Ehrenwerte Leute - Giuseppe Fava - E-Book

Ehrenwerte Leute E-Book

Giuseppe Fava

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Beschreibung

Als die junge Lehrerin Elena in einem sizilianischen Bergdorf eine Stelle antritt, wird sie über Nacht zur Respektsperson. Wer sie beleidigt, wird am nächsten Morgen tot auf der Piazza gefunden. Ein undurchschaubares, unerklärliches Netz ist um sie gesponnen. Sie steht unter dem Schutz »ehrenwerter« Leute und weiß nicht warum. Das Dorf wird ihr zum Albtraum. Ein Kriminalroman ohne Täter, ohne beruhigende Aufklärung der Morde, ohne sichtbare Motive. Ein Schlüssel zum absurden Gesetz des Schweigens.

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über dieses Buch

Als die junge Lehrerin Elena in einem sizilianischen Bergdorf eine Stelle antritt, wird sie über Nacht zur Respektsperson. Wer sie beleidigt, wird am nächsten Morgen tot auf der Piazza gefunden. Ein unerklärliches Netz ist um sie gesponnen. Sie steht unter dem Schutz »ehrenwerter« Leute und weiß nicht warum. Das Dorf wird ihr zum Albtraum.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Giuseppe Fava (1925–1984) wurde vor dem von ihm gegründeten Theater, in dem sein Anti-Mafia-Stück L’ultima violenza (»Die letzte Gewalttat«) aufgeführt wurde, ermordet. Als Romancier, Dramatiker und Journalist hatte er sich mit der mafiosen Gesellschaft seiner Heimat Italien auseinandergesetzt.

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Peter O. Chotjewitz (1934–2010), ursprünglich Jurist, veröffentlichte Romane und Erzählungen, schrieb zahlreiche Hörspiele und arbeitete für verschiedene Zeitungen und als Übersetzer.

Zur Webseite von Peter O. Chotjewitz.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Giuseppe Fava

Ehrenwerte Leute

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die italienische Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel Gente di rispetto bei Gruppo Editoriale Fabbri, Bompiani, Sonzogno, Milano.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 im Verlag Beck & Glückler, Freiburg.

Originaltitel: Gente di rispetto (1975)

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30368-3

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Version vom 28.05.2024, 14:48h

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Inhaltsverzeichnis

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EHRENWERTE LEUTE

Leoluca Orlando: Vorbemerkung zu Ehrenwerte Leute

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Leoluca Orlando: Vorbemerkung zu Ehrenwerte Leute

Giuseppe Fava erzählt von den Stimmungen und Farben, den Licht- und Schattenseiten eines kleinen Dorfes im Herzen von Sizilien. Er erzählt von den Hoffnungen und Erlebnissen einer jungen Grundschullehrerin namens Elena Vizzini, die aus einer norditalienischen Familie stammt und die es hierhin verschlagen hat.

Dieses Dorf ersteht vor unseren Augen als Mosaikbild zahlloser alltäglicher Beobachtungen und Begebenheiten, die durch schreckliche Ereignisse ausgelöst werden: Es kommt zu einer Serie von verstörenden, fast rituellen Morden. Sie werden beschrieben, als wären sie unausweichliche Naturereignisse, die zum Takt des Lebens dieser Gemeinschaft gehören.

Der Bürgermeister, der Advokat, der Lehrer, der Polizist, aber auch der einfache Arbeiter, der nie im Rampenlicht steht – jedem scheint seine Marionettenrolle in einem Spiel zugewiesen, das dirigiert wird von einem unfassbaren Meister, der sein Gesicht nie zeigt und im Dunkeln seine Fäden zieht. Kurzum: Es ist das Gesicht der Mafia.

Der Puppenspieler ist ein Mörder, und seine Verbrechen sind die Fäden, mit denen er die Menschen und Mächte dieses Landes lenkt.

Elena Vizzini erlebt Leidenschaft, Liebe, Furcht, vorsichtiges Taktieren und Großzügigkeit inmitten all dieser Marionetten und der verwirrenden Fäden, an denen sie zu hängen scheinen. Am Ende wird sie selbst zur Marionette, genau wie alle anderen.

Und zuletzt geht sie, verlässt dieses Dorf Hals über Kopf, als wieder ein Mord geschieht: Er ist ebenso skrupellos wie alle anderen, für sie aber ein verheerender Schlag, weil er ihre innersten Gefühle trifft.

Weggehen und Schluss machen!

Bleiben und das Spiel fortsetzen, in dem man sich so mächtig und einflussreich fühlt, als sei man ein Padrone. Bleiben und sich einkapseln in dieser Nische. Wie die drei Affen: Nichts sehen, nichts sagen, nichts hören. Dieses dreifache Nichts ist der Kern dieses Romans, der 1975 geschrieben wurde und kein bisschen von seiner emotionalen Wucht und geistigen Schärfe verloren hat.

Giuseppe Fava hat sich für einen vierten Weg entschieden – mit diesem Roman, der eine Anklage ist, wie mit all seinen Aktivitäten als Schriftsteller, Journalist, Theaterautor und Bürger dieses Landes. Bleiben und Widerstand leisten! Nur wenige haben das in jenen Siebzigerjahren offen und rückhaltlos gewagt.

Bleiben, Widerstand leisten – und getötet werden. So ist es auch ihm ergangen. Vor dreißig Jahren, am 5. Januar 1984, wurde er von der Mafia ermordet. Ein schwarzer Tag, an den man sich erinnern muss. An einem 5. Januar (im Jahre 1948) wurde ein anderes Opfer der gleichen Mafia geboren: Giuseppe Impastato, genannt »Peppino«. Als er 1978 über ein kleines Lokalradio die Verwicklungen seiner eigenen Familie mit der Mafia offenlegte, wurde er ermordet. Die beiden Giuseppe stehen für jenes Sizilien, das den Mut aufbringt, sich zu widersetzen. Nie dürfen wir sie, die sich geopfert haben, vergessen. Denn das Vergessen wäre ihr zweiter Tod.

Bis heute gibt es viele, die bleiben, die das Spiel mitspielen, sich Vorteile in dieser Nische erhoffen. Aber es werden jene immer zahlreicher, die sich weigern und widersetzen. Sie tragen Giuseppe Favas Vermächtnis weiter.

Angesichts des wachsenden Widerstands hat die Mafia davon Abstand genommen, ihre Gegner wie früher physisch auszulöschen, zu töten. Doch sie tötet weiterhin an den Wurzeln der Gesellschaft – indem sie ihre Netze über Politik, Wirtschaft und Finanzwesen auswirft und am Leben erhält.

Es geht hier also um mehr als einen Roman. Dies ist keine erdachte Geschichte, sondern eine Herausforderung für das Sizilien von heute. Ehren wir also Giuseppe Fava und mit ihm alle, die waren wie er, die sind und sein werden wie er.

Der Beamte des Schulamts ließ den Finger über das Register gleiten. Er war ein erstaunlich kleiner Mann mit winzigen Händen und zwei wunderschönen weißen Haarsträhnen. Seine Gesten wirkten gereizt, und er bekam einen Wutanfall, als er ihren Namen nicht auf Anhieb fand: Elena Vizzini. Er klappte das Register zu, öffnete es wieder und warf ihr einen geringschätzigen Blick zu.

»Also noch mal!«

Als er den Namen schließlich gefunden hatte, seufzte er ungnädig: »Elena Vizzini, versetzt nach Montenero Valdemone …«

»Wieso Montenero? Das ist zu weit. Ich hatte mich für Ragusa oder Enna beworben …«

»So ist es, Signorina! Sie können ablehnen.«

Ja, ablehnen. Noch ein Jahr ohne Arbeit, dann noch eins und noch eins … Sie besah sich im Spiegel, während sie im Fahrstuhl hinabfuhr, und strich sich leicht über die Schläfen. Ihr war zum Weinen zumute: Elena Vizzini, 31 Jahre alt, Halbwaise, Volksschullehrerin ohne Anstellung, Platz 492 im Einstellungswettbewerb, ein bleiches Gesicht, das schon sanft zu verblühen begann, eine einzige Liebschaft bisher, die drei Jahre gedauert hatte, mit einem verheirateten Mann, der zum Schluss doch zu seiner Frau zurückgekehrt war. Eine Weile hatte sie ein Vakuum empfunden, eine körperliche Leere, so als habe man ihr nicht nur die Gefühle, sondern auch die Geschlechtsorgane aus dem Leib gerissen. Zwei Jahre lang hatte sie als Hilfslehrerin an einer Dorfschule bei Catania unterrichtet, danach zwei Jahre in einem Anwaltsbüro gearbeitet und schließlich an dem Wettbewerb teilgenommen.

Wie sollte sie jetzt ihrer Mutter begreiflich machen, dass sie nach Montenero fahren musste, wo sich Montenero Valdemone befand, was für Menschen dort lebten, wie lange sie dort bleiben würde und wie sie es überhaupt schaffen wollte, alleine zurechtzukommen? Die Mutter hatte ihr jene Liebesgeschichte nie verziehen – den Taumel und das Unglück dieser drei verzweifelten Jahre, die doch das einzig Wichtige in ihrem Leben gewesen waren. Für die Mutter war es obszön gewesen, und sie hegte seither einen stillen Groll, als ob alles sich nur ereignet hätte, um sie zu kränken.

Vor vierzig Jahren hatte ihr Mann, ein Wachtmeister bei der Forstpolizei, sie von Turin nach Sizilien geholt, und auch das hatte sie nur als unerträgliche Anmaßung empfunden. Für sie waren die sizilianischen Männer eitel, streitsüchtig und dumm, ihre Frauen vulgär und ungebildet und ihre Kinder schmutzig. Vierzig Jahre lang hatte sie ihren piemontesischen Dialekt gesprochen – mit jedem und überall, im Haus und draußen. Immer sprach sie mit lauter Stimme, vor allem seit ihr Gehör nachgelassen hatte. Als größten Verrat hatte sie es empfunden, dass Elena ihrem Vater ähnelte, die etwas raue Stimme, die schwarzen Haare und Augen und die Schweigsamkeit der Sizilianer besaß und zu einer derart wilden und gewöhnlichen Leidenschaft fähig gewesen war.

Mit den Jahren war sie etwas ängstlich geworden. Zuweilen weinte sie, wenn die Tochter sich gegen sie auflehnte, aber das verging rasch, und sie begann wieder zu zetern. Stundenlang erörterte sie alle Schmach, die sie in ihrem Leben erlitten, und die Opfer, die sie ihrem Mann gebracht hatte, die Schande, die sie einer undankbaren Tochter verdankte, und die Abscheu, die sie gegenüber all diesen Sizilianern empfand.

»Als ich deinen Vater kennenlernte, hätte ich gewarnt sein müssen … Er hatte Haare in der Nase. Hör mir auf mit diesem widerlichen Wachtmeister. Du siehst genauso arabisch aus wie er …«

Nie war sie krank gewesen. Klein, zierlich, immer schwarz gekleidet, mit einem Krägelchen aus weißer Spitze, einem goldenen Kettchen, schneeweißem Haar und einem Stöckchen aus schwarzem Metall, das einen silbernen Knauf hatte. Seit mindestens zwanzig Jahren kleidete sie sich auf diese Weise, und ihr Leben kreiste wie ein Uhrwerk um drei feste Punkte: das stets etwas verächtliche Andenken an ihren Mann, den Wachtmeister, die säuerliche und bedrückende Liebe zu ihrer Tochter und die Zumutungen ihrer Schwägerin Agatina, der Schwester ihres Mannes, einer alten Bäuerin, die seit zwölf Jahren bei ihnen lebte und in der sie alle Abscheulichkeiten der Südländer vereint sah. Agatina, die ein bisschen dumm, stockreligiös und eine halbe Analphabetin war, redete nur in ihrem Cataneser Dialekt und reagierte nie. Zwischen der alten Piemontesin und der alten Sizilianerin entwickelten sich unglaubliche Dialoge.

»Da, schau, diese aufgeblasene Schlampe … Diese alte Kuh, Tochter eines Hohlkopfs …«

»Wer versteht schon, was du sagst, meine Tochter …?«

Es kam so, wie Elena es vorausgesehen hatte. Ihre Mutter redete eine Stunde lang laut mit sich selbst, wobei sie von einem Zimmer ins nächste lief, behauptete, dass sie mit Sicherheit sterben werde, während Elena fort sei, versank dann zwei Tage lang in tiefes Schweigen und sprach nicht einmal mehr mit ihrer Schwägerin. Erst am Bahnhof, wenige Minuten vor der Abfahrt, begann sie zu zittern, brach in Tränen aus und wollte ihrer Tochter sogar die Hände küssen. Schwarz und verloren blieb sie schließlich auf dem Bahnsteig zurück, und Elena fürchtete, der Luftzug der Waggons könnte sie davonwehen.

Sieben Stunden Fahrt, erst mit dem Zug bis Palermo, danach mit dem Autobus. Das Meer verschwand urplötzlich zwischen den Hügeln, dann waren auch die Hügel weg und mit ihnen die Orangenhaine, die sanften Farben der Küste, das Blau, das Gelb, das Grün, und alles wurde grau und öde. Weite Täler, durch die der Wind strich und Staubwolken aufwirbelte, und steinerne Berge ohne Baum oder Strauch. Manchmal schien es, als müsste die Straße in eine grüne Ebene oder an einen Strand führen, doch es kamen immer nur neue wüste Täler oder nackte Berge.

Mit ihr im Bus fuhren acht Personen. Eine Bäuerin mit ihrem schwachsinnigen Sohn, der verträumt die Landschaft betrachtete, sich besabberte und von der Mutter geduldig mit dem Taschentuch gesäubert wurde. Drei Bürger, der eine fett und jung mit Brille, der Zweite, der ein Filzhütchen und einen Schnurrbart trug, stutzerhaft und der Dritte mit einer ledernen Tasche, freundlichen blauen Augen und langen Haaren, die fast grau waren. Dann gab es zwei Studenten, fast noch Jungen, die auf der Oberlippe ein albernes Bärtchen hatten, pausenlos redeten, rauchten und ständig lachten. Schließlich ein hochgewachsener, noch junger Mann mit einem großen schwarzen Kopf. Schnurrbart, Augen, Augenbrauen und Haare – alles war schwarz. Er hatte muskulöse Hände, trug eine prächtige Krawatte und wirkte unruhig, rauchte, las, stand auf und wechselte den Platz. Schließlich setzte er sich fast direkt vor Elena und schaute sie herausfordernd an. Er betrachtete ihre Beine, blickte spöttisch, starrte sie unverschämt an, sah wieder auf ihre Beine, ihren Schoß, den Nacken und schaute ihr abermals voll ins Gesicht.

»Störe ich?«

»Ja!«

Er lachte unterdrückt, tat überrascht und sagte vertraulich: »Wir werden bestimmt gute Freunde! Frauen wie Sie gefallen mir …«

Elena stand auf und setzte sich neben den schwachsinnigen Jungen. Der Mann lachte, kniete sich auf den Sitz und blickte amüsiert in die Runde, als wollte er die anderen auffordern, sich mit ihm zu amüsieren. Nur der Herr mit den grauen Haaren lächelte beschwichtigend.

Ein neues Tal und neue Berge. Langsam dämmerte es, und abermals begannen die Dinge, ihre Farben zu wechseln. Das weite Tal schimmerte in einem zarten blaugrauen Ton, der Himmel färbte die Berge erst rosa, dann violett, schließlich versank alles im Dunkel. Noch eine Stunde Fahrt. Im Bus begann man zu schlafen. Elena hatte das beängstigende Gefühl, sich unwiderruflich von allem zu entfernen, was ihr Leben ausmachte. Endlich erschienen in der Ferne die gelblichen Lichter einer Ortschaft. Der Bus schwankte auf der kurvenreichen Abfahrt von einer Straßenseite zur anderen, und es schien, als würde er den Ort, der immer wieder zwischen den Bergen verschwand, niemals erreichen.

An der Haltestelle auf einer einsamen Straße wurde Elena vom Schuldiener erwartet, der sich in eine Art schwarzen Schal gewickelt hatte und auf dessen Kopf ein lustiges Militärkäppi saß. Auch sein Name war lustig: Allegrezza.

Er war äußerst zuvorkommend, übermittelte ihr die Grüße des Rektors und trug schweigsam ihren Koffer bis zu der Wohnung, die die Schuldirektion für sie gemietet hatte. Eine Seitenstraße, die unbewohnt wirkte, eine schmale Pforte, ein kleiner Innenhof, eine Außenstiege, noch eine Tür und dahinter ein eiskaltes Zimmer. Elena war dermaßen erledigt, dass sie nicht einmal mehr den Koffer auspacken mochte, sich angekleidet, wie sie war, auf dem Bett ausstreckte und die Decke über sich zog.

Sie schlief schlecht und hatte die ganze Nacht über ein Gefühl der Kälte und Angst. In der Morgendämmerung erwachte sie und verwendete zwei Stunden darauf, ihr Zimmer herzurichten. Es war groß und ungemütlich. Ein breites Bett mit einem eisernen Kopfteil, ein alter, verspiegelter Kleiderschrank, ein Tisch, vier Stühle, ein Lavabo und vier verschossene Stiche an den Wänden. Den stärksten Eindruck machte ein Kamin, in dem Asche und verkohlte Holzstücke lagen. Daneben waren Holzscheite aufgeschichtet. Vom Balkon aus sah man die Berghänge oberhalb des Ortes, bedrohlich im Schatten über dem Tal, die grauen Dächer der Häuser, auf denen Grasbüschel wuchsen, die feuchten Fassaden und eine Treppe, auf der gelegentlich ein Reittier bergwärts kletterte.

Dieses ärmliche Bild überragte ein gewaltiger, weißer Glockenturm, der aus all diesem Grau zu wachsen schien und das Tal beherrschte.

Der Großteil der Ortschaft erstreckte sich in der entgegengesetzten Richtung, nach Süden hin, und auch er machte auf Elena, als sie später das Haus verließ, fast den Eindruck eines Bühnenbilds. Drei große, grauweiße Kirchen erhoben sich, der Höhe nach gestaffelt, über dem Ganzen, und so verschieden ihr Stil war, erzeugten sie doch ein fantastisches Bild. Die Wohnhäuser waren klein und gedrungen, allesamt aus dem gleichen grauen Stein erbaut, und die Balkone aus Schmiedeeisen. Die ärmeren Häuser hatten rosa- und elfenbeinfarbene Fassaden, aber die Farben waren verblichen und wirkten zart und kostbar. Der Morgen war klar, der Ort wimmelte von Menschen, und der Eindruck des Gewimmels wurde noch dadurch verstärkt, dass sie alle schwarz gekleidet waren.

Die Schule befand sich in einem alten Gebäude oberhalb der Ortschaft und mochte zur Zeit der Bourbonen ein Gefängnis gewesen sein, denn es gab nur einen großen Balkon, und die Fenster waren mit eisernen Gittern versperrt. Aber vielleicht war es auch ein Adelspalast gewesen, der aus der Zeit stammte, als die reichen Familien sich nachts in ihren Häusern verbarrikadierten. Sogar die Türen des Portals waren mit Eisenbändern verstärkt, und seitlich des Balkons sah man Schießscharten. Das Innere war feucht, die Korridore dunkel, die Einrichtung veraltet. Schulbänke und Katheder, Schiefertafeln und Landkarten verströmten einen Modergeruch, als hätte sich der Atem vieler tausend Schüler eingenistet und mit Staub vermischt.

Der Lehrkörper schien nicht anders zu sein als andere, die Elena erlebt hatte, nur dass hier allesamt, Männer wie Frauen, ärmlicher und schlechter gekleidet wirkten. Eines fiel ihr auf: Wenn sie miteinander sprachen, ging es vor allem um Krankheiten, Ratenkäufe oder das Fernsehprogramm. Gegenüber dem Rektor zeigten sie übertriebene Hochachtung. Auch er hatte einen sehr schönen Namen, Amedeo Battaglia, war jedoch eher kleinwüchsig, blass und glatzköpfig. Er war permanent in Bewegung und unterstrich seine Rede durch kleine herrschsüchtige Zuckungen, die wie eine fortwährende Darstellung seiner Autorität und Ungeduld wirkten. Selbst wenn er stillstand, blieb sein rechtes Bein noch angespannt und vibrierte.

Rektor Battaglia empfing sie kurz in seinem Büro. Die eine Hand auf dem Rücken, die Äugelchen gebieterisch, erklärte er, dass der Ort uralte kulturelle Traditionen habe und dass die Schule das kulturelle Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart bilde. Es dauerte fünf oder sechs Minuten. Elena, fast in Habtachtstellung, versuchte, so beflissen wie möglich zu wirken, und Rektor Battaglia seinerseits fragte sich, während er sprach, ob er ihre Beflissenheit ernst nehmen dürfe.

Zum Schluss sagte er: »Die Schulleitung hat sich um Ihre Unterbringung ab gestern Abend gekümmert.«

Elena bedankte sich, er schien ehrlich erfreut zu sein und sagte: »Die kleine Wohnung ist von Herrn Rechtsanwalt Bellocampo zur Verfügung gestellt worden, und ich hielte es für tunlich, wenn Sie sich persönlich bei ihm bedanken würden. Er ist ein wichtiger Mann …«

»Ich werde es noch heute tun, Herr Direktor.«

»Vorzüglich, vorzüglich.«

Er bestand darauf, sie zu ihrem Klassenzimmer zu begleiten, wo die vierte Klasse seit einer Woche auf ihre neue Lehrerin wartete. Elena hatte zweiundvierzig Schüler, die sich in acht Schulbänken drängten und so stark nach Ziege stanken, dass ihr schlecht wurde. Allesamt gleich schmutzig und unruhig, zappelten sie fortgesetzt, schwätzten und lachten. Einige waren fast noch Kleinkinder, andere hatten schon Bartwuchs und wirkten groß und kräftig. Die Anwesenheit der jungen, unbekannten Lehrerin schien sie für den Rest des Vormittags in Erregung zu halten, doch sobald Elena sie anschaute, verstummten das Lachen und das Getuschel, und sie verkrochen sich fast unter den Bänken.

Elena versuchte, einige Fragen zu stellen, erkundigte sich nach Namen, Vornamen, elementaren Kenntnissen und machte eine niederschmetternde Entdeckung. Fast alle konnten sich nur im Dialekt ausdrücken, und etliche wirkten regelrecht schwachsinnig, starrten sie schweigend an, lächelten verwirrt und antworteten nicht einmal.

Während der Pause stellte Elena etwas Seltsames fest: Fast alle Kollegen schienen davon beeindruckt zu sein, dass Rechtsanwalt Bellocampo ihr die kleine Wohnung vermietet hatte. Der Name rief undefinierbare Reaktionen hervor, die irgendwo zwischen Bewunderung und Abneigung lagen.

Eine ältliche Lehrerin namens Giustolisi sagte: »Seit fünfzehn Jahren lebe ich in diesem Ort und habe ihn noch nie gesehen …«

Ein Lehrer namens Solarino fügte hinzu: »Er verlässt das Haus nur in der Morgendämmerung und geht auf dem Corso spazieren. Ein Diener folgt ihm ehrfürchtig mit zehn Schritten Abstand. Er will niemand sehen …«

Ein dritter Kollege erläuterte: »Sein einziger Sohn ist im Krieg gefallen, und die Tochter ist vor fünfzehn Jahren mit einem Mann durchgebrannt und nie wiedergekommen …«

Ein Junglehrer, kaum zwanzig und mit Schnurrbart, sagte lediglich: »Der Mann ist eine tragische Figur!«

Von allen Kollegen, die Elena an diesem Vormittag kennenlernte, fiel Michele Belcore ihr am meisten auf: Er lächelte, einerlei, was geschah oder gesagt wurde, schien jedem mit Aufmerksamkeit und Höflichkeit zu begegnen, machte aber den Eindruck eines Melancholikers. Seine Bewegungen, seine Stimme und sein Lächeln wirkten müde und resigniert, aber er hatte einen wunderschönen Kopf, langes, lockiges Haar mit ein paar weißen Fäden darin, eine klassische Nase, einen ebensolchen Mund und sanfte, schwarze Augen. Er wirkte ein bisschen ungepflegt, aber das mochte an der Art liegen, wie er sich kleidete, ohne Krawatte, die Bleistifte und Kugelschreiber in der Brusttasche, den Schal locker über die Jacke gehängt und die Haare ungekämmt.

Er schien der Intelligenteste und Menschlichste von allen zu sein, und Elena fragte sich, ob sein Lächeln wirklich nur Sanftmut ausdrückte oder ob es auch eine kaum merkliche Ironie enthielt.

Sie wechselten einige belanglose Sätze: »Ich habe mir heute Morgen ein wenig den Ort angeschaut … Wie sind die Leute hier?«

»Arm und ungebildet. Aber das soll Sie nicht kümmern. Sie müssen nur ein Jahr hierbleiben!«

»Ein Jahr ist lang …«

»Man muss nur den Winter überstehen. Das Frühjahr ist wunderbar, das ganze Tal färbt sich grün … Werden Sie mit den Kindern eine archäologische Wanderung machen? … Wir haben sogar noch Reste eines kleinen griechischen Theaters auf dem Hügel …«

»Das würde ich gerne sehen! Ich habe sowieso nichts anderes vor.«

»Ich kann Sie begleiten. Heute Nachmittag. Oben auf dem Hügel sind auch die Ruinen der normannischen Burg.«

Belcore, der sie am Nachmittag abholte, hatte einen kleinen Fiat und einen eigenwilligen Fahrstil. Er hielt das Steuerrad fest, als hätte er Angst, es zu verlieren, schaute starr auf die Fahrbahn, und seine Augen flackerten. Elena fiel auf, dass er einen Umweg machte, um nicht durch den Ort fahren zu müssen. Während der Fahrt war er so erregt, dass er nicht einmal wagte, die Gangschaltung zu betätigen, aus Angst, ihr Knie zu berühren. Während sie den Fußweg hinaufgingen, hielt er stets einige Schritte Abstand.

Er sagte nur einen, dafür umso angenehmeren Satz: »Sie sind die schönste Lehrerin, die wir je hatten …«

Von der Kuppe des Hügels aus betrachtet, wirkte das Tal noch größer. Im Hintergrund schimmerte weiß und grün ein Fluss, aber das Land war leer. Kein Gutshof, kein Haus. Nur der Ort überragte grau die Leere, und auch er schien plötzlich unbewohnt zu sein.

Sie setzten sich auf eine der Bastionen der Burg und plauderten: »Dreimal ist der Ort völlig zerstört worden, zuerst von den Sarazenen, dann von den Staufern und zum Schluss durch das Erdbeben … Jedes Mal sind die Überlebenden zurückgekehrt und haben ihn an der gleichen Stelle wiederaufgebaut …«

»Das muss einen Grund haben.«

»Vielleicht die Angst, der Aberglaube, wer weiß …?«

Die Sonne berührte die Berge am Horizont, und hinten im Tal begann es, gespenstisch zu dunkeln. Ein schneidender Wind kam auf. Sie fuhren zurück. Elena bat, bei den ersten Häusern abgesetzt zu werden, um ihn nicht abermals in Verlegenheit zu bringen und um zu vermeiden, dass er von ihrem Besuch bei Rechtsanwalt Bellocampo erfuhr. Sie sagte: »Ich will ein bisschen herumlaufen und mir die Straßen anschauen.«

Der Ort bestand aus einem Labyrinth von Gassen, Querstraßen und Treppchen, das vom Corso durchschnitten wurde, der, etwa einen Kilometer lang, leicht anstieg und die einzige wirkliche Straße war. An seinem oberen Ende, wo er sich zur Piazza weitete, führte eine schwindelerregende Freitreppe hinauf zur Kathedrale mit drei großen Bronzetüren und zwei Reihen weißer Säulen. Hoch und einsam beherrschte sie Ort und Tal wie ein Phantom. Die zweite Kirche stand etwa in der Hälfte des Corso und besaß zwei kleine Glockentürme, die von drei Statuen überragt wurden. Die dritte erhob sich an der tiefsten Stelle über den flachen Dächern mit einer hübschen, bleigedeckten Kuppel und einem schmächtigen, ungemein zerbrechlich wirkenden Campanile.

Alle drei Kirchen zusammen fügten sich zu einer Perspektive, die man gewahrte, sobald man den Corso betrat, und verliehen dem Ort den wundersamen Ausdruck verschwundener Städte. Die kleinen Häuser aus gelbem Stein mit ihrem Bossenwerk, den Karyatiden und den geschmiedeten Balkongeländern verstärkten noch den Eindruck des Verfalls und der Verlassenheit durch ihre verblassten Farben, die zerbröckelnden Simse und die Hinfälligkeit, die die Zeit bewirkt hatte.

Wieder, wie schon am Morgen, war der Corso voller Menschen. An der Straße lagen die Kaserne der Carabinieri, die wenigen Geschäfte und Verkaufsstände, drei Bars und eine Unmenge Vereinslokale. Über fast jeder Tür hing ein Wappenschild, so als wäre die ganze Bevölkerung in Gruppen, Sektionen und Vereinigungen aufgeteilt, je nach Einkommen, Beruf, politischer Einstellung, Erfolg und persönlichem Ansehen. Am bedeutendsten wirkte der Kulturverein, der sogar ein altes Billard, einen Lesesaal und ein Spielzimmer mit großen, grünen Lampenschirmen besaß, in dem sich die sogenannten Bürger trafen – Geschäftsleute, Beamte und Landbesitzer. Daneben gab es eine Vereinigung der Landpächter und eine der Kriegsveteranen, der Zivilinvaliden und der Maurer, der Arbeiter und der Handwerker. Auch die Gewerkschaften und Parteien hatten hier ihren Sitz: ein großes Zimmer zu ebener Erde, an der Wand eine Fahne, die Porträts ihrer Gründer und ein paar Plakate und mittendrin die Tische und Stühle für die Kartenspieler. Es gab sogar eine Vereinigung, deren Zweck nur darin bestand, dass die Mitglieder auf dem Friedhof ein gemeinsames Mausoleum besaßen, in dem sie feierlich bestattet wurden und zehn Jahre lang ruhen durften, bevor sie in eines der üblichen Grabfächer kamen. Auch sie hatten eine Fahne, eine lange Galerie ihrer verstorbenen Vereinskameraden, vier Tische und zwei Dutzend Stühle.

In Wirklichkeit waren die Alten und Jungen, die Professoren und Kriegsversehrten, Arbeiter und Handlanger, die in all diesen Lokalen verkehrten, Müßiggänger: Sie spielten Karten, saßen in einer Reihe auf dem Bürgersteig vor ihrem Lokal, spazierten in Gruppen auf und ab oder verließen ihren Vereinssitz, um sich in einen anderen zu begeben, und es war dieses Hin und Her, das den Eindruck erzeugte, als ob die Straße voller Menschen sei, die hier ihren Geschäften und Besorgungen nachgingen.

Elena spazierte den Bürgersteig entlang, besichtigte die unterste Kirche und ging dann den Corso hinauf. Einmal betrat sie ein Bekleidungsgeschäft, um sich umzuschauen und nach dem Preis zu fragen. Im Laden stand eine fettleibige, dunkelhäutige Frau mit einem grauen Dutt im Nacken. Einsilbig beantwortete sie Elenas Fragen, verschwendete kein Wort auf das Lob ihrer Ware, starrte die Kundin nur an und grüßte auch nicht, als sie hinausging. Als Elena noch einmal zurückkam, um sich das Haus von Rechtsanwalt Bellocampo zeigen zu lassen, schien sie jedoch schlagartig aufzuwachen und seufzte schuldbewusst. Sie lächelte diensteifrig und lief rasch zur Tür.

»Dort! Das Haus dort drüben … es sind keine fünfzig Meter!«

Das Haus stand direkt gegenüber, praktisch an der Ecke der Piazza – grau, schwer und mit drei schmiedeeisernen Balkonen, die Ecken aus grob behauenem Lavagestein. Durch die verschlossenen Balkontüren drang kein Lichtschimmer. Die Fassadenmitte bildete ein enormes, zweiflügliges Eisentor mit einem Türchen darin, das nur angelehnt war. Elena trat ein und stand in einer fantastischen Halle aus blankem, weißem Stein, über der sich eine himmelhohe Decke wölbte, in die kleine, runde Fenster eingelassen waren. Ein Geruch, der aus der Tiefe zu kommen schien und an Kirchen erinnerte, lag in der Luft. In einigen Steinvasen, die im Halbdunkel standen, wucherten Begonien. Ihre großen, roten Blätter waren die einzigen Farbflecke in dieser weißen, ausgedehnten Totenhalle.

Elena beschlich das Gefühl, von irgendwo aus der Kuppel beobachtet zu werden, vielleicht aus einem der blinden Fenster, und tatsächlich öffnete sich, als sie die riesige Treppe erklommen hatte, sofort die Eingangstür, in der ein winziger, kahlköpfiger Mensch erschien, der sie kopfnickend begrüßte, dann zurücktrat, um sie vorbeizulassen, und nicht einmal nach ihrem Namen fragte.

»Nach Ihnen, meine Dame.«

Sie durchquerten ein kleines düsteres Vorzimmer, danach ein zweites, etwas größeres, bis sie in einen Salon kamen, der von großer architektonischer Einfachheit war: vier Türen, die von grauen Samtvorhängen verdeckt wurden, vier riesige Sofas in den Ecken des Zimmers und die Wände bedeckt mit alten Regalen, in denen einige Tausend ledergebundene Bücher standen. Die Decke war mit einem rötlichen Fresko geschmückt, von dem ein kristallener Lüster herabhing, der den Raum schwach beleuchtete. In der Mitte lag ein Teppich, auf dem ein Holzsessel und ein Lesepult aus Ebenholz standen. Es roch durchdringend nach altem Holz und Wachs. Kein Lichtstrahl drang von draußen herein, und der ganze Raum wirkte dermaßen abgeschlossen, dass Elena das absurde Gefühl hatte, sich unter der Erde zu befinden und von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Die große Sonne über dem Tal und die Kathedrale, die Menschen und die vom Wind durchfegten Straßen, all das schien weit weg und hoch über ihr zu liegen. Die Tür vor ihr öffnete sich, und ein lächelnder Alter erschien, der ihr unmerklich zunickte.

»Ich bin Antonio Bellocampo …«

Rechtsanwalt Bellocampo war zierlich, schwarz gekleidet, hatte langes, weißes Haar und hielt einen Stock mit Metallknauf in der Hand. Den schwarzen, fiebrigen Augen nach zu urteilen, mochte er fünfzig sein, aber wenn man die Schmächtigkeit seines Körpers und seine wachsbleiche Haut betrachtete, hätte man ihn auf neunzig geschätzt. Mit seinem weißen Haupt, den feinen Gesichtszügen und den zarten Linien der Nase und des Mundes konnte man ihn schön nennen. Elena zögerte und nickte dann ebenfalls.

»Ich bin Elena Vizzini, die Lehrerin … Ich wollte Ihnen danken …«

Sie nahm seine Hand, und ein Schauder durchlief sie. Die Hand war dermaßen klein und die Haut so dünn, dass man jedes Knöchelchen und sogar die Blutgefäße zu spüren meinte.

»Mir danken, wofür? Ich bitte Sie …«

Er hielt ihre Hand und führte sie ins angrenzende Zimmer, mit den Gesten eines Kavaliers, der seine Dame zum Tanzparkett geleitet. Der Raum, den sie betraten, wirkte noch märchenhafter als die anderen. Elena erinnerte sich nicht, je etwas Derartiges gesehen zu haben. Er war überladen mit einer Vielfalt von Gegenständen: ein schwarzes Piano, ein Schreibtisch mit silbernen Schreibutensilien, ein kleines schwarzes Ledersofa, zwei enorme Sessel, ein Schachtisch mit einer angefangenen Partie. Eine Wand wurde völlig von zwei riesigen Ölbildern mit religiösen Themen bedeckt, die Taufe am Jordan und die Erleuchtung des Paulus auf der Straße nach Damaskus. An zwei Wänden standen Vitrinen, die prall gefüllt waren: Teller, Leuchter, Miniaturen, Säbel, Bücher, Kandelaber, Statuetten, alte Handfeuerwaffen, Münzen, Fächer, Musikinstrumente. An der vierten Wand schließlich verbargen zwei Samtvorhänge die verschlossenen Balkontüren. Auch hier ein starker Geruch nach Holz und Wachs und kein anderes Licht als das des Lüsters in der Mitte des Zimmers.

Sie setzten sich, Elena auf eines der Sofas, der Alte ihr gegenüber auf den Rand des Sessels, hoch aufgerichtet, die Beine geschlossen und eine Hand auf den Stock gestützt. Er betrachtete sie lächelnd, zugleich abschätzend, und Elena fühlte sich unwohl.

Sie versuchte, etwas zu sagen: »Sie haben ein wundervolles Haus … und so viele Bücher, mindestens ein paar tausend …«

»Dreizehntausend, um genau zu sein … Meine Familie ist stolz darauf, die reichste Bibliothek der Provinz zu besitzen. Alles, was je über Sizilien geschrieben wurde … Geschichte, Traditionen, Legenden … Wir haben es! Meine Familie hütet dieses Erbe seit Jahrhunderten mit größter Sorgfalt … Selbstverständlich stehen alle diese Bücher zu Ihrer Verfügung, wenn Sie möchten …«

Sein schwarzer Anzug war offensichtlich zu weit für seinen schmächtigen Körper, sodass der Eindruck entstand, er sei in diesen Kleidern alt geworden und langsam geschrumpft. Zugleich wirkte er, vielleicht aus demselben Grund, wie ein als alter Mann verkleidetes Kind.

Elena sagte: »Ich wollte mich nicht nur bei Ihnen bedanken, sondern auch fragen, was ich Ihnen schulde … Ich meine die Miete.«

Er unterbrach sie. »Es gibt keine Miete … Ich besitze diese kleine Wohnung, und das ließ mir keine Ruhe … Eine unbenutzte Wohnung stirbt langsam vor sich hin. Ich bin dankbar, dass Ihre Anwesenheit sie wieder mit Leben erfüllt, und hoffe nur, dass sie Ihnen gefällt. Sie werden sich sicher und wohl darin fühlen …«

Er lächelte.

»Oder irre ich mich?«

»Nein, nein … die Wohnung ist sehr schön. Ich hätte nie geträumt, eine so angenehme Bleibe zu finden, sie ist wie geschaffen für eine alleinstehende Frau …«

Der Alte strahlte.

»Ja, für eine Frau, die die Einsamkeit liebt, die Heiterkeit der Gedanken … genau wie meine Schwester Giovanna. Die Wohnung wurde eigens für sie gebaut. Sie wollte alleine sein und nur ihrer Berufung folgen.«

Er sah jetzt wirklich aus wie ein lächelndes Kind.

»Ich möchte Ihnen einen ganz besonderen Likör anbieten. Auch er eine Spezialität meiner Familie. Sie werden es nicht glauben, aber mein Vater hütete ihn so eifersüchtig und stolz wie seine Bücher.«

Er stand auf, entnahm einem Schränkchen ein zerbrechliches Fläschchen und zwei Kristallgläser, stellte sie auf den Tisch, füllte sie mit einem grünen Likör, der stark nach Minze roch, reichte Elena eines der Gläser und hob das seine: »Geben Sie acht. Sie dürfen nur die Lippen benetzen. Man muss ihn einatmen, schauen Sie. Er soll eine starke erotische Wirkung haben …«

Elena dachte: »Sieh an, der Alte. Dabei würde er auseinanderbrechen, wenn eine Frau ihn anfasst.«

Sie prosteten sich zu und lächelten wieder. Bellocampo benetzte sich tatsächlich nur die Lippen.

»Wissen Sie, dieses Zimmer, das Sie jetzt beherbergt, gehörte meiner Schwester Giovanna. Sie war eben achtzehn, als sie sich berufen fühlte, nur noch der Andacht zu leben und Hausnonne zu werden. Mein Vater betete sie an. Sie war unerhört schön und lieblich, hatte langes tiefschwarzes Haar, eine schneeweiße Haut und Augen wie Samt … sehr klein und zierlich. Eine Stimme wie Musik … Als mein Vater hörte, dass sie Nonne werden wollte, wurde er fast verrückt vor Zorn, aber es gelang ihm nicht, dieses so sanfte und gefühlvolle Persönchen umzustimmen. Sie war ebenso hartnäckig wie schön.«

Sie tranken sich abermals zu, wobei sie nur die Zungenspitzen befeuchteten.

Elena dachte: »Was für leidenschaftliche Worte! Er redet über seine Schwester so sehnsuchtsvoll wie ein verlassener Liebhaber. Dieser Likör ist tückisch, er lähmt einem die Zunge. Hoffentlich vergiftet der Alte mich nicht!«

Bellocampo stellte sein Glas vorsichtig auf den Tisch zurück wie eine Kostbarkeit, vollführte eine wehmütige Geste und seufzte leise. »So kam es, dass mein Vater diese kleine Wohnung bauen ließ, damit Schwester Giovanna in Abgeschiedenheit leben konnte, nur mit ihren Gedanken.«

»Und Schwester Giovanna?«

»Starb mit sechsunddreißig Jahren. Sie war nicht krank, auch nicht unglücklich, aber in ihrem Inneren war etwas, das sie zerfraß. Eine Art Leidenschaft für Jesus Christus. Sie kniete stundenlang vor dem Kruzifix. Gott mag mir vergeben, aber manchmal schien mir, sie wäre in Jesus verliebt. Immer kleiner und schmächtiger wurde sie, zugleich aber schien sie immer glücklicher und ekstatischer zu werden und aß fast nichts mehr. Eines Morgens fand man sie. Tot.«

Elena zitterte ein wenig. »Was geschah mit der Wohnung?«

»Auch mein Vater begann, eine große Frömmigkeit zu entwickeln. Jeden Abend ging er hinüber in das Zimmer, kniete vor Giovannas Bett nieder und betete. Nach einem Jahr war er tot. So blieb die Wohnung vierzig Jahre lang leer, aber jetzt bin ich froh, dass sie wieder zu leben begonnen hat.«

Er stand auf, als hätte er Elenas Müdigkeit bemerkt. »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie mir in den nächsten Tagen die Ehre geben würden, mein Gast zu sein und mit mir zu speisen …«

Er küsste flüchtig ihre Hand, und Elena errötete heftig. Einen Moment lang fürchtete sie, in ein albernes Lachen auszubrechen, denn es war das erste Mal, dass ein Mann ihr die Hand küsste. Sie stotterte: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für Ihre Großzügigkeit danken soll …«

»Ihre Jugend ist mir der schönste Dank.«

Er bestand darauf, sie bis an die Eingangshalle zu begleiten, und wartete oben auf der großen Treppe, bis Elena das Haus verlassen hatte. Es dämmerte bereits, und die Straßenlaternen waren schon eingeschaltet. Ein Herr, der mit anderen vor dem Kulturverein saß, grüßte höflich. Es war der hochgewachsene, kurzsichtige Mann, den sie im Bus gesehen hatte. Er stand auf, zog den Hut und verharrte in dieser Haltung, bis Elena das Lokal passiert hatte.

Die Piazza war das eigentliche Zentrum der Ortschaft. Hier standen die herrliche Kirche aus dem 17. Jahrhundert, das Rathaus und zwei kleine, graue und rosafarbene Paläste sowie ein Dutzend Oleanderbäume und ebenso viele kreisförmige eiserne Bänke. Der Platz war so voller Menschen, dass Elena zögerte, ihn zu überqueren. In diesem Augenblick ereignete sich ein grotesker und zugleich bedrohlicher Vorfall: Hinter einer der Bänke tauchte plötzlich der junge Mann mit dem großen schwarzen Kopf und der prachtvollen Krawatte auf und versperrte ihr den Weg.

»Ich habe auf Sie gewartet. Wie finden Sie das?«

Elena versuchte, ihm auszuweichen, aber er lief rückwärts vor ihr her und schaute sie spöttisch an.

»Wenn Sie mir das Vergnügen machen würden, mit mir einen Cognac zu trinken … Ich warte schon den ganzen Nachmittag auf Sie …«

Elena wechselte die Richtung und versuchte, die andere Straßenseite zu erreichen, aber der Mann lief neben ihr her, beugte sich zu ihr, während er sprach, und tat vertraulich.

»Sie gefallen mir, mir gefällt alles an Ihnen … auch das, was man nicht sieht.«

Elena wandte sich ihm abrupt zu und schrie wütend: »Gehen Sie weg, Sie Verbrecher!«

Er blieb an ihrer Seite und kam ihr diesmal so nahe, dass sie seinen Atem spürte und seine Lippen fast ihr Haar berührten.

Elena war angewidert und lief zitternd davon: »Sie Schwein, Sie Schwein!«

Er blieb stehen und lachte, schaute in die Runde, damit alle an seinem Spaß teilhaben konnten, legte schließlich die Arme auf das Dach eines Autos und hörte nicht auf, zu lachen und sie anzugaffen. Innerhalb weniger Augenblicke sammelte sich eine kleine Menschenmenge, die Leute kamen aus den Vereinslokalen und Bars, standen schweigend um sie herum und machten erst Platz, als Elena schreckensbleich weiterging. Sie sah zwei Carabinieri, zögerte etwas und lief dann in das Sträßchen hinter der Kirche. Die letzten dreißig Meter legte sie rennend zurück. Einige Minuten lang saß sie voller Hass auf ihrem Bettrand in der Dunkelheit.

»Bastarde! Feiglinge … alles Feiglinge! Scheißkaff! Affenhorde!«

Sie fühlte sich plötzlich todmüde und niedergeschlagen, streckte sich aus und verharrte über eine Stunde lang ohne Bewegung.

»Meine Mutter hatte recht«, dachte sie, »es sind Wilde … Nicht weil sie arm sind oder unwissend. Es liegt ihnen im Blut. Diese Bastarde und Feiglinge haben keinen Finger für mich gerührt.«

Der Gedanke an die zierliche, schwatzhafte und unbeugsame Mutter steigerte noch ihre Niedergeschlagenheit und das Gefühl der Verlorenheit, doch zugleich musste sie lachen.

»Sie hätte mit dem Stock auf ihn eingeschlagen, wenn sie dabei gewesen wäre, mitten auf der Straße. Alle hätte sie mit dem Stock verprügelt, auch die Feiglinge, die zugeschaut haben. Ihr Hundesöhne, euch will ich lehren, eine Dame zu beleidigen!«

Sie schlummerte nur ein paar Minuten, machte sich dann einen Kaffee, rauchte eine Zigarette, wusch sich mit eiskaltem Wasser und ging zur Schule, um das Klassenbuch abzuholen. Alle schienen bereits zu wissen, was vorgefallen war, aber niemand sprach sie auf das Ereignis an, und das empfand Elena als die größte Feigheit. Sie fühlte sich ausgeliefert.

Nur Belcore zeigte Mitgefühl. »Es tut mir leid. Ich hätte Sie vorhin nach Hause begleiten sollen.«

Er wollte noch etwas sagen, fand jedoch keine Worte und sagte nur mit einem kleinen traurigen Lächeln: »Dann bis morgen.«

Am anderen Morgen, es dämmerte eben, fanden zwei Bauern, die mit ihren Lasttieren vorbeikamen, den Mann mit dem großen schwarzen Kopf und der prächtigen Krawatte mitten auf dem Platz. Er hatte fünf Revolverschüsse abbekommen, einen in den Bauch, drei in die Brust, einen in den Nacken, und ebendieser musste der letzte gewesen sein. Er war aus solcher Nähe abgegeben worden, dass die Haare versengt waren. Man hatte ihn auf einen Stuhl aus einer der Bars gesetzt und ihm eine Wiesenblume in den Mund gesteckt. Am erstaunlichsten war, dass seine Kleidung trotz der fünf Einschüsse nicht einen Blutstropfen aufwies.

Die zwei Bauern grüßten im Vorbeigehen: »Küss die Hand, küss die Hand …«

Am Ende des Platzes machten sie halt, plauderten ein wenig und gingen wieder zurück: »Küss die Hand, küss die Hand …«

Er wirkte lebendig, wie er im Schein einer Lampe mitten auf dem Platz ruhig dasaß, aufrecht und mit übergeschlagenen Beinen. Die Bauern richteten sich an der dunkelsten Stelle des Platzes ein und warteten.

Nach einer Viertelstunde kam, in eine Art schwarzen Schal gehüllt, eiligst der Kanonikus Leone vorbei. »Kalt, kalt heute«, murmelte er statt einer Begrüßung, wunderte sich, dass er keine Antwort bekam, verlangsamte seine Schritte, machte einen großen Bogen, kehrte vorsichtig zurück, verharrte einige Schritte vor dem Toten und schaute ihn schweigend an.

»Signor Villarà …«, rief er halblaut, »Signor Villarà?« Er tat zwei Schritte nach hinten und lief dann rasch auf seine Kirche zu. In diesem Moment sah er die beiden Bauern in der Dunkelheit stehen, änderte schlagartig seine Richtung, rannte die hundert Meter den Corso hinunter und klopfte an der Kaserne der Carabinieri.