Betreff: MORD! - Claudia Platz - E-Book

Betreff: MORD! E-Book

Claudia Platz

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Beschreibung

Krimiautoren, Drehbuchschreiber, Regisseure und Filmschaffende geben sich beim Krimifestival Mordiale, das diesmal in Mainz stattfindet, ein Stelldichein. Vier Tage lang soll die Landeshauptstadt zur Krimihochburg werden. Das wird Mainz auch - aber anders als gedacht ...Denn schon am ersten Tag wird frühmorgens der Bestsellerautor Paul Meyerbrinck im Brunnen am Fischtor ermordet aufgefunden. Wenige Stunden später geht im Polizeipräsidium eine Bekennermail ein, während sich gleichzeitig im Wispertal ein tödlicher Autounfall ereignet. Zunächst scheint es keinen Zusammenhang zu geben. Aber eine zweite E-Mail macht dem Ermittlerteam um KHK Karin Weber und KK Samir Stockwinkel klar, dass diese Verbrechen der Auftakt einer Serie sind. Nur langsam kann die SoKo "Krimi" das Puzzle zusammensetzen und die wichtigste Frage beantworten: Warum müssen ausgerechnet die erfolgreichsten Autoren sterben?Könnte es sein, dass sie ihre Erfolge womöglich einer Urheberrechtsverletzung verdanken? Dass sie also Manuskripte, Illustrationen bzw. Konzepte bei anderen geklaut haben und für eigene ausgegeben haben? Und wenn ja: Wer rächt sich so grausam und greift skrupellos zur Selbstjustiz?Claudia Platz nimmt damit die aktuelle Diskussion um's Urheberrecht auf und verarbeitet sie in einem spannenden Krimi.

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Betreff: MORD!

Claudia Platz

Betreff: MORD!

© Leinpfad VerlagHerbst 2012

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, IngelheimLektorat: Heidrun Immendorf, Angelika Schulz-Parthu

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

ISBN E-Book 978-3-942291-52-1

Inhalt

Donnerstag, 18. Oktober 20..

Freitag, 19. Oktober 20..

Samstag, 20. Oktober 20..

Sonntag, 21. Oktober 20..

Montag, 22. Oktober 20..

Montag, 29. Oktober 20..

Dienstag, 30. Oktober 20..

Freitag, 2. November 20..

Samstag, 3. November 20..

Montag, 5. November 20..

Dienstag, 6. November 20..

Die Autorin

DONNERSTAG, 18. OKTOBER 20..

Eins

Zeit seines Lebens hatte er Fische gehasst – gleich in welcher Form, ob tot oder lebendig. Er verabscheute den fischigen Geschmack, die glitschigen Leiber, die ausdruckslosen Gesichter mit den lidlosen Augen, die schmallippigen, nach Luft schnappenden Mäuler und ihren tranigen Geruch. Das war auch der Grund, warum er Meere und Seen mied wie der Teufel das Weihwasser. Er fürchtete nichts mehr als eine zufällige Begegnung mit deren ekelerregenden Bewohnern.

Deshalb empfand er es als Ironie, dass ausgerechnet jetzt, während seiner letzten Sekunden auf diesem Erdball, zwei überdimensionierte, glotzäugige Fischskulpturen ihre Geringschätzung in Form von Wasser auf ihn hinabspien. Diese Geste offenbarte eine Verachtung, die er, Paul Meyerbrinck, angesagter Krimiautor, nicht verdiente, schon gar nicht, während er starb. Noch pumpte sein Herz Blut durch seinen Körper, aber mit jedem Schlag schoss eine kleine Fontäne aus der klaffenden Wunde seiner zerfetzten Halsschlagader und ergoss sich in das Becken.

Zu seinem eigenen Erstaunen spürte er praktisch keinen Schmerz. Lag das am Schock oder an der Situation, die ihm so unglaublich surreal erschien? Die Messerattacke hatte ihn völlig überrascht, sodass er keine Zeit gehabt hatte, den tödlichen Stoß abzuwenden, geschweige denn um Hilfe zu rufen. Erst als er in den Brunnen gestoßen wurde und das eisige Wasser seine Kleidung durchdrang und wie Nadeln in seine Haut stach, erkannte er die Unausweichlichkeit seines Schicksals.

Meyerbrinck empfand sein Dahinscheiden nicht nur als entschieden verfrüht, sondern vor allem dessen Umstände als äußerst empörend. Er, der den großen Auftritt und pompöse Inszenierungen liebte und dessen Lesungen immer zu dramatischen Events gerieten, verstarb von seiner Umgebung völlig unbeachtet zu nächtlicher Unzeit in einem popeligen Brunnen einer nicht sonderlich bedeutenden Stadt. Diese Herabsetzung stellte an sich schon eine Beleidigung dar. Doch die Tatsache, dass zwei grässliche Fischmonster ihm beim Sterben zusahen, vervollkommnete den Zynismus seines Ablebens. Die Gegenstände verschwammen vor seinen Augen. Im Licht der Straßenlaternen erschienen ihm die steinernen Figuren wie bedrohliche Wächter am Tor zum Jenseits.

Mit dem finalen Herzschlag wusste Paul Meyerbrinck, wie der Tod sich anfühlte.

 

Zwei

Vorsichtig drückte sie die angelehnte Tür auf und schob sich leise durch den Spalt. Der Flur dahinter war dunkel. Sie knipste kurz die Taschenlampe an und leuchtete die Umgebung ab. Ihr entging kein Detail, und sie prägte sich die Einzelheiten genau ein. Der Weg war ihr unbekannt, aber die Geräusche gaben die Richtung vor. Vom Ende des Ganges drangen das Stöhnen eines Mannes und das Knarzen eines Bettes. In einigem Abstand blieb sie stehen und lauschte. Eigentlich klang es wie zwei Menschen beim Sex, dennoch fühlte sie, dass etwas nicht stimmte.

Was tat sie eigentlich hier? Es war nur ein Verdacht, der sie in dieses Haus geführt hatte. Ihr Unbehagen verstärkte sich und sie war versucht umzukehren. Das leise Wimmern der Frau, das nicht so recht nach Liebesspiel klang, hielt sie fest. Es bestärkte sie in ihrem Entschluss nachzusehen. Über Wochen hatte sie ihn observiert, gehofft, er würde ihr einen Grund geben, ihn wieder zu verhaften, aber er ließ sich nichts zuschulden kommen. So waren ihr die Hände gebunden.

Das Keuchen erstarb. Eine Ruhe folgte, die Feindseligkeit ausströmte. Nackte Füße bewegten sich durch das Zimmer, schienen auf sie zuzukommen. Worte voller Hass zerschnitten die Stille. Das Wimmern verstärkte sich zu einem verzweifelten Schluchzen.

Sie hatte inzwischen die Tür erreicht, unter deren Spalt sich ein schmaler Lichtsaum abzeichnete. Als ihre Hand das kühle Metall der Klinke berührte, zuckte sie zurück. Sie hatte Verstärkung angefordert, aber die Kollegen waren noch nicht eingetroffen. Die abgehackten Sätze waren nun deutlicher zu verstehen. Der Mann wiederholte stets dieselbe Phrase. „Verführerisches Miststück! Dich mach ich kaputt. Du bist an allem schuld!“ Seine Stimme wurde immer höher, steigerte sich zum unangenehmen Diskant. Die Frau schrie laut auf: „Bitte nicht! Ich kenne Sie doch gar nicht“.

Sie öffnete das Holster und zog ihre Waffe hervor. Die Taschenlampe steckte sie ein. Im Zimmer fiel ein Körper zu Boden. Sie riss die Tür auf, sah ein großes Messer in seiner Hand aufblitzen, als er es über seinen Kopf hob. Mit wutverzerrter Fratze näherte er sich seinem Opfer. Die junge Frau krümmte sich wie ein Fötus zusammen, versuchte ihren nackten Körper mit den Armen zu schützen. Mit angstverzerrtem Gesicht blickte sie zu ihm auf und flehte mit aufgerissenen Augen stumm um Gnade.

Karin hörte sich rufen: „Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen!“

Er ignorierte sie, steuerte weiter auf die am Boden Liegende zu. Sie feuerte einen Warnschuss ab. Das Geschoss blieb in der Holztäfelung der Decke stecken. Nun trennte ihn nur noch eine Armlänge von dem Mädchen. Karin zielte auf seinen Körper und schoss erneut. Blut spritzte. Jetzt drehte er sich um, registrierte die Kommissarin, die ihre Pistole noch immer auf ihn richtete. Ein erstauntes Grinsen huschte über sein Gesicht, während er zusammenbrach und sein Opfer unter sich begrub.

Karin Weber unterdrückte einen Schrei und wachte auf. Sie saß aufrecht in ihrem Bett. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als wolle es sich seinen Weg durch den Brustkorb ins Freie bahnen. Sie ließ die Arme sinken und atmete auf. Die starren Muskeln entspannten sich und sie bekam einen Schweißausbruch. Zitternd senkte sie die Hände, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und schaute auf Edgar Frentz, der neben ihr schlief und gleichmäßig atmete. Heute Nacht hatte ihr Schrei ihn nicht geweckt.

Erschöpft legte sie sich hin und starrte an die Decke.

Dämmriges Licht drang von draußen herein und führte ein Schattenspiel auf. Ihre Atmung und ihr Herzschlag normalisierten sich. „Nur ein Traum!“, beruhigte sie sich. Aber er war so verdammt real. Seit dem tödlichen Einsatz verfolgte sie dieses schreckliche Erlebnis. In den ersten beiden Jahren danach träumte sie nur gelegentlich davon. Doch die Abstände verkürzten sich und in den letzten Wochen suchte dieses Schreckgespenst sie regelmäßig heim. Sie drehte sich zur Seite, zog ihre Knie bis auf die Höhe des Nabels und legte ihre gefalteten Hände unter den Kopf. Sie war es leid. Wann hatte das endlich ein Ende?

 

Drei

Es war noch vollkommen dunkel, als sich die Sprechstundenhilfe mit tippelnden Schritten dem Fußgängerüberweg am Fischtor näherte. Die vergangene Nacht war kalt gewesen und kündigte den bevorstehenden Winter an, auf den sie liebend gern verzichtet hätte. Sie schlang die Arme um ihren Körper, um sich warm zu halten, doch es nutzte wenig. Sie fror weiter, was auch an der unchristlichen Uhrzeit lag, zu der sie unterwegs war. In zehn Minuten musste sie die Tagesklinik am Brand aufgesperrt haben, dann trudelten die ersten Patienten für die ambulanten Eingriffe ein, die sie vorzubereiten hatte.

Wie üblich kam sie vom Rhein und ging durch die kleine Parkanlage, an deren Ende ein Brunnen stand. Noch führte er Wasser, aber mit dem letzten Oktobertag würde er abgestellt werden. Sie fand ihn nicht sonderlich kunstvoll, hegte aber eine gewisse Sympathie für ihn. Die Mainzer nannten ihn liebevoll „Quellkardoffel un Hering“, und er verdiente diesen Kosenamen zu Recht. Die beiden Wasser speienden Fische tanzten auf großen Kugeln, die für Kartoffeln zwar viel zu rund und glatt waren, aber dennoch dem Betrachter diese Gedankenverknüpfung nahelegten.

„Scheißkälte“, zischte sie in ihren Schal, während sie versuchte, sich warm zu zittern. Der Anblick des sprudelnden Nasses brachte sie noch mehr zum Frösteln. Unvermittelt stutzte sie und blieb verwundert stehen. Irgendetwas schien ihr heute Morgen anders als sonst. Die Fontänen plätscherten munter vor sich hin und es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, was sie irritierte. Das Wasser war nicht klar wie sonst, sondern schimmerte rötlich im Schein der Straßenlaterne.

„Mer habbe doch noch gar net Fassenacht!“, murmelte sie laut, nur um umgehend festzustellen, dass die ungewohnte Einfärbung eigentlich ganz hübsch aussah – vorausgesetzt, man mochte Pink. „Jetzt fehld nur noch die richdisch Beleuschdung, dann wär’s en nette Beidrach zur Luminale“, bemerkte sie mit leichtem Grinsen.

Sie trat an den Beckenrand und warf einen Blick hinein. Der kurze Anflug von Heiterkeit verflüchtigte sich und ihr Lächeln erstarb. Da lag ein Körper. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte sie, jemand habe sich einen Scherz erlaubt und eine Schaufensterpuppe kunstvoll platziert. Aber ihrem medizinisch geschulten Auge fiel sofort die Verletzung am Hals samt durchtrennter Schlagader auf. Ohne es zu merken, entglitt ihr die Handtasche. Sie schrie ihr Entsetzen hinaus und rannte auf die angrenzende vierspurige Fahrbahn, in deren Mitte sie – blind für die Gefahr – erstarrte.

Das Taxi, das auf sie zusteuerte, kam gerade noch rechtzeitig mit quietschenden Reifen zum Stehen. Der Fahrer präsentierte ihr den Mittelfinger und brüllte so laut „Dumme Kuh“, dass man es selbst durch die geschlossenen Fenster hören konnte. Sie kreischte: „Da liegt ein Toter!“ und deutete auf den Brunnen.

Der Fahrer ließ Anzeichen von Verunsicherung erkennen. Er senkte erst den Finger, dann die Hand, schaltete schließlich die Warnblinkanlage ein und stieg aus.

Vorsichtig ergriff er den Arm der hysterischen Frau und führte sie auf den Bürgersteig. „Mädsche, du bleibe jetzt hier schtehe, sonst komme Auto un fahre disch dod!“, übertönte er sie. Sie verstummte, nickte, deutete aber weiterhin auf das Becken. „Isch gugge nach!“

Sie folgte ihm mit ihren Blicken und hörte wie durch Watte das Hupen erboster Autofahrer, die sich über das Taxi ärgerten, das die Straße ohne ersichtlichen Grund blockierte. Als der Fahrer die Leiche sah, schüttelte er betrübt den Kopf und zog seine Mütze, um dem Verstorbenen Respekt zu zollen. Im Gegensatz zu der jungen Frau war ihm der Tod nicht fremd. Zu Hause in Serbien hatte es in diesem Krieg, in dem Freunde und Nachbarn wegen ihres Glaubens zu Feinden wurden, viel zu viele Leichen gegeben. Er machte kehrt, fuhr sein Auto auf den Bürgersteig, öffnete die Beifahrertür und drückte die junge Frau auf den Sitz. „Du bleibe, isch rufe Polizia“, befahl er ihr und sie fügte sich.

Über Funk verständigte er die Zentrale, dann setzte er den Notruf ab. Kurz darauf ertönten Polizeisirenen und blaublinkende Lichter erhellten die Dämmerung. Zwei Streifenwagen kamen in unmittelbarer Nähe zum Stehen. Ein Beamter entnahm dem Kofferraum des Streifenwagens ein rotweißes Absperrband und riegelte mit einem Kollegen großzügig den Bereich um den Brunnen ab. Eine junge Polizistin trat ans Taxi, um die Insassen zu befragen, erkannte aber, dass die junge Frau nicht ansprechbar war. Sie nestelte nervös an ihrem Schal und murmelte gebetsmühlenartig: „Isch muss aufschließe. Die Patienten waarde doch schon.“ Dafür wirkte der Fahrer umso aufgeräumter. „Schock!“, stellte er fachmännisch fest. „Sie gefunden Leiche und renne auf Schtraße. Isch wolle heim von Nachdschichd, grade noch bremse reschdzeidisch. Schaue nach, warum se schreid, finde Dode und rufe eusch.“

Die Polizistin nickte. „Das haben Sie gut gemacht! Ich glaube, sie braucht einen Arzt. Ich bestelle wohl am besten eine Ambulanz und Sie warten bitte, bis wir Sie nicht mehr benötigen“, was dem übermüdeten Fahrer ein resigniertes Ächzen entlockte.

Er setzte sich wieder hinters Steuer, brachte den Sitz in eine bequemere Position, schenkte seiner Beifahrerin einen kurzen Seitenblick, um sich zu vergewissern, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging, und verschränkte seine Arme über dem Bauch. Nur wenig später war er eingeschlafen.

 

Vier

Karin Weber hatte sich unruhig hin und her gewälzt, ohne noch einmal Schlaf zu finden. Vorsichtig schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie schlich ins Bad und machte eine Katzenwäsche. Rasch zog sie sich an und steckte ihr langes kastanienbraunes Haar hoch. Sie hoffte immer, sie sähe jünger aus als neununddreißig, aber der Blick in den Spiegel sagte ihr, dass das zumindest heute Morgen nicht der Fall war. Die unregelmäßigen Dienstzeiten mit etlichen Sonderschichten begannen ihren Tribut zu fordern. Sie akzeptierte diese Tatsache nur ungern, aber es ließ sich eben nicht ändern. Vielleicht lag es aber auch an diesen verflixten Träumen, die immer intensiver wurden und sie zunehmend belasteten. Wenigstens hatte sie keine Gewichtsprobleme, denn seit Jahren trug sie dieselbe Kleidergröße. Sie legte Make-up auf, betonte die Lider mit einem zarten Violett, das das Grün ihrer Augen zum Leuchten brachte und betupfte die Lippen mit pastellfarbenem Lipgloss. Dann verließ sie die Wohnung auf Zehenspitzen und schlüpfte erst vor der Tür in ihre hochhackigen Schuhe. Das Outfit, das sie gerade trug, war nicht nur wegen der mörderischen Highheels dienstuntauglich. Auch ihr Kleid entsprach nicht gerade der Tageszeit. Gestern Abend war sie mit Edgar schick essen gewesen und dementsprechend herausgeputzt. Eigentlich hatte sie nicht bei ihm übernachten wollen, aber es war eben doch anders gekommen. Bis zum Dienstbeginn blieb ihr noch über eine Stunde. Wenn sie sich beeilte, konnte sie schnell nach Hause fahren und sich umziehen. Auf dem Weg nach unten klingelte ihr Telefon. Die Melodie hallte im stillen Hausflur und begleitete das Klappern ihrer Absätze. Ein Blick auf das Display machte ihr klar, dass es mit dem Kleiderwechsel wohl nichts werden würde.

„Guten Morgen, Frau Weber. Es gibt einen Mord. Männliches Opfer, liegt in Quellkardoffel un Hering“, teilte ihr die müde Stimme einer Kollegin vom Kriminaldauerdienst mit.

Karin hielt irritiert inne. Das war doch absurd! Hering und Pellkartoffel waren ein beliebtes Gericht auf den Speisekarten vieler Mainzer Weinstuben. Wie konnte da ein Toter drin liegen? Mit dem Gesicht im Teller? Erstickt im Sahnequark?

Aber ihr waren manche Stadt-Interna und sprachliche Besonderheiten des Mainzer Dialekts nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln, obwohl sie seit Jahren hier lebte. Es hatte nämlich seine Zeit gedauert, bis sie wusste, dass „Andau“ nicht nur der Name einer Kneipe ist, sondern den Gully bezeichnet, „Schnudedunker“ hingebungsvolle Weintrinker sind und eine „Bibbesnexern“ eine Frau mit mangelhaft ausgebildeter Sexualmoral ist.

Sie täuschte einen schlechten Handyempfang vor, um ihr Unwissen zu verbergen. „Äh, wie bitte? Ich habe Sie nicht richtig verstanden. Wo liegt der Mann?“

„Ei, in Quellkardoffel un Hering, dem Brunnen am Fischtorplatz.“

Karins Irritation dauerte an, auch wenn ihr jetzt die Bedeutung des Begriffs dämmerte. Ihres Wissens betrug der Wasserstand nicht einmal dreißig Zentimeter. Jeder Mensch, der einigermaßen im Vollbesitz körperlicher und geistiger Kräfte, also weder besoffen noch zugedröhnt war, ertrank nicht einfach in so einer Pfütze. „Todesursache?“

„Anscheinend verblutet.“

„Aha“, meinte sie leicht genervt angesichts der zähen Auskunftsbereitschaft ihrer Kollegin. „Gibt es nähere Details?“

„Verletzung am Hals. Kriminaltechnik ist unterwegs.“

„Okay, ich mach mich auf den Weg. Ist Kollege Stockwinkel informiert?“

„Nicht direkt.“

„Er geht mal wieder nicht dran?“

„So in etwa. Ich habe ihm aber auf den AB und die Mailbox gesprochen“, sagte die Beamtin vom KDD.

„Ich kümmere mich darum.“

Als sie ins Freie trat, traf die Kälte sie wie ein linker Haken. Während der Nacht hatte es einen ziemlichen Temperatursturz gegeben, denn gestern Abend waren es noch milde fünfzehn Grad gewesen. Nun herrschten gefühlte null Grad. Sie zog den Mantel enger um sich und lief, so schnell es ihre Stöckelschuhe zuließen, zu ihrem goldfarbenen Audi Coupé aus den Achtzigern. Im Laufen wählte sie die Handynummer von Samir Stockwinkel, ihrem neuen, jungen Kollegen.

Vor knapp vier Monaten war er aus dem Kosovo zurückgekehrt, wo er zwei Jahre in der „EULEX“-Mission mitgewirkt hatte. Seine Aufgaben dort bestanden überwiegend in Mentoring, Monitoring und Advising. Karin hatte zwar absolut keine Ahnung, was das im Detail bedeutete, tat ihm gegenüber aber so, als hätte sie eine sehr genaue Vorstellung von seiner ehemaligen Arbeit.

Sein Vorname klang ungewohnt und er verdankte ihn seiner Mutter, die Perserin war. Allerdings sah er mit seinem athletischen Körperbau und den gelockten blonden Haaren eher nordisch aus, was an den Genen seines Vaters, eines Österreichers, lag. Einzig die mandelförmigen, fast schwarzen Augen bezeugten seine persische Abstammung.

Alles in allem war er ein super Kollege und sie kamen gut miteinander zurecht. Es regte Karin nur furchtbar auf, dass er morgens oft nicht aus den Federn kam und sich immer ein paar Minuten verspätete. Er behauptete, ihm fehle die wärmende Sonne des Balkans, und der Lichtmangel der hiesigen Gefilde sei der Grund für seine ausgeprägte Morgenmüdigkeit. Karin hingegen glaubte, dass er schlicht eine Eule und keine Lerche und somit nicht zum frühen Aufstehen geschaffen war.

Inzwischen hatte sie ihr Auto erreicht, ohne ihn ans Telefon bekommen zu haben. Die Kälte der Ledersitze stach durch den dünnen Stoff. Sie spielte mal wieder mit dem Gedanken, einen wärmenden Sitzbezug aus Kunstfell zu kaufen, doch Edgar hatte das bisher verhindert. Als Liebhaber klassischer Automobile empfand er dergleichen als absoluten Stilbruch, auch wenn er sich hin und wieder selbst über eine fehlende Sitzheizung beschwerte. Mit den hochhackigen Schuhen konnte sie nicht fahren. Sie zog sie aus, legte sie vor den Beifahrersitz, startete und sorgte mit den Scheibenwischern für freie Sicht. Das Gebläse röchelte eher, als dass es pustete und auch die Heizung brauchte ewig, bis sie warm wurde. Im Vergleich zu einem modernen Auto konnte man nicht gerade von überragenden technischen Errungenschaften sprechen, doch da sie an ihrem Youngtimer hing, hatte sie sich weitgehend mit seinen kleinen Unzulänglichkeiten arrangiert.

Zitternd drückte sie die Kurzruftaste für Samirs Mobiltelefon und ließ es lange klingeln, aber es meldete sich nur die Mailbox. „Verdammter Mist”, schimpfte sie, bugsierte den Wagen aus der Parkbucht und brauste los. Sie würde es gleich noch einmal versuchen.

Kommissar Samir Stockwinkel lag mit halb geöffnetem Mund auf dem Bauch und träumte von einem Schweinebraten mit Zimtkruste und einem Kartoffelgratin, die gemeinsam im Ofen vor sich hin brutzelten. Ein feiner Speichelfaden tropfte aus seinem Mundwinkel auf das dunkle Seidenkissen und hinterließ einen unschönen Fleck. Der wunderbare Essensduft überlagerte die abgestandene Luft seines Schlafzimmers und er schloss schmatzend die Lippen. Die Backofenzeituhr piepste laut und verkündete das Ende der Garzeit. Sie schaltete sich nicht wie üblich nach einer Minute aus, sondern klingelte penetrant weiter. Samirs Unterbewusstsein beschloss den Lärm zu ignorieren. Doch der Wecker erwies sich als ausdauernder und allmählich dämmerte ihm, dass der Alarmton nicht aus der Küche, sondern von seinem Beistelltisch direkt neben dem Bett ausging, wo sein Smartphone lag. Nachdem er die erste Stufe allmorgendlicher Betäubung überwunden hatte, schaffte er es, sich auf die andere Seite zu rollen. Er zwang sich, kurz die Augen zu öffnen und sein Blick fiel auf das Display der Digitaluhr mit integriertem Außentemperaturfühler. Donnerstag, 18. Oktober, 6.49 Uhr, 5 Grad. Angesichts der Uhrzeit und der Kälte schloss er sofort wieder die Lider. Blind tastete er endlich nach dem Telefon und legte es auf sein Ohr. Unfähig, den Kopf zu heben, grunzte er undeutlich seinen Namen.

„Samir, ich bin’s“, hörte er Karin Webers aufgebrachte Stimme. „Wir haben einen Mord. Komm ans Fischtor, aber pronto und nicht erst in zwei Stunden! Ich bin gleich dort.“

„Ja, Frau Hauptkommissarin“, nuschelte er etwas deutlicher und drehte sich auf den Rücken. Noch im Auflegen entglitt das Handy seinen Fingern und fiel herunter. „Bin soweit“, murmelte er, bevor er wieder wegdämmerte.

Karin schien zu ahnen, dass ihr Anruf nichts bewirkt hatte und rief ihn erneut an. Samir schrak hoch und rutschte fast aus dem Bett, als er den Boden nach dem Telefon absuchte. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass du nicht wieder eingeratzt bist. Sitzt du wenigstens schon?“, flötete sie. „Ich bin gerade dabei!“, erwiderte er wahrheitsgemäß und schwang die Beine vors Bett.

„Gut, bis gleich also.“

Samir stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab, verharrte einige Sekunden in dieser Position, bis sein Oberkörper erschlaffte, die Arme zur Seite rutschten und er in Zeitlupe nach vorn sackte. Als sein Kinn die Brust berührte, hob er den Kopf ruckartig an. Ihm wurde kurz schwindlig. Dann rappelte er sich auf und wankte ins Bad, wo er unsanft auf die klamme Toilettenbrille plumpste. Morgens war er unfähig, im Stehen zu pinkeln. In diesem Zustand körperlicher und geistiger Apathie schaffte er es gerade so, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. An Zielen war da gar nicht zu denken. Dann lieber einen kalten Hintern. Er lehnte sich gegen die Wand und schnarchte wenig später selig vor sich hin.

Karin Weber hatte ihr Ziel beinah erreicht. Sie überlegte kurz, ob sie statt der Highheels die Gummistiefel aus ihrem Kofferraum anziehen sollte, entschied sich aber wegen der niedrigen Temperatur dagegen. Ihre Füße wären spätestens in zehn Minuten Eisklötze. Dann doch lieber die Pumps. An der Straßenabsperrung, vor der sich etliche Schaulustige eingefunden hatten, wurde sie durchgelassen und parkte am Straßenrand. Beim Aussteigen erfasste sie eine Böe, die vom Rhein herüberblies. Der Trenchcoat, das Kleid und die dünne Strumpfhose hatten dem frischen Wind nichts entgegenzusetzen und sie verfluchte den Umstand, bei Edgar keine Alltagsklamotten deponiert zu haben. Aber ihre Beziehung hatte diese Stufe noch nicht erreicht.

Sie entdeckte den weißen VW-Bus der Kriminaltechnik in direkter Fundortnähe. Die Kollegen von der Spusi trugen die übliche Schutzkleidung samt Handschuhen und Schuhüberziehern und sahen beinah aus wie die Seuchenbekämpfer aus amerikanischen Katastrophenfilmen. Martin Pfahl von der Kriminaltechnik suchte mit Hilfe einer grellen Lampe den Boden ab. Er war der größte ihrer Kollegen und stach mit seiner nicht zu bändigenden Mähne in Tizianrot normalerweise aus der Menge heraus, wenn er nicht gerade, wie jetzt, komplett in einen Overall gehüllt war. Vor allem wenn die Sonne schien, loderte sein Haar wie Feuer, und Karin fühlte sich dann immer an Rübezahl erinnert, auch wenn Martin nicht annähernd so bärbeißig war wie die Furcht einflößende Märchengestalt. Gerade stellte er eine Spurentafel mit einer Nummer neben einen tatrelevanten Fund und bedeutete seiner Kollegin Christina Weimann, ein Foto zu machen.

Karin Weber wartete vor dem Absperrband, das großräumig um den Fundort gespannt war. Sie wusste, wie sehr Martin es hasste, wenn jemand unaufgefordert in sein Revier eindrang und die vorhandenen Spuren durch Fremdkontamination unbrauchbar machte. Deshalb blieb sie brav stehen und wartete auf sein Zeichen.

Ein Kollege von der Bereitschaft entdeckte sie und setzte sie kurz ins Bild. „Eine junge Frau fand die Leiche und ein Taxifahrer informierte uns. Wollen Sie mit den beiden reden? Wobei die junge Frau ziemlich unter Schock steht und gerade eine Beruhigungsspritze bekommt. Viel werden Sie von ihr nicht erfahren.“

„Ist alles aufgenommen?“

„Ja, Sie bekommen das Protokoll nachher ins Präsidium.“

„Danke, dann ist es nicht nötig, die Zeugen länger hierzubehalten.“

Karin wandte sich nun wieder den Kriminaltechnikern zu. Anscheinend hatte Martin die Suche um den Brunnen beendet, denn er tauschte jetzt seine Sneakers gegen Gummistiefel und stieg ins Wasser. Seine volle Konzentration galt dem Becken, wobei er gleichzeitig auf die Wasserstrahlen achtete, denen er geschickt auswich. Christina stand davor und notierte alles, was er ihr zurief.

Da Karin noch nicht über die Absperrung durfte, blieb ihr Zeit, den eher ungewöhnlichen Tatort genauer zu betrachten. Dass der Brunnen Wasser führte, war keineswegs selbstverständlich, denn die Stadt hatte etliche wegen Geldmangels über Sommer stillgelegt, diesen hier jedoch nicht. Auch wenn er nicht gerade ein Highlight artesischer Architektur darstellte, sah er einigermaßen passabel aus. Die einander zugewandten Skulpturen und deren bogenförmige Wasserfontänen sollten wohl das ehemalige Fischtor der mittelalterlichen Stadtmauer symbolisieren. Martin war das im Moment ziemlich gleichgültig. Ihn ärgerten die erschwerten Arbeitsbedingungen. „Wann wird dieses Ding endlich abgeschaltet?“, brüllte er quer über den Platz.

„Wir haben versucht, jemanden auf dem zuständigen Amt zu erreichen, aber da ist noch niemand“, beteuerte ein uniformierter Kollege.

„Probiert es weiter.“

Die Zuschauermenge um die Absperrung wuchs beständig. Auch den Autofahrern entging nicht, was hier geschah. Der Verkehr auf der Rheinstraße wurde immer zähflüssiger und kam sicher bald ganz zum Erliegen. Zwei junge Beamte wurden abgestellt, um den unausweichlichen Stau zu verhindern, und winkten die Fahrzeuge mit mäßigem Erfolg weiter.

Als Martin Pfahl Karin entdeckte, rief er sie zu sich.

„Ungewohnter Anblick: Frau Kommissarin im Kleid. Erscheinst du jetzt immer so aufgebrezelt zum Dienst?“

Karins Laune verschlechterte sich und sie kommentierte Martins Äußerung mit einem müden „Haha!“ Sie verschwieg ihre Übernachtung bei Edgar, denn ihren Kollegen gefiel nicht, dass sie als Polizistin eine Beziehung zu einem Polizeireporter hatte.

„Wie sieht’s aus?“, erkundigte sie sich stattdessen.

Martin wurde sofort ernst. Er trat zur Seite und gab die Sicht auf die Leiche frei. Karin schauderte beim Anblick des Toten, ließ sich aber nichts anmerken. Seit sie vor knapp sieben Jahren im Dienst einen Mann erschossen hatte, fiel ihr die Konfrontation mit Mordopfern zunehmend schwer. Das Blut erinnerte sie an ihren Traum der vergangenen Nacht und sie vermied es, die Leiche anzusehen. Stattdessen hob sie den Kopf und schaute in den Himmel. Das getupfte Bleigrau der Wolken erinnerte sie an einen Zinksarg, was auch nicht besser war. Sie senkte den Kopf und betrachtete stattdessen ihre Schuhspitzen.

„Schnitt am Hals, der zur Verletzung der Schlagader führte. Den Spuren nach zu urteilen, geschah die Tat dort drüben, direkt vor dem Becken. Es gibt Blutspritzer auf dem Beckenrand. Der Mann wurde danach wahrscheinlich in den Brunnen gestoßen, wo er starb. Muss recht schnell gegangen sein. Aber ich bin kein Gerichtsmediziner, warten wir die Obduktion ab.“

„Hat er so stark geblutet, dass sein Mörder etwas von seinem Blut abbekommen haben könnte?“

„Davon gehe ich aus.“

Karin sah sich um. Samir glänze noch immer durch Abwesenheit. Dafür tauchte der neue Staatsanwalt, Wolfgang Schreyer, auf, die Aura unerschütterlicher Tüchtigkeit im Schlepptau. Sie mochte ihn nicht, er war ein eiskalter Karrierist, für den nur der Erfolg zählte. Meist gingen ihm die polizeilichen Ermittlungen zu langsam voran und er übte dann gern Druck auf sie aus.

Wie immer trug er einen dezenten, modischen Anzug, ein farblich genau abgestimmtes Hemd und eine schicke Krawatte. Sein dunkler Kurzmantel sollte wohl seine Hagerkeit überspielen, was aber nicht gelang. Der Hauch eines herben Aftershaves wehte zu Karin hinüber, was sie veranlasste durch den Mund zu atmen. Er musterte sie heute Morgen genauer als sonst und zog seine linke Augenbraue hoch. Sein Blick drückte Anerkennung aus.

Sag jetzt bloß nicht Falsches, schoss es Karin durch den Kopf.

„Ermitteln Sie heute allein oder ist Ihr Kollege Stockwinkel krank?“

„Er ist unterwegs“, schwindelte sie.

„Viel dürften Sie zum jetzigen Zeitpunkt ja wohl noch nicht herausgefunden haben“, stellte er in einem Ton fest, der ihr Untätigkeit unterstellte.

Karin ignorierte diese Spitze. „Wir haben den Toten eben erst gefunden.“

„Halten wir es wie immer: Ihr Kommissariat informiert mich, sobald ausreichende Erkenntnisse vorliegen. Ich bin bis gegen neunzehn Uhr in meinem Büro.“

Innerlich verdrehte Karin die Augen. Warum vermittelte Schreyer nur immer den Eindruck, er sei der Einzige, der arbeitete? Ganz zu schweigen von seinen permanenten Verbesserungsvorschlägen zur Steigerung der Effizienz innerhalb der Polizeibehörde. Er nervte damit nicht nur sie.

„Das Procedere ist uns hinlänglich bekannt.“

„Gut, dann hören wir heute noch voneinander“, meinte er und machte auf dem Absatz kehrt.

„Wenn es überhaupt etwas zu berichten gibt“, murmelte sie leise

Der Duft seines Rasierwassers blieb zurück, verflüchtigte sich aber rasch, was sie von Schreyer leider nicht erhoffen konnte. Die nächsten Jahre würde er ihnen wohl noch erhalten bleiben.

Zum vierten Mal rief sie Samir an: „Verdammt noch mal, schwing endlich deinen Arsch hierher. Unser überaus eifriger Staatsanwalt war schon da und hat sich nach dir erkundigt.“

Karins Tonfall und die Erwähnung von Schreyer halfen Samir auf die Sprünge. „Was hast du ihm denn gesagt?“, fragte er plötzlich hellwach.

„Ich habe behauptet, du wärst gleich hier. Also enttäusch mich nicht!“

Samir legte schlagartig eine ungeahnte Eile an den Tag. Er spritze sich Wasser ins Gesicht, hob die Arme und roch an seinen Achseln. Eine Dosis Deo musste heute Morgen genügen. Dann zog er sich an und fuhr mit einem Kamm über sein Haar. Den Dreitagebart ließ er stehen, der verlieh ihm die markant-männliche Note. Bevor er in seinen Mantel und seine Schuhe schlüpfte, steckte er noch einen Kaugummi in den Mund. Das Auto ließ er stehen. Von seiner Wohnung in der Kapuzinerstraße bis zum Fischtorplatz war es nicht weit. Unterwegs legte er einen kurzen Stopp beim Bäcker ein und besorgte Kaffee und Butterhörnchen als Friedensangebot für Karin.

 

Fünf

Es hatte langer Recherchen bedurft, um den gebührenden Rahmen für Meyerbrincks Abschiedsvorstellung zu finden. Erst der Bericht, in dem etwas über seine ausgeprägte Fischphobie gestanden hatte, lieferte die zündende Idee. Auch wenn die Inszenierung seines Dahinscheidens purer Boshaftigkeit entsprang, verlieh sie dem Mord das erforderliche Quäntchen Sarkasmus. Da er den großen Auftritt zeitlebens geliebt hatte, durfte sein Tod nicht weniger spektakulär ausfallen. Schade nur, dass er die posthumen Würdigungen in den Medien nicht mehr mitbekam. Ihm hätte es sicher gefallen, die Schlagzeilen zu dominieren. Dabei hätte es gar nicht so weit kommen müssen. Er hatte die Wahl gehabt. Doch statt Einsicht zu zeigen, war er stur geblieben. Dafür bekam er letztendlich die Quittung. Allerdings ließ sich sein Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Erstaunen, Ekel, Entsetzen und Verärgerung widerspiegelte, nicht so einfach verdrängen. Das Bild, wie er mit vor Furcht geweiteten Augen auf die Fische starrte und sein Blut, das sich im Wasser wie eine Corona um seinen Kopf ausbreitete, kam immer wieder hoch.

 

Sechs

Kommissar Samir Stockwinkel erschien kurz bevor die Leiche geborgen wurde. Er fand Karin hinter einem der aufgespannten Tücher, die den Toten vor neugierigen Blicken abschirmen sollten. Atemlos und mit entwaffnendem Blick bat er sie um Entschuldigung. „Sorry! Du hast was gut bei mir. Es kommt auch nicht wieder vor“, versprach er.

„Ich merk’s mir.“

Er drückte ihr den Kaffee und das Gebäckstück in die Hand. „Genauso wie du ihn magst, schwarz ohne Zucker. Aufgrund der unmenschlichen Uhrzeit dachte ich mir, dass du noch nichts zwischen die Zähne bekommen hast.“

Der Mann war ein echtes Phänomen. Vor zehn Minuten noch dem Schlafkoma nahe, sah er nun aus wie einem Modejournal entsprungen. Gestylt von den Schuhspitzen bis zu den Haarwurzeln. Zu allem Überfluss schien er noch nicht einmal zu schwitzen, obwohl er die Strecke hierher in voller Montur gejoggt sein musste. Sie kannte keinen Mann, der die Bezeichnung smart mehr verdiente als er. Der Anzug saß so perfekt wie die Frisur, das Hemd zeigte nicht die kleinste Knitterfalte und selbst seine Schuhe schienen frisch geputzt.

Karin wünschte sich allerdings, dass er mehr Wert auf Pünktlichkeit als auf sein Äußeres legte. Auch wenn sie ihm nicht länger böse war, wies sie ihn zurecht. „In Zukunft wäre es besser, du kämst deinen Pflichten nach, statt ewig zu pennen und dich deshalb zu verspäten!“

Samir ließ ihre Bemerkung unkommentiert. Er hielt es für unnötig, seine Gepflogenheiten zu diskutieren. Sie musste nicht wissen, dass er seine Klamotten abends für den nächsten Tag bereitlegte, um so Zeit zu sparen und länger schlafen zu können. Auch wenn es ihm heute leider nichts gebracht hatte.

Stattdessen gab er sich zerknirscht. „Ich bemühe mich wirklich, aber morgens komme ich einfach nicht in die Gänge.“

„Ist schon gut. Wenigstens quatschst du einem um diese Uhrzeit kein Ohr ab. Gutgelaunte, dynamische Frühaufsteher à la Schreyer, die denken, jeder müsse genauso agil sein wie sie, sind mir ein Gräuel. Aber das ist keine Entschuldigung für dein Verhalten.“

„Schon kapiert. Also, was liegt an?“

Karin setzte ihn ins Bild. „Er wird jetzt gleich herausgeholt.“

„Noch keine Presse da?“ fragte Samir harmlos, aber Karin sah darin eine Anspielung auf ihre Beziehung zu Edgar Frentz und reagierte verschnupft.

„Ich weiß sehr genau Berufliches von Privatem zu trennen. Edgar bekommt nur die Informationen, die die anderen Medien auch erhalten und das auch keinen Augenblick früher.“

„So habe ich das nicht gemeint!“, verteidigte sich Samir.

„Es wundert mich nur, dass bei dem Auflauf noch keiner der Zuschauer die Presse angerufen hat.“

„Wahrscheinlich hat sich das längst rumgetwittert und bald kursieren die ersten Fotos bei Facebook“, stöhnte sie.

„Kann ich schnell überprüfen“, schlug er vor und zog sein Smartphone aus der Tasche.

„Lass das stecken. Wir haben im Moment Wichtigeres zu tun.“

„Okay. Ich werfe dann mal einen Blick auf das Opfer, in Ordnung? Du siehst übrigens scharf aus. Solltest öfter Kleider tragen.“

Karin knurrte, sagte aber nichts. Sie hatte sich noch nicht überwinden können, den Toten eingehender zu betrachten und hoffte, dass es bis jetzt keiner bemerkt hatte. Stattdessen schaute sie ihren Kollegen an, der sich grübelnd übers Kinn strich.

„Ich glaube, ich kenne den Mann.“

„Wirklich?“, erwiderte sie verblüfft.

„Ja! Gestern Abend habe ich einen Kulturkanal gesehen und da war ein Porträt über ihn drin. Das ist Paul Meyerbrinck, Bestsellerautor. Ein Mann, auf den die Frauen fliegen, was er selbst gern betonte. Viermal geschieden und unzählige Affären. Hat gerade auf der Frankfurter Buchmesse seinen neuen Roman „Düsteres Land“ vorgestellt und nimmt in Mainz an dem Krimifestival teil.“

„Welches Krimifestival?“, echoten Martin, Karin und Christina.

„Habt ihr das nicht mitbekommen? Es hängen doch überall Plakate, die die Mordiale bewerben. Heute Abend gibt es eine Diskussionsrunde über den Stellenwert des deutschen Krimis in den Medien. Ich glaube, im Frankfurter Hof. Außerdem finden jede Menge Lesungen statt und im Kino gibt es die Sneak-Preview eines Thrillers. Da drüben hängt übrigens ein Plakat.“

Dass Samir Kulturfernsehen sah und sich in der Krimischreiberszene auskannte, war eine neue Facette an ihm und erstaunte Karin. Sie las prinzipiell keine Krimis. Meist stimmte der dargestellte Polizeialltag hinten und vorne nicht, was sie fürchterlich ärgerte. Sie hatte auch ihre Probleme mit den Ermittlerfiguren. Entweder waren sie generell bindungsunfähig oder depressiv, mit kaputter Ehe und zerrütteter Familie. In letzter Zeit rückten allerdings vermehrt alleinerziehende Mütter, die ständig an ihre Grenzen gehen mussten, in den Vordergrund. Warum gab es keine Kommissare mehr, die einfach nur ermittelten, ohne selbst zu sehr im Fokus der Handlung zu stehen? „Du bist wirklich auf dem Laufenden“, meinte sie anerkennend.

„Wenn man mitreden will, muss man sich eben informieren. Kommt eigentlich Doktor Waldner?“

„Ich habe ihn nicht erreicht, aber das ist auch nicht nötig. Die Spurenlage ist absolut klar“, erwiderte Martin Pfahl, während er die Temperatur des Brunnenwassers maß. „Es reicht, wenn Waldner ihn später auf den Tisch bekommt. Wir können den Toten jetzt bergen. Gibst du dem Bestatter Bescheid, dass er sich bereithält“, bat er Christina.

Wenig später lag der Tote auf dem Leichensack vor dem Brunnenbecken. Martin Pfahl durchsuchte seine Taschen und fand eine Geldbörse samt Ausweis sowie die Schlüsselkarte eines Hotels und eine verwaschene Kinokarte für die Spätvorstellung.

„Samir, du hattest recht, es ist tatsächlich Paul Meyerbrinck. Wo er gewohnt hat, müsst ihr allerdings selbst herausfinden, denn die Schlüsselkarte trägt keine Aufschrift, sondern hat nur ein Logo, das aussieht wie ein Veilchen.“

„Kein Problem“, versicherte Samir und hatte endlich einen Grund, sein Smartphone einzusetzen, um sämtliche Mainzer Hotels aus dem Internet abzurufen. „Wenige Meter von hier hat ein neues eröffnet. Es heißt Villa Viola. Der Name würde zu dem Logo passen. Wo wir schon einmal da sind, könnten wir gleich dort unser Glück versuchen“, schlug er vor.

„Gute Idee“, stimmte ihm Karin zu.

„Hier habe ich auch noch die Homepage unseres Toten: Jahrgang 1966, wohnhaft in Düsseldorf, geschieden. Hat insgesamt sechs Bücher veröffentlicht, wovon sein letztes alle vorherigen Rekorde bricht. Ein siebtes ist gerade im Entstehen.“

„Dann wollen wir mal Kontakt zu den Kollegen dort aufnehmen und sie bitten, seine Wohnung zu durchsuchen. Und während wir in dieses Hotel gehen, sollen sich ein paar Kollegen in den Wohnhäusern umhören, ob jemand heute Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt hat“, erteilte sie letzte Anweisungen.

 

Sieben

Marco Piazetti, Kriminalkommissar mit italienischen Wurzeln, saß in seinem Büro im Polizeipräsidium und hielt die Stellung. Für ihn stellten die unterschiedlichen Kulturkreise kein Hindernis dar, und er lebte eine Mischung aus deutscher Akkuratesse und italienischem Dolcefarniente. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war er einer der jungen Beamten des K11 und gehörte erst seit gut einem Jahr zur Truppe. Er hatte sich hervorragend in das Team eingefügt und bislang nichts von seinem Feuereifer eingebüßt, den er seit dem ersten Tag demonstrierte. Als erklärter PC-Fachmann und Technikfreak genoss er innerhalb der Abteilung eine Sonderstellung und avancierte binnen kurzer Zeit zur Anlaufstelle für sämtliche Hard- und Softwareprobleme. Im Gegensatz zu vielen seiner Geschlechtsgenossen investierte er sein Geld nicht in Autos, sondern setzte auf ein Hightech-Mountainbike sowie jede erdenkliche Elektronik. So besaß er neben einer sündhaft teuren Stereoanlage samt Turntable und Dolby-Surround-System einen riesigen Flachbildfernseher mit integrierter Festplatte und Receiver, dessen Hintergrundbeleuchtung sich automatisch dem Fernsehbild anpasste. Mehrere Spielkonsolen unterschiedlicher Hersteller und zwei hochgerüstete Rechner, die er genauso regelmäßig austauschte wie sein Smartphone, gehörten zum Wohnungsinventar. Im Präsidium munkelte man, dass er seine Wohnung per Videokamera überwachte und von seinem Arbeitsplatz Zugriff darauf hatte. Beweise dafür ließen sich bis jetzt allerdings nicht erbringen.

Marco hatte von dem Toten erfahren, kaum dass er die Abteilung betreten hatte. Über die näheren Umstände des Mordes wusste allerdings noch niemand richtig Bescheid, nur, dass der Mann in einem Brunnen gefunden worden war. Da früher oder später seine technischen Fähigkeiten gefragt sein würden, rechnete Marco mit einem baldigen Anruf von Karin Weber oder Martin Pfahl und hielt sich deshalb bereit. Bis dahin tat er das, was er jeden Morgen als erstes machte: Er checkte seine E-Mails. Die Kaffeetasse in der Rechten, öffnete er mit der Linken per Mausklick seine Post. Die Abteilung hatte vier neue Mitteilungen, von der ihm eine besonders ins Auge stach. Sie war gestern kurz vor 22 Uhr eingegangen, hatte zwei Anhänge und kam von jemandem namens Bonnie, was Marco definitiv nichts sagte. Am meisten irritierte ihn aber der Betreff. In der Zeile stand ein schlichtes „M“.

Zuerst überprüfte er die Mail auf Viren und als das „Okay“ kam, klickte er den ersten Anhang an. Auf dem Monitor baute sich ein schwarzes Fadenkreuz vor blutrotem Hintergrund auf. Im Zentrum des Kreuzes stand eine „1“. Marco fühlte sich stark an den „Tatort“-Vorspann erinnert. Dann öffnete er den zweiten Anhang und ein Foto mit einem toten Fisch erschien. Das irritierte ihn noch mehr.

„Da ist wohl ein kleiner Scherzkeks zugange“, murmelte er laut. Aber er löschte die Botschaft nicht, sondern legte einen Ordner an, in den er die E-Mail verschob.

 

Acht

Viola Sommer stand an der Schwelle zum Frühstückszimmer und ließ ihren Blick durch den kleinen, salonähnlichen Raum wandern. Die Tische waren eingedeckt und das Frühstücksbüfett aufgebaut. Kleine Blumenarrangements waren dezent platziert, die Bilder an den Wänden erweckten den Eindruck von Distinguiertheit und die Leuchten setzten alles ins rechte Licht – es war perfekt.

Vor mehr als zwei Jahren hatte sie mit ihrer Schwester Heide die klassizistische Jugendstilvilla am Fischtorplatz von einem Onkel geerbt, der nach dem Krieg in die USA ausgewandert war. Sie kannten ihn zwar kaum und hatten sich nur ein paarmal gesehen, dennoch schien er Gefallen an ihnen gefunden zu haben, sonst hätte er ihnen weder das Haus noch die stattliche Summe vermacht, mit der sie das Gebäude wieder auf Vordermann bringen konnten. Anfangs überlegten sie, es zu einem Mietshaus umzubauen. Doch dann nahm die Idee eines kleinen, aber feinen Stadthotels, das sie gemeinsam leiten wollten, immer mehr Gestalt an, und da beide ursprünglich aus dieser Branche kamen und mit deren Gepflogenheiten vertraut waren, glaubten sie fest an einen Erfolg. Vor drei Wochen war nach einer 13-monatigen Umbauphase Eröffnung gewesen und das Konzept, ein Hotel für bestimmte Gruppen zu etablieren, schien aufzugehen, denn sie waren komplett ausgebucht.

Das verdankten sie in allererster Linie dem Krimifestival Mordiale, das dieses Jahr in Mainz stattfand. Alle Gäste der Villa Viola nahmen an dieser Veranstaltung teil. Den Auftakt machte am Abend ein Podiumsgespräch, an dem ein Autorenpaar, ein Schauspieler und zwei Medienleute von ZDF und SWR teilnahmen. Moderiert werden sollte der Abend von Friedrich Quellborn, einem Regisseur, der in der Villa Viola Quartier beziehen wollte und sich für heute mit seiner Frau Sieglinde Sonnentau angekündigt hatte. Die Erotikautorin Herlinde von Hachenburg, der Schriftsteller Roger de Liernais, der sich auf eine Kombination aus Science-Fiction und Krimi spezialisiert hatte, sowie Paul Meyerbrinck, um den ein regelrechter Hype ausgebrochen war, wohnten bereits seit gestern hier. Meyerbrinck war der mit Abstand prominenteste Gast. Mit seiner isländischen Romanfigur, dem schrulligen Polizisten Atli Sindrisson eroberte er gerade die Leser im Sturm. Das Buch kletterte die Bestsellerlisten hinauf. Es fehlte nur noch ein Platz und er übernahm die Führung.

Viola Sommer war schon sehr gespannt auf das illustre Völkchen, das während der nächsten Tage die Villa bewohnen würde. Ihr war sogar der Coup gelungen, kurzfristig eine Lesung in der schummrigen Art-Deco-Bar der Villa Viola zu organisieren. Drei Autoren würden am Freitagabend Auszüge aus ihren Werken lesen. Sie freute sich sehr darauf. Nicht nur, weil sie selbst eine begeisterte Leserin war, sondern weil sie sich vor allem Werbung für ihr neues Hotel versprach.

Die Sonne brach durch die Wolken und ließ die terracottafarbenen Wände aufleuchten. Violas Augen blieben an Suzann, der Servicekraft, hängen, die bereitstand, um die Gäste mit frischem Kaffee, Tee oder anderen Getränken zu bedienen. Die junge Frau wäre rein theoretisch durch einen Vollautomaten zu ersetzen, aber Viola und ihre Schwester legten Wert auf persönlichen Service und Kundenfreundlichkeit und hielten nichts von den nüchternen Frühstückshallen, die auf dem Vormarsch waren. Suzann verdiente sich mit dem Job im Hotel etwas dazu, da ihr eigentlicher Beruf sie nicht ernährte. Seit sie hier arbeitete, entpuppte sie sich als zuverlässige Kraft, auf die die beiden Hotelbesitzerinnen nur ungern verzichteten. Suzanns stille Schönheit erinnerte Viola Sommer an die Venus von Botticelli. Eigentlich war sie ein fröhlicher Mensch, der gern lachte. Doch heute Morgen schien sie abwesend und niedergedrückt. Sie kam Viola ungewohnt blass vor und sie fürchtete, ihre Angestellte könnte krank werden. Als sie sich danach erkundigte, zuckte die junge Frau erschrocken zusammen.

„Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut“, versicherte sie zaghaft, schaute aber an ihrer Chefin vorbei.

Bevor Viola Sommer nachhaken konnte, erschien Roger de Liernais und nahm die Hotelbesitzerin sofort in Beschlag. Auf seine Gegenwart hätte sie im Augenblick liebend gern verzichtet, denn der Autor stellte ihre Geduld als Gastgeberin auf eine harte Probe. Ihm war nichts recht zu machen. Erst waren die Handtücher nicht weich genug, dann die Matratze des Bettes zu hart, der Ausblick auf den Rhein nicht wie erwartet – Platanen versperrten die Sicht – und die Minibar unzureichend bestückt. Viola Sommer ertrug seine Forderungen mit der Nonchalance langjähriger Erfahrung im Hotelgewerbe. Sie hatte versucht, ihn versöhnlich zu stimmen, indem sie ihm auf Kosten des Hauses eine Flasche Silvaner und rheinhessische Schmankerl servieren ließ. Diese Geste hatte bei ihm aber anscheinend nicht die erhoffte Entspannung erzielt, denn er steuerte mit finsterem Blick auf sie zu. Ohne ihr einen Guten Morgen zu wünschen, blaffte er quer durch den Raum: „Gibt es schon Frühstück?“

Viola Sommer, für die der Kunde stets der König blieb, lächelte auf Kommando, auch wenn es ihr bei ihm schwerfiel. „Guten Morgen, Herr de Liernais. Selbstverständlich. Bereits seit sieben Uhr. Sie sind der Erste und haben freie Tischwahl. Suzann bedient Sie. Teilen Sie ihr Ihre Wünsche einfach mit und sie wird sie erfüllen. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht?“

De Liernais nickte widerwillig. „Besser als erwartet.“

„Dann wurde die Matratze Ihren Ansprüchen gerecht?“

Er hatte sich jedoch bereits von ihr abgewandt und ging weiter, ohne ihre Frage zu beantworten. Bei den Zeitungsauslagen blieb er stehen, nahm sich schließlich die taz und wählte einen Tisch am hinteren Fenster, an dem er das beste Licht hatte. Dann schnipste er mit den Fingern in Richtung Suzann, und Viola zog sich an die Rezeption zurück.

Kaum hatte sie ihm den Rücken gekehrt, verschwand ihr aufgesetztes Lächeln. Sie konnte Roger de Liernais nicht ausstehen. Er war ein aufgeblasener Wichtigtuer, der glaubte, jeder müsse in Ehrfurcht erstarren, sobald sein Name fiel. Er zehrte noch immer vom Ruhm seiner Romanfigur, die vor Jahren einmal Vorbild für eine Krimiserie gewesen war, die inzwischen aber längst nicht mehr ausgestrahlt wurde. Der Rest seiner Bücher dümpelte eher vor sich hin und war auf keiner Bestsellerliste zu finden. Auch die Verkaufsränge im Online-Versandbuchhandel überzeugten nicht, wie Viola nach kurzer Recherche herausgefunden hatte. Sein selbstgewähltes Pseudonym sollte ihm wohl den frankophilen Touch verleihen, aber sie fand es schlicht unpassend. Eigentlich hieß er Frank Hohlbein, so stand es zumindest in seinem Ausweis. Hohlkopf erschien Viola eindeutig zutreffender, denn mehr als heiße Luft produzierte er ihrer Ansicht nach nicht.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Kurz nach acht. Yuri, der Azubi, müsste bereits da sein, aber er glänzte durch Abwesenheit. Seufzend registrierte sie diese Unzuverlässigkeit und ging die Liste der angekündigten Gäste durch, die bald ihre Zimmer beziehen würden.

Die Eingangstür öffnete sich. Ein Mann und eine Frau traten ein und steuerten auf die Rezeption zu. Laut Buchungsliste konnten das nur Sieglinde Sonnentau und Friedrich Quellborn sein, denn sie waren das einzige Ehepaar, das heute anreiste. Aber irgendwie passten sie nicht zu Violas Vorstellung eines Regisseurs und einer Kinderbuchautorin. Ihnen fehlte jegliche künstlerisch-kreative Aura, wie sie zum Beispiel ein Roger de Liernais vermittelte. Beide grüßten freundlich und zückten eine Karte, die definitiv nicht nach Personalausweis aussah.

„Wir sind Kriminalhauptkommissarin Weber und Kriminaloberkommissar Stockwinkel, Kripo Mainz. Könnten wir den Manager sprechen?“, bat Karin Weber.

„Ich bin eine der Managerinnen“, lächelte Viola, ihre Überraschung verbergend, und nannte ihren Namen. „Was kann ich für Sie tun?“

„Kennen Sie einen Paul Meyerbrinck?“

„Ja. Er wohnt seit gestern hier. Ist etwas mit ihm?“

„Können wir irgendwo ungestört reden? Es handelt sich nämlich um eine ernste Angelegenheit“, bat Samir mit tiefer Stimme.

Viola schaute sich hilfesuchend um. Yuri, der sie an der Rezeption vertreten konnte, war immer noch nicht da, und ihre Schwester würde erst gegen 14 Uhr kommen, um die zweite Schicht zu übernehmen.

„Ich kann den Empfang nicht allein lassen, sonst wären wir in einen der Besprechungsräume gegangen. Aber kommen Sie doch bitte mit in mein Büro, gleich nebenan. Es ist zwar etwas eng, aber wir werden schon Platz finden. Wenn ich die Tür einen Spalt offen lasse, höre ich es, sollte jemand nach mir verlangen“, sagte sie und ging voraus. „Bitte setzen Sie sich.“ Sie deutete auf einen Sessel und einen Schreibtischstuhl, während sie sich einen Klapphocker nahm.

Bevor die Kommissare ihre Fragen stellen konnten, stürmte ein junger Mann ins Büro und plapperte aufgeregt los: „Tschuldigung fürs Zuspätkommen, aber der Bus kam einfach nicht durch. Die Rheinstraße ist dicht und es gibt einen Riesenstau bis über die Theodor-Heuss-Brücke. Ich bin am Kurfürstlichen Schloss ausgestiegen und den Rest gelaufen. Außerdem ist der Fischtorplatz abgesperrt. Dort wimmelt es nur so von Bullen. Muss irgendetwas Schlimmes passiert sein“, schloss er atemlos seine Ausführungen. Karin und Samir verzogen keine Miene, als Viola Sommer sich für ihren Azubi entschuldigte und ihn dann belehrte: „Zunächst einmal ‚Guten Morgen! Und von Anklopfen haben Sie wohl auch noch nichts gehört? Außerdem hätten Sie mich anrufen können.“

Yuri Petrov errötete bis über beide Ohren. „Verzeihung Frau Sommer und äh ‚Guten Morgen‘. Es tut mir wirklich leid wegen der Verspätung. Ich wollte Sie ja anrufen, bekam aber keine Verbindung, mein Handynetz ist nämlich abgeka…, ich meine überlastet“, korrigierte er sich gerade noch rechtzeitig.

„Yuri, wir werden noch an Ihren Umgangsformen arbeiten müssen“, seufzte sie. „Vertreten Sie mich jetzt bitte an der Rezeption. Ich möchte ungestört sein, wenn ich mich mit den beiden Kommissaren hier unterhalte.“

Yuris Rot vertiefte sich zu einem dunklen Burgunderton, als er hörte, wer seiner Chefin Gesellschaft leistete, und er verließ deutlich gesitteter den Raum.

Dann wandte sie sich den beiden Polizeibeamten zu. „Hat Ihr Besuch etwas mit dieser Absperrung zu tun?“