn betört, vergiftet, gegen mich aufgehetzt. Doch nur vorübergehend! Wenn sie ihn zurückweist – und das wird unweigerlich geschehen –, wird er das House of Night verlassen und zu mir …«

Er brach ab und traf eine schnelle Entscheidung. »Nisroc, nimm zwei deiner Brüder mit dir. Fliegt zum House of Night. Beobachtet es. Seid wachsam. Beschattet Rephaim und die Rote. Falls sich die Gelegenheit bietet, sprich mit ihm. Sag ihm, obwohl er diesen schrecklichen Fehler gemacht und sich von mir abgewandt hat …« Kalona verstummte und biss wieder die Zähne zusammen, weil ihm die Trauer und Einsamkeit, die ihn überkamen, wenn er zu lange über Rephaims Entschluss nachdachte, großes Unwohlsein verursachten. Der geflügelte Unsterbliche ordnete seine Gedanken, brachte seine Gefühle unter Kontrolle und fuhr mit den Anweisungen fort. »Sag Rephaim, trotz seines törichten Entschlusses, mich zu verlassen, wartet noch immer ein Platz an meiner Seite auf ihn – allerdings sollte dieser Platz vorerst besser im House of Night sein, auch nachdem er sich besonnen hat.«

»Er ssspioniert!«, zischte Nisroc. Das schneidende Krächzen der anderen Rabenspötter spiegelte seine Erregung wider.

»Ja, obgleich er derzeit noch nichts davon ahnt«, bestätigte Kalona. Dann fügte er hinzu: »Verstehst du, Nisroc? Du sollst ihn beobachten. Dich von niemandem außer ihm sehen lassen.«

»Nicht Vampyre töten?«

»Nein, außer sie bedrohen dich – dann tu, was du willst, nur lass dich nicht fangen und töte keine Hohepriesterin«, sagte Kalona langsam und deutlich. »Es ist niemals klug, unnötigerweise eine Göttin gegen sich aufzubringen, daher lass die Hohepriesterinnen der Nyx am Leben.« Finster blickte er seinen Sohn an. Nur zu gut erinnerte er sich an jenes andere seiner Kinder, das unlängst versucht hatte, Zoey Redbird zu töten – und dafür gestorben war. »Hast du verstanden, Nisroc?«

»Ja. Sssage Rephaim. Sssoll beobachten. Sssoll ssspionieren.«

»So ist es. Kehrt zurück, ehe der Morgen am Himmel dämmert. Fliegt hoch. Fliegt schnell. Fliegt lautlos. Seid wie der Nachtwind.«

»Ja, Vater.«

Kalona sah sich um. Zufrieden nickte er beim Anblick des dichten Unterholzes, froh, dass seine Kinder ihren Horst an einem so hochgelegenen, einsamen Ort errichtet hatten.

»Kommen nicht manchmal Menschen hierher?«

»Nur Jäger, und jetzzzt nicht mehr.«

Kalona hob die Augenbrauen. »Ihr habt Menschen getötet?«

»Zzzwei.« Erregt wippte Nisroc auf und ab. »Haben sssie gegen Felsssen geworfen.« Er wies mit der Hand nach vorn. Neugierig schritt Kalona dorthin. Über die steil abfallende Flanke des Bergrückens verliefen auf hohen Masten die dicken Stränge, in denen die elektrische Magie der modernen Welt transportiert wurde. Die Menschen hatten die unmittelbare Umgebung der Masten gerodet, so dass sich ein breiter, kahler Streifen bis an den Horizont erstreckte. Aus dem gerodeten Land ragten scharf gezackte Spitzen aus Oklahoma-Sandstein auf, blank und tödlich wie Reißzähne.

Kalona nickte anerkennend. »Hervorragend. Ihr habt es aussehen lassen wie einen Unfall. So ist es recht.« Er wandte sich wieder der Lichtung und den Rabenspöttern zu, deren Aufmerksamkeit ganz auf ihn gerichtet war. »Dieser Ort ist gut gewählt. Ich wünsche, dass all meine Söhne sich hier einfinden. Nisroc, flieg du nach Tulsa und führe meinen Befehl aus. Ihr anderen schwärmt nach Westen aus. Ruft eure Brüder – ruft sie hierher zu mir. Hier werden wir abwarten. Hier werden wir auf der Lauer liegen. Und uns vorbereiten.«

Nisroc legte den Kopf schräg. »Vorbereiten? Worauf, Vater?«

Kalona dachte daran, wie ihm die Seele aus dem gefangenen Körper gerissen und in die Anderwelt geschickt worden war. Er dachte daran, wie sie ihn nach seiner Rückkehr ausgepeitscht, versklavt und behandelt hatte, als sei er ihr Besitz, über den sie gebieten konnte.

»Auf Neferets Vernichtung.«

Rephaim

All ihre Blicke waren voller Misstrauen. Rephaim hasste es, konnte es aber verstehen. Er war ihr Feind gewesen. Ein Monstrum, das eine der Ihren getötet hatte.

Ehrlich gestanden, ein Monstrum war er noch immer.

Als in der dritten Stunde eine Lehrerin namens Penthesilea eine Lektion über das Buch eines uralten Vampyrs namens Ray Bradbury, Fahrenheit 451, und die Wichtigkeit von Gedanken- und Ausdrucksfreiheit zu halten begann, versuchte er, seinen neuen menschlichen Zügen den Anschein von Aufmerksamkeit und Interesse zu verleihen, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er hätte der Lehrerin gern zugehört und sich ganz mit dem beschäftigt, was sie ›die Symbolik entziffern‹ nannte, doch ständig überkam ihn die Erinnerung an seine Verwandlung in den Raben.

Sie war entsetzlich und schmerzhaft gewesen – und doch aufregend.

Und von dem, was danach mit ihm geschehen war, wusste er fast gar nichts mehr. Alles, was ihm vom Tag und seiner Rabengestalt blieb, waren Bilder und Gefühle.

Stevie Rae hatte ihn aus den tiefen Tunneln zu dem Baum neben dem Bahnhof begleitet – demjenigen, der sie beide vor nicht allzu langer Zeit vor der sengenden Sonne gerettet hatte.

Er hatte sacht ihre Wange berührt. »Geh zurück. Der Morgen naht.«

Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gezogen. »Ich will dich nich verlassen.«

Nur kurz hatte er sich erlaubt, die Umarmung zu erwidern. Dann hatte er sanft ihre Arme von sich gelöst und sie mit fester Hand in den schattigen, vergitterten Eingang des Kellers zurückgeführt.

»Geh nach unten. Du bist müde. Du musst schlafen.«

»Ich will dabei sein, wie du, äh, du weißt schon. Ein Vogel wirst.«

Die letzten Worte hatte sie geflüstert, als könnte das Unausweichliche verschwinden, wenn man es nicht laut aussprach. Es war töricht, aber es brachte ihn zum Lächeln. »Ob du es aussprichst oder nicht, spielt keine Rolle. Es wird geschehen.«

Sie seufzte. »Ich weiß. Aber ich will dich trotzdem nich verlassen.« Sie hatte den Arm in den heller werdenden Morgen hinausgestreckt und seine Hand genommen. »Ich will, dass du weißt, dass ich hier auf dich warte.«

»Ich glaube nicht, dass ein Vogel viel von der menschlichen Welt begreift«, hatte er gesagt, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.

»Du verwandelst dich nich in irgendeinen Vogel. Sondern in einen Raben. Und ich bin kein Mensch. Sondern ein Vampyr. Ein roter. Außerdem, wenn ich nich hierbleibe, woher weißt du dann, wohin du zurückkommen musst?«

In ihrer Stimme war ein Schluchzer, der ihm das Herz zusammenschnürte.

Er küsste ihre Hand. »Ich werde es wissen. Das schwöre ich dir. Ich werde immer zu dir zurückfinden.« Und er hatte ihr einen kleinen Schubs geben wollen, damit sie tiefer in den Eingang zurückwich. Da war ein unerträglicher Schmerz durch ihn gefahren.

Im Nachhinein erkannte er, dass er damit hätte rechnen müssen. Wie sollte es nicht schmerzhaft sein, sich von einem Menschen in einen Raben zu verwandeln? Doch seine Welt war von Stevie Rae erfüllt gewesen, von dem schlichten und doch so vollkommenen Glück, sie in die Arme zu nehmen, sie zu küssen, sie ganz nah bei sich zu spüren …

Um das Tier hatte er sich keine Gedanken gemacht.

Nun, beim nächsten Mal würde er vorbereitet sein.

Der Schmerz schien ihn zu zerreißen. Durch seinen eigenen Schrei hörte er auch Stevie Rae schreien. Sein letzter menschlicher Gedanke war die Sorge um sie. Sein letzter menschlicher Blick erfasste sie, wie sie weinend und wild den Kopf schüttelte. Noch immer streckte sie die Hand nach ihm aus, während der Mensch ganz dem Tier weichen musste. Er erinnerte sich, wie er die Flügel ausgebreitet hatte, als wäre er lange in einer winzigen Zelle gefangen gewesen. Oder einem Käfig. Und wie er geflogen war.

Ja, ans Fliegen erinnerte er sich.

Bei Sonnenuntergang hatte er sich nackt und frierend unter demselben Baum neben dem Bahnhof wiedergefunden. Kaum hatte er sich die Kleidung angezogen, die sauber gefaltet auf einem Hocker lag, da kam Stevie Rae aus dem Keller gestürmt.

Ohne zu zögern, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen.

»Alles okay? Geht’s dir wirklich gut?«, hatte sie wieder und wieder gefragt, ihn eingehend gemustert und seine Arme abgetastet, als suchte sie nach gebrochenen Knochen.

»Es geht mir gut«, versicherte er. Erst da bemerkte er, dass sie weinte. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Was ist los? Warum weinst du?«

»Weil’s dir so weh getan hat. Du hast geschrien, als ob du stirbst.«

»Nein«, log er. »So schlimm war es nicht. Nur überraschend.«

»Echt und ehrlich?«

Er hatte gelächelt – oh, wie er es liebte zu lächeln –, sie in die Arme gezogen, sie auf die blonden Locken geküsst und ihr versichert: »Echt und ehrlich.«

»Rephaim?«

Die Stimme der Lehrerin riss ihn zurück in die Gegenwart.

»Ja?«, antwortete er, ebenfalls fragend.

Sie lächelte nicht, doch sie verspottete oder tadelte ihn auch nicht. Sie sagte nur: »Ich habe dich gefragt, was du über das Zitat auf Seite sieben denkst, wo Montag sagt, Clarisses Gesicht erstrahlte in einem Licht wie ›zarter Milchkristall‹ und sei wie ›das seltsam angenehme, seltene und sanft schmeichelnde Licht einer Kerze‹. Was möchte Bradbury mit dieser Beschreibung über Clarisse sagen? Was denkst du?«

Rephaim war völlig verblüfft. Eine Lehrerin stellte ihm eine Frage. Als wäre er einfach irgendein träumender Jungvampyr – normal – wie alle anderen – als gehörte er dazu. Plötzlich fühlte er sich sehr nervös und ausgeliefert, deshalb antwortete er das Erste, was ihm in den Sinn kam. »Ich glaube, er will sagen, dass das Mädchen einzigartig ist. Er erkennt, wie außergewöhnlich sie ist, und bewundert das.«

Professor Penthesileas Brauen hoben sich, und einen schrecklichen Herzschlag lang dachte Rephaim, sie werde sich über ihn lustig machen.

Aber sie bemerkte in trockenem, nüchternem Ton: »Eine interessante Antwort, Rephaim. Wenn du deine Aufmerksamkeit mehr dem Buch statt anderen Dingen zuwenden würdest, wären deine Antworten vielleicht nicht nur interessant, sondern überragend.«

»D-danke«, stotterte er. Sein Gesicht war plötzlich heiß.

Penthesilea quittierte seine Antwort mit einem kleinen Nicken, dann wandte sie sich an eine Schülerin, die weiter vorn saß: »Was ist mit der letzten Frage, die sie ihm in dieser Szene stellt: ›Sind Sie glücklich?‹ Welche Bedeutung steckt darin?«

»Gut gemacht«, flüsterte Damien neben ihm.

Rephaim brachte kein Wort heraus. Er nickte nur und versuchte, die plötzliche Leichtigkeit, die ihn erfüllte, zu begreifen.

»Du weißt, was mit ihr passiert? Mit diesem einzigartigen Mädchen?« Das Flüstern kam von dem Jungvampyr direkt vor ihm. Er war klein und muskulös mit markanten Gesichtszügen. Als er sich Rephaim zuwandte, war der Abscheu in seinen Zügen klar zu erkennen.

Rephaim schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung.

»Sie wird seinetwegen umgebracht.«

Rephaim war es, als hätte ihn jemand in den Bauch getreten.

»Drew, wolltest du noch etwas über Clarisse sagen?«, fragte die Lehrerin, wieder mit erhobenen Brauen.

Drew drehte sich lässig nach vorn und hob eine Schulter. »Nö, Ma’am. Hab nur dem Vogeltypen erklärt, was noch alles passieren wird.« Er warf einen Blick zurück. »Also, im Buch natürlich.«

»Rephaim«, sagte die Lehrerin mit plötzlich harter Stimme. Überrascht spürte Rephaim die Macht darin auf seiner Haut prickeln. »In meinem Klassenzimmer sind alle Jungvampyre gleich. Und wir nennen jeden bei seinem korrekten Namen. Der seine ist Rephaim.«

»Er ist kein Jungvampyr, Professor P«, sagte Drew.

Die Lehrerin schlug mit der flachen Hand auf ihr Pult, und der gesamte Raum vibrierte von der Energie des Nachhalls. »Er ist hier. Und solange er hier in meinem Klassenzimmer ist, wird er behandelt wie jeder andere auch.«

Drew neigte respektvoll den Kopf. »Ja, Ma’am.«

»Gut. Da das nun geklärt ist, würde ich gern die Kreativarbeit besprechen, die ich mir von euch wünsche. Ich möchte, dass ihr euch eines der vielen symbolischen Elemente aussucht, die Bradbury in diesem wunderbaren Roman verwendet, und …«

Während die Aufmerksamkeit der Klasse sich von ihm und Drew löste und wieder dem Buch zuwandte, blieb Rephaim reglos sitzen. Sie wird seinetwegen umgebracht, echote durch seine Gedanken. Ihm war klar, was Drew gemeint hatte. Nicht eine Figur in einem Buch. Er hatte von Stevie Rae gesprochen – dass ihr etwas passieren würde. Seinetwegen.

Niemals. Solange Rephaim lebte, würde er nicht zulassen, dass Stevie Rae zu Schaden kam.

Als das erlösende Klingeln zur Pause ertönte, warf Drew ihm einen Blick voll unnachgiebigen Hasses zu.

Rephaim musste an sich halten, um nicht auf ihn loszugehen. Feind!, schrie seine einstige Natur. Vernichte ihn! Doch er biss die Zähne zusammen und erwiderte unverwandt Drews Blick, als der Jungvampyr sich rüde an ihm vorbeidrängte.

Und nicht nur in Drews Augen war Hass zu lesen. Alle warfen sie ihm Blicke zu, die entweder hasserfüllt oder angewidert oder auch ängstlich waren.

»Hey«, sagte Damien, der mit ihm aus dem Zimmer ging. »Mach dir nichts aus Drews Gerede. Er wollte mal was von Stevie Rae. Das ist nur Eifersucht.«

Rephaim nickte und wartete, bis sie im Freien und außer Hörweite der anderen Schüler waren. Dann sagte er leise: »Es ist nicht nur Drew. Es sind alle. Sie alle hassen mich.«

Damien winkte ihn ein Stück vom Fußweg fort. »Du wusstest ja, dass es nicht einfach werden würde.«

»Das stimmt. Es war nur –« Rephaim verstummte und schüttelte den Kopf. »Nein. Es stimmt einfach. Ich wusste, dass es den anderen schwerfallen würde, mich zu akzeptieren.« Er sah Damien in die Augen. Der Jungvampyr wirkte abgemagert. Die Trauer hatte ihn älter gemacht. Seine Augen waren gerötet und geschwollen. Er hatte die Liebe seines Lebens verloren, und doch stand er hier und war freundlich zu Rephaim. »Danke, Damien.«

Über Damiens Gesicht glitt der Hauch eines Lächelns. »Dafür, dass ich dir sage, dass es nicht einfach werden wird?«

»Nein. Dafür, dass du freundlich bist zu mir.«

»Ich bin mit Stevie Rae befreundet. Deshalb kümmere ich mich um dich.«

»Dann bist du ein bemerkenswerter Freund.«

»Wenn du wirklich der bist, für den Stevie Rae dich hält, wirst du feststellen, dass man viele bemerkenswerte Freunde finden kann, wenn man der Göttin folgt.«

»Ich folge der Göttin.«

»Wenn ich daran zweifeln würde, würde ich dir nicht helfen, egal wie gern ich Stevie Rae habe.«

Rephaim nickte. »Das ist nur gerecht.«

»Hey, Damien!« Einer der roten Jungvampyre, ein ungewöhnlich kleiner Junge namens Ant, kam herbeigeeilt. Mit einem Seitenblick auf Rephaim fügte er hinzu: »Hi, Rephaim.«

»Hi, Ant«, sagte Damien.

Rephaim nickte. Diese Begrüßungszeremonien verursachten ihm noch Unbehagen.

»Ich hab mitgekriegt, dass du jetzt Fechten hast. Ich auch!«

»Ja«, sagte Damien. »Rephaim und ich hatten nur –« Er stockte. Rephaim sah, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte, bis er schließlich verlegen aussah. Er seufzte schwer. »Äh, Rephaim. Der Fechtlehrer ist Dragon Lankford.«

Da verstand Rephaim.

»Das ist, äh, nicht so toll«, sagte Ant.

»Vielleicht ist er noch in der Sitzung«, überlegte Damien hoffnungsvoll.

»Egal ob er noch fort ist oder nicht, ich denke, ich bleibe besser hier. Falls ich mitkäme, würde das nur zu …« Die Sprache verließ Rephaim, denn alles, was ihm einfiel, waren Wörter wie: Chaos, Streit, Katastrophe.