Bevor der letzte Zug fährt - Penelope Mortimer - E-Book

Bevor der letzte Zug fährt E-Book

Penelope Mortimer

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ruth Whiting, 37, müsste eigentlich glücklich sein. Sie lebt im idyllischen Londoner Umland, hat drei gesunde Kinder, und ihr Zahnarztgatte kommt an den meisten Wochenenden heim. In Wahrheit langweilt sie sich zu Tode, ihr Leben ist eine endlose Aneinanderreihung von Verabredungen mit anderen Vorortfrauen, und bei Kuchen, Sherry und geistlosen Gesprächen verrinnt ihre Zeit. Als ihre 18-jährige Tochter ungewollt schwanger wird, erinnert sich Ruth daran, wie sie jung Mutter wurde, bevor sie überhaupt wusste, wer sie war. Jetzt will sie alles dafür tun, ihrer Tochter eine freie Entscheidung zu ermöglichen. In ihrem 1958 erstmals veröffentlichten Roman seziert Penelope Mortimer mit sarkastischem Humor die Abgründe eines unfreien Frauenlebens und zeigt zugleich den Schmerz ungewollter Mutterschaft. Ein aktuelles Thema, zeitlos brillant erzählt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Penelope Mortimer

Bevor derletzte Zug fährt

Roman

Aus dem Englischenvon Kristine Kress

DÖRLEMANN

Die englische Originalausgabe »Daddy’s Gone A-Hunting« erschien 1958 bei Michael Joseph, Ltd., London.   Die Arbeit der Übersetzerin wurde im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.   Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Copyright © The Estate of Penelope Mortimer, 1958 © 2023 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf Umschlagbild: Art Kovalenco/Shutterstock Porträt von Penelope Mortimer auf Seite 5: © Ida Kar, National Portrait Gallery, London Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-908-9www.doerlemann.ch

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumPorträt1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041Zur Autorin und zu ihrer ÜbersetzerinZum Buch

Penelope Mortimer

1

Ruth Whiting stieg aus, sobald der Zug hielt. Sie hatte ihre Einkäufe beisammen, seit die Bahn am Friedhof vorbeigefahren war, die schmuckvollen Tüten und dezenten Schachteln aus Knightsbridge. Sie hatte an der Tür gestanden, das Ticket in den Handschuh gesteckt, die Pakete mit den Schlaufen und Griffen nach oben auf dem Sitz, sodass sie keine Zeit verlieren würde. Ramsbridge war die Endstation. Selbst wenn sie überraschend im Wagen eingeschlossen worden wäre, hätte keine Gefahr bestanden. Wäre sie in Eile gewesen, hätte sie die Pakete vielleicht für einen wackligen Sprung auf den Bahnsteig zusammengerafft. Sie war nicht in Eile. Sie stand einfach nur da in diesem staubigen, einsamen Wagen, vor der vorüberziehenden Kulisse aus Abraumhalden, schwarzen Ziegeln und Reklame für Mazawattee-Tee und Virol-Malzextrakt, und versuchte, Ordnung zu halten.

Diese spezielle Fahrt, nachdem sie die Kinder wieder ins Internat verabschiedet hatte, war immer unerträglich. Auf dem Weg nach London war der Waggon noch voll, die beiden Jungs füllten ihn mit ihren Beinen und Füßen, den in den Ferien aufgeschürften Knien und den neuen schweren Schuhen, ihre Körper, klein und über diese langen, knochigen, seltsam gekleideten Extremitäten gekrümmt, steckten in Blazern, die ihnen entweder zu klein oder zu groß waren. Ihre Hände lagen unschlüssig im Schoß, zu schwach, um ein Bonbon auszuwickeln oder die Seiten der erbaulichen Comics umzublättern, die sie ihnen besorgt hatte. Das Gespräch war hektisch, zusammenhanglos und für alle drei eine Strapaze. Alles war auf den Moment der Trennung ausgerichtet, den Augenblick, in dem der andere Zug, größer, schneller und grausamer als dieser hier, in das dunstige Sonnenlicht hinter Waterloo hinausgleiten würde und zwei Insektenarme winkten, bis sie ruckartig nach drinnen gezogen wurden.

Bis der Zug außer Sicht war, würde Ruth ihre Hand erhoben halten, nicht winkend, sondern als ob sie einen schüchternen, unbeholfenen Segen erteilte. Wenn sie sich danach umdrehte, kehrte sie in eine Welt ohne Disziplin und Ziel zurück. Das war der Grund für ihre vielen Einkäufe. Auf der Rückfahrt besetzten die Pakete den stillen Waggon, das leere Auto; sie mussten ausgepackt und eingeräumt werden, sie waren eine Garantie auf die Zukunft.

Sie war die Erste auf dem Bahnsteig, dem Klackern ihrer hohen Absätze folgte das müde Schlurfen der wenigen Pendler, vier oder fünf vorzeitig gealterte Geschäftsmänner, die aus Sparsamkeit, gesundheitlichen Gründen oder Feigheit entschieden hatten, dass es vernünftig wäre, jeden Tag hundertfünfzig Kilometer weit zu fahren. Sie passierte die Schranke – das Handgelenk mit einer charmanten, fast koketten Geste ausgestreckt, um das Ticket zur Entnahme aus dem Handschuh darzubieten, ›ja, sie sind gut losgekommen‹ murmelnd, ›ja, wird komisch sein ohne sie‹ –, ehe das abgehalfterte Glied heruntergezogener Trilbyhüte und alter Armeeregenmäntel die zischende Lokomotive entlanggekrochen kam. Sie war im Auto und auf dem Weg, bevor sie aus dem Bahnhof tröpfelten, die Augen gegen die schwache, ungewohnte Sonne zusammengekniffen, und sich mit bleichen Gesichtern bang nach ihren Frauen umsahen, die mit etwas Glück gekommen waren, um sie abzuholen.

Erst als sie von der Hauptstraße abgefahren war, rutschte Ruth in ihrem Sitz ein wenig nach unten, lockerte ihren Griff ums Lenkrad und seufzte. Es war Herbst. Der lange, quälende, frustrierende Sommer war vorbei: der Sommer der nassen Socken und der von Salz und Sand versteinerten Turnschuhe; der Sommer der Gummistiefel und Monopolyrunden, der im Regen stehen gelassenen Fahrräder und des ständigen, stechenden Kaugummigeruchs; der Sommer der Unzulänglichkeit. Er begann mit Erdbeeren, die wie Juwelen aus feuchten Blättern und Strohhaufen herausgeklaubt wurden, und endete mit erbittertem Streit darüber, wer die Stangenbohnen, hart und braun wie altes Leder, schnippeln musste. Und jetzt war es vorbei. Die Kinder, der Sommer, fort.

Die Straße kletterte zwischen kupferrot und purpurn leuchtenden Buchen steil nach oben. Die Luft war rauchig, füllte die Brust mit dem bitteren Geschmack verkohlten Holzes.

Was bleibt? Was ist übrig für morgen?

Angela. Angela ist noch da. Warum denkst du nicht an Angela?

Selbst Rex war fort, dankbar zurückgekehrt zur Arbeit und seiner Londoner Wohnung, nach dem Monat der Qual und der Langeweile, auch bekannt als sein Urlaub. Es war mitten in der Woche, und nie schaffte er es, die Kinder zum Zug zu bringen. Er machte es gut, indem er sie am Abend davor anrief. Wenn sie die verdrehten Augen sah, das übertriebene Lächeln, das angestrengte Hochwinden und Zusammensacken an der Wand, als wären sie von einem tödlichen Stromschlag getroffen, dann wusste sie genau, dass Rex seinen Witz über die Hausmutter erzählte, sie davor warnte, zu viel zu essen, und sie daran erinnerte, dass er sie, Ruth, angewiesen hatte, jedem von ihnen zehn Schilling zu geben, die sie nicht verlieren sollten. Manchmal verschwand nach so einem Telefongespräch der Ältere, Julian, und verbrachte eine qualvolle halbe Stunde damit, Wiesenkerbel auszurupfen und die Hühner zu triezen. Das, alles davon, war vorbei.

Sie zitterte und fragte sich, ob Angela daran gedacht hatte, Feuer zu machen. Endlich brachte sie sich dazu, an Angela zu denken, die den ganzen Tag alleine gewesen war, die jetzt darauf wartete, dass sie nach Hause kam. Sie versuchte, sich darüber zu freuen, dass Angela da sein würde. Sie versuchte, dankbar zu sein. Sie konzentrierte sich bewusst auf das Bild von Angela, wie sie Feuer machte, ihr langes Haar über die Schulter fließend, während sie vor dem Rost kniete und ihre grazilen Finger anmutig Stück für Stück die Kohle nahmen und diese auf den pyramidenförmig aufgeschichteten Holzstöcken arrangierten, als legte sie ein Mosaik. Ihr langer, schmaler Körper in schwarzen Jeans und dunklem Pullover auf dem Kaminvorleger zusammengekauert, beinahe unscheinbar. Das Bild wurde lebendig. Das Gewicht der Einsamkeit hob sich. Sie fuhr schneller. Es gab immer noch Angela zu umsorgen, die das Feuer genau zur rechten Zeit entfachte.

Nach einer kurzen Weile begann sie zu singen, leise, leicht schief. Wenn die Jungs im Auto sangen, blieb sie still. Wenn sie allein war, ging sie alle Lieder durch, die sie in der Schule gelernt hatte, Drink to Me Only, The Lass of Richmond Hill, Men of Harlech. Gelegentlich sang sie Kirchenlieder oder, wenn es eine besonders lange und einsame Fahrt war, das ganze Te Deum. Manchmal zählte sie – Männer mit Hunden, Männer mit Bärten, gescheckte Pferde – und erreichte dabei schwindelerregende Punktestände gegen sich selbst. An diesem Abend sang sie, um sich Mut zu machen, und konnte über dem immer höher steigenden Motorengeräusch kaum den Klang ihrer Stimme hören.

Oben auf dem Hügel öffnete sich die Landschaft zu einem flachen Plateau aus Stechginster, Brombeersträuchern und Adlerfarn, durchzogen von schmalen Straßen ohne Zäune. Hier oben war die Luft schwer vom Frost. Es war noch nicht dunkel, trotzdem schaltete sie das Standlicht ein und wurde langsamer, als zwanzig Meter vor ihr ein Motorrad in die Straße einbog, beschleunigte und wild aufröhrend auf sie zukam. Sie registrierte einen Jungen, der einen gewaltigen Schal um den Hals geschlungen hatte, ein Mädchen mit wehendem Haar auf dem Sozius, die Arme im Dufflecoat eng um die Taille des Jungen geschlungen. Während sie an ihr vorbeischossen, öffnete das Mädchen den Mund, verbog sich gefährlich und winkte. Als Ruth sich umdrehte, verschwand das rote Rücklicht gerade in der Ferne, tauchte in den Wald, war fort.

Also hatte Angela doch kein Feuer gemacht. Das Haus würde leer sein.

Sie bog an der Kreuzung ab und fuhr langsam den holprigen Weg hinunter. Die Lichter aus dem Haus der Tanners drangen durch die hohe Eibenhecke, zwei Autos parkten in der Auffahrt. Die Tanners hatten Besuch. Sollte sie anhalten und klingeln, sich in das schummrige, unordentliche Wohnzimmer wagen, zu den gleichgültigen Fremden?

»Ich habe gerade meine Tochter getroffen …« Sie konnte schon ihr kleines Lachen hören, etwas zu beflissen, zu sehr betonend, dass es als Witz gemeint war. »Auf dem Rücksitz einer Vespa an mir vorbeirasend. Nein, ich habe nicht die leiseste Idee, wer der Fahrer war. Ein junger Mann aus Oxford, nehme ich an.« Das sollte heißen, Sie wissen ja, wie diese Teenagermädchen sind, einfach nicht zu kontrollieren. Jemand würde sie desinteressiert fragen, wie alt Angela sei, und sie würde sagen: achtzehn, und jemand anders, wahrscheinlich eine Frau, würde sagen: Nein, auf gar keinen Fall könne sie eine achtzehnjährige Tochter haben, und Richard Tanner würde sagen: Oh ja, die Zeitungen waren voll davon damals.

In all den Jahren ihrer Ehe – ein langer Krieg, in dem ein Angriff, so er nicht erfolgte, stets drohte – hatte sie eine meisterhafte Geschicklichkeit erworben. Verletzungen konnten vermieden, dem Unglück entkommen werden, indem man weglief. Gefühle von Schuld und Feigheit wurden überwunden mit Hilfe von Träumen, Spielen und dem sanften Klang ihrer eigenen Stimme, die sie beriet und tadelte, wenn sie im Haus herumwirtschaftete. »Arme alte Mum«, hatte sie Julian zu Angela sagen hören, »sie wird ein bisschen bekloppt.« Sie war immer noch jung und ihr nach außen gewöhnliches Leben erfüllt von tiefer Fantasie und voller Verstecke – unter den gleichförmigen Tagen befand sich ein Irrgarten aus Heimlichkeit und List und Hoffnung.

Sie würde nicht zu den Tanners gehen. Sie hatte dem verführerischen Impuls widerstanden, sich zu zeigen, zu versuchen, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Sie schaltete energisch einen Gang hoch und fuhr weiter, ein heiteres kleines Lächeln um den Mund, als erwartete sie, am Ziel der langen Fahrt willkommen geheißen zu werden.

2

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Angela.

Tony ist vorbeigekommen, und wir sind nach Ramsbridge und stürzen uns dort ins Vergnügen – hoffe, das ist in Ordnung – Aufschnitt ist im Kühlschrank – brauchst nicht warten – Alles Liebe, A. BITTE WENDEN

Gehorsam drehte Ruth das Blatt um.

Daddy hat angerufen – bitte Rückruf vor 7. Tony sagt Danke für den Tee – hoffe, die Jungs sind gut losgekommen – Alles Liebe, A.

Atemlos vor Eile und Bedeutsamkeit. Wer Tony war, woher er gekommen war und warum, sollte Ruth nichts angehen. Und doch schrie die Botschaft, dass es sie sehr wohl etwas anging, dass ihre Anerkennung gebraucht wurde, aus jedem Alles Liebe, aus der Notwendigkeit, die ganze Seite mit großer, nachdrücklicher Schrift zu bedecken. Der Aufschnitt und die Hoffnung, dass die Jungs gut losgekommen sind, waren Kontaktversuche, so hoffnungslos und wild wie die winkende Hand, der stumme Schrei, als sie mit hundert Kilometer die Stunde am Horizont verschwand.

Ach ja. Ich denke, es geht ihr gut. Bestimmt geht es ihr gut.

Sie legte den Zettel auf den Küchentisch und zog langsam ihre Handschuhe aus. Oben schwang quietschend eine Tür in den Angeln. Der Wasserhahn tropfte. Sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich gesprochen oder einfach ihre Gedanken gehört hatte. Sie ging zum Küchenschrank, holte Gin und Wermut heraus und schenkte sich einen Drink ein.

»Sie fing an, alleine zu trinken. Sie begann, mit sich selbst zu sprechen. An dem Abend, als ihre Tochter mit einem jungen Mann namens Tony unterwegs war …«

Sie stand schnell auf und begann, ihre Päckchen auszupacken, Tweed für ein neues Kleid, Handtücher namens Sie und Er, Strümpfe, zwei Pyjamas, eine Seife. Als Letztes wickelte sie vorsichtig eine Spieluhr aus.

Es war ein Geschenk für Jane Tanners Baby. Sie hatte ihre Melodie, seltsam traurig und zögerlich, in den Tiefen des Spielzeugladens klimpern hören, in den sie gegangen war, um Ersatzteile für Julians Metallbaukasten zu besorgen. Ein strenges kleines Mädchen mit einer dicken runden Brille hatte die Kurbel gedreht.

Es war ein hübsches Ding, in Form einer Wiege und mit Glitzerfolie, Silberpapier und Spitze dekoriert. Das kleine Mädchen bewegte die Kurbel seiner unnachgiebigen Erscheinung zum Trotz mit Behutsamkeit.

»Was ist das? Die Melodie, meine ich.«

Das Mädchen hatte aufmerksam zugehört, die Kurbel erst langsam, dann schneller drehend. Die Melodie blieb melancholisch und süß, eine Klage ohne Bitterkeit.

»Ich glaube, es ist Bye, Baby Bunting. Aber sicher bin ich mir nicht.«

»Möchtest du sie haben?«

»Sie können sie nehmen, wenn Sie wollen. Ich bin nämlich schon sieben. Etwas alt für so etwas.«

Also hatte sie die Spieluhr gekauft, für Jane Tanners Baby, wie sie dachte. Jetzt hielt sie sie, vom Seidenpapier befreit, in der Hand und drehte vorsichtig an der Kurbel. Die Melodie setzte mitten im Takt ein, ein Insektenrequiem, trostlos, dünn wie Luft.

Bye, Baby Bunting

Daddy’s gone a-hunting …

Wie das kleine Mädchen drehte sie die Kurbel in verschiedenen Geschwindigkeiten, dann hielt sie plötzlich inne und lauschte dem letzten Ton nach, gespannt und aufmerksam, versuchte, ihn zu fassen zu kriegen. In der Wiege aus Papier und Spitze lag ein erbsengroßer Zelluloidkopf in sanftem Schlaf. Er war an die Bettdecke geklebt und hatte keinen Körper. Die ganze raffinierte Konstruktion wog in ihrer Hand nicht mehr als eine Streichholzschachtel.

Als das Telefon klingelte, nahm sie das Spielzeug mit in den Flur und hielt es in der Hand, während sie den Hörer abnahm.

Die Stimme schoss sofort los. »Hallo? Hallo?«

Sie setzte sich, stellte die Spieluhr auf den Tisch und fühlte die Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger. Natürlich ist das keine echte Spitze, sagte sie sich, vielleicht irgendein Kunststoff. Obwohl das eindeutig kein Plastik ist. Das ist Baumwolle, und alles zusammen wahrscheinlich in Japan gefertigt.

»Hallo? Ruth, hörst du mich? Hallo?«

»Ja, Rex, ich höre dich.«

»Hat Angela dir keinen Zettel hingelegt? Ich habe um Rückruf gebeten.«

»Tut mir leid. Ich bin eben erst nach Hause gekommen, und der Zettel war auf dem Küchentisch. Ich bin gerade erst zur Tür rein.«

»Du warst verdammt lange unterwegs. Ich hab bis sieben im Apartment gewartet. Hast du den Zug um halb fünf nicht erwischt?«

»Doch, aber der hatte Verspätung, und das Auto ist nicht angesprungen.«

»Was ist mit dem Auto?«

»Vielleicht war es zu kalt oder so.« Sie nahm die Spieluhr und drehte sie um. Sie war aus Deutschland.

»Ich hab morgen eine Behandlung um halb sechs, und danach nehmen mich die Craxtons mit raus. Wir sind also zu einem späten Abendessen da. Ist das in Ordnung?«

»Du willst damit sagen, die Craxtons bleiben übers Wochenende.«

»Ja.« Eine kurze Pause und dann, bleiern: »Irgendwelche Einwände?«

»Nein.«

»Dann hast du jemanden zum Reden. Das willst du doch immer, oder nicht?«

Sie sagte nichts. Wenn man die Wiege ganz gerade hielt, konnte man sie mit einer Hand spielen.

»Sonntagvormittag könnten wir die Tanners auf einen Drink einladen.«

»Ja. Angela ist mit einem Jungen namens Tony aus.«

»Was für ein Junge?«

»Weiß ich nicht. Also, ich weiß nur, dass er Tony heißt und ein Motorrad hat.«

»Ja, hat sie dir denn nicht mehr erzählt?«

»Nein. Ich war nicht da.«

»Soll das heißen, sie ist mit irgendeinem Jungen abgezischt, ohne dir was zu sagen?«

»Nein. Sie hat mir Bescheid gesagt. Sie hat einen Zettel geschrieben. Sagte ich doch gerade.«

»Ja, und wer ist jetzt dieser Junge? Willst du damit sagen, du kennst ihn nicht?«

Sie schloss die Augen, presste ihre Knie fest zusammen. »Nein, Rex. Ich kenne ihn nicht. Hattest du viel zu tun?«

»Sehr viel.«

Wie viele Schneidezähne, wie viele Eckzähne mochte er untersucht haben, fragte sie sich, wie viele behutsame Abtragungen von faulendem Knochen, wie viel Herumbohren auf dem Nerv, wie viele blutende Löcher nach einem tüchtigem Schuss Pentathol von Craxton? Sie schluckte, öffnete ihre Augen und rückte nervös auf ihrem Stuhl nach vorne.

»Na, das ist doch schön. Dann sehen wir uns morgen. Bis dann.«

»Geht es dir gut?«, fragte er unbehaglich.

»Ja. Ja, mir geht es gut.«

»Du bist ganz allein, wenn Angela unterwegs ist, oder?«

»Ja.«

»Warum gehst du nicht rüber zu den Tanners?«

»Ich glaube, ich gehe ins Bett. Ich bin furchtbar müde.«

»Es ist erst halb acht. Du kannst doch unmöglich um halb acht ins Bett gehen.«

»Warum nicht?«

Sie legte schnell auf, bevor er antworten konnte. Warum nicht? Warum nicht? Ihr Herz raste, ihre Beine zitterten. Sie nahm die Spieluhr und ging zurück in die Küche. Das Seidenpapier war durch den Luftzug aus der offenen Tür vom Tisch geweht worden. Sie zog die Vorhänge zu und goss sich einen neuen Drink ein. Wie sie so mit ihrem Kinn in die Hand gestützt dasaß, dachte sie, dass sie bereits zügellos aussehe. In Wahrheit war ihre Miene sanft, nachdenklich; sie saß geduldig da, adrett in ihrem dunkelgrauen Kostüm und den geputzten Schuhen; ihre Stimme war anfangs kaum zu hören.

»Sie hasste ihn, ihren Mann. Das ist natürlich nicht ganz wahr.« Dann folgte eine lange Pause. Die Verzweiflung darüber, aufzugeben, sich in der Leere gehen zu lassen, war fast zu viel. Sie wollte den Kopf auf den Tisch legen und weinen, aber der Klang von Schluchzern war beängstigender als der Klang von Worten. Wie albern oder grausam Worte auch sein mochten, sie waren eine Form der Kommunikation, sie waren menschlich. Vielleicht wäre es weniger gefährlich, wenn sie sich vorstellte, dass jemand bei ihr war. Anfangs war es schwierig, weil sie nicht wusste, wen sie sich vorstellen sollte; der Zuhörer waberte, war weder Mann noch Frau, verschwand dann völlig und war nur noch ein leerer Stuhl, die weiße Farbe gleißend im harten Licht. Wenn sie den Stuhl nicht ansah, war es leichter.

»Natürlich mussten wir heiraten«, sagte sie. »Oh, das wusstest du nicht?« Sie fuhr mit dem Fingernagel das Muster der Resopalplatte entlang. Ihre Stimme war schüchtern, zögernd. »Vermutlich hätten wir trotzdem glücklich werden können. Aber wir waren es nie. Ich glaube, wir hassten uns.« Diese unsagbaren Dinge laut auszusprechen, erschütterte sie jedes Mal. Sie waren ihre Geheimnisse, schon so lange wasserdicht verschlossen, dass sie kaum noch als Wahrheit zu erkennen waren. »Angela wurde sechs Monate nach unserer Hochzeit geboren. Das weiß sie natürlich nicht. Ich wollte nicht heiraten. Ich wollte Angela nicht. Wir mussten heiraten. Es gab keine andere Wahl.«

Sie zog die Spieluhr zu sich heran, hielt sie zwischen ihren Händen. »Ist sie nicht hübsch? Ich glaube, ich werde sie doch nicht Janes Baby geben. Es ist sowieso noch nicht alt genug, um die Kurbel zu drehen. Wenn ich nach Ramsbridge fahre, kaufe ich ihr eine Puppe. Einen Teddy oder so was.«

Sie seufzte leise, als wäre sie gelangweilt. Ihre Beine hatten aufgehört zu zittern, sie fühlte sich recht ruhig. »Ich weiß auch nicht«, fuhr sie vertrauensselig fort, »warum wir nichts dagegen unternommen haben. Na ja, eigentlich weiß ich es schon. Es ist uns nicht in den Sinn gekommen. Mein Vater hat gesagt, wir müssten heiraten. Nein, wir haben es nicht mal erwähnt. Ich hätte gar nicht gewusst, was man da tun kann. Rex wusste es bestimmt, aber er hat nichts gesagt. Ich glaube, wir haben es für selbstverständlich gehalten. Ich weiß es nicht mehr. Es ist neunzehn Jahre her. Ich hatte lange Haare, weißt du. Doch, wirklich, in Zöpfen.«

Sie lächelte offen und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Stimme war jetzt die vollkommen normale, fröhliche Stimme einer Frau, die sich mit einer Freundin unterhält. »Soll ich noch einen Drink nehmen? Oh, das ist erst mein dritter, die Gläser sind fürchterlich klein. Rex war mal anders. Wusstest du, dass er früher Gitarre gespielt hat? Ich habe ein Foto, da war Julian noch ein Baby …«

Sie griff nach ihrer Handtasche. Ihre Hand fiel herab, zog sich langsam über die Tischplatte zurück, glitt auf ihren Schoß. Der leere weiße Stuhl strahlte im Licht; der Wasserhahn tropfte, die Tür im oberen Stock schwang wieder in ihren quietschenden Angeln. Sie saß ganz schlaff da, eine hübsche, gepflegte Frau, starr vor Angst, lautlos tropften Tränen auf das adrette graue Kostüm.

3

Am nächsten Morgen wurde sie von Angst geweckt; dann von der Erkenntnis, dass die Kinder weg waren; dann vom Geräusch von Wasser, das lautstark in ein Waschbecken plätscherte. Sie öffnete die Augen und erinnerte sich daran, dass sie nicht allein war.

»Angela?«

»Hallo.« Die Stimme war gedämpft, aber freundlich.

»Hattest du einen schönen Abend?«

Energisches Poltern, nach einer Weile gefolgt von »sehr«.

»Was habt ihr gemacht?«

»Wir haben in diesem heruntergekommenen Laden in der King Street Kaffee getrunken. Danach waren wir auf dem Jahrmarkt.«

»Wie war es?«

»Unfassbar teuer.« Angela kam aus dem Badezimmer und frottierte ihr Haar mit einem der neuen Handtücher. Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, vor dem Frühstück ihre Haare zu waschen. Wenn sie, selten genug, ihr Zimmer aufräumte, tat sie es um Mitternacht, und war sie allein, trank sie literweise Kakao zum Mittagessen.

»Hattest du überhaupt Geld dabei?«

»Nein. Tony hat bezahlt. Kann ich mir deinen Kamm leihen?«

Sie setzte sich vor die Frisierkommode und begann, die Knötchen in ihrem Haar zu entwirren, das Gesicht schmerzverzerrt.

»Ich weiß ja nicht, warum du es nicht kurz trägst«, sagte Ruth.

»Weiß ich«, sagte Angela mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich meine, ich weiß, dass du es nicht weißt. Weil ich dann noch mehr wie eine Stehlampe aussehen würde als ohnehin schon. Verdammt, jetzt habe ich ihn abgebrochen.«

»In der Schublade ist noch einer.«

»Es tut mir so leid.«

»Das macht doch nichts.«

»Ich besorg dir einen neuen.«

»Ach, Liebes, es macht wirklich nichts!« Sie setzte sich im Bett auf, die Arme um die Knie geschlungen. Da war noch was. Vorsichtig tastete sie sich heran. »Du bist ganz schön spät nach Hause gekommen, oder?«

»Nicht sehr.« Rückzug hinter feuchte Strähnen. »Die Tanners hatten immer noch Besuch.«

»Oh.« Das hieß gar nichts. Bei den Tanners blieb Besuch oft bis drei oder vier Uhr morgens. Ruth glaubte, das anmerken zu müssen, hörte sich aber stattdessen sagen: »Nun, ich bin früh ins Bett gegangen und habe eine Tablette genommen, vielleicht habe ich dann gehört, wie der Besuch der Tanners nach Hause gefahren ist.«

»Ja«, sagte Angela. »Das wird es wohl gewesen sein.« Sie zerrte an ihren Haaren und schwieg für ein paar Minuten.

»Wie dem auch sei, ich freu mich, dass du einen schönen Abend hattest.«

»Nachdem ich mir zwei Monate lang anhören musste, wie Mike God save the Queen auf dem Banjo spielt und Julian wegen seinem kaputten Metallbaukasten herumjammert, wäre wohl alles schön gewesen.«

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du dich blendend amüsiert hast!«

»Hab ich auch.« Sie warf ihr Haar zurück und zog die BH-Träger über ihren dünnen Schultern fest. »Aber du scheinst das ja für ganz unglaublich zu halten.«

»Natürlich halte ich das nicht für ganz unglaublich«, erwiderte Ruth langsam. »Wovon redest du?«

»Na ja, ich meine, du bist wahnsinnig verständnisvoll und alles, aber du begreifst offenbar nicht …« Sie drehte sich resolut auf dem Hocker um und holte tief Luft. Ihr knochiges, sauber geschrubbtes junges Gesicht war gerötet. Wie schrecklich dünn sie ist, dachte Ruth. Sie sollte ein Stärkungsmittel nehmen oder so etwas. »Ich meine, ehrlich gesagt, für dich ist es bestimmt recht angenehm, hier Tag für Tag zu leben, es ist schließlich dein Zuhause, und du hast die Jungs, und Daddy kommt jedes Wochenende hier raus, und – tja, das ist nun mal dein Leben. Aber du begreifst offenbar nicht, dass es für mich anders ist. Ich bin manchmal so einsam, dass ich sterben könnte!«

»Aber, Liebes …« Sie sahen einander über den Raum hinweg an, beide schockiert von diesem Ausbruch, keine von ihnen wusste, was sie jetzt tun, wie sie mit dieser kleinen Wahrheit umgehen sollten, die da so plötzlich vor ihnen explodiert war. »Aber, Liebes – du kannst doch machen, was du willst! Du musst in den Ferien nicht hierherkommen. Du musst überhaupt nicht hierherkommen. Es tut mir leid, dass du das alles hier so hasst, aber …«

»Natürlich hasse ich es hier nicht! Du verstehst mich einfach nicht!«

»Doch, das tue ich. Ich verstehe dich sehr wohl.«

»Wie denn? In meinem Alter warst du verheiratet. Ich glaube nicht, dass du in deinem Leben auch nur einen einzigen Tag lang einsam warst. Oh, entschuldige.« Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren langen Händen. »Bitte entschuldige«, schluchzte sie. »Aber du weißt einfach nicht, was man alles Dummes macht, wenn man einsam ist und es niemanden gibt, mit dem man reden kann, niemand sich interessiert …«

»Jetzt sei nicht albern«, sagte Ruth schroff. Sie war aus dem Bett aufgestanden, klein und unzulänglich in ihrem Nachthemd, und legte ihre Hände fest auf die dünnen Arme des Mädchens. »Hör auf, dich so töricht zu benehmen.« Sie wartete, bis das Zittern nachließ und die Schluchzer zu trostlosem Schnüffeln erstarben. Dann tappte sie quer durch den Raum und holte eines von Rex’ Taschentüchern. Angela griff danach, das Gesicht immer noch hinter einer Hand versteckt.

»Also wirklich«, sagte Ruth. »Was hat dich denn da geritten?«

»Bitte entschuldige!«

»Und hör bloß damit auf, dich zu entschuldigen!«

Sie ging zum Fenster und versuchte, sich zu beruhigen, Geduld zu zeigen. Jetzt, da es eine Gelegenheit gab, die Wahrheit zu sagen, konnte sie nicht sprechen. Sie könnte Angela alles erzählen, aber was würde das bringen? Die Anstrengung wäre immens – und käme etwas Gutes dabei heraus? Besser wäre es, das große, linkische Mädchen in die Arme zu nehmen, sie zu streicheln, zu küssen und tröstend zu wiegen. Das wollte sie, darauf wartete sie. Es war unmöglich. Die Unmöglichkeit war schmerzhaft, eine Lähmung trotz ihres ganzen Wollens, ihres Wunsches, dass ihr Kind glücklich wäre. Sie sehnte sich danach, es zu tun, und konnte es nicht. Sie bewegte unruhig ihre Arme, rieb einen nackten Fuß am anderen, tat so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken.

»Es ist so ein schöner Tag. Du könntest die Krockettore einsammeln, bevor Folkes den Rasen mäht.«

»Julian hat die Schläger draußen gelassen. Sie werden alle verrotten.«

»Sieh mal, was ich gestern gekauft habe.«

»Was ist das?«

»Eine Spieluhr. Hör mal.« Sie drehte die Kurbel.

»Also wirklich, Mummy, du bist ein Kindskopf.« Wider Willen musste Angela lachen. Sie wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab, während sie mit der anderen das saubere Taschentuch umklammert hielt. »Wozu hast du das bloß gekauft?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ruth, beschämt. »Ich dachte, es könnte Janes Baby gefallen.«

»Dann ist es in fünf Minuten kaputt. Arme, alte Mum, dir ist schon klar, dass du langsam wunderlich wirst, oder?« Endlich putzte sie sich die Nase, stand auf und ging ins Badezimmer. »Ich glaube«, rief sie, um das rauschende Wasser zu übertönen, »du wirst mal eine der großen englischen Exzentrikerinnen.« Es folgte einiges an Plätschern und Schnaufen. Dann kam sie wieder herein, während sie ihr Gesicht mit dem anderen neuen Handtuch abtrocknete. »Ich sehe dich richtig vor mir, wie du in fünf Jahren in Knopfstiefeln und breitkrempigem Hut durch den Garten schwebst, eingehüllt in Wolken aus Tüll, oder so in der Art.«

»Fünf Jahre?«, fragte Ruth und stellte die Spieluhr zurück auf den Tisch.

»Meinetwegen zehn. Tut mir leid wegen vorhin. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Soll ich Frühstück machen?« Sie hatte sich in ihre schwarze Jeans gezwängt und zog sich den Pullover über.

»Gerne«, sagte Ruth. »Danke.«

»Du bist nicht böse oder so?«

»Natürlich nicht.«

»Möchtest du gekochte Eier oder Rührei?«

»Mir egal, wie du möchtest.«

»Sag du.«

»Liebes, es ist mir wirklich egal!« Sie gab sich riesige Mühe, was in keinem Verhältnis zum Problem stand. »Rührei.«

Angela rannte nach unten. Zwei Minuten später plärrte das Radio los und wurde dann rücksichtsvoll leiser gedreht.

4

Sie kennt mich nicht, dachte Ruth. Sie hat mich nie gekannt. Das ist alles meine Schuld. »Ich glaube nicht, dass du in deinem Leben auch nur einen einzigen Tag lang einsam warst.« Dachte sie das wirklich? Würde es sie glücklicher machen, wenn sie die Wahrheit wüsste?

Natürlich nicht die ganze Wahrheit. Wie viel denn dann? Letzte Nacht habe ich … Nein, das würde zu albern klingen. Sieh mal, Liebes, ich glaube nicht, dass du verstehst … Warum sollte sie auch? Niemand erwartete, dass ein Kind seine Mutter verstand. Hör zu, Liebes, ich brauche deine Hilfe … Vielleicht lieber so. Sich auf sie stützen, ihr das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Du bist kein Kind mehr, und ich mache mir schreckliche Sorgen, weil …

Na, dann mal geradeheraus damit. »Ich weiß, du denkst, dass ich dich immer im Stich lasse und du mir egal bist, weil ich dich nicht trösten kann, wenn du unglücklich bist, aber du bist mir nicht egal, die Sache ist nur die: Etwas geschieht mit mir, ich bekomme Angst. Hör zu, Angela, ich muss dir das erklären.« War das geradeheraus? Das war gar nichts. Hör zu, Angela …

»Aber warum sollte ich das sagen? Vielleicht stimmt es nicht einmal.«

Sie presste ihren Handrücken gegen ihren Mund. Das Flüstern hing in dem ruhigen, sonnendurchfluteten Raum. Sie rannte nach unten und knöpfte dabei die Manschetten ihrer Bluse zu.

Angela saß am Küchentisch, das Kinn in die Hände gestützt. Als Ruth hereinkam, blickte sie schnell auf, beinahe schuldbewusst. Ihr Gesicht hatte den ernsten, angespannten Ausdruck von jemandem, der gründlich über etwas nachgedacht hat und zu einem traurigen Schluss gekommen ist. Sie stand auf und holte das Rührei aus dem Backofen, verteilte es auf den Tellern und setzte sich wieder. Eine unheilvolle Stille lag in der Luft. Keine von ihnen fing an zu essen.

»Sieh mal, Mummy, ich …«

»Liebes, ich …«

Beide sprachen gleichzeitig. Beide lachten verlegen.

»Tut mir leid«, sagte Angela. »Was wolltest du sagen?«

»Nichts. Was wolltest du sagen?«

»Hab ich vergessen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gesalzen habe.«

Sie aßen. Das Radio schmetterte gedämpft leidenschaftliche Liebeslieder für die Hausfrauen von Hull.

»Ist die Post schon da?«

»Ja. Nur ein paar Rechnungen.«

»Irgendwie ist es seltsam ohne die Jungs«, sagte Ruth vorsichtig. »Gestern Morgen hat Mike noch so ein Theater wegen des Toasts gemacht.«

»Und jetzt ist es die reinste Erholung für mich.«

»Ja? Hm, wahrscheinlich ist das so. Ich kann mich irgendwie nicht daran gewöhnen.«

»Tja«, sagte Angela und schob ihren Teller mit einem tiefen Seufzer beiseite, »ich schätze mal, das ist ganz natürlich.«

»Vermutlich.«

Angela begann, mit ihrem Messer auf die Tischdecke zu zeichnen. Sie zog zwei tiefe Linien, dann zwei weitere kreuzweise darüber.

»Ich glaube, ich werde allmählich seltsam«, platzte Ruth verzweifelt heraus. »Ich führe die ganze Zeit Selbstgespräche.«

»Mhm. Ist mir auch aufgefallen. Tonys Vater ist Architekt. Er hat irgendwas für das Festival of Britain entworfen.«

»Oh«, sagte Ruth. »Hat er das?«

»Vielleicht hast du es gesehen. Es hieß ›Halle von Morgen‹ oder so.«

»Nein«, sagte Ruth. »Ich glaube, die habe ich nicht gesehen.«

»Jedenfalls ist er berühmt.«

»Liebes, hör bitte auf, das Tischtuch zu zerschneiden. Du bist genauso schlimm wie Julian.«

»Entschuldige.« Sie ließ das Messer fallen und zog den New Statesman aus dem Zeitungsstapel.

»Ich dachte, Daddy hat gesagt, du sollst den abbestellen.«

»Hat er nicht. Er hat gesagt, wenn ich ihn behalten will, muss ich ihn selber bezahlen. Sehr tolerant von ihm.« Sie blätterte resigniert darin herum. »Wenn man bedenkt, dass er von den klügsten Leuten des Landes gelesen wird.«

»Ich glaube, ich muss mal zum Arzt«, sagte Ruth mit monotoner, sachlicher Stimme.

»Lass ihn doch hier rauskommen. Es ist so langweilig, im Wartezimmer zu sitzen.« Plötzlich wurde sie ganz aufmerksam, um gleich danach höchst beiläufig interessiert zu wirken. »Glaubst du, das funktioniert?«

»Was?«, fragte Ruth lustlos.

»Die Knaus-Ogino-Methode.«

»Was soll denn das sein?«

»›Die bahnbrechenden Erkenntnisse von Professor Hermann Knaus und Dr. Kyosaku Ogino …‹«

»Nein«, sagte Ruth. »Es funktioniert nicht.«

»Du weißt doch noch nicht mal, was das ist. ›… liefern den wissenschaftlichen Beleg dafür, dass eine Frau nur an bestimmten Tagen im Monat empfängnisbereit ist und an allen anderen nicht. Da hierbei so viele Variablen eine Rolle spielen, war es immer eine komplizierte Rechenaufgabe, diese fruchtbaren Tage präzise zu bestimmen – wenn man wusste, wie es geht.‹«

»Eben«, sagte Ruth. »Wenn.«

»Oh, hör doch einfach zu. ›Jetzt‹, steht hier, ›können die fruchtbaren Tage mithilfe eines speziell entwickelten, genialen kleinen Schweizer Präzisionsrechners für jeden Monat im Voraus bestimmt werden, sodass jede gesunde Frau ihre Familienplanung natürlich, souverän und diskret handhaben kann.‹ Glaubst du, es funktioniert?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ruth. »Kann schon sein. Möglicherweise machen es die klügsten Leute des Landes bereits so.«

»Aber würdest du so ein Ding benutzen?«

»Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht.«

Angelas Augen blitzten auf, sie musterte ihre Mutter, schnell, einen Augenblick lang verlegen. »Na ja, jedenfalls heißt es hier, dass es die Möglichkeit eines Rechenfehlers ausschließt und automatisch Unregelmäßigkeiten des …«

»Ja«, sagte Ruth. »Man könnte das Ganze bestimmt mit dem Radar messen, wenn man wüsste, wie. Sollen wir abwaschen?«

Angela faltete langsam die Zeitung zusammen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe mich nur gefragt, ob es funktioniert.«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich weiß, aber …«

»Und außerdem«, hörte Ruth sich absichtlich dumm sagen, »finde ich so eine Werbung schrecklich, stell dir vor, das sehen Kinder. Ich spüle, und du trocknest ab.«

»Kommt Mrs Wilson heute nicht?«

»Die hat genug anderes zu tun. Daddy bringt die Craxtons übers Wochenende mit.«

»Oh Gott. Wie furchtbar. Einfach nur furchtbar.«

Ruth sagte nichts. Die Teller, Tassen und Untertassen stapelten sich auf dem Abtropfgestell. Endlich rührte Angela sich und begann umständlich abzutrocknen. Sie wirkte absurd aufgebracht. Der Kampf, den sie innerlich mit sich ausfocht, war beinahe hörbar, die Atmosphäre erfüllt von Schreien, unverständlich und weit entfernt.

Irgendwann fragte sie mit hoher, höflicher Stimme: »Warum musst du mal zum Arzt? Bist du krank?«

»Es geht mir gut«, sagte Ruth. Sie ließ das Wasser ablaufen und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. »Magst du Tony?«

»Ja. Er ist in Ordnung.«

Sie gingen auseinander, hochmütig und verzweifelt; beide zuckten sie auf eigenartige Weise vor einer Gefahr zurück.

5

»Was ist das denn bloß?« Rex hielt in seiner wöchentlichen Inspektion des Schlafzimmers inne, hob die Spieluhr hoch und starrte sie misstrauisch an. Er war nach wie vor vollständig bekleidet und hatte seine Zigarre noch nicht aufgeraucht. Er war unruhig, weil Jill Craxton ihren Mann, wie sie sagen würde, in die Heia geschickt hatte, und er nicht alleine unten bleiben konnte. Er hatte offensichtlich nicht die Absicht, ins Bett zu gehen.

»Das ist eine Spieluhr«, sagte Ruth und drehte sich vom Licht weg.

»Wozu ist die nutze?«

»Zu gar nichts. Du drehst die Kurbel. Sie spielt eine Melodie.«

Die Augen fest geschlossen hörte sie das traurige, süße Klagelied, wie klirrende Glasprismen, die sich im Wind berühren.

»Willst du damit sagen, du hast dieses Teil tatsächlich gekauft?«

»Ja.«

»Wie viel hat es gekostet?«

»Hab ich vergessen. Weiß ich nicht genau.«

Von seinem kurzen, verärgerten Seufzer wusste sie, dass er die Spieluhr zurück auf die Kommode gestellt und seine Runde schulterzuckend fortgesetzt hatte. Jetzt überprüfte er ihren Frisiertisch. Jetzt betrachtete er sich im Spiegel und strich mit seinen Fingerspitzen über die raue Haut unter seinem Kinn. Sie öffnete die Augen. Das war genau das, was er tat. Sie schloss die Augen wieder, sie hatte Angst, dass er im Spiegel sähe, dass sie wach war.

»Jill ist in Hochform«, sagte er. »Ich glaube, sie ist die lustigste Frau, die ich kenne.«

Gehorsam verzog sich ihr Mund zu einer kleinen, fröhlichen Grimasse. »Ja«, murmelte sie.

»Als sie die Geschichte von der Klofrau im Tower Ballroom erzählt hat, dachte ich, sie lacht sich tot. Eigentlich war es gar nicht so lustig, aber dieser Schmiss ist schön zu sehen. Alle sind so verdammt empfindsam, es langweilt einen zu Tode.«

Sie drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Triffst du so viele empfindsame Leute?«