BEWEGT EUCH SCHNELLER - Hermann Bueren - E-Book

BEWEGT EUCH SCHNELLER E-Book

Hermann Bueren

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Beschreibung

Dieser Aufforderung des SAP-Mitgründers Hasso Plattner an die Beschäftigten des Konzerns lassen viele Unternehmen Taten folgen. Mit agilen Managementmethoden betreiben sie eine Neuausrichtung der Unternehmen und eine Umgestaltung der Arbeitsabläufe. Ziel ist eine höhere Leistung der Beschäftigten und eine Beschleunigung der Arbeitsprozesse. Möglichst in Echtzeit auf Kunden und Märkte zu reagieren – das ist der Wunsch der agilen Unternehmen, das ist der Erwartungsdruck, mit dem die Beschäftigten konfrontiert sind. Wie das geschieht und zu welchen Belastungen und Konflikten agile Arbeits- und Managementmethoden führen, wird in diesem Buch aus der Perspektive der Beschäftigten dargestellt. Im Sinne eines Handbuchs bietet es eine kritische Einführung in neue Arbeitsweisen und Managementformen und vermittelt allen Interessierten, die sich vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit ihrer Arbeitssituation beschäftigen, wegweisende Anregungen.

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Zur Kritik moderner Managementmethoden

Ein Handbuch

„BEWEGT EUCH SCHNELLER!“

Hermann Bueren

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

Vorwort und Danksagung

Meine erste Begegnung mit Managementmethoden liegt schon viele Jahre zurück. Ende der 1990er-Jahre beschäftigte ich mich mit Maßnahmen zur Senkung von Fehlzeiten in Unternehmen. Besonders größere Unternehmen beließen es schon damals nicht bei einzelnen Maßnahmen wie etwa der Durchführung eines Krankenrückkehrgesprächs. Unter dem Etikett »Fehlzeitenmanagement« praktizierten diese Unternehmen neue, umfassendere personalpolitische Konzepte, in denen betriebliche Maßnahmen gebündelt und im Sinne eines Managementkonzepts vereinheitlicht wurden.1

Mein Interesse war geweckt und führte in eine intensivere Auseinandersetzung mit Verfahren, konzeptionellen Hintergründen und Leitbildern einzelner Managementmethoden. Mit der Absicht, die problematischen Folgen und Auswirkungen auf die Beschäftigten zu erörtern, entstand der Wunsch zu einer Veröffentlichung in Form eines kritischen Handbuchs.2

Das war, wie ich rückblickend feststelle, leichter gesagt als getan. Zahlreiche Gründe standen einer Veröffentlichung im Wege. Stichwortartig seien hier nicht nur familiäre und berufliche Verpflichtungen oder die Komplexität der Problematik genannt. Auch Schreibblockaden und Selbstzweifel trugen zu einer Verzögerung bei. Erst die Corona-Pandemie mit Lockdown und Homeoffice sowie mein Eintritt in die Rente schafften den Freiraum für den Abschluss dieses Buchs.

Ohne die Hilfe anderer Menschen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Folgenden Menschen möchte ich meinen Dank aussprechen:

Meinen ersten Lesern Peter Schröder und Stefan Konrad, die (unfertige) Texte lasen und mir freundlich zu verstehen gaben, dass noch viel zu tun ist.

Barbara Reuhl, Wolfgang Hien, Axel Herbst, Sascha Stockhausen und der cgt-Betriebsgruppe eines französischen Konzerns, der Fahrtreppen und Aufzüge herstellt. Sie gaben mir positive Rückmeldungen zum Agil-Kapitel und ermunterten mich, das Buch zu vervollständigen.

Der Redaktion der Monatszeitung »express« für die Bereitschaft, die ersten Teile des Buchs zu veröffentlichen.

Dr. Ralf Pieper und Michael Bretschneider-Hagemes, die mir fachlichen Rat gaben und mit eigenen Beiträgen dieses Buch bereichern, sowie Manfred Horn für die Unterstützung bei Grafiken und Schaubildern.

Mein besonderer Dank gilt dem Lektor dieses Buches. Gunnar Kutsche hat die Texte korrigiert, optimiert und die Lesbarkeit verbessert.

Die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt unterstützt die Entstehung dieses Buchs finanziell. Auch dafür herzlichen Dank!

Januar 2022

Hermann Bueren

Zu diesem Buch

Managementmethoden, wie sie in diesem Buch exemplarisch vorgestellt und diskutiert werden, spielen bei der betrieblichen Umsetzung neuer Arbeitsweisen und Organisationsformen eine wichtige Rolle. Sie dienen der Steigerung von Arbeitsleistung und Effizienz sowie der Verbesserung von Leistungsmotivation der Beschäftigten. Hinterlegt sind diesen Methoden bestimmte unternehmerische Vorstellungen und Handlungsvorgaben. Stark beeinflusst sind diese gegenwärtig vom Leitbild der Agilität – ein Konzept, das in der Softwareentwicklung seinen Anfang genommen hat, inzwischen aber auch in anderen Branchen und Bereichen Verbreitung findet. Als unternehmerisches Leitbild betrachtet diese Art der Menschenführung sowohl individuelle Selbstverbesserung und Verantwortungsübernahme der Beschäftigten als auch Arbeitsintensivierung und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens als Elemente eines einheitlichen Konzepts. Agile Menschenführung offeriert den Beschäftigten Freiräume für Kreativität und Selbstorganisation, schafft aber gleichzeitig Rahmenbedingungen, in denen die Beschäftigten wirksam kontrolliert und gesteuert werden können.

Das Leitbild der Agilität steht exemplarisch für die Bedeutung und Praktizierung von Managementmethoden in Industriebetrieben, Verwaltungen und Dienstleistungsunternehmen. Adressaten dieser Methoden sind in erster Linie die Beschäftigten. An sie richtet sich vorrangig dieses Buch. Als Akteure und »Betroffene« erleben sie alle Härten und Konflikte, die die betriebliche Umsetzung von Managementmethoden begleitet. Das vorliegende Handbuch kritisiert Managementmethoden aus der Perspektive der Beschäftigten. Es thematisiert alte und neue Macht -und Herrschaftsstrukturen in der Arbeitswelt und will die am Thema Arbeitswelt interessierten Leser:innen auf die Mechanismen und Zwänge kapitalistischer Arbeitsorganisation aufmerksam machen.

Darüber hinaus ist es ein Wegweiser für alle diejenigen, die sich für neue Arbeitsweisen und Managementformen vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen interessieren und/oder sich mit ihrer eigenen Arbeitssituation beschäftigen. Als weitere Zielgruppe will dieses Buch betriebliche Interessenvertreter:innen und Gewerkschaftssekretär:innen sowie arbeitnehmernahe Beratungs- und Bildungseinrichtungen ansprechen. Unmittelbare Handlungsempfehlungen für die betriebliche Praxis kann dieses Buch nicht liefern, da Managementmethoden in der Praxis unter völlig unterschiedlichen Bezeichnungen auftreten. Aber es bietet einen vertiefenden Einstieg in die Problematik und Hintergründe der Methoden und ihrer Nutzung in der kapitalistischen Arbeitsorganisation. Es kann daher die Beratungstätigkeit der angesprochenen Zielgruppe – hoffentlich – unterstützen.

Leser:innen, die dieses Handbuch zur Hand nehmen, in dem Glauben oder der Hoffnung, einen »Managementleitfaden« vor sich zu haben, sei dagegen empfohlen, einen der zahlreichen auf dem Büchermarkt vorhandenen Ratgeber zu studieren.

Der vorliegende Lesestoff ist umfangreich. Der Umfang erklärt sich aus der Vielzahl der in der Praxis vorfindbaren Managementmethoden. Eine vollständige Darstellung der Methoden im Sinne eines Nachschlagewerks kann dieses Buch aber nicht leisten. Vielmehr nimmt es eine Auswahl vor und konzentriert sich auf die gegenwärtig bekanntesten und am weitetesten verbreiteten Managementmethoden.

Wie der Untertitel andeutet, können Leser:innen dieses Buch wie ein Handbuch verstehen und entsprechend nutzen. Handbücher haben den Charme, dass sie nicht vom Anfang bis zum Ende gelesen werden müssen. Der/die Lesende ist stattdessen aufgefordert, eine einzelne Methode auszuwählen, die ihn/sie gerade interessiert oder im Unternehmen aktuell eine wichtige Rolle spielt. Zur Auswahl können Interessierte sich an den Überschriften der einzelnen Kapitel 2 bis 9 orientieren. Wer hier das Gewünschte nicht findet, kann das Stichwortverzeichnis am Ende des Buches zu Rate ziehen. Kapitel 10 enthält abschließende Betrachtungen, und Kapitel 11 stellt rechtliche Grundlagen für eine menschengerechten Gestaltung der Organisation vor.

Die Kapitel (2–9) im Hauptteil dieses Handbuchs sind jeweils einer Managementmethode zugeordnet. Mit Ausnahme der Kapitel 2 und 8 (hier fehlen historische Einordnungen) verfügen alle anderen Kapitel über einen beinahe gleichen dreigliedrigen Aufbau. Im ersten Teil des Kapitels wird die Methode vorgestellt sowie Interessen und Ziele erläutert, die Management und Unternehmensleitungen mit ihr verbinden. Diese Darstellung nimmt Bezug auf einen Diskurs, wie er in Fachbüchern, Managementratgebern, auf Internetseiten von Unternehmensberatungen und in Leitfäden für Vorgesetzte geführt wird. Zu den typischen Elementen dieser Darstellung zählen ein Leitbegriff (wie beispielsweise »agil«), der in eine sinnstiftende Erzählung (zum Beispiel: die VUCA-Welt) oder ein Leitbild eingebettet ist, und eine Win-Win-Situation, die den Beschäftigten die Verwirklichung ihrer Interessen und Bedürfnisse in Aussicht stellt, wenn sie sich den Erfordernissen der jeweiligen Managementmethode stellen. Leitfragen dieses ersten Teils sind: Was versteht das Management unter dieser Methode? Welche Win-Win-Situation wird im Zusammenhang mit dieser Managementmethode aufgebaut?

Im zweiten Teil erfolgt eine historische Einordnung. Jede Methode hat Vorläufer oder Vorbilder. Oft ist ihre Existenz ein Reflex auf gesellschaftliche Veränderungen oder das Resultat von Konflikten und Klassenkämpfen, die sich in der kapitalistischen Arbeitsorganisation zwischen Management und Beschäftigten abspielen. Die sich in diesen Kämpfen artikulierende Kritik an den betrieblichen Herrschaftsverhältnissen greift das Management auf, versucht sie umzuformen oder integriert sie in eine Methode zur Steuerung der Beschäftigten und zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse im Betrieb. Leitfragen sind: Wie und wann entstand die Methode? Welche sozialen und ökonomischen Gründe führten zum »Aufstieg« dieser Managementmethode? Welche Reaktionen gab es in der Vergangenheit auf Seiten der Beschäftigten?

Der dritte Teil diskutiert die jeweilige Managementmethode aus der Perspektive der Beschäftigten. Die Kritik erfolgt in Form einzelner Thesen. Jede These beginnt mit einem Leitsatz, an den sich eine ausführlichere Diskussion beziehungsweise Argumentation anschließt. Soweit das möglich ist, wird diese Argumentation mit empirischem Material untermauert. Thematisiert werden folgende Fragen: Welches Konfliktpotenzial ist in der Methode virulent? Welche Probleme tauchen in der Praxis bei einer betrieblichen Umsetzung auf? Wie wirken sich Managementmethoden auf die Arbeitssituation der Beschäftigten aus? Welche Folgen und Belastungen treten in Zusammengang mit Managementmethoden auf (zum Beispiel Leistungsdruck, Stress, Einschränkung der Persönlichkeit)? Wie reagieren Beschäftigte darauf?

Der thesenförmige Charakter der Diskussion beabsichtigt nicht, die darin angesprochenen Themen abschließend zu erörtern oder als unumstößliche Wahrheit zu betrachten, auch wenn hierin eine unzweideutige Positionierung für die Situation der Beschäftigten zum Ausdruck kommt. Die gewählte Thesenform dient vielmehr der Anregung zur Diskussion. Der/die Leser:in ist aufgefordert, eine eigene Sichtweise zu den Thesen zu entwickeln und die Denkanstöße, die dieses Buch hoffentlich vermittelt, für ein Nachdenken über die eigene Arbeitssituation zu nutzen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. Soweit in Aussagen oder Zitaten ausdrücklich das männliche oder weibliche Geschlecht als Sprachform verwendet wird, bezieht sich diese Aussage auf das jeweilig genannte Geschlecht.

1. Einführung

1.1 Gründe und Ziele von Managementmethoden

Nahezu alle Mitarbeitende haben in ihren Betrieben oder Unternehmen diese Begriffe schon gehört. Sie bezeichnen Aufforderungen und Anforderungen, die an ihn oder sie gestellt werden: Sei flexibel! Arbeite mit Zielen! Übernimm Verantwortung für den Unternehmenserfolg! Sei motiviert! Arbeite im Team! Sorge für den Erfolg deines Projekts! Sei agil!

Es handelt sich hierbei nicht um Ratschläge oder Empfehlungen. Den Beschäftigten steht es nicht frei, sie entweder zu beherzigen oder abzulehnen. Am Arbeitsplatz legen wir einen Teil unserer Freiheit ab und unterwerfen uns Regeln, Verhaltensanweisungen und Vorgaben in einer Dimension, die wir in vielen privaten Lebensbereichen nicht ohne weiteres in dieser Stringenz akzeptieren würden. Ob wir wollen oder nicht: Im Betrieb sind wir Teil eines Räderwerks, das Menschen führt, das ihre Arbeit koordiniert, kontrolliert und organisiert. Daher folgen wir diesen Aufforderungen.

Definition und Verständnis

Diejenigen, die führen, kontrollieren und auffordern, werden häufig allgemein als Management bezeichnet. Eine allgemein gültige Definition dieses Begriffs gibt es allerdings nicht. Oft werden auch Begriffe wie Führung oder Leitung als Alternative zum Managementbegriff verwendet. In diesem Buch wird unter »Management« der Personenkreis eines Unternehmens verstanden, der Führungs-, Leitungs- und Kontrollaufgaben wahrnimmt.

Unter Managementmethoden verstehen wir identifizierbare, konkret darstellbare Maßnahmen, die sich auf Verhalten und Arbeitsleistung einzelner Beschäftigter beziehungsweise arbeitender Teams richten und zum Ziel haben, Leistung, Motivation und Identifikation mit dem Unternehmen zu steigern.

Zu den gegenwärtig »angesagten« und für die Beschäftigten folgenreichsten Methoden zählen neben anderen Arbeitszeitflexibilisierung, Arbeiten mit Zielvereinbarungen, Führen von Mitarbeitergesprächen, New Work, Projektarbeit (Projektmanagement), Agile Arbeit, Arbeiten im Team, Gesundheitsmanagement, Gefühlsmanagement (emotional leadership), Benchmarking, Change Management, Qualitätsmanagement, Leistungsbewertungen, Performance Management, 360°-Feedback, »People Analytics«, Talent Management.

Diese unvollständige Aufzählung zeigt bereits, dass es sich bei Managementmethoden sowohl um einzelne Maßnahmen (wie Feedback) als auch um umfassendere Ansätze (wie Arbeiten mit Zielvereinbarungen) handeln kann. Auch die Zielrichtung der Methoden ist weit gefasst: Sie richten sich an einzelne Beschäftigte (Führen von Mitarbeitergesprächen), an Gruppen (Arbeiten im Team) oder beziehen sich auf spezielle Arbeitsformen (Projektarbeit, Agile Arbeit).

Als eine Art ideologischer Überbau existiert ein unübersichtliches Wissens- und Theoriegebäude zur Fundierung und Legitimierung von Managementmethoden. Zu diesem Komplex gehören umfangreiche Konzepte (beispielsweise Business Process Reengineering, Lean Production, Human Resource Management, Management by Objectives), Leitbilder (agile Unternehmensführung), Glaubenssätze (»In Zeiten von dynamischen Strukturen und globalen Veränderungen hilft Agilität, Unternehmen mit dem Unerwarteten fertig zu werden und erfolgreich aus solchen Herausforderungen zu treten«), pseudowissenschaftliche Theorien (»Wir leben in einer VUCA-Welt«) sowie Erkenntnisse etwa aus Sozial- und Arbeitspsychologie, Betriebswirtschaft, Kybernetik, Selbstorganisationstheorien oder Arbeitswissenschaften.3

Dieser Theoriehintergrund soll den Managementmethoden wissenschaftliche Reputation und Evidenz verleihen. Die Verbreitung dieser vorgeblich wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse ist das Betätigungsfeld einer umfangreichen Beratungsbranche, in der sich zahllose Psychologen, Coaches, »Scrum-Masters«, teilweise in Form so genannter Business Schools oder Stiftungen, bewegen. Verpackt als Tipps (»Die vier Schlüsselfaktoren für den Projekterfolg«), Tools (»10 Tools für erfolgreiche Projekte mit Scrum & Co.«) bieten sie im Internet und in gedruckten Ratgebern und Beratungsangeboten Unternehmen ihre Unterstützung bei der Umsetzung an, wobei stets die »zeitgeistaktuellen« Modebegriffe (derzeit häufig: agiles Mindset, Purpose, Selbstverwirklichung, Disruption, Silo, usw.) verwendet werden.4

Im Betrieb tauchen Managementmethoden als Teil von Unternehmensstrategien oder in Form von Initiativen, Instrumenten und Führungstechniken auf, mit denen sich die Beschäftigten im Arbeitsalltag auseinandersetzen müssen. Sie lassen sich, wie es der Soziologe Ulrich Bröckling formuliert, auch als Programme des Regierens beziehungsweise unternehmerischer Herrschaft verstehen, indem sie Unternehmens- oder Arbeitsstrukturen kritisch beschreiben und zur Problemlösung Zielvorstellungen und Handlungsempfehlungen mit dem Ziel der Verhaltensänderung der Beschäftigten darlegen. »Sie prägen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsweisen, indem sie Ziele anvisieren und Verfahren bereitstellen, um diese zu erreichen oder ihnen mindestens näher zu kommen. Sie rufen Menschen an, sich als Subjekte zu begreifen und sich in spezifischer Weise – kreativ und klug, unternehmerisch und vorausschauend, sich selbst optimierend und verwirklichend usw. – zu verhalten und fördern so bestimmte Selbstbilder und Modi der ›inneren Führung‹.«5

Managementmethoden als Maßnahmen oder Programme werfen die Frage nach dem Sinn ihres Einsatzes auf. Warum setzt das Management bestimmte Methoden zur Führung von Beschäftigten ein? Welche Probleme sollen dadurch gelöst werden? Reicht es nicht aus, dass sich die Beschäftigten leistungsbereit zeigen? Warum glaubt das Management, es seien zusätzliche Maßnahmen zur Leistungssteigerung der Beschäftigten erforderlich?

Zur Diskussion dieser Fragen soll zunächst das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer näher betrachtet werden.

Die Lücken im Arbeitsvertrag

Erwerbsarbeit ist ein soziales und rechtliches Verhältnis. Am Anfang steht ein Arbeitsvertrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer miteinander vereinbaren. Auf den ersten Blick scheint dieser Vertrag ein Vertrag wie viele andere zu sein, den ich an dieser Stelle mit einem Kaufvertrag vergleichen will. In einem solchen Kaufvertrag, etwa zum Erwerb eines Fahrrads, werden Leistung und Gegenleistung vorab geklärt. Der Käufer hat vor dem Kauf vielleicht den Katalog des Händlers studiert und eine Probefahrt gemacht. Er weiß, was das Fahrrad leistet. Er kennt die Eigenschaften der Ware und zahlt als Gegenleistung eine vereinbarte Summe Geld zum Kauf.

Anders verhält es sich bei einem Arbeitsvertrag. Kauft der Arbeitgeber per Arbeitsvertrag die Arbeitskraft gleichsam als Ware oder Leistung, ist das genaue Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht geklärt. Zwar ist die Leistung des Arbeitgebers – Art und Höhe der Lohn- oder Gehaltszahlung – festgelegt, die Gegenleistung des Arbeitnehmers, also seine Arbeitsleistung und ihr Umfang, ist aber keineswegs klar. Der Arbeitnehmer erklärt sich im Arbeitsvertrag lediglich dazu bereit, sich gemäß der ihm gestellten Aufgabe für eine bestimmte Zeitspanne (Arbeitszeit) zur Verfügung zu stellen. Der Arbeitgeber hat also keinen Arbeitnehmer oder eine exakt definierte Menge an Arbeitsleistung gekauft. Er hat lediglich die Arbeitskraft oder Arbeitsfähigkeit gekauft, also das Potenzial, Waren oder Dienstleistungen durch Arbeitsleistung zu produzieren. Das Arbeitspotenzial allein nutzt dem Arbeitgeber wenig, und im Sinne einer Gegenleistung hilft es ihm nicht. Bleibt die Arbeitskraft ein bloßes Potenzial oder Vermögen, können keine Produkte oder Dienstleistungen im Unternehmen erstellt werden.

Was der Arbeitgeber im Sinne einer vertraglichen Gegenleistung erhält, ist also das Recht auf eine bestimmte Menge Zeit, in der ihm ein Arbeitnehmer sein Potenzial beziehungsweise seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt. Dieses Verfügungsrecht steht zunächst einmal nur auf dem Papier. Es entfaltet erst dann seine Wirkung, wenn es gelingt, die gekaufte zustehende Arbeitszeit tatsächlich in »verausgabte« Arbeit umzusetzen beziehungsweise in Arbeitsleistung zu verwandeln. Weniger anklagend als humorvoll beschreibt Karl Marx das vertragliche Verhältnis der beiden Akteure: »Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andere scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markt getragen und nun nichts anderes zu erwarten hat als die – Gerberei.«6

Die Ungewissheiten des Kommandos

Ein weiterer Bestandteil dieses Vertrages regelt, wer in diesem Verhältnis Anweisungen erteilen darf und wer den Anweisungen zu folgen hat.

Ohne diese Regelung wäre der Arbeitsablauf im Unternehmen kaum vorstellbar. Alle Beschäftigten könnten selbstständig entscheiden, was sie tun, wie sie arbeiten und in welcher Reihenfolge sie die einzelnen Arbeitsschritte verrichten. Die Folgen wären Unordnung oder Chaos, alle würden für sich arbeiten, ohne sich mit anderen abzustimmen. Ein Unternehmen, das ein gemeinsames Ziel verfolgt oder gemeinsam ein Produkt herstellt, käme gar nicht zustande. Voraussetzung für ein koordiniertes Arbeiten ist also eine Ordnung im Sinne einer Kommandostruktur.

Der Arbeitsvertrag ist daher so angelegt, dass der Arbeitnehmer sich den Unternehmenszielen unterwirft und verspricht, den hierarchischen Anweisungen des Arbeitgebers Folge zu leisten. Das steht natürlich nicht wörtlich im Vertrag, bestimmt aber unausgesprochen das Arbeitsvertragsverhältnis. Der Arbeitnehmer akzeptiert ein »Kommandosystem«, wonach der Arbeitgeber oder das beauftragte Management Anweisungen erteilt. Als Mitarbeiter gelobt er somit eine Art »Generalgehorsam«, er unterwirft sich, wie es die Juristen nennen, dem unternehmerischen Direktionsrecht. Erst durch dieses Kommandosystem wird das Unternehmen zu einer Einheit beziehungsweise einer Organisation, in dem die Arbeitnehmer gemeinschaftlich agieren.

Dieser Generalgehorsam bindet den Arbeitnehmer. Was er im Einzelnen bedeutet, wird allerdings im Arbeitsvertrag nicht weiter konkretisiert. Der Arbeitgeber verzichtet an dieser Stelle auf eine exakte Beschreibung der Gehorsamsverpflichtung. Für den Arbeitgeber liegt der Vorteil dieser Zurückhaltung auf der Hand. Er spart Kosten. Das Unternehmen kann sich so schnell und ohne umständliche und zeitaufwändige interne Verhandlungsprozesse an veränderte Bedingungen anpassen. Anderenfalls hätten alle Beschäftigten das Recht, ihre Vorstellungen zur Unternehmensgestaltung und Arbeitsleistung permanent in die Diskussion einzubringen. Würden Arbeitgeber und Arbeitnehmer alle relevanten Vertragsgegenstände in juristisch eindeutigen Vertragsnormen festlegen, wäre das zeitraubend und kostenintensiv. Die Transaktionskosten wären in diesem Fall zu hoch. Mit diesem Begriff bezeichnen Betriebswirtschaftler die Kosten der Information und Kommunikation, die für Vereinbarung und Kontrolle eines Arbeitsvertrages zwischen den Parteien entstehen.

Die Vermeidung zeitraubender Vertragsverhandlungskosten klärt aber nicht die Frage, wie das Versprechen des Arbeitnehmers, sich den Unternehmenszielen zu unterwerfen, einzulösen ist. Die schlichte Aufforderung des Arbeitgebers: »Sei gehorsam und folge meinen Anweisungen«, löst das Problem nicht. Die Einzelheiten des Gehorsams können sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Ebenso verhält es sich mit den vom Arbeitgeber erteilten Anweisungen. Wie eine solche Anweisung umzusetzen oder zu verstehen ist, muss nicht in jedem Fall eindeutig sein. Dasselbe gilt für die Aufforderung: »Unterwirf dich den beziehungsweise arbeite an den Unternehmenszielen mit!« Unter Unternehmenszielen können alle etwas anderes verstehen. Obendrein können sich diese im Laufe der Zeit ändern.

Anders gesagt: Das unternehmerische Direktionsrecht hängt in der Luft. Arbeitgeber können sich nicht darauf verlassen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am neuen Arbeitsplatz unbegrenzt folgebereit sind. Mit dem Generalgehorsam verhält es sich also wie mit der vertraglich gekauften Arbeitszeit. Er ist lediglich Potenzial.

In dieser Vertragssituation finden sich die wichtigsten Motive für die Anwendung von Managementmethoden. Die Lücken des Arbeitsvertrags und die Ungewissheiten der Kommandosituation zwingen die Arbeitgeber zur Initiative. Sie müssen Wege finden und Instrumente suchen, die die gekaufte und ihnen rechtmäßig zustehende Arbeitszeit tatsächlich in verausgabte Arbeitszeit umsetzen. Tun sie dies nicht, werden keine oder nur wenige Produkte oder Dienstleistungen erstellt, geschweige denn Unternehmensgewinne erzielt. Der Einsatz von Methoden ist also eine zwingende Notwendigkeit des Arbeitgebers beziehungsweise des Managements. Als Verantwortliche in den Unternehmen müssen sie der Führung von Mitarbeitern ebenso viel Aufmerksamkeit widmen wie anderen Unternehmensbereichen wie etwa dem Produktmarketing oder dem Finanzcontrolling.

Die Transformation der Arbeitskraft

Aufgrund dieser Überlegungen kommen Managementmethoden ins Spiel. »Ihre erste, allgemeine Funktion ist es, das Arbeitspotenzial [der Beschäftigten, H.B.] in möglichst viel und an den betrieblichen Zielen ausgerichtete Arbeit umzusetzen.«7 Einige Soziologen bezeichnen diesen Umsetzungsprozess als Transformation der Arbeitskraft. Ein Blick auf die verschiedenen Bereiche, die mit Hilfe von Managementmethoden transformiert werden sollen, zeigt, dass dieser Vorgang über das Schließen von Lücken des Arbeitsvertrags weit hinausgeht.

Unterscheiden lassen sich folgende Bereiche:

Die Verwandlung von Zeit in Arbeitszeit

Im Arbeitsvertrag verzichtet der Beschäftigte auf einen bestimmten Teil seiner Lebenszeit und stellt sie dem Arbeitgeber zur Verfügung. Dieses Quantum an Zeit stellt ein Potenzial dar, das dem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um es in Arbeitszeit zu verwandeln. Erst die Transformation dieses Quantums Zeit in Arbeitszeit und die extensive und intensive Nutzung der Arbeitskraft in der zur Verfügung stehenden Zeit schafft die Voraussetzung für die Produktion von Waren und Dienstleistungen. Werden diese dann verkauft, entsteht ein Profit, den der Arbeitgeber sich aneignen kann.

Die Verwandlung eines Arbeitspotenzials in tatsächliche Arbeit

Neben arbeitenden Menschen befinden sich im Betrieb des Arbeitgebers auch Maschinen, Werkzeuge oder Computer. Diese verwandeln sich in Arbeitsgeräte, nehmen ihre Arbeit auf, wenn ihr Arbeitsvermögen mit einem einfachen Tastendruck oder Handgriff gestartet werden. Sie stehen dann dem Arbeitsprozess uneingeschränkt zu Verfügung und können für das Unternehmen gewinnbringende Güter oder Dienstleistungen produzieren. Ihre Transformation ist also vollzogen.

Das Potenzial eines Beschäftigten in Arbeitsleistung zu transformieren ist dagegen ein viel größeres Problem. Betriebe beziehungsweise der Arbeitgeber »müssen nämlich die Differenz zwischen Arbeitskraft und Arbeit bewältigen, das heißt die Differenz zwischen der Fähigkeit zuarbeiten und der Entäußerung dieser Tätigkeit, als tatsächlicher Arbeit.Schließlich bedeutet die Fähigkeit zu arbeiten keineswegs, dass auch wie gewünscht gearbeitet wird [...]. Dies ist nicht einer unzureichenden Vertragsgestaltung, sondern dem Gegenstand selbst geschuldet; motiviertes Arbeiten kann vertraglich schlechterdings nicht vereinbart werden.«8

Die Verwandlung von Leistungsbereitschaft in Arbeitsleistung

Laut Arbeitsvertrag hat sich der Beschäftigte gegenüber seinem Arbeitgeber zur Erbringung von Arbeitsleistung verpflichtet. An dieser Erbringung von Leistung ist er auch selbst interessiert, da er im Tausch gegen seine Leistung vom Arbeitgeber Lohnzahlungen erhält. Die Herstellung von Waren oder Dienstleistungen ist nur möglich, wenn zuvor von den Beschäftigten Arbeitsleistungen erbracht worden sind. Was unter einer Arbeitsleistung zu verstehen ist, ist keineswegs eindeutig oder zwischen den Beteiligten hinreichend geklärt. Da die Arbeitskraft die eine Ware ist, über die der Beschäftigte sein Leben lang verfügt, möchte er zur Erfüllung seines Vertrages eine normale, durchschnittliche Leistung erbringen. Sein Arbeitgeber möchte hingegen, dass der Beschäftigte eine Maximalleistung erbringt, da er an einem möglichst hohen Mehrwert interessiert ist.

Der Zusammenschluss voneinander isolierter Personen zu einer Kooperation, die gemeinsam das Unternehmensziel erfüllen

Die Beschäftigten eines Unternehmens sind nicht aufgrund eines gemeinsamen Entschlusses oder einer kollektiven Absprache zu Mitarbeitern in einem Unternehmen geworden. Sie haben einzeln und individuell ihre Arbeitskraft verkauft. Sie begegnen sich als unabhängige Einzelpersonen und haben untereinander keine persönlichen Verbindungen. Damit die Beschäftigten den Zweck des Unternehmens erfüllen, Waren oder Dienstleistungen zu produzieren, muss ihre Zusammenarbeit hergestellt und ihre Kooperation organisiert werden. Zudem setzt menschliche Kooperation ungeheure Produktivkräfte frei und ermöglicht die Herstellung von Produkten, die über das Leistungsvermögen Einzelner weit hinausgeht.

Managementmethoden sind also die Folge einer besonderen Konstellation und Interessenlage zweier Parteien, die sich aus den Lücken des von ihnen geschlossenen Vertrages herleiten. Die Arbeiter brauchen den Lohn und bieten ihre Arbeitskraft an. Der Unternehmer erwirbt ein Gut (die Verfügung über die Arbeitskraft), gelangt aber gleichzeitig nie in dessen Besitz, denn Arbeitskraft bleibt immer an die Person der Arbeitenden gebunden. Um sein Verfügungsrecht in faktisch Anwendbares zu verwandeln, braucht er Maßnahmen und Methoden zur Verwandlung von Arbeitsvermögen in tatsächlich geleistete Arbeit.

Ein dauerhafter Konfliktherd

Transformationsprozesse zielen nicht nur auf die Bereitschaft zu Leistung und Gehorsam der Beschäftigten. Sie umfassen auch die Aktivierung und Nutzung der so genannten Humanressourcen, worunter in Managementkonzepten wie »Human Resource Management« alle für die Arbeit nutzbaren Eigenschaften eines Menschen verstanden werden: die Bereitschaft zu Flexibilität, Engagement, Eigeninitiative, Kreativität, Wissen, mentale Kompetenzen und Bildung etc. Unterstellt wird dabei ein ökonomistisches Bild vom Menschen als Produktionsfaktor und Träger von Ressourcen, der für das Unternehmen nützlich und wertvoll ist, weil er über nutzbare Eigenschaften verfügt.

In IT-Unternehmen, in Wissenschafts- und Kommunikationsbranchen, teilweise aber auch in anderen Arbeitsbereichen wird die Aktivierung dieser Ressourcen als Schlüsselfaktor für Wachstum und Erfolg von Unternehmen verstanden. Die Mobilisierung kreativer Fähigkeiten, von Wissen und Emotionen der Beschäftigten sind daher Bestandteil von Transformationsprozessen in den genannten Branchen und Bereichen. Individuelle Leistungssteigerung, Erfolgsstreben und Übernahme von Verantwortung spannen die Ressourcenträger ein. Als Gegenleistung werden Arbeitszufriedenheit, Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung in Aussicht gestellt.9 Erreicht werden soll diese Transformation durch Managementmethoden, die eine innere Einbindung der Beschäftigten und eine Identifikation mit dem Unternehmen anstreben. Initiator dieser Initiativen ist in der Regel das Management. Ihre Umsetzung erfolgt entlang der hierarchischen Ordnung des Betriebes, also von oben nach unten.

Transformation ist kein isolierter oder singulärer Vorgang. Er erschöpft sich nicht darin, eine bestimmte Methode auf den Weg zu bringen und auf ihre dauerhafte Wirkung zu vertrauen. Sobald es Änderungen in der betrieblichen Arbeitsorganisation gibt, wenn der Markt und die Konkurrenzsituation eine vermeintliche (Neu-)Orientierung der Beschäftigten verlangen oder andere unternehmensrelevante Ereignisse eintreten, sind Transformationsprozesse durch das Management erforderlich. In diesem Sinne ist Transformation ein permanenter Prozess, der stets (neue) Methoden schöpfen muss, damit die Beschäftigten für die Gewinninteressen des Unternehmens eingespannt werden können. Karl Marx bezeichnet diesen Vorgang »als Subsumtion [Unterordnung, H.B.] der Arbeit unter das Kapital«10. Erst durch diese Unterordnung, schreibt er weiter, bemächtige sich das Kapital »unmittelbar des Arbeitsprozesses.«

Unter Bemächtigung des Arbeitsprozesses ist dabei nicht nur die immer aufs Neue zu erfolgende Unterordnung der Beschäftigten unter die Interessen des Kapitals zu verstehen. Bemächtigung, so Georg Barthel und Jan Rottenbusch in einer Untersuchung zu den Arbeitsverhältnissen bei Amazon, schließt auch die Aneignung und Anwendung der Methoden zur Kontrolle des Arbeitsprozesses durch das Management ein. Um aus investiertem Geld einen Gewinn zu realisieren, »verleibt sich das Kapital zudem die Methoden und Organisationstechniken des Arbeitsprozesses ein, monopolisiert das Wissen über und die Gestaltung des Produktionsprozesses und stellt diese den Arbeitskräften als eine ihnen fremde Rationalität gegenüber (Panzieri 1972a: 21). Diese sind folglich nicht nur mit der Herrschaft des Managements konfrontiert, sondern gleichzeitig mit den technischen Notwendigkeiten »der toten Arbeit in Form der Maschinerie, mit ihren Zeitvorgaben, Produktionsmethoden und Organisationsprinzipien«11.

Subsumtion oder Transformation ist also kein harmonischer, konfliktfreier Prozess, in dem die Beschäftigten lediglich Objekte oder Betroffene von Maßnahmen sind. Die Umsetzung von Managementmethoden ist verbunden mit einer »Tendenz der Schrankenlosigkeit und Maßlosigkeit«12. Sichtbares Zeichen dafür sind einerseits zunehmende Erfahrungen von Instabilitäten in der eigenen Arbeits- und Lebenssituation, aber auch erlebte Überforderung, gesteigerte Leistungsintensität und eine Ausdehnung der Arbeitszeit. Vielfach begreifen Beschäftigte die betrieblichen Veränderungsprozesse und deren Auswirkungen auf ihre Arbeitssituation als Belastung oder Gefährdung – erst recht, wenn diese Arbeitsplatzabbau, Zunahme prekärer Beschäftigung, steigenden Leistungsdruck und Verschärfung der Konkurrenz zur Folge haben.

Das führt zu Verwerfungen, verdeckten Konflikten, Auseinandersetzungen und nicht zuletzt zu widerständigem Verhalten der Beschäftigten im Kontext mit der Umsetzung von Managementmethoden in Betrieben und Unternehmen. Diese begeben sich nicht passiv in die ihnen zugedachte Rolle als Ressourcenträger oder Personal, sondern reagieren auf diese Veränderungen als denkende und handelnde Subjekte. Eigensinnigkeit und widerständiges Verhalten sind Konsequenz und Reaktion auf eine zunehmende Maß- und Schrankenlosigkeit.

1.2 Präsentation und Legitimierung

Als Zielgruppe methodischer Zurichtung müssen die Beschäftigten nicht nur »mitspielen«. Sie sollen darüber hinaus eine eigene Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und zur Leistungssteigerung entwickeln, was wiederum Eigenaktivität voraussetzt. Daher haben der Aspekt der Überzeugungskraft der Präsentation und die Begründung der Notwendigkeit einer Methodik eine nicht unerhebliche Bedeutung.

Im ersten Abschnitt wurden Managementmethoden als eine Summe von Aussagen unterschiedlicher Reichweite und Qualität vorgestellt, angefangen von einfachen Glaubenssätzen bis zur Aneignung von Erkenntnissen aus der Wissenschaft. In diesem Teil werden Präsentation und Legitimierung der Methoden diskutiert.

Ein Leitbegriff als Kern

Bestandteil einer Managementmethode ist ein Begriffskern, dem ein Leitbildcharakter zugesprochen wird. Dieser Leitbegriff bringt bestimmte, wünschenswerte Vorstellungen und Handlungsvorgaben zum Ausdruck, wie die Beschäftigten sich in ihrer Arbeit und gegenüber den Arbeitsanforderungen verhalten sollen. Gegenwärtig ist die Agile Arbeit in aller Munde. Einige Jahre zuvor besaß Flexible Arbeit diesen Leitbegriffscharakter. Noch ein paar Jahre früher waren es das gemeinschaftliche Arbeiten im Team oder im Projekt und die Schlanke Arbeitsorganisation, denen dieser Status zugedacht wurde.

In den der Methode zugrunde liegenden Konzepten bilden diese Begriffe einen Kern, um den sich dann weitere Handlungsmuster, identifizierbare Maßnahmen und Vorstellungen über bestimmte Verhaltensweisen ansiedeln und die in ihrer Gesamtheit als Managementkonzepte bezeichnet werden können. Aus agil wird so die AgileUnternehmensführung, aus flexibel wird das Konzept der Flexibilisierung (von Arbeitszeit). Das schlanke Unternehmen ist Gegenstand der Lean Management.

Leitbilder treffen nicht nur Aussagen über das, was wünschenswert ist. Sie sollen auch vermitteln, welche menschlichen Eigenschaften für die Arbeit ungeeignet sind. Flexibilität als erstrebenswerte Eigenschaft steht im Gegensatz zu Unbeweglichkeit oder Wunsch nach Sicherheit, Lean ist das Gegenstück zu Ineffizienz oder nicht wertschöpfend.

Eine sinnstiftende Erzählung

Ein einzelnes Wort allein reicht aber für die Darstellung einer Managementmethode nicht aus. Hinzukommen muss eine »Geschichte« mit einer an die Unternehmen gerichteten Zukunftsvision, wonach die jeweilige Methode ein bislang unentdeckter innovativer Faktor ist, der zu deutlichen Produktivitäts- und Leistungssteigerungen führt. Zur Geschichte der »Agilen Unternehmensführung« gehört eine Skihütte. Zur Zeit der Implementierung des Leitbegriffs »lean« waren die Marktzuwächse der japanischen Automobilindustrie Auslöser für die Propagierung der »Lean Production«. Die Übernahme japanischer Produktionskonzepte war mit der Vision verbunden, durch massive Personaleinsparungen und Verlagerung der Verantwortung auf die verbliebenen Beschäftigten die westeuropäische Wirtschaft im globalen Konkurrenzkampf zu stärken. Die Flexibilisierung wurde zu einer sinnstiftenden Erzählung, als im Zuge einer »forcierten Arbeitszeitflexibilisierung«13 sogenannte »Bündnisse zur Standortsicherung«14 in Form zahlreicher Vereinbarungen in den Betrieben zwischen Betriebsräten und Unternehmensleitungen geschlossen wurden.

Die Erzählung stellt die beabsichtigte Umsetzung einer unternehmerischen Maßnahme oder Methode in einen übergeordneten Zusammenhang. Dieser scheint eine anonyme Macht und nicht beeinflussbar zu sein, was ihn für das Unternehmen selbst, aber noch mehr für die Beschäftigten umso gefährlicher erscheinen lässt. Demnach sind Managementmethoden schlicht notwendig und ihre Umsetzung alternativlos, wenn das Unternehmen gesichert und die Arbeitsplätze nicht gefährdet werden sollen. Wahlweise wird diese Alternativlosigkeit begründet mit bestimmten Faktoren wie der Dynamik des Wettbewerbs, den Zwängen der Globalisierung, den Erfordernissen des Marktes oder speziellen Erwartungen der Kunden. All diese übergeordneten Zusammenhänge, so die Schlussfolgerung der Erzählung, machen es einfach zwingend erforderlich, diese oder jene Methode im Betrieb umzusetzen.

Die behauptete Alternativlosigkeit hat in der Erzählung eine wichtige Funktion: Sie entlastet das Management, das die möglichen Härten und Konflikte bei der betrieblichen Umsetzung einer Methode wahlweise mit einem der genannten Faktoren legitimieren kann. Zudem erzeugt die Einordnung in einen übergeordneten Rahmen bei den betroffenen Beschäftigten eher Passivität und Bereitschaft zur widerspruchslosen Hinnahme unternehmerischer Maßnahmen, denn ein Aufbegehren gegen diese »anonymen Mächte« erscheint sinnlos und zudem selbstgefährdend zu sein, denn schließlich könnte der eigene Arbeitsplatz in Gefahr geraten.

Es gibt nur Gewinner

Die Einbettung der Methode in eine Erzählung soll die Beschäftigten also dazu bringen, sich in das Unvermeidliche zu fügen und den »stummen Zwang der Verhältnisse« (Karl Marx) anzuerkennen. Neben Leitbegriff und Erzählung lässt sich aber noch ein drittes Element der Legitimierung ausmachen: die Win-Win-Situation, die auch als Doppelsieg-Strategie bezeichnet wird.

Kennzeichen einer Win-Win-Situation (englischwin für »Gewinn«) ist die Erzielung von Nutzen oder Vorteilen aller Beteiligten und Betroffenen in einer bestimmten Situation. Dies soll durch gegenseitigen Respekt und ausreichende Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten geschehen, wobei Win-Win-Situationen von der Gleichwertigkeit der Partner und ihrer Interessen ausgehen.15 Durch die Thematisierung einer Win-Win-Situation versucht das Management zu vermitteln, dass seine Interessen letztlich die Interessen des gesamten Unternehmens einschließlich denen der Beschäftigten seien. Diese sollen sich nicht passiv oder abwartend verhalten, sondern die unternehmerischen Maßnahmen aktiv unterstützen. Den angestrebten unternehmerischen Zielen werden daher Effekte zugemessen, die bei den Beschäftigten Akzeptanz und positives Feedback zum beabsichtigten Vorgehen des Managements hervorrufen sollen.

Einige Beispiele verdeutlichen dies: Die Flexibilisierung verspricht den Beschäftigten Zeitsouveränität und damit größere persönliche Freiheit, wenn sie sich an die Verfügbarkeitsinteressen des Unternehmens anpassen. Die Zielvereinbarung stellt größere Selbstständigkeit und erweiterte Handlungsspielräume bei der Arbeitsausführung in Aussicht, wenn die Beschäftigten sich den an sie gerichteten Leistungsanforderungen stellen. Die Bereitschaft der Beschäftigten zu einem Mitarbeitergespräch mit Vorgesetzten wird mit einer fairen und offenen Kommunikation »belohnt«, die bei der Umsetzung dieser Methode zum Tragen kommen soll. Und schließlich führt, um die Aufzählung von Beispielen abzuschließen, das Agile Arbeiten im Team oder im Projekt zu mehr Eigenverantwortung und beschert zudem eine hierarchiefreie Arbeitsumgebung.

Auf diese Weise werden vermutete oder tatsächliche Interessen und Bedürfnisse der Beschäftigten nach Freiheit, Selbstverantwortung und Wertschätzung aufgegriffen. Die Win-Win-Situation suggeriert einen Tauschhandel vergleichbarer Güter: Sie bietet den Beschäftigten die Verwirklichung ihrer Interessen und Bedürfnisse an und tauscht diese gegen die Akzeptanz der Unternehmensziele ein.

Tatsächlich handelt es sich vielmehr um einen ungleichen Tausch. Die kritische, thesenförmige Diskussion aus der Perspektive der Beschäftigten in den Schlussteilen (Teil 3) der jeweiligen Methoden verdeutlicht die Diskrepanz zwischen offiziellen Darstellungen und der Realität in Unternehmen, Betrieben und Verwaltungen.

1.3 Vom Kommen und Gehen der Methoden

In der Öffentlichkeit herrscht vielfach der Eindruck, dass es sich bei Managementmethoden um Modeerscheinungen handelt. Von Moden ist bekannt, dass sie kommen und gehen. Wer von Managementmoden spricht, hat daher das Vergängliche ihrer Existenz im Blick. Für diese Einschätzung spricht die Tatsache, dass wir schon seit einigen Jahrzehnten eine ständige Abfolge von Methoden beobachten können: Qualitätsmanagement und Business Re-Engineering prägten die 1980er-, der Kontinuierliche Verbesserungsprozess und Lean Management die 1990er-Jahre. Seit der Jahrtausendwende dominieren Zielvereinbarungen und Agile Unternehmensführung die Methodendiskussion.

Auf das Aufkommen und Abflauen von Management- und Beratungsansätzen hat der Organisationssoziologie Alfred Kieser bereits 1997 (»Moden und Mythen des Organisierens«) hingewiesen.16 Er sieht im kurvenförmigen Verlauf so genannter »Management-Trends« typische Anzeichen einer Modewelle. Ein Thema komme auf und werde zu einem Trend. Dann folge eine Phase des Hypes mit erfolgreicher Vermarktung des Themas durch Verlage, Seminarveranstaltungen und Webseiten, die allmählich in die Phasen der Marktsättigung und schließlich des Niedergangs übergeht. Die Kapitel zum Agilen Unternehmen und zur Zielvereinbarung zeigen beispielhaft den von A. Kieser skizzierten Zyklus von Einführung, Wachstum, Sättigung und Niedergang einer Methode.

Ein Kritikansatz geht davon aus, Managementmethoden seien neuer Wein oder »heiße Luft in neuen Schläuchen«17 oder schlichtweg »kalter Kaffee«18, wie es der Soziologe Stefan Kühl kurz und prägnant bezeichnet. Demnach seien Methoden, wie sie gegenwärtig mit dem Leitbegriff Agil gehypt werden, keine Neuentdeckung, sondern eine Wiederkehr bereits bekannter Methoden, die lediglich mit einer neuen Begrifflichkeit versehen würden. Das selbstorganisierte Team, das den Inbegriff einer agilen Arbeitsweise verkörpert, sei beispielsweise gar nicht so neu, sondern habe Vorläufer, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren als »teilautonome Gruppe« zur Diskussion standen.

Wie in den Kapiteln zu einzelnen Managementmethoden im Mittelteil jeweils ausgeführt, lässt sich tatsächlich ihre Entwicklung teilweise bis zu den Anfängen kapitalistischer Arbeitsorganisation zurückverfolgen. Als »Programme des Regierens«19 haben die gegenwärtigen Methoden zahlreiche Vorfahren und Vorläufer. Die Kritik an den stets neuen Begriffsfindungen für bereits bekannte Phänomene ist daher genauso nachvollziehbar wie der Eindruck vom Modecharakter der Methoden.

Allerdings übersehen beide Kritikpunkte trotz ihrer Berechtigung zwei entscheidende Gesichtspunkte: Die Kritik am Modecharakter von Managementmethoden verleitet dazu, sie lediglich als Kurzzeitphänomene zu betrachten, die heute auftauchen, wieder vergehen und daher auch keine vertiefende Auseinandersetzung erfordern. Das hat zur Konsequenz, dass die Öffentlichkeit sich nur selten tiefergehend mit den Auswirkungen und Folgen von Managementmethoden befasst. Im Unterschied zu einer Mode hinterlassen sie aber in den Betrieben Spuren und Verwerfungen, mit denen die Beschäftigten weiter konfrontiert sind, wenn die entsprechende Methode bereits aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden ist. Nicht der Kurzzeitcharakter, sondern die ständige Suche des Managements nach immer neuen und geeigneten Methoden zur Transformation ist der Hintergrund für das Kommen und Gehen der Methoden.

Das gilt auch für den Einwand, der die ständige Wiederkehr und Wiederaufbereitung bereits bekannter Methoden in neuem Gewand thematisiert. Natürlich ist diese Wiederaufbereitung häufig das Werk von Unternehmensberatern, einer Branche, die großes Interesse daran hat, durch die Schaffung immer neuer Begriffe den vorhandenen Markt für Beratungsdienstleistungen aller Art zu »füttern«. Bereitwillig bedienen sich Unternehmensleitungen oder Managementabteilungen in diesem Markt.

Entscheidend ist dabei allerdings weniger, dass sie auf bereits bekannte Rezepturen zurückgreifen. Vielmehr unterstreichen Aneignung und Einverleibung von Methoden die besondere Herausforderung, die durch die Verwandlung von Arbeitskraft beziehungsweise Arbeitsvermögen in Arbeit entsteht. Der Volkswirtschaftler und Journalist Karl Polany betonte: »Menschliche Arbeitskraft ist lediglich eine fiktive Ware, tatsächlich aber ein nicht abtrennbarer Teil lebendiger Wesen, die als Menschen gezeugt, geboren und aufgezogen und nicht als Waren hergestellt werden; die als Menschen den Produktionsprozess vollziehen und sich nicht als Waren ›gegen Kapital austauschen‹, und sich auch als Menschen gegen Fremdbestimmung, eine Einschränkung ihres Freiraums sträuben.«20

Die Suche nach Lösungsmöglichkeiten für die Verwandlung des Arbeitsvermögens ist somit eine beständige Aufgabe, die Unternehmensleitung und Management zu bewältigen haben. Dass die Beratungsbranche die Möglichkeiten für diese Aufgabe in immer neuen Kleidern und Begriffen präsentiert, ändert nichts an der Aufgabe.

2 Agil – Arbeiten in Echtzeit

2.1 Das agile Unternehmen und die VUCA-Welt

Die gegenwärtig bekannteste Methode dreht sich um den Begriff »agil«. In zahllosen Ratgebern für Führungskräfte wird »agile Organisation« beziehungsweise »agiles Management« gefordert oder den Beschäftigten »agiles Arbeiten« empfohlen. Zunächst nur ein Adjektiv, hat sich mittlerweile ein Hype um die Methode entwickelt, der durch eine Vielzahl an Webseiten von Unternehmensberatungen und Organisationen zusätzlich verstärkt wird. Agilität gilt mittlerweile als das Markenzeichen eines aufgeschlossenen Unternehmens.

Warum wird das Wort »agil« zum Leitwort einer Unternehmensorganisation und zum Ideal modernen Arbeitens? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick auf die Entstehungsweise und Funktion von Managementmethoden hilfreich. Managementmethoden sind von Unternehmensberatern geschaffene Produkte und bedienen einen Markt, auf dem Unternehmen nach geeigneten Instrumenten zur Steuerung ihres Personals und zur Steigerung ihres Gewinns Ausschau halten. Wie andere Produkte unterliegen auch sie einem bestimmten Lebenszyklus. Die Abschnitte dieses Zyklus lassen sich, wie es der Organisationswissenschaftler Alfred Kieser beschrieben hat, in die Phasen Einführung, Wachstum, Sättigung und Niedergang einteilen.21 Am Beispiel des »Agilen Unternehmens« lässt sich dieser Zyklus darstellen.

Die Einführung

Dass ein kurzes, prägnant erscheinendes Wort wie »agil« zum Leitbegriff einer Managementmethode wird, ist nur auf den ersten Blick ungewöhnlich. Bereits Mitte der 1980er-Jahre hatte das Wort »flexibel« die gleiche Funktion wie heute »agil«. Gefordert wurde ein flexibler Personaleinsatz, flexibles Arbeiten und die von dem damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz propagierte »atmende Fabrik«. Einige Jahre später prägten Ökonomen in einer Studie zur Automobilindustrie »lean« als Leitbegriff für die Verschlankung der Arbeitsorganisation und die Einführung des »Lean Managements.«22

Für die Nutzung des Worts »agil« als Leitwort sprechen seine vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten: Der Begriff ist mehrdeutig und unterschiedlich interpretierbar. Vor allem vermittelt er ein positives Image, was ihn als Leitbegriff einer Managementmethode prädestiniert. Laut Wörterbuch bedeutet er »von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig«, also alles Eigenschaften, die sich Unternehmen allzu gern auf die Fahnen schreiben und insbesondere von ihren Beschäftigten einfordern.

Zur Geschichte von »agil« gehört eine Skihütte im Bundesstaat Utah in den USA, von der heute noch Bilder im Internet existieren, und ein Manifest, dem zahlreiche Webseiten bahnbrechende Wirkung zuschreiben. In dieser Hütte trafen sich im Februar 2001 17 IT-Spezialisten und Software-Entwickler. Statt gemeinsam Ski zu fahren, schrieben sie das »Agile Manifest der Software-Entwicklung«. Es besteht im Kern aus vier Prinzipien und zwölf Leitsätzen. Diese Erklärung bezog sich ursprünglich auf die Arbeit in Projekten und richtete sich zunächst an Programmierer und Entwickler. Sehr schnell wurde dieses Manifest zu einer Art Ursprungstext des »Agilen Managements«. Die wichtigsten Sätze lauten:

»Wir suchen nach besseren Wegen, Produkte zu entwickeln, indem wir es selbst praktizieren und anderen dabei helfen, dies zu tun.

• Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen.

• Funktionsfähige Produktehaben Vorrang vor ausgedehnter Dokumentation.

• Zusammenarbeit mit dem Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen.

• Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung.

Wir erkennen dabei sehr wohl den Wert der Dinge auf der rechten Seite an, wertschätzen jedoch die auf der linken Seite noch mehr.«23

Dass diese Grundsätze geistige Basis einer neuen Managementmethode wurden und ihnen der Status von Prinzipien und Werten zugesprochen wurde, an denen sich in den Folgejahren auch große Konzerne orientierten, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Zunächst lesen sich die Grundsätze nicht so aufrüttelnd, wie man es von einem Manifest erwartet. Ähnliches, etwa dass Menschen im Mittelpunkt des Unternehmens stehen und Kundenwünsche vorrangig berücksichtigt werden sollen, finden sich in den Leitbildern vieler Firmen. Auch Kritik an Behinderung spontanen, kreativen Arbeitens durch zunehmende Bürokratie und Dokumentationsvorschriften ist ein Zielkonflikt, der in der kapitalistischen Arbeitsorganisation immer wieder thematisiert wird und auch schon vor dem Entstehen der Grundsätze weit verbreitet war. In der öffentlichen Resonanz spielten diese Einwände (zunächst) keine Rolle. Vielmehr wurde das Manifest als Aufruf zur Schaffung einer innovativen und produktiven Arbeitskultur verstanden, die der eigentlichen Arbeitstätigkeit – dem Entwickeln von Software – eine höhere Priorität gegenüber anderen Aspekten der Arbeit einräumt und den Vorrang dieser Tätigkeit einforderte. Im Verständnis der Verfasser des Manifests soll Entwicklertätigkeit in einem maßvollen (»sustainable«) Tempo erfolgen, das sich an den individuellen Fähigkeiten der einzelnen Entwickler orientiert.

Wachstum

Ursache der Entstehung einer neuen Managementmethode waren wesentlich die Rolle der Software-Entwickler und die Erfahrungen der Unternehmen mit Projektarbeit.

Software-Entwickler sind eine spezielle Gruppe in Unternehmen. Sie bilden – oft über Firmengrenzen hinweg – eine Community, pflegen Erfahrungsaustausch über fachliche Probleme und verbreiten untereinander Informationen über neue Entwicklungen in ihrem Arbeitsbereich. Methoden wie Scrum, Extreme Programming oder Pair Programming kannten sie schon, lange bevor diese unter dem Label »Agile Methoden« populär wurden. Sie nutzen neben Fachzeitschriften auch zahlreiche andere Medien zur aktuellen Information und verfolgen aufmerksam die raschen technischen Entwicklungen ihres Fachs. Als Projektleitung und Entwickler nehmen sie somit eine zentrale Stellung in der IT-Industrie ein. Kritik an Missständen in der Software-Entwicklung aus ihren Reihen hat daher nicht nur einen fachlichen Aspekt. Sie zeigt ebenso eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Organisation der Projektarbeit in kapitalistischen Unternehmen. Die kritische Position einer Beschäftigtengruppe mit einer Schlüsselfunktion für die Wertschöpfung in Unternehmen der IT-Branche konnte daher nicht unbeachtet bleiben.

Auch in den Leitungsebenen und den Unternehmensspitzen von IT-Unternehmen gibt es verbreitete Unzufriedenheit mit der Arbeitsform Projekt, besonders hinsichtlich der Rentabilität und Effizienz von Projektarbeit. Die Verzahnung technischer, betriebswirtschaftlicher und personell-arbeitsorganisatorischer Aspekte dieser Arbeitsform sowie die Kooperation mit außerhalb des Projekts stehenden Partnern (z. B. Kunden, Lieferanten, anderen Abteilungen sowie dem eigenen Management) bereiten vielen Unternehmen enorme Schwierigkeiten und bergen Konfliktpotenziale, die charakteristisch für diese Arbeitsform sind: ausufernde Arbeitszeiten, Teamkonflikte, fehlende Personalressourcen, Überschreiten des vereinbarten Budgets oder der mit den Kunden vereinbarten »Deadline«. Häufig werden Projektziele nicht erreicht, andere scheitern gänzlich (so genannte »Investitionsruinen«).

Grund für Kritik ist häufig das so genannte »Wasserfallmodell« – ein typisches Konzept von Projektarbeit, das auf einer linearen Vorgehensweise beruht. Die Arbeit erfolgt Schritt für Schritt, eine Projektphase beginnt erst, wenn die vorhergehende abgeschlossen ist. Dabei bilden die einzelnen Phasen-Ergebnisse wie bei einem Wasserfall bindende Vorgaben für die jeweils folgende Phase. Dieser Ablauf kann Projektarbeit schwerfällig machen und verlangsamen. Methoden wie Scrum, Extreme Programming oder Pair Programming sind weniger anfällig für diese Risiken. Sie beinhalten kurzzyklische Arbeitsschritte mit getakteten, kleinen Arbeitsintervallen. Die Projektteams arbeiten in enger Kooperation mit dem Kunden. Sie reflektieren ihre Arbeit und tauschen sich über ihren Leistungsstand regelmäßig aus. Von diesen kurzzyklischen Entwicklungsphasen verspricht sich das Management eine Beschleunigung des gesamten Arbeitsprozesses und eine gesteigerte Profitabilität der Arbeitsform Projekt.

Die Hoffnung, Effizienz und Produktivität zu verbessern, führt dazu, dass im »oberen und mittleren Management die Aufmerksamkeit und Offenheit für die ›Experimente‹ der ›agilen Community‹ im Unternehmen wuchs«, wie Andreas Boes in einer Untersuchung zur digitalen Transformation dieser Branche feststellt.24 So entsteht in den ersten Jahren dieses Jahrtausends eine Situation, in der die Interessen der Software-Entwickler und des Managements der IT- Unternehmen übereinzustimmen scheinen.

Im Management und unter Unternehmensberatern wird eine solche Interessensübereinstimmung gern als klassische Win-Win-Situation bezeichnet: Beschäftigte und Management haben gleichermaßen einen Nutzen, wenn eine neue Methode im Betrieb umgesetzt wird. Dieser behauptete Effekt wird auch bei anderen Managementmethoden ins Feld geführt und soll bei den Beschäftigten Akzeptanz zum beabsichtigten Vorgehen des Managements hervorrufen. Der Nutzen für die Beschäftigten bei Einführung agiler Arbeitsmethoden soll die Realisierung der Grundsätze des »Agilen Manifests« sein: Das Management verspricht, die Voraussetzungen für eine verbesserte Zusammenarbeit mit Fachexperten und Kunden während des Projektes zu schaffen sowie für die Selbstorganisation der Teams bei Planung und Umsetzung zu sorgen. Im Gegenzug erwartet das Management eine schnellere Lieferung von Software, die Beschleunigung der Arbeitsvorgänge in den Teams und damit letztlich Wettbewerbsvorteile.

Marktdruck und Konkurrenzsituation in der IT-Branche tragen dazu bei, dass sich agile Methoden als Arbeitsform schon bald durchsetzen. Die Pilotprojekte, die den Anstoß für das »Agile Manifest« gaben, verlassen das Experimentierstadium und etablieren sich in den Folgejahren als neue Arbeitsform in der Software-Branche. Für Management und Unternehmen scheinen sich die Versprechungen der Win-Win-Situation tatsächlich zu erfüllen: Laut Angaben von BITKOM hat der deutsche IT-Markt seit 2004 konstante Zuwachsraten. Umfragen der Unternehmensberatung Kienbaum ergeben, dass die überwiegende Mehrheit der Unternehmen »ihre IT bereits erfolgreich agil ausgerichtet« hat.25 Zudem konnten die befragten Unternehmen dadurch eine deutliche Verbesserung der Liefergeschwindigkeit erreichen. Zu den weiteren Vorteilen zählen dieser Umfrage zufolge die Verbesserung der Softwarequalität, erkennbare Produktivitätssteigerungen gemessen an der Anzahl umgesetzter IT-Projekte und schließlich eine deutlich größere Kundenzufriedenheit.

Von der Umsetzung agiler Methoden profitierten also vor allem Management und Unternehmensleitungen in der Software-Entwicklung und den IT-Dienstleistungen. Die Erfolge dieser Branche wurden auch von anderen Unternehmen registriert, schienen sie doch zu beweisen, dass es auch unter dem Druck globaler Märkte möglich ist, durch eine Beschleunigung arbeitsorganisatorischer Prozesse hohe Qualität zu niedrigen Kosten zu liefern und dabei die Kundenwünsche zu berücksichtigen. Das Wort »agil« wurde nun auch über die IT-Branche hinaus positiv aufgewertet. Der Begriff erhielt als »Agiles Management« den Charakter einer universellen Managementmethode und wurde als »Agile Unternehmensführung« zum Vorbild für andere Unternehmen.

Damit tritt eine neue Phase ein, deren Verlauf bereits aus anderen Managementmethoden bekannt ist. Zunächst wird diese Aufwertung nur von wenigen registriert. Aber schon bald steigen Unternehmensberater und Wirtschaftsautoren in das Thema ein und erklären Agilität zu einem Trend, dem Unternehmen folgen sollten, wenn sie nicht im globalen Konkurrenzkampf unterliegen wollen. Zur Unterstreichung der Botschaft von »Agilität« als dem innovativen, zentralen und effektiven Managementansatz tragen unzählige Webseiten von Beratern und Unternehmen bei. Manager- und Wirtschaftsmagazine entdecken das Thema und berichten enthusiastisch über erfolgreiche Umsetzungen agiler Konzepte und zufriedene Beschäftigte in den Unternehmen.

Begleitet wird diese Kampagne von einer intensiven kommerziellen Ausschlachtung des neuen Trends: Unternehmensberatungen bieten Ausbildungen zum »Certified Agile Leader« oder zertifizierten »Scrum Master« mit universitärem Siegel an. Andere stellen »agile Instrumente« zur Verfügung, wie »Kanban-Systeme« zur Visualisierung der Arbeitsabläufe innerhalb eines Teams oder »Checklisten zur Prüfung der Autonomie« in Teams. Buchverlage stürzen sich darauf und verkaufen Titel wie Scrum Revolution oder Kanban – mehr als Zettel: Wie die Methode Ihnen zu echtem Mehrwert verhilft. Ersteres verspricht dank Scrum eine Verdoppelung der Produktivität bei Halbierung der Kosten, der zweite Titel spricht etwas bescheidener von einem »wahrnehmbaren Nutzen für das Unternehmen«.26

Popularisierung und Verbreitung des Konzepts gehen Hand in Hand. Eine Befragung von Bitkom Research im Jahr 2018 kommt zu dem Ergebnis, dass jedes zweite Großunternehmen bereits auf agiles Projektmanagement setzt und gut 65 Prozent der deutschen Unternehmen agil durchgeführte Projekte für erfolgreicher als »klassisches« Projektmanagement halten.27Scrum-Teams finden sich bei Automobilherstellern wie BMW oder Audi ebenso wie bei der Telekom AG. Auch öffentliche Verwaltungen greifen das Thema auf. Schon 2016 bildete sich im Internet ein »Forum Agile Verwaltung«, das sich zum Ziel setzt, »die Verwaltung für die Kultur der Agilität zu öffnen«28. Nach der Devise, dass man eigentlich nichts falsch machen kann, wenn man das macht, was alle anderen machen, erreicht die agile Unternehmensführung auch mittelständische Unternehmen. So können die Geschäftsführer und Betriebsleiter unter Beweis stellen, wie umsichtig sie das Unternehmen führen, oder aber sie nutzen das Konzept als Alibi für andere Maßnahmen, die schon lange geplant waren.

Verständnis und Definition

Eine einheitliche Definition für das »agile Unternehmen« gibt es nicht. Allerdings verstehen nahezu alle im Internet nachzulesenden Definitionen darunter ein Unternehmen, das nach einer möglichst hohen Beweglichkeit strebt, um auf Veränderungen von Märkten und Kundenwünschen reagieren zu können. Beweglichkeit wird dabei häufig mit Begriffen wie Schnelligkeit (der Wertschöpfung), Beschleunigung (interner Abläufe) und Effizienz (der Arbeit) in einen Zusammenhang gestellt.

Diese Kombination verdeutlicht das gesteigerte Interesse der Unternehmen an dieser Methode: Es geht um eine Erhöhung des Arbeitstempos, gesteigerte Leistungsintensität und Rationalisierung. In schönem Management-Sprech bringt das eine Führungskraft auf den Punkt, die bei der ING-DiBA für »agile Transformation« zuständig ist: »Schnellere Wertschöpfung, mehr Effizienz, höhere Mitarbeitermotivation, mehr Innovation: Agile Teams sind interdisziplinär, kommen schneller zum Ziel, setzen auf Kollaboration und machen keine Doppelarbeit.«29

Bei vielen Einträgen fällt auf, dass Agilität als entscheidender Faktor für das Überleben von Unternehmen gesehen wird. Zugrunde liegt dieser Einschätzung die These von einer Welt voller Bedrohungen und Gefahren, eine so genannte VUCA-Welt. VUCA bezeichnet eine Welt, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität gekennzeichnet ist. Der Begriff kommt aus dem militärischen Kontext und wurde am US Army War College entwickelt, um die »neue Welt« zu beschreiben, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er-Jahre entstanden war. Später wurde er genutzt, um die unsichere Lage des amerikanischen Militärs nach der Intervention in Afghanistan im Jahr 2001 zu beschreiben. Als in der Wirtschaftskrise 2008 zahlreiche Banken infolge von Finanzspekulationen in die Krise gerieten, wurde er zu einem erklärenden Faktor für das Versagen von Finanzmärkten.

In dieser VUCA-Welt müssen Unternehmen sich behaupten, wenn sie nicht untergehen wollen. Den Begriff findet man auf zahllosen Webseiten, die sich mit Agilität beschäftigen.30 Ein Beispiel und eine typische Definition für ein agiles Unternehmen:

»Wir alle merken es: Unsere Welt verändert sich. Sie verändert sich an vielen Stellen gleichzeitig, meist unerwartet, und ein Ende dieses permanenten Wandels ist nicht abzusehen. Das Akronym VUCA beschreibt die Herausforderungen, die unsere sich stets verändernde Welt für Unternehmen bereithält. Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, wie Märkte, Wettbewerb, Technologien oder weitere Faktoren sich in Zukunft ändern werden. Nur, dass sie sich verändern werden, ist gewiss. – Und dass wir als Unternehmen auf Veränderungen werden schnell reagieren müssen, um erfolgreich zu bleiben, können wir jetzt schon absehen. Um jedoch unbekannte, sich verändernde Herausforderungen zu bewältigen, brauchen wir die Fähigkeit, unsere Strategien, Strukturen und Prozesse jeweils kurzfristig an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen. Dieser Prozess wird nach unserem Verständnis mit dem Begriff der Agilität angemessen beschrieben.«31

In den Definitionen des agilen Managements wird also die VUCA-Welt auf die Beziehung des Unternehmens zu den Marktverhältnissen im Kapitalismus übertragen. Der Markt gilt als natürliches Wesen und wird, ähnlich wie in der Systemtheorie und Kybernetik, als unendlich komplex verstanden: sich ständig verändernd, anpassungsfähig und chaotisch. Diese Eigenschaften machen ihn zu einem undurchschaubaren Phänomen. Weder Unternehmensleitungen noch Management oder die Beschäftigten sind in der Lage, dieses scheinbare Chaos, das sie umgibt und in dem sie täglich agieren müssen, zu begreifen.

Der Markt, so die These, sei viel zu komplex, um ihn zu verstehen; alle Unternehmensstrategien oder Zielsetzungen für wirtschaftliche Planungen laufen daher ins Leere, da diese immer wieder an der Undurchschaubarkeit und Schnelllebigkeit des Marktes scheitern. Daraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass das Unternehmen sich diesen Bedingungen unterwerfen muss, wenn es nicht untergehen will. Es brauche daher fluide, leicht veränderbare Organisationsstrukturen und »empowerte« Beschäftigte voller Selbstverantwortung und Eigeninitiative. Diese müssen bereit sein, den Marktbewegungen umstandslos und ohne Verzögerung zu folgen. Selbstorganisierte Teams und flache Hierarchien sind dazu am besten geeignet.

Der empowerte Beschäftigte wird zur Akzeptanz eines neuen Arbeitsprinzips aufgefordert – dem Arbeiten in Echtzeit: Wie bei einer elektronischen Rechenanlage, bei der das Programm oder die Datenverarbeitung (nahezu) simultan mit den entsprechenden Prozessen in der Realität abläuft, sollen die Beschäftigten eines agilen Unternehmens in kürzester Zeit auf die Markterfordernisse reagieren. Agilität ist daher Antwort und Aufforderung zugleich: Antwort auf die Schnelligkeit des Marktes sowie Aufforderung zu einer agilen Arbeitshaltung, um dem Ziel des Arbeitens in Echtzeit möglichst nahezukommen.

Das ideologische Moment dieser Definitionen ist nicht zu übersehen: Dem Markt wird eine zentrale Stellung eingeräumt, seine Bedeutung wird so überhöht, dass er beinahe religiöse Züge annimmt. Diese Überhöhung des Marktes gehört zum Mantra neoliberaler Denktraditionen und bildet den »Kern« des Neoliberalismus, wie der Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski 2015 in seinem Buch »Untote leben länger« feststellt. Demnach betrachtet der Neoliberalismus den Markt als eine »abwesende Gottheit«32, der als ein »monolithisches Wesen« auftritt, »weil nur er Dinge weiß, die wir nicht wissen können.« Daher könne der Markt auch Erfolg oder Misslingen von Unternehmen verlässlich sanktionieren, »weil er der Fels ist, an dem sich der komplexe, chaotische Mahlstrom bricht; er dient als der Nullpunkt, an dem alle Bewegung und Veränderung gemessen wird. Er selbst ist niemals chaotisch, weil er außerhalb der Zeit existiert«, schreibt Mirowski.33

Die Definitionen des agilen Unternehmens lassen die Kritik an der Vergötterung des Marktes außer Acht. So bleibt ausgeblendet, dass der Markt weder ein natürliches noch ein übernatürliches Wesen, sondern eine von Menschen geschaffene Instanz ist, die deshalb auch verändert und Regeln unterworfen werden kann. Stattdessen werden Marktentwicklungen als gegeben und alternativlos dargestellt. Das Unternehmen hat sich der VUCA-Welt anzupassen. So erscheint die Umsetzung des agilen Managements lediglich als Konsequenz der VUCA-Welt. Die Mär vom agilen Unternehmen, zu dem es keine Alternative gibt, ist eine Argumentationsfigur, die auch bei der Umsetzung anderer Managementmethoden bemüht wurde und wird.

In den Leitbildern des Lean Managements und des Business Process Reengineerings wurde die Alternativlosigkeit der Umsetzung begründet mit der Dynamik des Wettbewerbs, den Zwängen der Globalisierung, den Erfordernissen des Marktes oder den Erwartungen der Kunden. Die behauptete Alternativlosigkeit hat eine wichtige Funktion: Sie entlastet das Management, das mögliche Härten und Konflikte bei der Umsetzung einer Methode im Betrieb wahlweise mit einem der genannten Faktoren begründen kann. Zudem werden bei den betroffenen Beschäftigten Passivität und Bereitschaft zur widerspruchslosen Hinnahme unternehmerischer Maßnahmen erzeugt, scheint doch ein Aufbegehren gegen diese anonymen Mächte sinnlos zu sein.

In den Betrieben und Verwaltungen signalisiert der Einzug neuer Arbeitstechniken den Beschäftigten den Durchbruch einer Managementmethode. Spontanes Brainstorming in Teams oder Abteilungen, bunt bemalte und beschriftete Wände im Meeting-Raum, ein Sammelsurium an kleinen bunten Post-its zur detaillierten Planung von Arbeitsschritten, Open-Space-Runden, Lern- und Feedback-Schleifen, Spielemechanik, Storytelling, Kanban-Boards und vieles mehr verändern den Arbeitsalltag. Um die agilen Arbeitsformen und Methoden herum bildet sich eine neue Sprache mit eigener Begrifflichkeit. Oft werden Anglizismen verwendet wie zum Beispiel Backlog, Review, ProductOwner. Metaphern aus dem Sport unterstreichen den Beschleunigungsaspekt der Arbeit. Scrum ist ein Begriff aus dem Rugby, Sprint eine Disziplin in der Leichtathletik und Velocity ein anderes Wort für Geschwindigkeit.

Jüngeren Beschäftigten fällt das Erlernen und Anwenden dieser neuen Techniken relativ leicht, umso bereitwilliger begrüßen sie diese neuen Techniken und sehen darin einen Aufbruch in eine neue, fortschrittliche Arbeitskultur, wie sie bereits im Silicon Valley in Kalifornien realisiert zu sein scheint. Nicht alle Beschäftigten wollen allerdings in dieser Kultur arbeiten. Viele tun sich schwer mit der ständigen Interaktion im Team, den täglichen Ritualen des Daily Scrum, den ungeklärten Zuständigkeiten. Statt zwanghafter Vergemeinschaftung in einem empowerten Team und zeitraubenden Meetings sehnen sie sich nach einem Arbeitsumfeld, das ihnen Raum für ungestörtes Arbeiten bietet.

2016 hat agiles Management eine überragende Bedeutung in den Unternehmen erreicht und befand sich im Stadium des Höhenflugs. In einer Pressemitteilung kündigte die ING-DiBa Anfang 2018 an, die »erste vollständig agile Bank in Deutschland« werden zu wollen.34 Dem Soziologen Andreas Boes zufolge ist Agilität inzwischen »die bestimmende Vorstellung von der Organisation eines Unternehmens und der Arbeitsprozesse«.35

Sättigung

Wie lange dieser Höhenflug anhält, ist ungewiss. Noch immer befinden sich viele Betriebe gerade im Stadium des »Entdeckens« dieses Leitbilds. Sie betrachten die agile Unternehmensführung noch als Zukunftsvision, während andere schon Praxiserfahrungen gesammelt haben. Dennoch gibt es bereits Anzeichen für ein Ende des Höhenflugs und das Eintreten in die Sättigungsphase. Sie ist gleichsam der Anfang vom Ende eines Lebenszyklus, den eine Managementmethode durchläuft. Ein Anzeichen für Sättigung ist einsetzende Kritik am Leitbild der agilen Unternehmensführung. Zwar gab es bereits in der Phase der Popularisierung des Leitbildes Kritik, aber anfängliche Lobpreisungen, Erfolgsgeschichten und Vermarktungsinteressen verschafften dem Leitbild ein so gutes Image, dass diese kein Gehör fand.

Inzwischen sind die Kritiken aber so zahlreich, dass sie sich nicht mehr ausblenden lassen. Unter den Kritikern sind auffallend viele Unternehmensberater und Beratungsinstitute. Für viele von ihnen ist dezidierte Kritik an der Umsetzungspraxis der Anlass, ihre eigenen Lösungsansätze zur Behebung der Probleme gleich mitzuliefern in der Hoffnung, den schon absehbaren Niedergang des Lebenszyklus hinauszögern. Für andere ist die Distanzierung von der agilen Unternehmensführung mit der Suche nach einem neuen Managementtrend verbunden. Im Grunde aber wissen bereits alle, »was die Stunde geschlagen hat.« »Der Markt, an dem viele partizipiert und verdient haben, ist abgegrast. Die Kreation eines neuen Steuerungskonzeptes basiert auf dem Niedergang seines Vorläufers. Das neue braucht das alte zur Kritik, zumindest zum Beweis, dass das alte Probleme schuf, die das neue beseitigt.«36

Die Karawane der Vermarkter zieht weiter und wendet sich einem neuen Trend zu. Zurück bleiben die agil arbeitenden Beschäftigten. Ihr Arbeitsalltag verändert sich spürbar. Die enge Zusammenarbeit mit Kunden in den Scrum-Teams