Bevor sie Euch töten - Giuseppe Fava - E-Book

Bevor sie Euch töten E-Book

Giuseppe Fava

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Beschreibung

Vier Männer halten sich in den Bergen Siziliens versteckt, alle gegen ihren Willen zu Banditen geworden. Denn in dieser Welt des Umbruchs nach dem Weltkrieg gilt ein Menschenleben wenig. Die Reichen lassen prügeln und morden, und die Armen, gedungen und gezwungen, müssen es selber tun. Paolo, Antonio, Lorenzo und Michele versuchen um jeden Preis, einen Pass nach Venezuela zu bekommen. Aber ihr Traum vom besseren Leben wird sich kaum je erfüllen, das wissen sie im Grunde schon längst. Für die Menschen in den Dörfern ist es nicht anders. Es bleibt wenig Zeit zum Nachdenken in diesem verzweifelten Sizilien; es bleibt kaum Zeit, ein paar Augenblicke zu leben, »bevor sie euch töten«.

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über dieses Buch

Vier Männer halten sich in den Bergen Siziliens versteckt, alle gegen ihren Willen zu Banditen geworden. Denn in dieser Welt des Umbruchs nach dem Weltkrieg gilt ein Menschenleben wenig. Es bleibt wenig Zeit zum Nachdenken in diesem verzweifelten Sizilien; es bleibt kaum Zeit, ein paar Augenblick zu leben, »bevor sie euch töten«.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Giuseppe Fava (1925–1984) wurde vor dem von ihm gegründeten Theater, in dem sein Anti-Mafia-Stück L’ultima violenza (»Die letzte Gewalttat«) aufgeführt wurde, ermordet. Als Romancier, Dramatiker und Journalist hatte er sich mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat Italien auseinandergesetzt.

Zur Webseite von Giuseppe Fava.

Peter O. Chotjewitz (1934–2010), ursprünglich Jurist, veröffentlichte Romane und Erzählungen, schrieb zahlreiche Hörspiele und arbeitete für verschiedene Zeitungen und als Übersetzer.

Zur Webseite von Peter O. Chotjewitz.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Giuseppe Fava

Bevor sie Euch töten

Roman

Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Die italienische Originalausgabe erschien 1976

Originaltitel: Prima che vi uccidano (1976)

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Franz Tomamichel

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30367-6

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 28.05.2024, 14:28h

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BEVOR SIE EUCH TÖTEN

Erinnerung an Giuseppe FavaDas GlückDie GewaltDie LustDie AngstDie schwarze SonneDer Schmerz

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Erinnerung an Giuseppe Fava

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Giuseppe Fava war ein faszinierender Mann: Bart und Haare zerzaust, die Kleidung stets unmodisch und er selbst von wunderbarer Wortgewandtheit. Er sprach mit jenem starken Akzent aus dem Westen Siziliens, aus Catania oder Siracus, der in den 1980er-Jahren in allen auf der Insel spielenden Filmen zu hören war.

Ich begegnete ihm nur dreimal in Sant’Agata li Battiati, einem Vorort von Catania, wo die Redaktion seiner Monatszeitschrift I Siciliani angesiedelt war. Ich hatte diese Publikation zufällig entdeckt. Ein Mitstreiter gegen die Mafia hatte sie mir als neue und revolutionäre Initiative empfohlen: Es wurde dort geradeheraus von der Cosa Nostra und der Politik gesprochen. Zuvor hatten es nur Mauro de Mauro, Journalist der palermischen Tageszeitung L’Ora, und sein Kollege Mario Francese vom Giornale di Sicilia gewagt, dieses Thema unabhängig und mit Sachverstand zu behandeln. Beide wurden kurz nacheinander beseitigt. De Mauro verschwand spurlos, und Francese wurde umgebracht.

Eine Schar junger Leute mit großen Hoffnungen und guter humanistischer Bildung bildete die Redaktion von I Siciliani. Ihrem Schreibstil merkte man an, dass sie die großen Schriftsteller gelesen hatten. Sie hießen unter anderem Riccardo Orioles, Miki Gambino, Claudio Fava (der Sohn Giuseppe Favas) und Antonio Roccuzzo. Ganz offensichtlich verachteten sie jegliche Form politischer Stiefelleckerei. Sie pflegten einen Idealismus, der meilenweit von der zynischen Haltung Leonardo Sciascias entfernt war, dem großen Literaten aus Sizilien, der sich nicht scheute, auch auf den Seiten des Corriere della Sera seinen Standpunkt klarzumachen, nicht immer mit realistischen Visionen.

»Wie kann ich euch helfen?«, fragte Fava mit einem wissenden Lächeln. Er wusste genau, warum wir gekommen waren. Ich besuchte ihn im Sommer 1983 zusammen mit einigen Kommilitonen, mit denen ich eine hektografierte Zeitschrift mit dem Namen Dedalus herausgab. Darin beschäftigten wir uns mit Kunst und Literatur, mit Politik und der Antimafia-Bewegung. Wir wollten nun weitere Erfahrungen sammeln, mitarbeiten oder auch bei der Verbreitung seiner Zeitschrift mithelfen. Fava schlug ein, und kurz darauf wurden unsere kleinen Nachforschungen als Einlage seiner Zeitschrift vertrieben, ein Dutzend Seiten, die wir I Siciliani Giovani, die jungen Sizilianer, nannten.

Was mich sofort für Fava einnahm, war seine Liebe zu unserer Geschichte und unserem Volk. Ich fand mich wieder in seinen Worten, seinem Schreiben, seinen Recherchen zur Emigration, in seinen präzis entworfenen Bildern, aber vor allem in der Leidenschaft, die aus jedem Wort, aus jedem Bild sprach, wenn er Sizilien beschrieb.

Nur selten sind große Schriftsteller auch fähige Journalisten. So wie die Edelfedern der italienischen Presse auch nur selten mit komplexen, umfangreichen Romanen glänzen. In seinem Roman Bevor sie Euch töten platziert sich Giuseppe Fava präzis zwischen den epischen Dramen eines Tomasi di Lampedusa und der soziopolitischen Schärfe von Leonardo Sciascia, zwischen dem »authentischen« Realismus eines Giovanni Verga und der elaborierten Wortwahl von Gesualdo Bufalinos Fresken. Und er vereinigt die zwei großartigen Seelen in seiner Brust: jene des anklagenden Chronisten und jene des Dramaturgen.

Fava schreibt als radikaler, aber nie unkontrollierter Romantiker. Seine präzise beschriebenen Figuren spielen keine zufälligen Rollen, sondern er will mit ihnen sein verdammtes, großartiges Sizilien zeichnen. Seine klar strukturierten Geschichten sollen nicht nur Elend und Resignation angesichts von Gewalt kommunizieren, nicht nur den Missbrauch der Armen durch die Mächtigen oder die ungehemmten Machenschaften in den Schattenbereichen unserer Demokratie. Mit seinen Geschichten will er uns auch aufrütteln. Nur dieses tief empfundene, tief greifende Motiv kann uns eine Kunst schenken, die sowohl zornig als auch ehrlich ist.

Bevor sie Euch töten ist der logische Nachfolger des Romans Ehrenwerte Leute. Während Fava mit seinem Erstling in die Fußstapfen von Leonardo Sciascia zu treten scheint, bilden die Handlungsstränge in Bevor sie Euch töten lediglich das Erzählgerüst. Die Figuren haben die Aufgabe, den historischen Kontext Siziliens an diesem komplexen Wendepunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft abzubilden. Und das labile Gleichgewicht der Menschen zwischen Selbstaufgabe und Rebellion, das jederzeit kippen kann. Hierbei greift Fava in den unerschöpflichen Fundus sizilianischer Geschichten über Mafiosi und Verzweifelte, über kleine Staatsdiener und mutige Gewerkschafter, über maßlos stolze Bauern und deren hoffnungslose Söhne, die auf dem eigenen Boden zu Fremden werden.

Favas Erzählung schlägt einen hohen Ton an. Dieser ist aber kein selbstgefälliger Selbstzweck, er ist weder sentimental noch beschönigend. Und vor allem nie fügsam. Favas Warmherzigkeit und Liebe helfen dem Leser, vorwärtszuschauen und selbst im Dämmergrau noch einen Hoffnungsschimmer zu erkennen. Dieser Mix aus Absicht und Melancholie hat Giuseppe Favas Schreiben immer angetrieben. Bis er selbst zum Opfer wurde.

Die Rebellion von Turi, Stellina, Alfio, Possano oder Michele ist auch die Rebellion Giuseppe Favas, dieses Chronisten, der die ganze Insel durchstreifte, um Zeugnis ihrer unterdrückten Größe abzulegen. In Alfio, der Sizilien verlassen will, verkörpern sich die vielen Verzweifelten, denen Fava als Journalist in seinen Reportagen zum Thema Emigration begegnete: Sie wollen in die unendliche See stechen, welche die Kontinente trennt.

Turi Scirpu erinnert uns an die bäuerlichen Aufstände, welche Großgrundbesitzer und Mafia, vereint in einem historischen und keineswegs geheimen Teufelspakt, unterdrückten. Indes Michele, der Kleinganove, die Hoffnung als einzigen Lichtblick zur Rebellion verklärt, bevor … sie euch töten.

Aber es ist Possanos Tod, der in seiner dramatischen Gewalttätigkeit zum Kern dieses Romans wird. Denn wie die Romanfigur, die Giuseppe Fava mit seiner Sprachkunst und Lebenskenntnis schuf, wurde auch er selbst von der Mafia umgebracht, die weder thematisiert noch lächerlich gemacht werden will. Die nicht das kleinste Hindernis auf ihrem Weg zur Macht akzeptiert und bereit ist, für dieses Ziel die besten Söhne des Landes zu eliminieren.

Ich erfuhr vom Mord an Giuseppe Fava durch einen Anruf meines guten Freundes Francesco Vitale. Es war der 5. Januar 1984. Wir sollten nicht an der Beerdigung teilnehmen, da die Familie eine einfache Trauerfeier im engsten Kreise wollte. Wir respektierten diesen verständlichen Wunsch. Die Zeitschrift erschien zunächst weiter. Aber uns war bald klar, dass die Redaktion ohne Favas erzählerische Kraft und ohne sein Talent, jedes auch noch so schlimme Ereignis in positive Energie umzuwandeln, bald nicht mehr standhalten würde. Einige Monate später schloss die Zeitung ihre Pforten.

Das Glück

Vier Männer lebten seit vielen Monaten auf einem Gipfel, der sich, vierzig Kilometer vom Meer entfernt, öde und nach allen Seiten steil abfallend, über das umliegende Bergland erhob. Unten hatte sich früher eine kleine Eisenbahn talabwärts zum Meer geschlängelt, aber jetzt wuchs Gras auf den Gleisen. Hier und da an den Hängen leuchtete noch das Rot der Bahnwärterhäuschen, in denen die Hirten schliefen, wenn sie ihre Herden auf die Winterweide trieben. Früher hatten sich in diesen Bergen und Schluchten Wolfsrudel mit fünfzehn oder zwanzig Tieren herumgetrieben, doch dann hatte die Regierung eine Prämie von hundert Lire pro Tier ausgesetzt, und binnen weniger Jahre waren sie fast ausgerottet worden. Jetzt gab es nur noch ein paar Vipern, Wildkaninchen und viele Tausend harmlose Schlangen, die so groß wie ein Fahrradschlauch waren.

Die vier Männer hießen Lorenzo, Paolo, Michele und Antonio. Nachts schliefen sie in einer Hütte, die vor fünfzig Jahren von Wolfsjägern zum Schutz gegen den Schnee errichtet worden war. Sie besaßen Zigaretten, Büchsenfleisch, Dosenmilch und Zwieback, um sich zu ernähren, eine alte Wagenlampe, vier Strohsäcke als Matratzen und ein paar Decken, in die sie sich zum Schlafen einrollten.

Wenn es geregnet hatte, sammelten sie die großen, schwarzen Schnecken, die unter dem Berggestein hervorschauten, und aßen sie. Immer zehn wurden mit dem Schneckenhaus auf Eisendraht gezogen und auf kleine Steine gehäuft. Dann entzündete man mit dürren Ästen ein Feuerchen und briet die Schnecken in ihrem eigenen Saft. Später, wenn das Holz heruntergebrannt war, saßen die Männer um die heißen Steine herum und klaubten die Schnecken aus der Asche. Eine nach der anderen wurden sie mit der Messerspitze herausgepult und mit Brot verzehrt. Lorenzo lachte dabei und berührte Antonios Hose mit der Messerspitze, direkt am Latz.

»Diese Schnecken sind unübertrefflich«, sagte er. »Es gibt nichts Anregenderes als eine Schnecke. Du kriegst so einen Ständer!«

Mehr als irgendetwas wünschten sie sich eine Frau. Paolo, der sechsundzwanzig Jahre alt war, wurde fast wahnsinnig. Im Gras liegend, entblößte er sich, betastete sein Glied, als wäre es der Hals einer Mandoline, und träumte von einer zarten Hand.

Die anderen lachten und bewarfen ihn mit Steinen wie einen Hund. Er wälzte sich röchelnd im Gras, zuckte und seufzte laut, wenn es ihm kam. Dann lag er wie tot da. Er war jung und mager, hatte dichte Augenbrauen und sehr langes, schwarzes Haar, dünne Arme und einen schmächtigen Brustkorb. Auch die Hände waren feingliedrig, denn er war lange Jahre Barbier gewesen.

Seine Gefährten dagegen waren muskulös – auch Lorenzo, der schon alt, klein und mager war. Er war zweiundsiebzig. Tag und Nacht lief er in abgetragenen roten Stiefeln herum, hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und verwahrte in seinen Taschen unzählige Dinge: Bindfäden, Heiligenbildchen, Kerzenstummel, Kippen, Zündhölzer und sogar alte Kupfermünzen, Nägel und Patronenhülsen. Da er alt war, hatte er kaum noch Zähne, und sein Gesicht war entlang der Mundhöhle eingefallen. So kaute er sorgfältig auf dem Essen herum, bis nur noch ein paar Krümel in den Mundwinkeln am Barthaar hängen blieben. Sein Leben lang war er Hirte gewesen und zuweilen auch Bänkelsänger, sodass er ganze Gesänge des Rolandsliedes auswendig konnte.

»Du bist ein Tier!«, spöttelte Antonio manchmal. »Du bist ein analphabetischer Hirte. Ich kann lesen und schreiben, deshalb bin ich dein Herr!«

»Ich schneid ihn dir ab«, antwortete der Alte und packte Antonio bei der Hose. Vor Lachen liefen ihm die Tränen über die Wangen, und er musste husten. Auch Antonio musste lachen und schlug ihn mit der Faust auf den Kopf, um freizukommen. Er war groß wie ein Stier, und seinem Kinn und den Händen sah man an, dass er stark war und grausam sein konnte. »Ihr werdet es erleben«, rief er, »dass wir eine Frau kriegen. Zuerst muss sie nackt auf allen vieren kriechen. Ich werde sie etwas peitschen, um sie zu erregen. Der Hintern muss blutig sein!«

Er fletschte die Zähne. Speichel lief aus seinem Mund. Dann biss er sich in die Hand.

»Jungfrauen und Huren, wo seid ihr?«

»Alle Weiber sind erst Jungfrauen und dann Huren«, sagte Paolo Chillemi. »Fragt Michele. Der weiß Bescheid. Er hat eine Sechzehnjährige entjungfert.«

Michele lag auf den Steinen, hatte sich in seine Decke gehüllt und antwortete nicht. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, der Jüngste und der Unglücklichste von allen. Er grübelte unentwegt.

Eines Tages kam eine Hure aus Catania für zwanzigtausend Lire in eines der Bahnwärterhäuschen an der ehemaligen Eisenbahnlinie unten im Tal. Sie nannte sich Ciuzza, war klein und kräftig, schwarzhaarig und noch fest im Fleisch, obwohl sie mindestens vierzig war, aber ihre Augen glänzten vor Müdigkeit. Ihre Brüste waren groß, plump und von den Hieben und Kratzern ihrer Freier gezeichnet.

Paolo holte sie vom Postbus an der Provinzstraße jenseits der Hügel ab und begleitete sie das Tal hinauf. Argwöhnisch sah sie sich um.

»Warum gibt es hier keine Häuser?«, fragte sie. »Krieg ich nachher etwas Weißbrot?«

Paolo packte sie, zog ihr den Rock hoch und presste sich an sie, aber sie trat und schlug um sich und floh die Böschung hinauf.

»Jetzt nicht! Nicht hier!«, schrie sie. »Ich schlage dir den Schädel ein.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Paolo lachend. Er spürte, wie sein Glied bebte. »Ich wollte nur als Erster ran!«

»Der Erste wolltest du sein?« Ciuzza lachte ebenfalls. »Du Tier!«

Sie erreichten das Häuschen. Innen war bereits aus Stroh ein Lager hergerichtet worden, auf dem eine Wolldecke lag. Den ganzen Nachmittag und die Nacht über lagen sie bei der Frau. Antonio schrie und lachte, dass man es bis zum Fluss hinunter hörte. Er war wie von Sinnen und prügelte sich sogar mit ihr. Aber Ciuzza hatte keine Furcht, schlug ihre Fingernägel in seinen Rücken, in den Nacken und beschimpfte ihn. Antonio zerrte an ihren Haaren, um sie zu bändigen, und drückte sie an sich. Er zuckte und zitterte wie ein Kampfstier und wollte nicht aufhören.

»Schöne, du Schöne«, murmelte er, »zeig mir, dass es dir Spaß macht!«

»Was verlangst du für fünftausend Lire«, schrie Ciuzza, »willst du mich umbringen?«

Ihr Atem ging heftig, und sie schlug ihn mit den Fäusten ins Gesicht, aber zum Schluss begann doch die Lust in ihr zu kribbeln, und sie beruhigte sich und schloss die Augen. Ein paar Mal verkrampfte sich ihr Körper und entspannte sich wieder, und ihr Gesicht war nass vor Schweiß. Ihr heiseres Wimmern erregte die anderen vor der Hütte so, dass sie sich im Gras wälzten.

Als es dunkel wurde, aßen sie Brot, Marmelade und Büchsenfleisch und saßen an den Rinnsalen des Flusses. Paolo, Antonio und Michele streckten sich im dichten Gras aus und begannen zu rauchen. Lorenzo war mit der Frau in der Hütte, weil er an der Reihe war. Nackt lagen sie nebeneinander, und Ciuzza schien erschöpft zu sein. Sie schaute ihn an und streichelte ihn sanft mit den Fingerspitzen. »Du Armer«, sagte sie, »wie mager du bist! Sprichst du nicht mit deiner Ciuzza?«

Sie umarmten sich, lagen reglos beieinander und beschnupperten sich. Ihr Schweiß war sauer.

»Was treibt ihr in den Bergen?«, fragte Ciuzza, ohne ihn anzublicken. »Was macht ihr alleine in den Bergen?«

Der alte Lorenzo ließ ein listiges Lächeln über sein faltiges Gesicht huschen und sagte nichts. Er genoss das hübsche Stück Fleisch, das auf ihm lastete, und betrachtete die großen, blau geäderten Brüste.

»Wir wehren uns gegen die Schlangen«, sagte er endlich. »In den Bergen gibt es Tausende davon. Sie kriechen umher und stürzen sich von den Klippen. Die Schlangen versuchen, uns umzubringen, und wir versuchen, die Schlangen umzubringen. So vergehen die Tage.«

Die Frau lachte unwillkürlich und zupfte an den Härchen auf seiner Brust. Dann schüttelte sie sich und sagte: »Ich fürchte mich vor Schlangen.«

Sie drückte Lorenzos Kopf mit zwei Fingern in ihre Blickrichtung.

»Und wer ist dieser Michele? Er nahm sich nicht mal die Zeit, mit mir zu reden, sprang auf mich drauf und war schon drin. Seine Zähne klapperten vor Anstrengung, und er war steif wie ein Brett. Kein Wort, keine Zärtlichkeit hat er sich gegönnt. Er wollte nur rasch fertig werden!«

Lorenzo sagte nichts, und Ciuzza betrachtete ihn.

»Weißt du, was ihm fehlt?«

»Wer weiß«, antwortete Lorenzo.

Eine Weile lag sie auf ihm. Als sie ihn mit ihren Lippen unter der Wolldecke bedrängte, zitterte und lachte er. Sein ganzer Leib lachte, und all seine Wollust schien sich darin zu entladen. Er versuchte, sich zu entziehen, aber sie lag auf ihm, schwer und schwitzend. 

»Süßer, zeig mir, dass du ein Mann bist«, flüsterte Ciuzza. »Worauf wartest du? Es ist spät.«

»Ich bin alt«, stöhnte Lorenzo, der kaum Luft bekam. »Was hast du nur in der Zunge? Den Teufel?«

Sie biss sanft in sein Ohr.

»Schluss jetzt, beim nächsten Mal zeige ich dir einen Trick!«

Doch Ciuzza kehrte nie zurück in jenes wüste Tal am Fuß der Berge und sah auch keinen der vier Männer jemals wieder. Es war Winter, und der Fluss führte Hochwasser, hatte sich gelb gefärbt und toste bis in die ferne Ebene. Die Schlangen waren verschwunden, die Berge waren umhüllt von Regen und Nebel, und nur gelegentlich brach die Sonne durch. Dann sah man die weißen Dörfer mit ihren hohen Kirchen auf den Hügeln, aber sie waren so weit entfernt, dass man sie für Friedhöfe halten konnte.

Manchmal stiegen die vier Männer zum Fluss hinab und füllten die Kanister mit Wasser, legten sich an einer windgeschützten Stelle auf die Klippen und sonnten sich schweigend.

Michele dachte an den Abend, als er mit Stellina geflohen war und sie entjungfert hatte. Er hatte sie zu einem Gasthof in Vizzini gebracht, und an jenem Abend hatten sie nicht einmal das Essen angerührt. Stellina war sechzehn Jahre alt, und alles verkrampfte sich in ihr, doch sie weinte weder, noch schrie sie.

»Sei vorsichtig, Michele«, bat sie, »bitte tu mir nicht weh.« Dann hatte die Spannung sich gelöst, und aus ihrer Kehle war ein gieriges Grummeln gekommen, das plötzlich ihren ganzen Körper mit Wohlbehagen zu füllen schien.

Manchmal dachte Michele auch an seinen Vater und versuchte, sich vorzustellen, wie er vor seinem Tode ausgesehen hatte: klein, blond, mit weißen Strähnen im Haar, schweigsam und verschlossen. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, aß er wortlos seine Nudeln und legte sich hin. Die Füße musste man ihm stets mit einer Wolldecke zudecken, denn das Rheuma nagte an seinen Gelenken. Eines Tages brachten sie ihn blutüberströmt und in eine Zeltplane gewickelt heim. Ein Steinschlag hatte seine Glieder zertrümmert.

»Wenigstens bin ich nicht im Steinbruch gestorben«, dachte Michele. »Ich bin nicht so dumm wie mein Vater. Ich kann lesen und schreiben und kämpfe um mein Leben. Mein Vater war wirklich ein Stück Scheiße!«

Sieben Männer waren damals mit dem alten Passanisi im Steinbruch verunglückt, wo sie für zwanzig Lire am Tag gearbeitet hatten – kaum ausreichend zum Leben. Ein Kilo Brot kostete vier Lire und ein Päckchen Zigaretten zwei. Fünf Stunden dauerte es, bis man die Steinbrecher ausgegraben hatte. Ihre Knochen waren gebrochen, ihre Zähne herausgeschlagen, und ihre blutigen Körper waren bis unter die Fußnägel voll Steinstaub.

Noch vor dem Krieg hatte sich dieses Unglück ereignet. Als der Krieg dann ausbrach, schien er fern zu sein und war deshalb unwirklich. Man wusste nur, dass es keine Armen und keine Arbeitslosen mehr geben würde, wenn Italien ihn gewinnen sollte. Im Dorf wurde ein großer Umzug mit Wimpeln, Fahnen und Musikkapelle veranstaltet. Die Bürger sangen oder warfen Blumen aus den Fenstern ihrer Häuser, und Bürgermeister Scibilia marschierte vorneweg.

»Die Mützen ab!«, schrie er, und die Bauern gehorchten.

Die Jungen sangen, als sie ins Feld zogen. In den Wehrübungen hatte man den Bauern Kriegslieder beigebracht. Keiner kannte den Tod oder wusste, was eine Schlacht ist, und so lehnten sie aus den Fenstern der Eisenbahn und schwatzten, lachten und winkten. Die Berge zogen vorbei, die kleinen gelben Flüsse und die Olivenhaine. Es war Sommer, und das Getreide war reif. Auf den Bahnsteigen standen Rotkreuzschwestern und verteilten Schokolade und Zigaretten.

»Stimmt es, dass die Frauen in London groß und blond sind?«, riefen die Soldaten. »Solche Frauen gibt es nicht!«

Drei Jahre gingen ins Land, und nur die Frauen und alten Männer blieben zurück. Im Morgengrauen ritten sie hinaus – am Sattel die Sicheln und das Gewehr. Manchmal marschierte eine Kompanie Soldaten vorbei. Sie waren staubbedeckt und zogen Maultiere hinter sich her, die sie vor ihre Kanonen gespannt hatten.

Der Krieg in Afrika war schon verloren, und alle Soldaten dort unten waren tot oder gefangen. Es war erst Juli, doch der Sommer schon vorbei. Die Tage waren voller Wind. Staub und Häcksel wirbelten durch die leeren Feldscheunen auf den Hügeln, denn die Bauern hatten vorzeitig gemäht und gedroschen. Viele hatten die Ernte auf dem Land vergraben, damit die Regierung sie nicht beschlagnahmen konnte.

Am Abend des 9. Juli sah man am Himmel zum Meer hin einen riesigen Feuerball, und die Erde erzitterte. In der Dunkelheit hörte man Flugzeuge in großer Höhe, und in den Dörfern läuteten die Kirchenglocken Sturm. Drei Stunden vor Sonnenaufgang landeten englische Fallschirmjäger im Tal des Anapo und sprengten die Brücken, aber die Italiener kamen trotzdem durch, indem sie die Feldwege benutzten oder durch das Kiesbett der Flüsse fuhren. Sie verwendeten große Fiat-Lastwagen als Zugmaschinen für ihre alten, gelb gestrichenen Kanonen.

Aus den Provinzen des Landesinneren eilten sie an die Küste, wo die Schlacht tobte. Viele Bataillone marschierten zu Fuß, hatten kleine Kanonen auf dem Rücken ihrer Maultiere befestigt und wurden bei Tagesanbruch von den Tieffliegern aufgerieben.

Während der Nacht rückten die englischen Fallschirmspringer entlang der Flussufer vor und durchkämmten die Hänge auf der Suche nach Straßen, Brücken, Elektrizitätshäuschen und Munitionsdepots, die sie noch zerstören konnten.

Auf halber Höhe töteten sie einen Bauern, der bei seiner Getreideernte Wache hielt. Er hieß Alfio Scirpu, war sechsundachtzig Jahre und litt unter Altersschwachsinn. Nachts schlief er auf der Tenne unter einer Wolldecke, das Gewehr zwischen den Beinen. Er war massig, und sein weißes Haar war voller Spreu und Erde wie ein Schafspelz.

Ängstlich lauschte er dem fernen Gefechtslärm entlang der Küste und dem Dröhnen der Flieger, die das Tal überquerten. Plötzlich durchbrach Hundegebell die ländliche Stille, aber es war nicht zu erkennen, ob die Tiere etwas gehört hatten oder sich gegenseitig angriffen. Der Alte hob den Kopf und spähte in die Dunkelheit. 

»Es sind Diebe«, dachte er. »Der Pöbel ist los. Sie ziehen durchs Land, um die einsamen Gehöfte auszuplündern.«

»Hands up!«, gellte eine Stimme in unmittelbarer Nähe. Der Alte richtete sich vorsichtig auf und nahm sein Gewehr. Zwei Männer näherten sich der Feldscheune.

»Ehrloses Gesindel!«, schrie der Alte und legte das Gewehr an, aber die zwei Männer sprangen ihm entgegen. Er drückte ab. Einer der beiden vollführte einen seltsamen Sprung und fiel ins Stroh. Der andere verschwand.

»Hurensohn!«, schrie der Alte und richtete die Gewehrläufe in die Dunkelheit. Eine Geschossgarbe zerfetzte seinen Hals und die Oberarme, und er fiel rücklings zu Boden. So starb Alfio Scirpu. Er trug noch die Birritta, die schwarze Wollmütze, die nach der Überlieferung den Familienvater kennzeichnet. Es dauerte zwei Tage, bis sie ihn fanden, schon mit Ameisen zwischen seinen Zähnen.

Kurz nach Sonnenaufgang wurde das Dorf von sechsunddreißig Flugzeugen angegriffen, die ein Blutbad anrichteten. Weinende Menschen wühlten in den Trümmern und suchten ihre Toten. Soldaten legten die Leichen in Reih und Glied auf die Bürgersteige. Einige waren verstümmelt, andere nackt, da der Tod sie im Schlaf überrascht hatte. Die Soldaten bedeckten sie mit Bettlaken, die sich blutrot färbten. Einen Tag lang waren die Menschen fast wahnsinnig vor Entsetzen. Der eine suchte seinen Schmuck, der andere seine Kinder, die verschüttet waren.

Auf einer Bahre wurde ein verletzter englischer Pilot angebracht. Er wimmerte und weinte. Sein Leib war eine einzige Wunde, doch keiner beachtete ihn, bis jemand in sein Gesicht trat. Jetzt schlugen alle auf ihn ein, auch mit Steinen. So töteten sie ihn.

Gegen neun Uhr wurde der Ort abermals von zwanzig Flugzeugen bombardiert. Die Menschen hörten auf, in den Trümmern zu wühlen, und liefen umher wie die Küken. In der Nacht kamen Panzer den Berg herauf. Es waren italienische Soldaten, die verdreckt und ohne Waffen ins Landesinnere flüchteten oder schon jetzt die Uniform auszogen, weil der Widerstand zusammengebrochen war.

Nach zwei Tagen besetzten die Engländer das Dorf. Sie luden die Leichen auf Lastwagen – Kinder, Soldaten und Frauen – und verbrannten sie auf dem Friedhof in einer großen Kalkgrube.

Der alte Alfio Scirpu wurde von seinem Sohn gefunden. Er lag im Stroh, dort, wo er gefallen war, denn die Soldaten, die ihn erschossen hatten, waren nicht einmal hingegangen, um zu schauen, ob ihm noch zu helfen war. Der Sohn legte die Leiche auf sein Muli und band Hände und Füße des Toten unter dem Bauch des Tieres zusammen. Der Leichnam lag auf dem Tier wie ein Sack.

Die englischen Soldaten schauten vom Lastwagen herab und riefen: »Der Italiener hat reiche Ernte gemacht!«

So kam der Krieg, und so ging er wieder – eine ferne, unbegreifliche Sache, die nichts als Staub und Blut brachte. Die jungen Männer des Dorfes waren mit einer Zange in der Tasche ausgezogen, um getöteten Feinden die Goldzähne zu ziehen, und blieben wer weiß wo liegen: unter afrikanischer oder russischer Erde. Langsam wurde alles wie früher, und im Dorf begannen die Reichen, ihre Häuser, die der Krieg zerstört hatte, wieder aufzubauen.

Der Ort war älter und mit zwanzigtausend Einwohnern größer als die anderen Orte der Gegend. Es gab eine Volksschule, ein Gymnasium, ein Steueramt und eine kleine Landwirtschaftsbank, die an die Gutsherren, Arbeiter, Beamten und sogar an die Kleinbauern Geld verlieh, wenn sie entsprechende Sicherheiten anzubieten hatten.

Das Bankgebäude, das an der Hauptstraße stand, war eines der ersten Häuser, die wieder aufgebaut wurden – genau wie es einmal ausgesehen hatte. Mit zwei Stockwerken, Bossen an den vier Ecken und schmiedeeisernen Balkonen. Zu seiner Eröffnung kamen der Präfekt und die Abgeordneten und Senatoren aus Palermo.

Auch alle anderen Büros und die wichtigsten Geschäfte lagen an der Hauptstraße; die Büros der Kommunisten, der Monarchisten und der Christdemokraten, die Apotheke, zwei Bars und der Kulturverein, wo der Landadel, die Beamten und die reichen Gutsherren sich abends trafen, um Zeitung zu lesen oder Karten und Billard zu spielen. Der Club hatte zweihundert Mitglieder, und die Leute nannten ihn das Bürgerkasino.

Alle Häuser des Dorfes, auch die herrschaftlichen, waren aus weißem Stein, der in den Tuffsteinbrüchen in den Bergen gewonnen wurde. Die Kirchen waren ebenfalls aus diesem weichen Gestein erbaut, in das man Friese, Rosetten und Säulen schneiden konnte. Im Zentrum des Dorfes lag ein großer Platz mit dem Rathaus, den Kolonnaden und der Mutterkirche, zu der eine hohe Freitreppe hinaufführte, die von zwei riesigen Löwen aus Marmor flankiert wurde.

Die Häuser der reichen Familien, die zugleich die ältesten waren, lagen oben am Berg, hatten Mauern, die zwei Meter dick waren, schmiedeeiserne Balkongeländer und Schießscharten, um auf die Wölfe zu feuern. Am eindrucksvollsten war der Palast der Barone Bufardeci. Er war drei Stockwerke hoch, hatte einen herrlichen Balkon und Decken, die bemalt und mit vergoldetem Stuck geschmückt waren. Der große Saal war voller Ritterrüstungen und Waffen, die angeblich von echten Kreuzrittern stammten, zu deren Nachkommen die Familie gehörte. Schwerter und Streitkolben, Hellebarden, Schilde und Büchsen hingen an den Wänden, und an der Stirnwand prangte die gelb-blaue Standarte derer von Bufardeci.

Auch die Kapelle der Bufardeci auf dem Friedhof, etwa einen Kilometer vom Ort entfernt, war die größte: majestätisch und mit riesigen Amphoren, Statuen und Fialen geschmückt. Sogar aus Catania und Palermo kamen die Touristen, um sie zu bewundern.

Die Gräber der Patrizier waren so groß wie Wohnhäuser, mit Altären, kristallenen Nymphen und drei Meter hohen Marmorengeln, die sich an den Säulen und Kreuzen festklammerten. Auch Arbeiter und Bauern besaßen Marmorgräber mit bronzenen Lampen, einer Skulptur und großen Fotografien der Verstorbenen. Überall in der Ebene und den Bergen sah man diese fantastischen Totenstädte, die nur aus weißen Kirchen zu bestehen schienen.

Die Ebene erstreckte sich etwa zwanzig Kilometer landeinwärts bis zu einem unbewachsenen Bergmassiv, während sie zum Meer hin von lieblichen und fruchtbaren Hügeln flankiert wurde. Eine asphaltierte Straße führte von der Küste herauf und durch ein Seitental zur Ebene von Catania. Sonst gab es nur Feldwege für die Herden und Karren, oder Sträßchen, die an einem Steilhang oder auf einem Feld endeten. Manche Bauersfamilien, die in abgelegenen Gemarkungen lebten, blieben deshalb das ganze Jahr in ihren Hütten und kamen nur ins Dorf, um das Fest des Schutzpatrons, des heiligen Paul, zu feiern, oder weil jemand erkrankt war. Der Kranke wurde von seinen Verwandten auf einen Karren gelegt, in Wolldecken gewickelt und ins Dorf gefahren. Fast alle Zitrusplantagen und die Hälfte der Ländereien gehörten etwa fünfzig Familien. Sie vergaben das Land gegen Leibrente oder in Halbpacht oder ließen es von Verwaltern bewirtschaften, die ihrerseits Arbeiter und Tagelöhner nach Bedarf einsetzten.

Große Teile der Ebene waren ohne Wasser und lagen brach. Hier und da erstreckten sich wie braune Flecken die Olivenhaine, und auf den Hängen wurde Weizen und anderes Getreide angebaut, aber alles lag voller Steine, die der Regen von den Bergen herabspülte.

Nur an den Flussufern gab es fruchtbare Orangenhaine, die sich zum Ausgang des Tales hin erweiterten und immer üppiger wurden, weil sich dort das Flusswasser staute.

Die Berghöhen dagegen waren öde, und die Hirten, die mit ihren Herden auch den Winter dort verbrachten, trafen kilometerweit keinen Menschen. Ein paar Alte entsannen sich noch der Wölfe, die mit hängender Zunge ins Tal kamen, wenn es sehr kalt wurde, und die nur Haut und Knochen waren. Dann wurden die Zugänge zum Dorf verrammelt, und die Adligen zogen mit Säbeln und Gewehren hinaus auf die Jagd.

Später durften auch die Verwalter und Bauern Waffen tragen, und so starben die Wölfe. Nur einige wenige retteten sich in die Wälder, und nicht einmal der Hunger und der Schnee konnten sie noch bewegen, ins Tal zu kommen.

Turi Scirpu wohnte in der Via Delle Calcare, fast oben auf dem Berg, wo die Felder beginnen, und sein Haus war eines der höchsten. Von hier aus sah man in weiter Ferne das Meer zwischen den Bergen und den weißen Gipfeln des Ätna.

Turi war mit seinem Haus zufrieden. Es war vor hundert Jahren erbaut worden und besaß dicke Mauern, die sogar dem Erdbeben standhielten. Im Übrigen war er hier zur Welt gekommen, genau wie seine drei Kinder, Alfio, Stellina und Tanuzzu.

Groß und etwas krumm im Rücken, dunkelhäutig und mit grauem Haar und Schnurrbart, wirkte er älter, als er wirklich war. Doch er war voller Lebenskraft und hatte einen Nacken wie ein Stier. Lesen und schreiben konnte er nicht, das war unwichtig für sein Leben. Er war immer Bauer gewesen und wusste alles, was er dazu brauchte: wie man eine Mauer errichtet, ein Pferd beschlägt oder auf dem Land einen Brunnen gräbt.

Man mochte ihn ungebildet nennen, doch war er gutmütig. Er glaubte nur, was er gesehen und gelernt hatte, und nie hatte er sich dafür interessiert, was jenseits der Berge geschah.

Seit vierzig Jahren hatte seine Familie ein Podere des Advokaten Trapanese in Halbpacht, und sein größter Wunsch war, das Land zu kaufen. Er sparte am Essen, so gut er konnte, las auf den Feldwegen den Kot seines Maultieres auf, um ihn als Dünger zu verwenden, und für die Winterfeuerung sammelte er Laub und Zweige.

Während des Krieges riskierte er sogar, von den Soldaten erschossen zu werden, da er Woche für Woche zehn Kilo Weißbrot an die Händler aus Catania verkaufte, die aufs Land kamen, um Nahrungsmittel zu hamstern. Jetzt war er Herr über 470 000 Lire.

»Das Land ist das Einzige, was sicher ist auf der Welt«, pflegte er zu sagen. »Erdbeben kann es geben oder Krieg, in hundert Jahren sind alle tot, und die Häuser stehen nicht mehr. Aber das Land gibt es noch immer!«

»Lass uns elektrisches Licht ins Haus legen«, sagte seine Frau. »Alle in unserer Straße haben schon Lampen im Haus.«

»Dummes Zeug!«, antwortete Turi. »Der Vertrag mit dem Elektrizitätswerk kostet zwanzigtausend Lire. Wer lesen und schreiben muss, braucht elektrisches Licht. Aber wir, was sollen wir damit?«

Am Abend, wenn sie zu Bett gingen, streichelte er ihren Leib mit seinen dicken, rauen Fingern, schmiegte den Kopf an ihre Brust, als wollte er an ihr riechen, und legte seine Hand auf ihren Schoß. »Als Tochter eines Barons hättest du zur Welt kommen müssen«, sagte er. »Dein Fleisch riecht wie Milch so gut.«

»Das sind die Kinder, die ich dir geboren habe«, sagte sie, schob seine Hand beiseite und lachte.

Santuzza hieß sie, war klein und mager, hatte kräftige Hände und Zähne, doch ihr Blick war klar und ihre Haut so weiß, als wäre sie keine Bäuerin. Nur ihre Hände waren hart wie Holz. Auch sie war Analphabetin, hatte die Berge niemals verlassen und keine Stadt gesehen.

Stellina, ihre Tochter, ähnelte ihr. Sie war sechzehn Jahre alt, klein und zierlich, hatte dünne Beine und ein zartes Gesichtchen. Schweigsam und aufmerksam war sie, und ihr Blick wirkte scheu, als ob ihre zarte Gestalt sie traurig machte.

Sie war nicht einmal schön, denn ihr magerer Körper ließ sie unreif und kindlich erscheinen. Nur ihre Lippen waren schon weich und voll, und die großen, immer etwas umränderten Augen strahlten.

Bis zur fünften Klasse hatte sie die Volksschule besucht, dann hatte sie den Eltern bei der Landwirtschaft geholfen, bis sie mit dreizehn an einer Brustfellentzündung erkrankt war. Drei Monate war sie krank gewesen. Danach hatten die Eltern sie nicht mehr zur Feldarbeit geschickt, sondern in eine Schule gegeben, wo sie Sticken lernte.

Davon waren ihre Hände noch weißer und zarter geworden. Manchmal wurde sie von unbändiger Fröhlichkeit ergriffen, bog den Hals nach hinten und lachte mit aufgerissenem Mund. Dann wieder litt sie unter Schwächeanfällen, schwieg tagelang und las ununterbrochen in alten Illustrierten, die ihre Kameradinnen in der Stickschule ihr liehen.

Seit zwei Jahren war sie eine Frau. Beim ersten Mal hatte ihre Mutter das blutige Bettlaken genommen, es ihrem Mann gezeigt und geheimnisvoll gelächelt. Turi hatte mit dem Kopf genickt und böse gegrummelt.

»Eine schöne Bescherung! Und was geht mich das an? Du bist die Mutter und musst damit fertig werden.«

Von den zwei Söhnen ähnelte Alfio mehr dem Vater: groß und braun, mit langen, starken Armen, dunklen Augen und Haaren. Ein dicker Hals und vorstehende Backenknochen. Mit zwanzig Jahren war er zum Militärdienst gegangen. Er konnte lesen und schreiben, und auch er wusste alles über die Landwirtschaft: in welcher Woche des Jahres man die Ackerfurchen mit Mist bedecken musste, wie man die jungen Olivenbäume veredelte, ein Tier kastrierte und eine Mauer errichtete. Aber er schien mit nichts zufrieden.

Oft saß er alleine und grübelte. Stellina setzte sich neben ihn, betrachtete ihn ironisch und war so grazil und blond, dass sie nicht wie seine Schwester wirkte.

»Was denkst du?«, fragte sie. »Mein armer Bruder.«

Alfio sah sie ruhig an, und in seinen Augen blitzte schon das Lachen. Sie fuhr sanft über sein Haar, als wäre es das Fell eines Hundes, und wisperte beschwichtigend.

»Mein armer Bruder. Fehlt es dir an Brot?«

Sie mussten beide lachen, aber in ihren Gedanken blieben sie allein.

Der andere Bruder, Tanuzzu, saß dabei und hörte zu, aber die beiden zogen ihn nicht ins Vertrauen, denn er war erst dreizehn Jahre alt und ein bisschen begriffsstutzig. Die zweite Klasse der Grundschule hatte er dreimal wiederholt, und weiter war er nicht gekommen. Immer saß er in der letzten Bank, und zum Schluss überragte er die anderen um Haupteslänge.

Ständig machte er ein Gesicht, als hätte man ihn erschreckt. Seine Arme lagen so schwer auf der Schulbank, dass er den Bleistift abbrach, wenn er schrieb. Vor dem Lehrer stand er in Habtachtstellung, den Rücken etwas gekrümmt, und schaute ihn schweigend an.

»Was für eine Sorte Tier bist du?«, fragte der Lehrer. Tanuzzu musste die Handflächen vorzeigen, und der Lehrer gab ihm mit dem Rohrstock zehn Hiebe auf die eine Hand und noch einmal zehn auf die andere. Zum Schluss nahm der Vater ihn von der Schule und schickte ihn aufs Feld. Die ganze Familie wusste, dass Turi Scirpu den Hof kaufen wollte und 470 000 Lire gespart hatte.

»Auf diesem Land hat schon mein Vater gesät und Schweiß vergossen, bevor ihr auf der Welt wart«, sagte Turi, »doch es gehört uns noch immer nicht, und Ende des Jahres müssen wir dem Patron die halbe Ernte bringen.«

Der Grundherr war Advokat Sebastiano Trapanese, dem alle umliegenden Höfe bis hin zum Flusskies gehörten – mindestens zweihundert Hektar, den ganzen Hügel entlang. Manchmal kam er zu Pferde den Hügel herab, hatte den Mantel über die Schultern geworfen, Ledergamaschen an den Beinen, und man sah, wie er von einem Hof zum nächsten galoppierte, als wäre er nicht sechzig Jahre alt.

An Hochmut stand er den Adligen in nichts nach, dabei verachtete er sie ebenso wie die Plebejer und hatte nur vor zwei Dingen Respekt: dem Geld und den Gesetzen. Er lebte allein, denn er war Witwer; seine zwei Töchter hatte er nach Catania verheiratet, und der Sohn besuchte die Universität.

Von Statur war er klein, und seine Haut war so bleich wie die Tasten eines alten Klaviers, doch seltsam speckig. Seine Augen waren zwei Hosenknöpfe und die Nase enorm. Krank sah er aus und ritt doch wie ein Viehhüter, das Gewehr ins Futteral am Sattel gesteckt und auf dem Kopf einen großen schwarzen Hut.

Zur Zeit der Ernte und im September, wenn ausgesät wurde, geisterte er auf einem alten, grauen Hengst über die Felder, hielt das Tier im Zaum und prüfte wortlos, ob die Furchen richtig gezogen waren, wie man die Bäume beschnitten hatte, ob die Mauern intakt waren und die Misthaufen vorschriftsmäßig geschichtet. Den Bauern gab er mit einer Kopfbewegung Bescheid, ohne sie anzusehen. »Zu viel Land bestellst du«, sagte er zu Turi. »Zu viel Getreide willst du ernten und ruinierst meinen Acker. Du nimmst ihm das Blut.«

»Wollt Ihr mich lehren, wie ich meinen Beruf auszuüben habe, Euer Ehren?«, antwortete Turi lächelnd. Er lief neben dem Pferd her und hielt die Mütze in den Händen.

»Und wer ist das?«, fragte der Advokat und deutete auf Tanuzzu, der abseitsstand und so finster wie ein Wolf aussah.

»Mein Sohn Tanuzzu. Er ist vierzehn Jahre alt«, antwortete Turi. »Ihr kennt auch die anderen beiden, Euer Ehren: Alfio und Stellina.«

»Zu viele, die von meinem Land satt werden müssen«, sagte der Advokat. »Ihr saugt uns das Blut aus.«

Turi Scirpu lief schweigend neben dem Pferd her, die Mütze noch immer in den Händen, und lächelte aus den Augenwinkeln. Er schaute zum Herrn auf wie zu einem Altar, und die Worte erstarben ihm auf den Lippen.

»Ihr wisst, Euer Ehren, dass ich das Land kaufen will!«, sagte er schließlich.

Der Advokat lächelte, als verstünde er nicht, was gemeint war, und zuckte nur mit den Schultern. Dann gab er dem Pferd die Gerte und ritt langsam weiter. Turi lief schneller seine Furche entlang und folgte dem Pferd.

»Alles ist möglich im Leben«, sagte der Advokat ohne Nachdruck. Er hielt sich gerade, nur mit der Kraft seiner kleinen Beine, und besah sich weiter aufmerksam die Landschaft, überprüfte jede Mauer einzeln und verlangte sogar, dass man ihm das Saatgut in die Hand schüttete.

Eine Tages brachte er sein Pferd zum Stehen und kramte in seiner Weste nach Streichhölzern. Turi stand mit angehaltenem Atem daneben, während der Advokat sich die Zigarre anzündete. »Na los, Turi Scirpu!«, sagte er. »Hast du 700 000 Lire in bar? Gleich morgen verkaufe ich dir das Land!«

Turi griff nach dem Zügel des Tieres, als wollte er instinktiv verhindern, dass der Advokat weiterritt. An seinem Kinn zitterten die Schweißtropfen.

»Wie das?«, rief er. »Letztes Jahr habt Ihr gesagt, das Land kostet 500 000 Lire, Euer Ehren!«

Advokat Trapanese rauchte schweigend, stützte die Hand auf den Sattelknopf und schaute bald hierhin, bald dorthin, als hätte er anderes im Kopf. »Das Land ist teurer geworden«, sagte er schließlich mit leiser Stimme, wie zerstreut und ohne Turi ins Gesicht zu blicken. »Die Preise sind gestiegen.«

Traurig und wütend schüttelte Turi den Kopf. Ihm fielen nicht die richtigen Worte ein.

»Zwanzig Jahre habe ich gearbeitet, um das Geld aufzubringen«, sagte er. »Ihr habt gesagt, es würde reichen, Euer Ehren.«

Der Advokat sah ihm nun doch ins Gesicht. Er war nicht böse, nur müde, weil man ihn nicht verstand, und so wiederholte er mit freundlicher Stimme: »Tag für Tag wächst der Wert des Bodens. Dein Kopf ist härter als die Steine, Turi! Wer Land hat, sollte es niemals verkaufen! Ich verlange 700 000 und keine Lira weniger. Sonst vergeuden wir beide nur unsere Zeit.«

Zwei Monate vergingen, und es wurde Herbst. In all dieser Zeit hatte Turi Scirpu keinen anderen Gedanken und keine andere Hoffnung als das Land, aber niemand fragte ihn danach oder sagte etwas, weder die Frau noch die Kinder, denn er war das Haupt der Familie und hatte zu entscheiden. Auch nachts, wenn es dunkel war, lag er mit offenen Augen da, dachte an das Land, auf dem er jede Mulde und jeden Olivenbaum kannte, rief sich alles ins Gedächtnis, sogar die Mauern, die Agaven und die Bäume mit den Wildfrüchten, und überlegte, was sie wert sein mochten.

Es war ein Herbst voller Elend, und Turi fürchtete deshalb, der Bodenpreis könnte während der kommenden Wintermonate noch weiter ansteigen. Die Leute erzählten, die Regierung habe wieder Getreide beschlagnahmt, und das Kilo Mehl kostete bereits hundertdreißig Lire.

Am Ende des Tales wurden die Steinbrüche wieder in Betrieb genommen, denn überall brauchte man Steine für die neuen Häuser in den Städten. Mindestens dreihundert Männer fanden dort Arbeit. Die Brüche waren bald mehr als einen halben Kilometer lang, hundertfünfzig Meter hoch und nahmen die ganze Breite des Berges ein.

Die Steinbrecher kletterten die senkrecht abfallenden Wände hoch und spannten Stahlnetze, um zu verhindern, dass die Steinmassen herabstürzten. Dann schlugen sie mit Spitzhacken Kerben in den Tuff und sprengten große Blöcke heraus.

Jeder Arbeiter erhielt sechshundert Lire am Tag, dazu siebzig Lire Zulage für die Ehefrau und jedes Kind. Viele Arbeitslose bekamen Arbeit, doch die Preise stiegen unaufhaltsam. Ein Kilo Brot kostete hundertvierzig Lire, das Öl fast siebenhundert Lire der Liter. Zum Schluss erhöhte die Regierung sogar den Zigarettenpreis.

Noch bevor der Winter kam, beschloss Turi Scirpu, das Land zu kaufen. Eines Nachmittags kam er schon früh vom Feld und setzte sich schweigend auf die Stufen vor der Haustür. Mehr als eine Stunde blieb er dort sitzen und dachte nach, bis seine Frau herauskam und sich neben ihn setzte.

»Ich bin alt geworden«, sagte er mit großer Handbewegung, aber er wirkte nicht niedergeschlagen, sondern hatte nur einen merkwürdigen Ton in der Stimme, als wollte er getröstet werden.

»Wenn man jung ist«, fuhr er fort, »kann man sich nicht vorstellen, jemals alt zu werden.« Er betrachtete seine Handfläche, dann auch den Handrücken, und berührte mit einem Finger die dicke Ader, die zum Handgelenk führt.

»Aber ich beklage mich nicht. Ich habe die Kinder und mein Brot.«

Santuzza schaute ihn liebevoll an, denn sie wusste, was er sagen wollte. Turi wurde lebhafter, suchte nach Worten und ballte die Fäuste.

»Ich will nur …«, rief er. »Ja, ich will nur, dass etwas von mir bleibt. Das Land. Was kann ich meinen Kindern anderes hinterlassen als das Land?«

Santuzza blieb nachdenklich und sah ihm immer noch liebevoll ins Gesicht. Dann seufzte sie.

»Wir müssten 300 000 Lire aufnehmen«, sagte sie. »Ich habe Angst, Turi! Wir werden nie so viel Geld verdienen, um die Schulden zu bezahlen.«

Turi fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf. Aber er hatte sich entschieden, und keine Macht der Welt hätte ihn von seiner Entscheidung noch abbringen können. »Ich weiß. Ich weiß. Es wird schwer werden«, sagte er. »Aber ich möchte nicht alt werden und erleben, dass meine Söhne wie die Tiere im Steinbruch oder für andere auf dem Acker arbeiten müssen.«

Das fehlende Geld bekam er von der Landwirtschaftsbank, die neun Jahre lang siebzigtausend Lire für die Abtragung und die Zinsen verlangte und sich dazu eine Hypothek einräumen ließ.

Am ersten Sonntag im Oktober wurde beim Notar der Vertrag geschlossen. Advokat Trapanese behielt den großen schwarzen Hut auf, klemmte sich den Spazierstock zwischen die Beine und schwieg beharrlich. Die Leute, die ein und aus gingen, grüßten ihn, und er antwortete mit einem knappen Kopfnicken.

Turi saß ihm gegenüber. Er hatte seinen Anzug aus schwarzem Wollstoff angezogen und rollte die Mütze in den Händen. Aufgeregt blickte er von einer Seite des Zimmers zur anderen, warf bald dem Advokaten einen untertänigen Blick zu, bald den Zeugen oder dem Notar. Er wirkte wie betäubt vor Erregung. Zum Schluss brauchte er eine geschlagene Minute, um seine Unterschrift auf das Stempelpapier zu krakeln.

»Glückwunsch!«, sagte Advokat Trapanese. »Jetzt bist du der Patron! Respektiere dein Land und sorge dafür, dass die anderen es respektieren!«

»Seid unbesorgt, Euer Ehren!«, sagte Turi mit lauter Stimme und legte die rechte Hand aufs Herz. Er war schweißgebadet, und seine Augenlider bebten, weil er so erregt war.

Drei Tage später ließ seine Tochter Stellina sich von Michele Passanisi entführen. Einen Monat zuvor war Angelica Trigila vorstellig geworden – eine Nonne, die keinem Orden angehörte und auch als Mammana, als Heiratsvermittlerin für die Armen im Dorf, tätig war. Sie war alt, trug eine Brille und hatte auf den Schultern stets ein violettes Tuch liegen, um zu zeigen, dass sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte. Lange redete sie mit Turi Scirpu und tätschelte sogar seine Hände, um ihn zu überreden, dass er Stellina mit Michele Passanisi verheiraten müsse. Aber vergeblich.

»Er ist ein anständiger, braver junger Mann«, sagte sie. »Seine Eltern sind beide gestorben, und er wird sein wie euer Sohn.«

»Kommt nicht infrage«, antwortete Turi. »Sucht er eine Mitgift? Oder eine Wohnungseinrichtung? Steinbrecher ist er und verdient ganze sechshundert Lire am Tag. Vor zehn Jahren hat man die Steinbrüche geschlossen, und die Steinbrecher waren arbeitslos und wurden fast verrückt. Wo gibts denn so etwas? Meine Tochter ist erst sechzehn Jahre alt. Es wäre nicht recht!« So flohen Stellina und Michele, die sich seit mindestens einem Jahr heimlich trafen, wenn Stellina aus der Stickereischule kam.

Die erste Nacht verbrachten sie in einem Gasthof in Vizzini und schlossen sich in einer Kammer im ersten Stock ein. Von der Decke hing eine kleine gläserne Lampe, es gab ein Bett mit einem großen, gelben Überwurf, einen alten Spiegelschrank, und in der Ecke standen ein hölzerner Waschtisch mit Schüssel, ein Bidet und ein Eimer. Stellina setzte sich auf einen Stuhl mitten im Zimmer und sah ihn schweigend an.

Dann fragte sie: »Wirst du mich niemals verlassen?«

Er kniete vor ihr nieder, streichelte sie überall, hob den Rocksaum und küsste ihre Schenkel. Sie saß auf ihrem Stuhl, spürte, wie sie feucht wurde, öffnete die Beine und rutschte nach vorne.

»Du darfst mir nicht wehtun«, flüsterte sie.

»Nein, nein«, murmelte Michele und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. Dann hob er sie auf, trug sie zum Bett und begann, sie zu entkleiden. Ihr Leib war schmächtig, aber weiß und warm, pelziger Flaum bedeckte Scham und Achselhöhlen, und ihr Busen war winzig. Die kleinen Brüste und die schmächtigen Schultern bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu ihren kräftigen, rundlichen Hüften und Schenkeln.

Michele legte sich auf sie, sie hielt die Augen geschlossen und öffnete die Beine, um ihn in sich aufzunehmen. Ihr Hals und ihr Gesicht waren nass vor Schweiß.

»Sei vorsichtig, Michele!«, flüsterte sie. »Bitte tu mir nicht weh!«

Später, als es schon Nacht war, lachten sie über das Blut auf dem Laken, und sie versuchte, die Flecken mit der Hand abzudecken. Aber die Scham war vorbei, und im Augenblick der Lust bäumte sie sich auf, kam ihm wimmernd entgegen und grub ihre Fingernägel in seine Schultern.

»Mein Liebster, mein Liebster!«

Nach zwei Tagen zogen sie in Micheles Haus im Unterdorf. Die Häuser hier waren alt, gelb oder himmelblau angestrichen, hatten kleine Steintreppen und eiserne Geländer vor der Tür, und in ihrer Mitte erhob sich die Annunziata.

Sie war die kleinste und älteste Kirche des Dorfes, aus gelbem und grauem Tuffstein erbaut, und besaß vier mächtige Säulen, die über und über mit Voluten, Intarsien, Blumen und Köpfen von Engeln und Heiligen geschmückt waren. Über dem Ganzen thronte ein kleiner Glockenturm, auf dem das Gras wuchs. Hinter dem Kirchplatz lag ein Plätzchen, und dann kamen die kleinen und großen Häuser des Dorfes, die sich hügelwärts türmten.

Über den Platz und durch die Via Anapo kam selten jemand, nur die Bauern, die in der Frühe mit ihren Karren aufs Feld zogen. Von ihrem Fenster aus sah Stellina die öden Fassaden oder beobachtete die Tauben, die um den Kirchturm schwirrten.

Stundenlang saß sie reglos am Fenster und wartete, bis Michele zurückkam. Zuweilen wurden Stille und Einsamkeit so bedrückend, dass alles, was sie in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte, unwirklich wurde, sogar die Erinnerung an die Stimmen ihrer Familie. 

»Du darfst mich nie wieder alleine lassen«, sagte sie, wenn Michele abends nach Hause kam.

»Eines Tages wird man dich stehlen«, lachte er. Aber sie berührte ihn zärtlich und saugte träge seinen Schweißgeruch ein.

»Nicht eine einzige Stimme hört man hier«, murmelte sie. »Ich denke nur immer: Wann kommt Michele?«

Während des Essens saßen sie am Ofen, wärmten sich an dem kleinen Herdfeuer und hielten die Teller auf den Knien. Dann zogen sie sich aus. Stellina legte sich nackt auf das Bett und wartete, bis auch er sich entkleidet hatte. Es war kalt. Er wärmte sie mit seinem Atem und küsste sie am ganzen Körper.

Stellina lag unter ihm und betastete sein Gesicht und seine Glieder mit den Fingerspitzen, wie es die Blinden tun, um etwas zu erkennen. Manchmal lachte sie verschämt, wenn es vorbei war, und er drückte seinen Kopf zufrieden ins Kissen und lachte ebenfalls. 

»Ich kriege jedes Mal einen Schreck«, sagte er, »weil ich denke, du stirbst.«

Stellina schloss die Augen, nickte und schwieg.

Doch Michele war unzufrieden. Was er besaß, reichte ihm nicht. Er arbeitete in den Steinbrüchen und erhielt sechshundert Lire am Tag. Davon musste er Nudeln und Öl kaufen, Brot und Aufschnitt, das Holz für den Herd und Zigaretten. Sie wurden tageweise entlohnt wie die Landarbeiter. Wenn man krank wurde und einen Tag nicht zur Arbeit kam, verlor man sechshundert Lire, und wenn man eine Woche krank war, verlor man die Stellung.

In der kalten Jahreszeit trug Michele eine alte Felljacke, einen langen Wollschal, den er sich um den Kopf schlang, und eine Mütze, die er über die Ohren zog. Er hatte Frostbeulen an den Füßen, trotz der wollenen Socken, und die Finger waren aufgesprungen vor Kälte. Abends badete er sie in einem Schüsselchen mit warmem Wasser, und langsam begannen die Verletzungen zu bluten. Stellina rieb seine Finger mit warmem Öl ein und verband sie einzeln mit Gaze.

»In diesem Dorf gibt es keine Hoffnung«, sagte Michele. »Ich war Soldat und habe Dörfer gesehen, die noch elender waren als dieses, aber ich habe auch Orte kennengelernt, wo man täglich Butter und Fleisch zu essen bekam. Am Abend gehen die Menschen ins Kino oder ins Kaffeehaus, und jeder hat mindestens zwei Päckchen Zigaretten in der Tasche.

Was habe ich für eine Hoffnung? Mein Vater ist dreißig Jahre im Steinbruch gewesen. Vor Sonnenaufgang ging er hin, und wenn es dunkel wurde, kam er wieder, Sommer wie Winter. Er hat gelebt wie ein Tier. Einmal hatte er drei Tage lang nichts zu rauchen, denn es war Winter, und ich brauchte eine Mütze. Immer wieder sagte er zu mir: ›Geh gut damit um. Ich habe drei Tage lang nicht geraucht, um sie dir zu kaufen.‹

Meinem Vater ging es so schlecht, dass er niemanden lieben konnte. Dann stürzte der Berg über ihm zusammen, und er starb. Meine Mutter war die Einzige, die ihn erkannte. Sie wusch ihn, legte ihn aufs Bett, kämmte sogar sein Haar und zog ihm den guten Anzug an. Das war der einzige Trost, der ihm in seinem Leben widerfuhr!«

Wenn er so redete, hockte Stellina sich mit der Wärmpfanne in eine Ecke und hörte mit furchtsamen Augen zu, ohne etwas zu sagen. Dann taten seine Worte ihm leid, und er rückte näher und schürte langsam und schweigend die Holzkohle oder fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Doch die Gedanken ließen ihn nicht los.

»Ist das alles im Leben eines Menschen? Wie kann das sein?«, fragte er. »Eine Hoffnung muss es geben und einen Weg, das Leben zu ändern!«

Stellina mit ihren sechzehn Jahren hatte dagegen nur Sinn für die Nöte und Wünsche ihres Körpers. Schon seit der ersten Nacht war sie schwanger, und ihr Bauch hatte sich langsam gerundet und wölbte sich nun schwer nach außen. Sie spürte, wie ihr Inneres ausgefüllt wurde. Ihre Gedanken waren nur nach innen gerichtet, aber sie begriff nicht, ob das Blut, das in ihr pochte, von diesem Bauch ausging oder ob alles Blut ihres Körpers dort mündete.

Sie wollte das Kind, weil sie glaubte, dass Michele sie nie wieder verlassen würde, wenn sie erst ein Kind hatten. Oft verschränkte sie die Hände schützend vor ihrem Bauch und erschrak, wenn sich dort etwas einen Moment lang drehte oder ihr Blut aufwallte.

Sie verstand nicht einmal, wie ein Wesen dort wachsen und menschliche Formen annehmen konnte; wie es möglich war, dass es eines Tages außerhalb ihres Leibes leben sollte, eine Stimme besitzen, Gesichtszüge, Haare und Augen haben und sich von allen anderen auf der Welt unterscheiden.

Michele war auch über das Kind nicht glücklich. Er hatte Angst, es könnte ihn eines Tages daran hindern, das Dorf zu verlassen und sich eine bessere Arbeit zu suchen. Wortlos zog er abends die alte Lederjacke aus, nahm den nassen Schal ab und setzte sich neben die Kohlenpfanne, um sich aufzuwärmen.

Immer seltener sprach er, kniete nur vor der Pfanne und berührte die Glut fast mit den Händen. Dann holte er Kippen aus der Tasche und bröselte den Tabak in die Handfläche, lockerte ihn vorsichtig auf und drehte sich eine Zigarette. »Ich spüre sein Herz schlagen!«, sagte Stellina unterwürfig. Sie saß vor ihm, entblößte ihren Bauch und strich mit der Hand über die Wölbung. Ihre Haut war so weiß, dass ihr Schamhaar dichter und geheimnisvoller aussah. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Leib.

»Fühl nur!«, sagte sie. »Spürst du, wie es sich bewegt?«

»Ich fühle nichts«, brummelte Michele. »Was gibts da zu fühlen?«

Stellina bedeckte sich wieder und presste die Arme eng an den Leib, um ihn zu wärmen. Am Abend im Bett legte sie Micheles Kopf auf ihre Schulter und streichelte zärtlich sein Haar, als wäre er das Kind. Doch wenn sie fragte, was ihm fehle, so stöhnte er nur und wurde böse.

»Nichts«, knurrte er. »Die Kälte hat mir die Hände aufgerissen, und mein Rücken tut weh!«

Doch dann beruhigte er sich, weil ihre Sanftmut stärker war als seine Wut, und schmiegte seine Wange an ihren Busen.

»Tu ich dir weh?«, fragte er. Sie fuhr wieder durch sein Haar und drückte ihn an sich.

»Nein, nein, bleib so!«

Als Michele eines Abends in der ersten Maiwoche von der Arbeit kam, traf er draußen vor dem Dorf Alfio Scirpu. Alfio saß auf einem Mäuerchen, hatte die Mütze tief in die Stirn gezogen, den kurzen Mantel über die Schultern gehängt und schien zu warten.

Es dämmerte bereits, der Landregen verbarg das Dorf und die Felder, und der Weg war menschenleer. Alfio rief Michele beim Namen. Der blieb stehen und spürte, wie die Angst in ihm hochkam.

Er wollte weitergehen, doch Alfio packte seinen Arm und versperrte ihm den Weg. Man sah, dass er lange gewartet hatte, denn er war nass, und Regen tropfte vom Schirm seiner Mütze.

»Hast du mir nichts zu sagen?«, fragte Alfio.

»Nichts«, antwortete Michele.

Er wusste, dass Alfio Scirpu hier war, um ihn herauszufordern, doch er hegte weder Hass noch Groll gegen ihn. Seit er Stellina entführt hatte, war ihm klar, dass es eines Tages so kommen musste, und so gesellte sich zu seiner Angst eine Art stolzer Wut.

Er wich zurück, wickelte sich den Schal um den linken Unterarm, holte mit der Rechten das Messer heraus und öffnete es mit den Zähnen. Auch Alfio machte zwei Schritte nach hinten, nahm sein Messer und klappte es auf. Den Mantel hängte er sich zum Schutz über die linke Schulter.

Sie gingen in Kampfstellung und starrten angestrengt in die Dämmerung. Alfio hatte den Oberkörper vorgebeugt, das Messer in der Rechten, und hielt den ausgestreckten Arm nach innen gekrümmt. Michele ging ihm aufrecht entgegen, mit hängenden Armen und angehaltenem Atem.

Anfangs versuchten beide, eine gewisse Eleganz an den Tag zu legen, und täuschten Angriffe vor, um den anderen zu verwirren, aber in Wirklichkeit kannte keiner der beiden die Regeln des Messerkampfes, und so bewegten sie sich steif und ungelenk.

Der Erste, der zustach, war Alfio, aber Michele ging mit einem kleinen Sprung auf Distanz und griff seinerseits an. Er stieß einen Kampfschrei aus und führte das Messer von unten nach oben. Auch sein Stoß ging ins Leere, und er wagte nicht, sogleich einen zweiten Hieb folgen zu lassen, da er fürchtete, dem Gegner zu nahe zu kommen.

Wieder belauerten sie sich, denn Angst hatten sie beide. Alfio trat beiseite und federte in den Knien, um einen plötzlichen Angriff vorzutäuschen. Michele umkreiste den Gegner mit kleinen Schritten, um ihn zu verunsichern, und schaute ihn angriffslustig an.

Diesmal führte er einen geraden, heftigen Stoß, und er hätte nur ein zweites Mal zustechen müssen, um Alfio zu treffen, denn der stand breitbeinig da, sodass er nicht ausweichen konnte. Doch Michele zog sich nach dem Fehlstoß instinktiv zurück. Einen Moment lang blieb sein linker Arm in der Luft hängen und gab die Schulter schutzlos preis.

Alfio vollführte eine halbkreisförmige Bewegung mit der Waffe und stach Michele tief in den Oberarm. Michele stürzte, überschlug sich, landete auf den Knien und begann blindlings, nach allen Seiten Messerstiche auszuteilen, da er dachte, Alfio sei schon über ihm. Stattdessen verspürte er einen heftigen Tritt im Gesicht und verlor das Messer.

Mühsam versuchte er, sich aufzurichten. Sofort verpasste Alfio ihm einen zweiten kräftigen Tritt vor die Brust, der ihn abermals zu Boden warf. Alfio stürzte sich auf ihn, trat und schlug ihm ins Gesicht und in den Rücken und benutzte auch den scharfkantigen Messergriff zum Schlagen.

Michele duckte sich, umklammerte Alfios Beine, um sich hochzuziehen, aber jedes Mal fiel er wieder auf die Knie. Nicht einmal das Gesicht vermochte er mit den Händen zu schützen, und zum Schluss hatte er den Mund voller Blut, keuchte und hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden.

»Ehrloser Feigling!«, schrie Alfio wie ein Wahnsinniger. »Was bist du für ein Mensch?! Du ehrloser Verbrecher!«