Beyond the Game - Carina Zacharias - E-Book
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Beyond the Game E-Book

Carina Zacharias

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Beschreibung

Die 17-jährige Nora liebt Videospiele und kann mit Computern besser umgehen als mit Menschen. Gerade kann sie sich auf eine ganz besondere Veröffentlichung freuen: Ihr Bruder Ben entwickelt mit seiner Firma das gehypte Virtual Reality Spiel »Animus«. Doch das Projekt ist streng geheim und Ben will nicht, dass Details an die Öffentlichkeit gelangen. Nicht mal seine Schwester weiht er ein. Und auch Mattes, der als Student in Bens Firma jobbt, verrät ihr nichts.

Als Nora die Nase voll von der Geheimniskrämerei hat, lädt sie sich heimlich die Dateien von Bens Server herunter. Und »Animus« übertrifft ihre kühnsten Erwartungen! Die im Spiel eingesetzte künstliche Intelligenz macht das Spielerlebnis für jeden einzigartig. Nora verliert sich komplett in der Welt von »Animus«, die ihr bald genauso wirklich erscheint wie die Realität ...

Doch als Mattes sich bei ihr meldet, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Ahnt er etwa, dass sie das Spiel illegal runtergeladen hat? Zum Abschalten ist es längst zu spät: Das Spiel ist schon lange kein Spiel mehr.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zwölf Stunden, bevor das Spiel beginnt

Drei Stunden, bevor das Spiel beginnt

Anderthalb Stunden, bevor das Spiel beginnt

Eine Stunde, bevor das Spiel beginnt

Das Spiel beginnt

26 Tage, bevor das Spiel endet

24 Tage und 19 Stunden, bevor das Spiel endet

24 Tage und 17 Stunden, bevor das Spiel endet

23 Tage, bevor das Spiel endet

22 Tage und 16 Stunden, bevor das Spiel endet

17 Tage und 21 Stunden, bevor das Spiel endet

12 Tage, bevor das Spiel endet

11 Tage und 19 Stunden, bevor das Spiel endet

11 Tage und 16 Stunden, bevor das Spiel endet

11 Tage, bevor das Spiel endet

10 Tage und 16 Stunden, bevor das Spiel endet

10 Tage, bevor das Spiel endet

8 Tage und 16 Stunden, bevor das Spiel endet

8 Tage, bevor das Spiel endet

7 Tage und 20 Stunden, bevor das Spiel endet

7 Tage, bevor das Spiel endet

6 Tage und 19 Stunden, bevor das Spiel endet

6 Tage, bevor das Spiel endet

5 Tage und 21 Stunden, bevor das Spiel endet

5 Tage, bevor das Spiel endet

4 Tage und 13 Stunden, bevor das Spiel endet

2 Tage und 12 Stunden, bevor das Spiel endet

2 Tage, bevor das Spiel endet

1 Tag und 21 Stunden, bevor das Spiel endet

1 Tag und 20 Stunden, bevor das Spiel endet

1 Tag und 19 Stunden, bevor das Spiel endet

Einen Tag, bevor das Spiel endet

Zwei Stunden, bevor das Spiel endet

Eine Stunde und 50 Minuten, bevor das Spiel endet

Fünfzehn Minuten, bevor das Spiel endet

Fünf Minuten, bevor das Spiel endet

Das Spiel ist aus

Das Ende des Spiels

Unmittelbar, nachdem das Spiel aus ist

Zehn Tage, nachdem das Spiel aus ist

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Die 17-jährige Nora liebt Videospiele und kann mit Computern besser umgehen als mit Menschen. Gerade kann sie sich auf eine ganz besondere Veröffentlichung freuen: Ihr Bruder Ben entwickelt mit seiner Firma das gehypte Virtual Reality Spiel »Animus«. Doch das Projekt ist streng geheim und Ben will nicht, dass Details an die Öffentlichkeit gelangen. Nicht mal seine Schwester weiht er ein. Und auch Mattes, der als Student in Bens Firma jobbt, verrät ihr nichts.

Als Nora die Nase voll von der Geheimniskrämerei hat, lädt sie sich heimlich die Dateien von Bens Server herunter. Und »Animus« übertrifft ihre kühnsten Erwartungen! Die im Spiel eingesetzte künstliche Intelligenz macht das Spielerlebnis für jeden einzigartig. Nora verliert sich komplett in der Welt von »Animus«, die ihr bald genauso wirklich erscheint wie die Realität ...

Doch als Mattes sich bei ihr meldet, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Ahnt er etwa, dass sie das Spiel illegal runtergeladen hat? Zum Abschalten ist es längst zu spät: Das Spiel ist schon lange kein Spiel mehr.

Carina Zacharias

Beyond the Game

Für Dominic

Zwölf Stunden, bevor das Spiel beginnt

Nora hatte ihr Fahrrad kaum abgeschlossen und den Helm vom Kopf gezogen, da ging es auch schon los.

»Hallo, meine Lieblingsmitschülerin.« Ein Arm legte sich um Noras Schultern. »Wie geht es dir denn an diesem wunderschönen Morgen?«

»Mehmet, lass den Quatsch.« Nora schüttelte den Arm ihres Klassenkameraden ab. »Du weißt genau, dass ich nichts weiß.« Sie schob sich an ihm vorbei und ging mit großen Schritten auf die Eingangstür ihrer Schule zu.

»Sehr philosophisch«, bemerkte Mehmet, vollführte eine halbe Drehung und hastete ihr hinterher. »Aber komm schon. Mir kannst du es doch sagen.«

Nora presste die Lippen aufeinander. Da war es wieder, das Brodeln in ihr. Ein Gefühl, das irgendwo zwischen Brust und Magengrube saß und ihr mittlerweile vertraut war. Denn es ging nun schon seit Wochen so. Nicht nur Mehmet belagerte sie, sondern Schüler aus allen Stufen und Klassen ihrer Schule. Wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hätte sie die gesteigerte Aufmerksamkeit sogar genießen können. Mit Mehmet zum Beispiel, der mit seinen schlagfertigen Sprüchen regelmäßig Mädchenherzen eroberte, hatte sie in ihrer ganzen Schullaufbahn geschätzte zehn Sätze gesprochen. Und auf einmal war sie für ihn die interessanteste Person der ganzen Schule. Aber je näher das Release Date von Animus rückte, desto klarer wurde Nora, dass die Aufmerksamkeit nicht wirklich ihr galt. Und mit jeder weiteren penetranten Frage wuchs ihr Wunsch, tatsächlich mit ein paar Hintergrundinfos glänzen zu können. Doch die peinliche Wahrheit war: Sie wusste wirklich nichts.

Auch auf der Treppe zum ersten Stock blieb Mehmet ihr noch immer auf den Fersen.

»Hey, Mehmet«, rief jemand von oben, »hat sie dir was gesagt?«

Nora erkannte die Stimme von Christoph, ohne hochschauen zu müssen. Sie achtete jedoch nicht darauf, was Mehmet antwortete. Alle restlichen Fragen ignorierend, stürmte sie die Treppe hinauf und bahnte sich einen Weg durch die Schülertraube im Flur zu ihrem Klassenraum. Sie wollte gerade durch die Tür treten, als sich eine hagere Gestalt vor sie schob und den Eingang verstellte. »Nicht so schnell.«

»Mirko!«, japste Nora erschrocken, denn sie wäre beinahe in den Jungen aus der Parallelklasse hineingelaufen. Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch er stellte sich so breitbeinig in den Türrahmen, dass er trotz seiner knochigen Statur den Durchgang vollständig versperrte. Genervt stieß Nora die Luft aus. »Lass mich durch.«

In diesem Moment merkte sie, dass jemand unangenehm nah hinter sie trat. Als sie sich umwandte, war sie von Klara und Torben aus ihrer, der zwölften, Stufe und Denis aus der elften geradezu umstellt. Alarmiert sah sie wieder zu Mirko. »Was soll das werden?«

»Hör zu.« Mirko lehnte sich lässig an den Türrahmen. »Ich habe eine Wette am Laufen, okay? Ich brauche Informationen, sonst bin ich 25 Euro los.« Der Adamsapfel an seinem langen Hals hüpfte beim Sprechen auf und ab.

Nora verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist nicht mein Problem.« Es hatte cool und unerschrocken wirken sollen, doch ihre Stimme klang gepresst, selbst in ihren eigenen Ohren.

Klara rechts neben ihr kaute schmatzend irgendein ekelhaft süß riechendes Kaugummi. »Und«, sagte sie zwischen zwei Kaugeräuschen, »ich hab überall herumerzählt, dass ich die Schwester vom Entwickler kenne, und alle warten drauf, dass ich was erzähle.« Schmatz, schmatz. »Aber tja, so langsam glaube ich, du und dein Bruder, ihr redet überhaupt nicht miteinander.«

Nora merkte, wie sich das unterschwellige Brodeln in ihr zu einem Köcheln aufheizte. »Worüber mein Bruder und ich reden und worüber nicht, geht euch überhaupt nichts an.«

Ehe jemand der vier darauf reagieren konnte, erklang eine scharfe Stimme von innerhalb des Klassenraums: »He, was geht denn hier ab? Seid ihr noch zu retten?«

Mirko stolperte nach vorne, und Nora und die anderen konnten gerade noch rechtzeitig ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Eine schlanke Gestalt in einem sonnenblumengelben Kleid erschien an seiner statt im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt und pure Mordlust in den Augen.

Nora atmete auf. Bea.

»Ihr tickt doch nicht mehr ganz richtig.« Bea griff nach Noras Hand und zog sie in den Klassenraum. »Komm, Nora. Und ihr Spinner, verpisst euch gefälligst.«

»He, ich hab jetzt auch hier Unterricht«, maulte Torben reichlich lahm, doch Bea achtete nicht auf ihn. Sie drehte ihnen demonstrativ den Rücken zu, stolzierte zu ihrem Tisch und zog Nora hinter sich her. »Die haben sie doch echt nicht mehr alle«, schimpfte sie und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Denen kannst du nicht mit vernünftigen Argumenten kommen, Nora. Die verstehen nur eine Sprache.« Sie rückte ihren Stuhl zurecht. Offensichtlich hatte sie bis gerade eben noch an den Englischhausaufgaben für heute gesessen, zumindest lag das aufgeschlagene Heft vor ihr auf dem Tisch.

Nora ließ sich schwer auf ihren Platz neben Bea fallen. »Ja, langsam glaube ich das auch.«

Mit ihren dunklen Augen sah Bea sie besorgt an. »Alles okay? Was wollten die?«

Die Aufregung von gerade steckte Nora noch immer in den Gliedern. Einen Moment lang dachte sie, es keine Sekunde länger aushalten zu können. Dass dieses Brodeln aus ihr rausbrechen musste oder sie würde explodieren. Aber sie schluckte es runter, winkte ab. »Alles halb so wild. Es ging halt nur wieder um Animus.« Sie deutete auf das Englischheft. »Lass dich nicht stören. Die Kassler kommt bestimmt gleich.«

Bea murmelte zwar noch etwas Unverständliches, das nicht gerade freundlich klang, beugte sich jedoch wieder über die versäumten Hausaufgaben. Ihre schwarz gelockte Haarmähne warf sie dabei über eine Schulter, damit sie ihr nicht im Weg war. Das gelbe Spaghettiträger-Kleid, das sie trug, fiel hinab bis auf ihre Riemchensandalen.

Nora war nicht so luftig angezogen, und ihr war auf einmal viel zu warm, ob vom Fahrradfahren, vor Ärger oder beidem, konnte sie nicht genau sagen. Sie zog sich ihr graues Wollhemd über den Kopf und hängte es über die Stuhllehne. Es hatte ursprünglich ihrem Bruder gehört und war ihr einige Nummern zu groß. Aber das waren zwei Eigenschaften, die auf die meisten ihrer Klamotten zutrafen.

Wie auf ein Stichwort drehten sich plötzlich die Köpfe von Maria und Yvonne herum, die auf dem Tisch vor ihnen saßen und bis gerade miteinander geflüstert hatten. »Stimmt es, dass du heute auf diese Jubiläumsparty gehst?« Yvonne feuerte die Frage ab wie ein Wurfgeschoss. »Bei NerdPride?«

Das machte Nora einen Moment lang sprachlos. »Wie hat denn das jetzt die Runde gemacht?«

»Hab ich halt gehört.« Yvonne grinste triumphierend, und Nora wünschte sich sofort, sie hätte es abgestritten.

»Und du bist da tatsächlich eingeladen?«, fragte Maria.

»Klar!« Yvonne wedelte die Frage ungeduldig beiseite. »Hallo? Der Laden gehört schließlich ihrem Bruder.«

»Mega! Aber«, Maria senkte verschwörerisch die Stimme, »kannst du bei der Gelegenheit nicht was aus ihm rauskitzeln?«

Beas Kopf schnellte nach oben. »Nein, kann sie nicht, okay? Lasst sie in Frieden.« Sie beugte sich wieder über die Hausaufgaben.

Maria und Yvonne wechselten einen Blick.

Nora stöhnte zwar innerlich, doch sie kämpfte ihren Unmut wieder einmal nieder. So versöhnlich wie möglich sagte sie: »Die machen halt einen Riesenwirbel um Geheimhaltung und diesen ganzen Quatsch. Oder was glaubt ihr, warum es keinen Trailer gegeben hat und keine Demo auf der Gamescom und keinen Let's Player, der's auf Twitch oder seinem YouTube-Kanal zeigen durfte? Weil es topsecret ist, darum.« Auf die Party hatte Ben sie ohnehin nur eingeladen, um wiedergutzumachen, dass er momentan so wenig Zeit für sie hatte. Aber diesen bitteren Gedanken behielt sie für sich.

Kaum hatte sie den Satz beendet, wurde es plötzlich still im Klassenzimmer. Als Nora sich umsah, hatte die Englischlehrerin den Raum betreten. Frau Kasslers brünetter Dutt war wie immer so nachlässig frisiert, dass er aussah, als hätte sie damit geschlafen, was Nora sehr sympathisch war. Mehrere Jahrzehnte Lehrerinnendasein hatten tiefe Augenringe und Falten in ihr Gesicht gegraben, die ihr ein dauerhaft müdes Aussehen gaben. Sie bedachte Maria und Yvonne sowie die lockere Traube von Mitschülern, die sich wie magnetisch angezogen um Noras Tisch gebildet hatte, mit einem wissenden Blick. »Leute, belagert ihr Nora etwa schon wieder? Wie lange dauert es denn noch, bis dieses Spiel endlich rauskommt?«

»Zwei Wochen«, antwortete Nils wie aus der Pistole geschossen. Vereinzelter Jubel erklang aus unterschiedlichen Ecken des Klassenraums.

»Okay, Nora, ich schätze, spätestens dann bist du erlöst.« Frau Kassler zwinkerte ihr zu. »Now please take out your homework.«

Nora zog ihr Heft aus dem Rucksack und schlug es auf, konnte dem Unterricht jedoch nicht richtig folgen.

Die jüngere Schwester des Chefs der Videospiele-Firma NerdPride zu sein, hatte für gewöhnlich seine Vorteile. Nora durfte Spiele testen, bevor es irgendwer anders konnte, bekam umsonst Merchandise oder Freikarten für die Gamescom und konnte allgemein mit ihrem coolen großen Bruder angeben. Doch Animus sorgte für Noras Geschmack mittlerweile für etwas zu viel Wirbel.

Vorn an der Tafel begann Frau Kassler, neue Vokabeln anzuschreiben. Seufzend machte sich Nora daran, sie in ihr Heft zu übertragen. Doch ihre Gedanken beisammenhalten konnte sie trotzdem nicht.

Das neue VR-Spiel von NerdPride schlug deshalb solche Wellen, weil es Künstliche Intelligenz auf eine Art und Weise einsetzen sollte wie kein Spiel vor ihm. Angeblich waren dem Open-World-Szenario keine Grenzen gesetzt, denn das Game entwickelte sich ständig weiter, erschuf neue Quests aus dem Nichts und passte sich den Vorlieben des jeweiligen Spielers an. So entstand für jeden ein individueller Spielverlauf, der bei keinen zwei Spielern gleich war.

Die Fans wussten das alles schon seit Jahren, und so ungefähr stand es auch in der Pressemitteilung, die vor drei Monaten das Veröffentlichungsdatum des Spiels verkündet hatte. Nora musste zugeben, dass es aufregend klang. Das Problem war nur: Nichts sonst war bekannt. Was für eine Welt gab es zu entdecken, worum ging es? Ben und seine wachsende Anzahl von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hüllten sich in Schweigen, als wollten sie den riesigen Hype noch mehr anfeuern, der um das Spiel sowieso schon gemacht wurde. Und das wäre ja auch alles schön und gut, würde Ben das Vertraulichkeitsabkommen nicht so genau nehmen, dass er selbst seine kleine Schwester im Dunkeln ließ. Aber Nora wusste tatsächlich genauso viel und genauso wenig wie alle anderen auch. Und mit jeder neuen Frage ihrer neugierigen Mitschüler wurmte sie das mehr.

Die Doppelstunde Englisch zog sich quälend lange hin und wurde schließlich vom Läuten zur ersten Viertelstundenpause beendet. Als Nora und Bea auf den Schulhof traten, steckten einige Meter entfernt ein paar Achtklässler die Köpfe zusammen und deuteten mit den Fingern auf sie.

»Das ist sie, oder?«, hörte Nora einen von ihnen sagen.

»Ja, das ist die Schwester!«

»Meine Güte!«, sagte Bea. »Es ist ja, als wärst du ein Superstar.«

»Nein, ist es nicht«, widersprach Nora dumpf. »Superstars werden um ihrer selbst willen angehimmelt. Ich bin nur die kleine Schwester von Superstar Ben.« Sie wandte den Achtklässlern den Rücken zu.

Bea hakte sich bei ihr unter. »Die übertreiben auch langsam, oder?«

»Ach weißt du, leider nein«, seufzte Nora, während sie über den Hof schlenderten und dabei kreischenden und rennenden Fünftklässlern auswichen. »Die vorigen beiden Spiele von NerdPride sind halt eingeschlagen wie Bomben. Also ist klar, dass alle auf die nächste Veröffentlichung warten. Und laut Ben waren die anderen Spiele nur da, um Geld reinzuholen. Animus ist sein eigentliches Baby. Angeblich haben sie mehr oder weniger seit der Gründung von NerdPride daran getüftelt. Na ja, es soll ja auch die Gaming-Szene revolutionieren.« Sie imitierte die Stimme ihres Bruders, während sie ihn zitierte.

»Wegen diesem KI-Kram?«

»Genau.« Nora atmete tief die frühsommerliche Luft ein. »Und jetzt könnten wir auch mal von was anderem reden, oder?«

»Ja, aber lass uns erst in die Sonne gehen.« Bea griff Nora am Handgelenk und zog sie zu ein paar Steinen neben dem Basketballplatz, auf die ein Streifen Sonnenlicht fiel. Sie ließ ihren Jutebeutel mit den Schulsachen auf den Boden plumpsen, streifte die Sandalen ab und fläzte sich hin, als wäre es kein harter Stein, auf dem sie lag, sondern ein gemütlicher Liegestuhl. Mit geschlossenen Augen hielt sie die Nase in die Sonne.

Nora stellte ebenfalls ihren Rucksack ab, knotete sich das Hemd um die Hüften und setzte sich neben sie.

»Herrlich.« Bea strich eine schwarz gelockte Haarsträhne beiseite, die der Wind ihr ins Gesicht geweht hatte. Ihre bronzene Haut glänzte in der Sonne. Nora hingegen beäugte ihre weißen Arme voller Sorge, einen Sonnenbrand zu bekommen. Ihre schlammbraunen Haare hatte sie in einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Sie hatte gerade angefangen, in ihrem Rucksack nach ihrer Butterbrotdose zu kramen, als es in Beas Tasche piepte.

»Ups.« Bea öffnete ein Auge. »Dachte, das wär lautlos.«

Während Nora in das Butterbrot biss, das sie am Morgen extra dick mit Schokopaste bestrichen hatte, fischte Bea ihr Smartphone aus dem Beutel und begann zu tippen. Nora dachte sich nichts dabei, ehe sie das selige Lächeln auf den Lippen ihrer Freundin bemerkte.

»Mit wem schreibst du denn da?«

»Jule.« Bea antwortete, ohne den Blick von ihrem Smartphonebildschirm zu nehmen.

Nora durchforstete erfolglos ihr Gedächtnis. »Jule?«

»Jemand aus meinem Yogakurs.«

»Ich dachte, du gehst nicht mehr zu dem Yogakurs?«

Beas Finger flogen über den Touchscreen. Nach einer Pause antwortete sie: »Ab und zu schon. Gestern war ich da.«

Gerade als Nora beschloss, kein weiteres Wort mehr mit Bea zu wechseln, während die gleichzeitig auf ihrem Handy rumtippte, löste die Freundin endlich den Blick vom Bildschirm und sah sie an. »Sie ist großartig, Nora. Ich glaube ... ich stehe auf sie.«

Nora stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Also bist du über David hinweg?«

»Psst«, machte Bea und warf einen Blick über die Schulter. »Er steht da vorne. Ja, das war ja nie wirklich was Ernstes.«

»Und ...« Nora suchte kurz nach den richtigen Worten. »Das heißt, du stehst jetzt auf Frauen?«

»Wieso?« Augenblicklich schnappte Bea ein. »Ist das ein Problem?«

»Nein, Bea.« Nora schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch die Nase ein und aus. Ihre Nerven lagen eindeutig zu blank für das hier. »Ich frag doch bloß.«

Anstatt zu antworten, tippte die Freundin die nächste Nachricht. Dann ließ sie das Handy in ihren Schoß sinken. »Und, willst du gar nicht mehr wissen?«

Nora unterdrückte ein Seufzen. »Doch, klar. Schieß los.«

»Sie ist neu im Kurs. Na ja, ich kenne sie noch nicht so gut. Vielleicht bin ich mir auch noch nicht so sicher. Ob ich wirklich auf sie stehe, meine ich.«

Eine Pause entstand, und Nora beobachtete eine Ameise, die über ihren Turnschuh lief. Wie so oft bei solchen Gesprächen beschlich sie das ungute Gefühl, nicht richtig mitreden zu können. Schlimmer: noch nicht mal die richtigen Fragen stellen zu können. Das Problem war einfach, dass sie noch nie verliebt, geschweige denn in einer Beziehung gewesen war. Das hatte Bea ihr voraus. Es war, als beschritte Bea einen Weg, auf dem sie die Freundin nicht mitnehmen konnte, weil Nora einfach zu sehr hinterherhinkte.

Ihr Schweigen zog sich in die Länge, doch ehe Nora eine passende Erwiderung gefunden hatte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie Beas Finger schon wieder über ihr Smartphone flogen. Sie schien gar nicht auf eine Antwort zu warten.

Noras Aufmerksamkeit wurde von einem anderen Paar Augen angezogen. Als sie aufsah, wandten sich rundherum Köpfe ab oder senkten sich ertappte Blicke. Nora schluckte geräuschvoll einen fast unzerkauten Bissen Brot. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sie hier auf dem Präsentierteller saß und von allen Seiten beobachtet wurde, während Bea neben ihr mit ihrem Handy beschäftigt war.

Auf einmal wollte sie nur noch weg. Sie griff nach ihrem Rucksack und stand abrupt auf. »Ich muss mal zum Klo.«

Ohne auf eine Erwiderung von Bea zu warten, ging sie im Laufschritt zu der nächsten Toilette, den Blick vor sich auf die Pflastersteine gesenkt. Dort angekommen schloss sie sich in einer freien Kabine ein und setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel. Das Lachen und Tuscheln der Mädels vorne bei den Waschbecken, an denen sie gerade vorbeigestapft war, schallte zu ihr herüber. Nora meinte, ihren Namen rauszuhören, ohne genau zu verstehen, was sie sagten. Das Brodeln in ihrem Inneren hatte sich in einen Eisklotz verwandelt, der sie mit all seinem Gewicht nach unten zog, als wollte er, dass sie niemals wieder aufstand. Sie würde einfach hierbleiben, bis es klingelte. Oder bis Bea nach ihr schaute.

Doch Bea kam nicht, und wenig später ertönte das Klingeln der Schulglocke. Nora wartete, bis die Kichererbsen vor den Waschbecken gegangen waren, ehe sie sich einen Ruck gab, aufstand und ihre Kabine entriegelte.

In der Tür lief sie dann doch noch in Bea hinein.

»Da bist du ja! Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Nora wich dem besorgten Blick der Freundin aus. »Komm schon, wir müssen zu Bio, sonst sind wir zu spät.«

Bea schien kurz verblüfft von Noras ungewohnt schroffem Tonfall. Doch als sie sich auf dem Weg ins Schulgebäude wortlos bei Nora einhakte, ließ sie es geschehen und drückte dankbar ihren Arm.

Eine gefühlte Ewigkeit später war auch die letzte Schulstunde endlich überstanden. Während sie zum Schulausgang ging, folgten Nora zwar immer noch die Blicke, aber zu ihrer Erleichterung wurde sie von niemandem angesprochen – vielleicht auch deshalb, weil Bea jeden mit Blicken grillte, der ihnen zu nahe kam oder zu einer Frage ansetzte.

Draußen holte Nora ihr Fahrrad und schob es neben sich her, während sie zusammen mit Bea in Richtung des Inneren Grüngürtels spazierte, der Kölns Innenstadt umschloss. Es war Donnerstag, und nach guter alter Tradition verbrachte sie die Donnerstagnachmittage bei Bea, während Bea an den Dienstagen mit zu ihr kam.

Sie waren ein paar Minuten schweigend nebeneinander hergegangen, ehe Nora Beas Blick auf sich spürte. »Du denkst schon wieder über dieses Spiel nach, was?«, fragte die Freundin.

Nora seufzte und versuchte gar nicht erst, es abzustreiten.

»Wenn ich jetzt anmerke, dass es nur ein albernes Spiel ist und kein Weltuntergang, hilft das nicht besonders, oder?« Bea zwinkerte ihr zu.

Nora verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Doch, ein bisschen hilft es schon.«

Sie bogen von dem Grüngürtel auf die Dürener Straße ab und quatschten über dies und jenes, bis sie das weiß verputzte Reihenhaus erreichten, in dem Bea mit ihren Eltern wohnte.

»Der Göttin sei Dank«, sagte Bea, als sie die Haustür aufschloss. »Mama ist noch nicht da.«

»Wieso, habt ihr euch wieder gezofft?«

Bea verdrehte die Augen. »Frag lieber, wann wir uns das letzte Mal nicht gezofft haben. Komm, wir schnappen uns was zu essen und verziehen uns auf mein Zimmer.«

Der riesige Kühlschrank war wie immer gut gefüllt und enthielt neben reichlich Gemüse und Bio-Joghurt auch eine vorgekochte vegane Lasagne. Nachdem sie sich zwei Portionen in der Mikrowelle warm gemacht hatten, stiegen sie samt dampfender Teller die Treppe hoch und setzten sich in Beas Zimmer auf den Boden. Während sie zu essen anfingen, ließ Nora den Blick über die vertrauten vier Wände schweifen. Der Raum war genauso hell, modern und ordentlich wie der Rest des Hauses. Was das anging, kam Bea wohl doch nach ihrer Mutter – mit Ausnahme des Spruchs »I love my vagina«, den sie mithilfe einer Schablone großflächig auf eine Wand gepinselt hatte und der Sofia fast einen Herzanfall beschert hatte. Die Wand über dem großen Doppelbett war weniger rebellisch von Fotos und Postkarten bedeckt, darunter immer wieder die grinsenden Gesichter von Nora und Bea in allen Altersstadien vom Kindergarten bis zum Gymnasium. Der hintere Teil des Raums wurde von Yogamatte und Räucherstäbchen eingenommen.

»Ich kann nicht glauben, wie viele Hausaufgaben der Tänner uns in Physik gegeben hat.« Bea pustete auf ihre gefüllte Gabel. »Weißt du noch, als Mama mich überzeugen wollte, Physik als Leistungskurs zu wählen?«

Nora gluckste bei der Erinnerung. »Sie hätte gleich wissen sollen, dass sie diesen Kampf verlieren würde.«

»Aber der Kunst-LK ist ja angeblich ein Freifahrtschein in die Arbeitslosigkeit. Sie hätte Luftsprünge gemacht, wenn ich Mathe und Info als LK gewählt hätte, so wie du.« Bea schob sich eine Gabel Lasagne in den Mund und ergänzte: »Sie sollte froh sein, dass ich den Physik-Grundkurs gewählt habe. Hab ich eh nur gemacht, weil du da drin bist.«

»Ich weiß das Opfer wirklich zu schätzen.«

»Um es wiedergutzumachen, darfst du mir verraten, was wir mit dieser komischen Pendelschwingung machen.«

»Schon klar.«

Zusammen brüteten sie über den Hausaufgaben für Physik und ihre anderen gemeinsamen Fächer, während im Hintergrund eine Spotify-Playlist dudelte.

Sie waren gerade mit den Englischaufgaben beschäftigt, als Bea auf einmal die Schulsachen von sich schob und gähnend die Arme in die Luft streckte. »Ich hab genug. Die Englischsachen brauchen wir eh nicht bis morgen.«

Als hätte Nora nur auf dieses Stichwort gewartet, schlug sie ihr Heft zu. »Überredet.«

»Weißt du, was ich jetzt gebrauchen könnte?« Bea lächelte verschmitzt. »Eine Yoga-Session.«

Nora stopfte das Englischheft in ihren Rucksack. »Tu dir keinen Zwang an.«

»Haha. Wenn überhaupt, dann nur mit dir zusammen.« Bea kam geschmeidig auf die Füße und streckte Nora eine Hand entgegen.

»Du gibst auch nie auf, oder?«

»Komm schon, Nora! Du musst es nur einmal versuchen, damit du merkst, wie gut es dir tut.«

»Als ich es das letzte Mal versucht habe, tat mir tagelang alles weh.«

»Du übertreibst.« Bea klatschte in die Hände. »Ich weiß! Wir können Acroyoga machen.«

Nora stöhnte. »Nur über meine Leiche.«

Fünfzehn Minuten später fand sich Nora mit dem Bauch auf Beas Füße gestützt wieder, die diese, mit dem Rücken auf der Yogamatte liegend, schräg in die Luft streckte.

»Du brauchst Körperspannung!«, rief Bea. »Anspannen! Okay, auf drei.«

»Und dann?«

»Stößt du dich vom Boden ab und balancierst auf meinen Füßen. Wie ein Brett.«

»Oh Mann, Bea, ich weiß ja nicht ...«

»Eins!«

»Meinst du wirklich, das geht?«

»Zwei, drei!«

Todesmutig hob Nora Arme und Beine in die Luft, balancierte auf Beas in die Höhe gestreckten Füßen – und kippte, fiel zur Seite und purzelte mitten auf Bea, die sich vor Lachen kringelte.

Nora schnappte vor Schreck und vor Lachen nach Luft. »Hast du dir wehgetan?«

»Nein, du?«

»Nein. Bist du sicher, dass das auf der Seite für Anfänger stand?«

In dem Moment öffnete sich die Zimmertür, und Beas Mutter Sofia streckte mit besorgter Miene den Kopf herein. Nora hatte gar nicht bemerkt, dass sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. »Alles in Ordnung? Es poltert, als wäre hier eine Herde Elefanten unterwegs.«

Beas Lachen verging, als hätte ihre Mutter einen unsichtbaren Schalter umgelegt. Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Mama, was habe ich zum Klopfen gesagt?«

Sofia verdrehte die Augen, was sie auf genau dieselbe Art tat wie Bea, wenn sie von etwas genervt war. Nora glaubte nicht, dass den beiden das bewusst war. Beas Mutter trug noch den Hosenanzug, den sie vermutlich in der Kanzlei angehabt hatte. Die schwarzen Locken, die sie ihrer Tochter vererbt hatte, waren von einzelnen grauen Strähnen durchzogen und in einen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ohne auf Beas Bemerkung einzugehen, sagte sie: »Es gibt gleich Abendessen.«

»Nora und ich haben eh keinen Hunger.«

Kommentarlos zog Sofia die Tür zu.

Bea pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie und Nora entwirrten ihre Gliedmaßen und setzten sich auf. In dem Moment piepte Beas Handy. »Oh«, sagte sie und griff danach. »Das ist Jule.«

»Das Mädchen aus dem Yogakurs?«

»Ja, genau.« Beas Blick klebte am Handybildschirm.

Da war es wieder, das ungute Gefühl, zurückgelassen zu werden. Doch Nora war entschlossen, es niederzukämpfen. Es war ja auch nicht so, als würde sie es Bea nicht gönnen, einen neuen Crush zu haben.

»Hast du ein Foto?«

»Ja, ihr Profilbild.«

Bea hielt Nora das Handy hin. Es zeigte Jule lächelnd auf einer Picknickdecke im Park sitzend, von Lichtreflexen der tief stehenden Sonne ein wenig überstrahlt. Ihre schulterlangen Haare waren in einem verwaschenen Blau gefärbt, und ihr rechter Nasenflügel von einem Ring gepierct. Sie trug ein Top und eine weite Pluderhose mit tiefem Schritt. Wenn Nora das richtig sah, hielt sie eine Bierflasche in der Hand. Das Foto wirkte nicht gestellt, eher wie ein spontaner Schnappschuss.

»Sie sieht älter aus als du.«

Bea zog das Handy zurück und sah ihrerseits auf das Bild. »Findest du? Sie ist nur ein Jahr älter als wir beide.«

»Achtzehn also?«

Doch Bea tippte schon wieder auf ihrem Handy, und Stille breitete sich aus. Selbst die Spotify-Playlist hatten sie abgestellt. Nora kämpfte gegen die in ihr aufsteigende Frustration an, während Bea voll und ganz in ihr Smartphone vertieft war.

Plötzlich war auch das Brodeln wieder da, und Nora spürte, dass sie etwas tun, sich bewegen musste, um es am Überkochen zu hindern. Sie sprang auf die Füße. »Ich muss sowieso langsam los.«

»Hm?«, machte Bea, ohne aufzusehen.

»Ich wollte den Rucksack noch zu Hause abstellen, ehe ich zu der Party bei NerdPride fahre.« Nora bemerkte, dass Bea immer noch auf ihr Smartphone sah. »Ach, vergiss es.« Mit mehr Kraft als nötig stopfte sie ihr Federmäppchen in den Schulrucksack. »Bis morgen dann.«

Endlich hatte sie Beas Aufmerksamkeit. »Was ist los?«

»Ich fahre.« Nora warf sich den Rucksack über die Schulter.

»Bist du jetzt etwa sauer? Weil ich mal ein paar Sekunden mit jemand anderem schreibe? Ist das dein Ernst?«

Nora konnte plötzlich weder für eine versöhnliche Antwort noch für eine patzige Entgegnung die Kraft aufbringen. Ohne ein weiteres Wort trat sie aus dem Raum und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Drei Stunden, bevor das Spiel beginnt

Knapp zwei Stunden später fuhr Nora in einer ansonsten leeren Fahrstuhlkabine in die zehnte Etage eines Bürogebäudes in der Kölner Innenstadt und versuchte recht erfolglos, ihre aufsteigende Nervosität niederzukämpfen.

Noch während der Aufzug sich verlangsamte, drang bereits laute Musik an Noras Ohren, die mit dem Öffnen der Tür wie eine Welle über sie schwappte. Nora trat aus dem Fahrstuhl in das Großraumbüro und nahm die Szenerie in sich auf.

Glasfassaden ringsum gaben den Blick frei in den Abendhimmel über Kölns Dächern und auf den unverwechselbaren Doppelturm des Kölner Doms in der Ferne. Im vorderen Bereich des Raums grüßten sie ordentliche Reihen verlassener Schreibtische samt zugeklappter Laptops und abgeschalteter Bildschirme. Die Musik spielte jedoch buchstäblich im hinteren Teil des Raums, wo die Tische an die Wände geschoben worden waren. Dort standen die Game-Designer in Grüppchen beisammen, lachten und tranken und wurden von bunten Lichtreflexionen unter einer sich drehenden Diskokugel beleuchtet. Musik und lautes Stimmengewirr schallten durch den ganzen Raum.

Ich kenne ein paar Leute, die morden würden, um jetzt an meiner Stelle zu sein, dachte Nora nicht ohne ein gewisses Triumphgefühl.

Im Nähergehen hielt sie nach Ben Ausschau, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Kurzerhand zückte sie ihr Handy, gab die ersten vier Ziffern der Kreiszahl Pi ein, um es zu entsperren, und rief ihren Bruder an.

Er hob nach nur wenigen Sekunden ab. »Hey.«

»Hi!«, rief Nora über die Stimmen von ABBA hinweg, die im Hintergrund Gimme a man after midnight!, sangen. »Wo bist du?«

»Nupsi, es tut mir leid. Ich bin noch nicht da.«

Nora stockte. »Du bist nicht da?«

»Ich bin im Büro eine Etage drüber. Ich muss hier noch einen Anruf ... Also, etwas klären ...« Nora meinte zu hören, wie Ben sich mit einer Hand über das Gesicht fuhr, konnte quasi vor sich sehen, wie erschöpft er war. »Es ist kompliziert. Sorry«, sagte er noch einmal. »Ich komme, sobald ich kann, ja?«

»Aber ...«

»Ich beeile mich. Wirklich. Bis gleich!«

Nora ließ das Handy sinken. Sie stand nach wie vor im Niemandsland zwischen ordentlichem Großraumbüro und Partyzone und wusste plötzlich nicht so recht, wohin mit sich. Als einzige extern Geladene kannte sie niemanden außer Ben und kam sich neben den feiernden NerdPride-Mitarbeitern wie bestellt und nicht abgeholt vor. Plötzlich bereute sie, überhaupt hergekommen zu sein.

Nora war gerade so weit, auf dem Absatz kehrtzumachen und wieder nach Hause zu fahren, als ein junger Mann mit asiatischen Zügen und kurzem, etwas unordentlichem schwarzem Haar sich von den Feiernden löste und auf sie zusteuerte. »Hi! Bist du vielleicht Nora?«

Überrumpelt nickte sie. »Ja, bin ich.«

»Ben hat erzählt, dass du kommst. Ich bin übrigens Mattes.« Er war etwas größer als Nora und trug ein einfaches, schwarzes T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Er strahlte sie so freundlich an, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen, sie habe es sich gerade anders überlegt und wolle wieder nach Hause fahren. »Freut mich.«

»Du bist also Bens Schwester?«, fragte er Small-Talk-mäßig.

»Ja«, bestätigte Nora und fügte, um nicht so kurz angebunden zu wirken, hinzu: »Acht Jahre jünger.«

»Ist schon ein beeindruckender Typ, dein Bruder.«

Überrascht begegnete Nora Mattes' Blick, aus dem ehrliche Bewunderung sprach, und lächelte. »Ja. Das ist er.« Mit einem Mal wurde ihr Unwohlsein von einer warmen Vorfreude auf Ben in den Hintergrund gedrängt, und sie wusste wieder, warum sie hier war. Weil Ben sie eingeladen hatte. Weil sie mit ihm zusammen seinen Erfolg feiern wollte. Sie hatten sich wirklich schon viel zu lange nicht gesehen.

»Stimmt es, dass er weder Abitur gemacht noch studiert hat?«

»Das stimmt.«

»Dann hat er sich echt alles selbst beigebracht. Wahnsinn.«

»Ein bisschen wahnsinnig war das damals allerdings. Unser Vater ist ausgerastet, als Ben nach der zehnten Klasse verkündet hat, er würde von der Schule abgehen.«

»Kann ich mir vorstellen.« Mattes gluckste. »Hat er den Schock mittlerweile überwunden?«

»Er hatte ihn eigentlich schon überwunden, als Ben innerhalb kürzester Zeit einen ziemlich gut bezahlten Job bei Ubisoft an Land gezogen hat«, scherzte Nora. Sie erinnerte sich allerdings noch gut, wie sie mit ihren acht Jahren Rotz und Wasser geheult hatte, als Ben auszog, um in Düsseldorf zu arbeiten. Sie war überglücklich gewesen, als ihr großer Bruder zwei Jahre später kündigte und nach Köln zurückkehrte, um NerdPride zu gründen.

»Sollen wir dir vielleicht mal was zu trinken besorgen?«, fragte Mattes und winkte sie, nachdem sie dankbar bejaht hatte, hinter sich her in die Kaffeeküche, wo der Lärmpegel noch einmal merklich anstieg. Neben einem Extrakühlschrank für Getränke war hier außerdem ein Burger-Buffet aufgebaut, dessen Anblick und Geruch Noras Magen vernehmlich knurren ließen.

»Was darf's denn sein?« Mattes öffnete den Kühlschrank, wurde jedoch sofort von einem Kollegen abgelenkt, der mit seiner sportlichen Statur nicht in Noras Klischeevorstellung von einem Informatiker passte. Laut lachend gab er eine Story zum Besten, der sie nur schwer folgen konnte. Als sein Blick auf Nora fiel, unterbrach er sich.

»Du musst die Schwester sein! Ich hab schon viel von dir gehört. Laura, richtig?«

»Nora.«

»Nora! Klar. Cool, dass du da bist. Ich bin Lars. Du hast ja noch gar nichts zu trinken!« Er warf Mattes einen vorwurfsvollen Blick zu, nahm drei Kölsch aus der Kühlung, öffnete sie und drückte jedem von ihnen eines in die Hand.

»Prost!«

Nora, die zwar seit letztem Jahr legal Bier trinken durfte, aber noch nicht recht auf den Geschmack gekommen war und auch nicht Nein zu einer der Fassbrausen gesagt hätte, stieß mit an und nahm pflichtschuldig einen Schluck.

»Nora, ich muss den guten Mattes Anh hier ganz kurz entführen.« Lars legte Mattes einen Arm um die Schultern und machte Anstalten, ihn aus der Küche und zu einem der Bier-Pong-Tische zu manövrieren.

»Ähm«, sagte Nora. »Wisst ihr, wann Ben runterkommt?«

Lars zuckte mit den Schultern. »Wer weiß das schon? Dem ist schon wieder ein Anruf von diesem BSI dazwischengekommen.« Mattes warf seinem Kollegen bei diesen Worten einen warnenden Blick zu. Doch der schien es nicht zu bemerken und schüttelte nur tadelnd den Kopf. »Da überredet man den Kerl schon monatelang zu dieser Party, und dann schafft er es als Einziger, nicht dabei zu sein und doch noch zu schuften.« Damit schob er Mattes an Nora vorbei.

Einen Moment lang stand Nora verloren zwischen den Feiernden und nahm kleine Schlucke von ihrem Bier. Schließlich stellte sie die Flasche jedoch beiseite und kämpfte sich zum Buffet durch. Dort ließ sie es sich nicht nehmen, von jeder Zutat ordentlich zuzulangen, bis ihr fertiger Burger den schiefen Turm von Pisa vor Neid hätte erblassen lassen. Sie suchte sich eine Ecke abseits des größten Trubels gleich neben einem heliumgefüllten Luftballon in Form einer Sieben und renkte sich fast den Kiefer aus, als sie genüsslich in ihr Kunstwerk biss. Kauend ließ sie den Blick über die Poster an den Wänden schweifen.

Sie zeigten Szenen der einzigen beiden VR-Spiele, die NerdPride im Laufe seines siebenjährigen Bestehens herausgebracht hatte. Nora hatte beide natürlich unzählige Male durchgespielt. Die dunklen Unterwasserbilder, in denen ein U-Boot scheinbar ahnungslos zwischen riesenhaften Schatten ominöser Kreaturen tauchte, kamen aus Mission Mariana Trench. Die Aufnahmen in den Weiten des Alls und jene, auf denen ein Rover durch eine rote Marslandschaft fuhr, gehörten zu Salvager.

Auf diesen beiden Spielen gründete sich der gesamte Erfolg von NerdPride. Kritiker bemängelten zwar, dass sie zu kurz wären, zu wenig Gameplay böten. Aber das ließ nicht nur ihre beinahe beispiellose Möglichkeit der Open-World-Exploration völlig außer Acht, sondern auch die technische Innovation, die NerdPride mit ihrer eigens entwickelten Hardware mitgeliefert hatte: Dinge wie Spracherkennung und Full-Body-Tracking waren damit auf ein völlig neues Level gehoben worden, ganz zu schweigen von dem Gehirnwellenmessen mit ihrer Elektrodenhaube. Und letztendlich sprachen die begeisterten Stimmen der weltweiten Fans sowie millionenfache Verkäufe für sich.

Doch diese Fans verlangten nach mehr und waren von den Versprechen, dass Animus die beiden ersten Spiele völlig in den Schatten stellen sollte, aufgestachelt worden wie ein Wespennest. Verstohlen ließ Nora den Blick schweifen. Selbst hier, sozusagen in den NerdPride-Headquarters, sah sie keinen Hinweis auf das mysteriöse neue Spielprojekt. Keine Concept Art an den Wänden, kein herumfliegendes Game-Design-Document und natürlich erst recht kein Poster.

Stattdessen blieb ihr Blick an einem dunklen Paar Augen hängen. Mattes schien sie im selben Moment zu entdecken, sein Gesicht leuchtete auf, und er kam auf sie zu. »Da bist du! Und du hast dich schon mit Essen versorgt, perfekt.«

Nora nickte. »Sag mal, weißt du, wann Ben runterkommt?«

»Leider nein. Aber er kommt bestimmt, sobald er kann. Ist nur einfach völlig überarbeitet. Wie eigentlich alle hier.«

»Wegen Animus?« Nora spitzte die Ohren.

»Genau. Wenn man ehrlich ist, haben wir eigentlich gar keine Zeit für diese Jubiläumsfeier hier. Ich meine, wir stehen zweieinhalb Wochen vor dem Release-Date. Aber ein paar Jungs und Mädels von der Verwaltung waren wohl der Meinung, dass die Feier wichtig wäre, um die Moral hochzuhalten.« Er bemerkte Noras neugierigen Blick und lachte. »Guck mich nicht so an! In dem NDA, das ich unterschrieben habe, steht quasi drin, dass ich geteert, gefedert und gevierteilt werde, wenn ich dir irgendwas verrate.«

»Schon klar.« Nora versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Was genau machst du denn bei NerdPride?«

»Ich bin seit etwa einem halben Jahr HiWi und hab hauptsächlich bei dem Set-up für das Playtesting mitgearbeitet.«

»Du bist HiWi?«, fragte Nora überrascht.

Mattes nickte. »Hab letzten Sommer Abi gemacht und im Wintersemester mein Mathestudium angefangen. Seit Anfang des Jahres verdiene ich mir hier mit ein paar Stunden die Woche was dazu. Ist auf jeden Fall angenehmer, als in dem Blumenladen von meiner Tante zu jobben, der alten Sklaventreiberin.«

Nora, die gerade noch mal einen großen Bissen von ihrem Burger genommen hatte, hielt schnell den Teller höher, als Soße und Tomatenstücke seitlich rausgequetscht wurden. Im Kopf sortierte sie ihr Bild, das sie sich unbewusst von Mattes gemacht hatte, neu. Sie hatte gedacht, er sei bei NerdPride fest angestellt und Mitte bis Ende zwanzig, aber wahrscheinlich war er nicht mehr als zwei Jahre älter als sie.

»Hmm«, machte sie und fügte, sobald ihr Mund leer genug war, dass sie wieder reden konnte, hinzu: »Und wie lief das mit dem Playtesting?«

Mattes warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

»Ach komm schon!«, protestierte Nora. »Das wirst du doch wohl verraten dürfen. Ich frage ja nicht, worum es in dem Spiel geht.«

»Na ja.« Sie konnte sehen, wie Mattes mit sich rang. »Ich schätze, du hast recht. Und immerhin bist du Bens Schwester, nicht wahr? Also wir haben im Grunde unterschiedliche Spielinstanzen auf unseren Servern laufen. Jedes auf einer eigenen Festplatte, damit sie sich nicht gegenseitig beeinflussen. Und da haben wir ausgewählten Testspielern dann Zugang verschafft und geschaut, wie sich die KI während des Spielens entwickelt.«

Nora lauschte begierig. »Und?«

»Es war unglaublich spannend. Zum Teil völlig unvorhersehbar. Und die Auswertung hat uns echt vor eine Herausforderung gestellt. Die Logfiles wurden so umfangreich, dass ...« Er schnappte Noras Blick auf, und vielleicht hatte sie etwas zu neugierig ausgesehen, denn er unterbrach sich und lachte nervös. »Tja, im Moment ist das ganze Playtesting sowieso erst mal auf Eis gelegt.«

Nora runzelte die Stirn. »Hat das etwas mit dem Anruf zu tun, von dem Lars gesprochen hat? Vom ...« Sie versuchte, sich an die Abkürzung zu erinnern, die Lars verwendet hatte. »BSI? Was ist das überhaupt?«

Sofort wirkte Mattes nervös. »Ach, die haben irgendwelche Sicherheitsbedenken oder so. Vielleicht erzählt Ben dir das am besten selbst mal.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier. »Cooles T-Shirt übrigens.«

Nora sah an sich herab auf das graue T-Shirt mit dem Aufdruck eines rosafarbenen Minecraft-Axolotls. »Geschickter Themenwechsel.« Sie grinste. »Aber danke. Hast du auch Minecraft gezockt?«

Mattes nickte. »Bis zum Abwinken.«

Ehe Nora sich's versah, waren sie auch schon tief versunken in einem herrlich nerdigen Gespräch über sämtliche Spiele, die sie in den letzten Jahren durchgesuchtet hatten. Sie waren gerade dabei, sich über Ignatia Wildsmith aus Hogwarts Legacy lustig zu machen, als Nora sich dabei ertappte, zu sagen: »Das würde ich in meinen eigenen Spielen ganz anders machen.«

Mattes sprang sofort darauf an: »Dann willst du auch Game-Designerin werden?«

Nora zögerte mit der Antwort, doch aus Mattes' Miene sprach keine Überheblichkeit, sondern ehrliches Interesse. Also gab sie zu: »Ja. Will ich schon seit Ewigkeiten. Nach der Schule möchte ich Informatik studieren. Und dann irgendwie den Weg in die Gamesbranche finden. Meinen eigenen Weg«, schob sie hinterher. Gleich darauf war ihr diese Betonung unangenehm.

Doch Mattes nickte verständnisvoll. »Und, hast du schon mal an etwas gearbeitet?«

»Ähm, tatsächlich ja. Aber es ist nur so eine Spielerei. Um mich ein bisschen auszuprobieren.«

»Erzähl schon. Worum geht's?«

»Also, es ist so eine Art Tamagotchi-Spiel, sag ich mal. Man bekommt ein Drachenei, und das muss man wärmen und vor Regen schützen, bis es schlüpft. Und wenn der kleine Drache da ist, kann man ihn füttern und sauber halten, damit er wächst.«

»Klingt goldig.« Mattes lächelte. »Du hast nicht zufällig was dabei, was ich mal sehen kann?«

»Theoretisch schon.« Nora zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Ich hab einen Prototyp in der Cloud. Den könnte ich mit dir teilen, wenn du möchtest. Eigentlich hab ich's für Ben hochgeladen, weil er mal draufgucken und mir sagen wollte, was er davon hält. Aber ... na ja. Er hatte halt mit Animus alle Hände voll zu tun und nie Zeit.« Sie verstummte und bereute plötzlich, so needy zu klingen und Ben in ein schlechtes Licht gestellt zu haben.

»Also, ich bin natürlich nicht Ben.« Mattes rieb sich verlegen den Nacken. »Aber ich würde es total gerne mal ausprobieren und kann dir auch ehrlich sagen, wie es mir gefallen hat. Nur, wenn du möchtest, natürlich.«

»Machst du Witze? Ich würde supergern mal Feedback dazu kriegen! Wenn du mir deine Handynummer gibst, schicke ich dir direkt einen Downloadlink.«

Sie hatte kaum Mattes' Nummer eingespeichert und ihm den Link geschickt, da tauchte eine Nachricht von Ben auf ihrem Bildschirm auf:

Tut mir leid. Das dauert hier noch.

Mit einem Mal schien Noras gute Laune aus ihr raus in Richtung Boden zu sacken. An ihrer statt kehrte das ungute Brodeln zurück, das sie nicht mehr gespürt hatte, seitdem sie auf der Party war. Ihr Blick fiel auf die Zeitanzeige auf ihrem Smartphone, und mit Überraschung stellte sie fest, dass sie schon seit einer Stunde mit Mattes gequatscht hatte.

Der hatte ihren plötzlichen Stimmungswechsel offenbar bemerkt. »Alles in Ordnung?«

Nora seufzte und steckte ihr Handy wieder weg. »Bei Ben dauert es wohl noch. Ich schätze, ich mache mich mal auf den Heimweg.«

Mattes schien kurz etwas sagen zu wollen, schluckte es jedoch hinunter. »In Ordnung. Wie kommst du heim?«

»Mit dem Fahrrad. Steht draußen auf der Straße. Na ja, bis dann, schätze ich.«

»Bis dann! Ich freu mich drauf, den kleinen Drachen auszubrüten.«

Nora, die sich schon halb abgewandt hatte, lächelte müde, ehe sie sich einen Weg zurück zu den Aufzügen bahnte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Party sich im Laufe der letzten Stunde weiter in den Raum ausgebreitet hatte und noch lauter und ausgelassener geworden war. Als die Fahrstuhltür sich hinter ihr schloss, war sie froh um die Ruhe.

Also hatte sie Ben doch nicht gesehen. Und nicht das kleinste bisschen über Animus erfahren.

Oder doch?

Ohne Vorwarnung formte sich eine wahnwitzige Idee in Noras Kopf.

Als sie den Aufzug verließ, die Lobby durchquerte und hinaus in den frühsommerlichen Abend trat, fühlte sie sich seltsam entrückt. Sie schloss ihr Fahrrad auf, das sie samt Helm an eine Straßenlaterne angeschlossen hatte, und ließ sich Mattes' Worte über die Testspielinstanzen, die abgestellten Logfiles und das auf Eis gelegte Playtesting durch den Kopf gehen. Ihre diffuse Idee wandelte sich langsam in einen Plan.

Vor ihrem inneren Auge sah sie Bens Nachricht: Das dauert hier noch.

Sie ließ den Schlüsselbund durch ihre Finger gleiten. Es war purer Zufall, dass der Zweitschlüssel zu Bens Wohnung noch immer daran hing. Ben hatte ihn ihr gegeben, damit sie seine Zimmerpflanzen goss, während er mit ein paar Freunden Urlaub in Schweden machte. Das war jetzt über ein Jahr her, aber sie hatte immer wieder versäumt, ihm den Schlüssel zurückzugeben.

Könnte ihr Plan funktionieren? Sie würde es nur wissen, wenn sie es ausprobierte.

Kurz entschlossen steckte Nora den Schlüsselbund in die Hosentasche, zog den Fahrradhelm auf und schwang sich auf den Sattel.

Doch sie fuhr nicht nach Hause.

Anderthalb Stunden, bevor das Spiel beginnt

Auf Kölns Straßen herrschte das übliche Chaos. Nora klingelte eine Gruppe Fußgänger vom Fahrradweg und wich einer sich öffnenden Autotür aus, ehe sie in Bens Straße einbog. Das Mehrparteienhaus in Kölns Südstadt, vor dem sie bremste, präsentierte stolz seine unter Denkmalschutz stehende Gründerzeitfassade. Nora schlang ihr Kettenschloss durch den Rahmen ihres Fahrrads und um eine Laterne. Sie merkte, wie ihre Nervosität wuchs, während sie den Helm an ihren Rucksack klipste und dann über den Bürgersteig auf die Haustür zuging.

Der Schlüssel passte noch ins Türschloss. Natürlich, was hatte sie denn anderes erwartet? Mit einem Eisklotz im Magen betrat Nora das Treppenhaus und stieg Stufe um Stufe in die Höhe. Auf dem zweiten Treppenabsatz brach ihr der Schweiß aus. Sie war gerade so weit, umzudrehen und zurück nach Hause zu fahren, als die junge Nachbarin aus dem ersten Stock in schicken Stiefeln und Designermantel aus der Tür trat.

»Hallo«, grüßte sie mit einem höflichen Lächeln und ging an Nora vorbei nach unten.

»Hallo.« Noras Stimme klang so heiser, als hätte sie Schmirgelpapier im Rachen. Sie räusperte sich und stieg im gleichen Tempo weiter hoch. Was sollte die Nachbarin schließlich denken, wenn Nora jetzt mitten auf der Treppe wieder umdrehte? Einen Moment später stand sie vor Bens Wohnungstür.

Unschlüssig blieb Nora auf der Fußmatte stehen. Erst als sie einen weiteren Nachbarn im Treppenhaus unter sich hörte, gab sie sich einen Ruck und schloss auf.

Ben hatte sein winziges WG-Zimmer vor ein paar Jahren hauptsächlich deshalb gegen die schicke Altbauwohnung eingetauscht, weil er nicht mehr recht wusste, wohin sonst mit seinem stetig wachsenden Firmeninhabergehalt. Es war dunkel und stickig, als Nora eintrat und die Tür hinter sich zuzog. Die Vorhänge waren noch zugezogen und die fettfleckigen, leeren Pizzakartons auf dem Couchtisch sahen aus, als hätten sie sich über mehrere Abende dort angesammelt. In der Küche schwirrten Fruchtfliegen um überreife Bananen, und ein paar Teller stapelten sich in der Spüle. Trotz ihrer Anspannung konnte Nora ein ungläubiges kleines Schnauben nicht unterdrücken, als sie sah, dass auf der Induktionsplatte des sündhaft teuren Herds nach wie vor die Schutzfolie klebte, mit der er vor Jahren angeliefert worden war. Die Stühle um den Esstisch waren mit ungewaschenen T-Shirts und Pullovern behangen.

Noras Blick blieb an einer Flasche Gin auf der Anrichte hängen. In zwei leeren Gläsern daneben trockneten Gurkenscheiben vor sich hin. Sie dachte an das Bier auf der Party, das sie kaum angerührt hatte wie eine verdammte Zwölfjährige. Von plötzlichem Übermut gepackt griff Nora nach dem Gin, drehte den Deckel ab und trank einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. Angewidert verzog sie das Gesicht, als der Alkohol in ihrer Kehle brannte. Nora schüttelte sich. Dann drehte sie schnell den Deckel wieder drauf und stellte die Flasche zurück an ihren Platz. Ein wenig erschrocken über sich selbst, aber auch mit dem Gefühl, sich neuen Mut angetrunken zu haben, stahl sie sich auf leisen Sohlen durch den Flur zu Bens Arbeitszimmer.

Dort verharrte sie einen Moment lang in der Tür, da sie aus irgendeinem Grund das Licht nicht anmachen wollte und ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen mussten. Nach und nach konnte sie das Bücherregal ausmachen, in dem sich dicke Fantasy- und Science-Fiction-Schmöker aneinanderreihten, dann das Poster von The Last of Us an der Wand und den Schreibtisch. Auf Letzteren schlich sie zu und wusste nicht recht, ob sie dem Schicksal danken oder es verfluchen sollte, als der Laptop tatsächlich ordentlich an Ort und Stelle lag.

»Na gut«, murmelte sie. »Ich bin bis hier gekommen. Ich kann wenigstens einmal checken, ob das Passwort noch das alte ist.«

Nora stellte ihren Rucksack ab und klappte den Laptop auf. Während er hochfuhr, setzte sie sich auf den Schreibtischstuhl. Was würde sie tun, wenn sie jetzt auf einmal Bens Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte? Eine Gänsehaut kroch ihre Arme hoch. Doch alles blieb still.

Der Laptop war hochgefahren und verlangte nach einem Passwort. Sich mehr und mehr wie eine Verbrecherin fühlend, gab Nora ein: Nupsi0414#. Sie war sich selbst nicht sicher, was sie sich mehr wünschte: Dass es stimmte oder nicht. Bestimmt hatte er es noch mal geändert oder sie erinnerte sich nicht mehr richtig ...

Das Eingabefeld verschwand und wurde von dem Erscheinen des Desktops abgelöst. Nora wischte sich die schweißnassen Handflächen an der Jeans ab. Sie war drin.

»Okay«, sagte sie sich. »Okay, ganz ruhig.« Noch hatte sie einige Hürden zu nehmen.

»Er hätte mir ja auch einfach mal was sagen können«, sprach sie weiter mit sich selbst, während sie den Laptop nach einem installierten VPN-Client durchsuchte. »Hätte er mir nur den kleinsten Hinweis gegeben, wäre ich ja schon zufrieden gewesen.«

Die entsprechende Applikation war schnell gefunden und zeigte Nora beim Start brav die Zugangsdaten an, die Ben nutzte, um sich mit dem NerdPride-Intranet zu verbinden. Ihr Schlüssel zu den Servern – und zu Animus. Wenn sie Glück hatte.

Mit klammen Fingern holte Nora ihr Handy aus der Tasche und tippte die Zugangsdaten ab. Dann steckte sie es wieder ein und fuhr den Laptop runter, dessen erlöschender Bildschirm den Raum erneut in Dunkelheit tauchte.

Eine Stunde, bevor das Spiel beginnt

Noras ganzer Körper kribbelte mit einer Mischung aus Aufregung, Euphorie und schlechtem Gewissen, als sie zu Hause ankam. Leise und vorsichtig schloss sie die Tür auf, als wäre sie immer noch eine Einbrecherin. In der Diele begrüßten sie die Geräusche irgendeiner Fernsehsendung, die aus dem Wohnzimmer herüberklangen.

»Nora?«

Die Stimme ihres Vaters ließ Nora so heftig zusammenzucken, dass sie beinahe ihren Schlüsselbund fallen ließ. Einen Moment lang schloss sie die Augen, um sich zu sammeln. Dann warf sie einen sehnsuchtsvollen Blick zur Treppe, die rauf zu ihrem Zimmer und mit ein bisschen Glück in die virtuelle Welt von Animus führte. Stattdessen wandte sie sich zum Wohnzimmer. »Hi, Jojo.«

Joachim schaltete den Fernseher auf stumm, sobald Nora ins Zimmer trat. Er trug ein schlichtes graues T-Shirt, unter dem sich ein kleiner Bauch abzeichnete, und die graue Jogginghose, die er zum Feierabend gerne anzog, nachdem er sich aus seiner ölfleckigen Arbeitshose geschält hatte. »Na, wie war's auf der Party?«, fragte er nun und griff zu der Flasche Kölsch, die vor ihm nasse Abdrücke auf dem Beistelltischchen hinterlassen hatte.

Nora lehnte sich betont lässig an den Türrahmen, um ihre Anspannung zu verbergen. »Nett. Es gab Burger.«

»Wie geht's Ben?«

»Hab ihn nicht gesehen. Er musste arbeiten.«

»Während seiner eigenen Party?« Jojo schüttelte resigniert den Kopf. »Dieser Junge ...«

Der Gedanke an ihren Bruder weckte frische Gewissensbisse in Nora. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Wie war's in der Werkstatt heute?«

»Oh, ganz gut.« Joachim nahm einen Schluck von seinem Bier. »Da war dieser junge Kerl, der einen alten Golf 2 vorbeigebracht hat. Hatte wohl selbst versucht, die Zündkerzen und den Zündverteiler zu wechseln, und jetzt läuft der Motor nur noch auf drei Zylindern. Bei drei Werkstätten ist der gewesen und nur ausgelacht worden. Nach dem Motto: Wenn er schon selbst dran rumbastelt, soll er es auch allein auf die Kette kriegen. Armer Kerl.«

Nora verstand wie immer nur die Hälfte, aber sie kommentierte pflichtschuldig: »Okay. Und du hast ihm geholfen?«

»Klar. Ich find das doch super, wenn die jungen Leute noch an Autos rumschrauben. War wohl mal der Wagen von seinem Opa.« Joachim deutete auf den Fernseher: »Die bringen grade eine Dokumentation über Wikinger. Lust, mitzugucken?«

So gerne Nora normalerweise mit ihrem Vater zusammensaß – heute war daran nicht zu denken. Keine Sekunde länger würde sie sich davon abhalten lassen, Animus zu spielen. Sie bemühte sich um einen normalen und unverfänglichen Tonfall, während ihr Herz in ihrer Brust wummerte. »Nein, ich gehe lieber hoch in mein Zimmer und zocke noch ein bisschen, ja?«

»Wie du meinst. Aber nicht länger als bis zehn Uhr.« Joachim griff nach der Fernbedienung, und Nora stieg die Treppe hoch in den ersten Stock.

In ihrem Zimmer angekommen schloss sie die Tür und lehnte sich einen Moment lang von innen dagegen. Passierte das hier gerade wirklich? Die Vorstellung, dass sie eben in die Wohnung ihres Bruders eingebrochen war und gleich die Server von NerdPride nach den Testspielinstanzen von Animus durchsuchen würde, schien surreal und wahnsinnig. Nora wusste, dass sie eigentlich Scham empfinden müsste, aber stattdessen kribbelte sie vor Aufregung vom Kopf bis zu den Fußsohlen. Doch sie zwang sich zur Ruhe. Noch wusste sie nicht, ob sie die Spielinstanzen auf den NerdPride-Servern wirklich finden und starten können würde.

Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, durchquerte Nora den Raum, räumte ein paar Pullover und T-Shirts vom Schreibtischstuhl und schaltete ihren Tower-PC an.

Im Gegensatz zu Beas Zimmer war Noras geradezu vollgestopft. Jede Phase ihres Lebens hatte ihre Spur darin hinterlassen: von dem alten Kuschelhund über das Bücherregal, dessen Bretter sich unter Fantasy- und Science-Fiction-Schmökern bogen, über Kartons voller Comics unter ihrem Bett bis zu den Star-Wars-Postern an den Wänden. Es war ursprünglich Bens Zimmer gewesen, in das sie nach seinem Auszug hatte umziehen dürfen, weil es das Größere der beiden Kinderzimmer war. Ihr früheres, kleineres Zimmer mutete nun an wie eine abgespeckte Version von Bens altem Kinderzimmer, samt seinem alten Einzelbett, dem IKEA-Kleiderschrank voll halb vergessener T-Shirts und Schlafanzügen und einem Schreibtisch, dessen Schubladen vollgestopft waren mit Kram, den Ben weder hatte mitnehmen noch aussortieren wollen. Wenn Ben über Nacht zu Besuch kam, schlief er noch immer in diesem Zimmer. Das war allerdings schon länger nicht mehr vorgekommen. Vermutlich nicht mehr, seitdem die Veröffentlichung von Animus ihn in Atem hielt, wie Nora nun überlegte.

Sobald der Computer startklar war, installierte Nora einen VPN-Client und wählte sich mithilfe des Hostnamens und Passworts, das sie sich von Bens Laptop abgetippt hatte, in das Intranet von NerdPride ein. Nach nur wenigen Minuten lagen die Laufwerke der Firma offen vor ihr.

»Puh. Das war ... erstaunlich einfach.«

Doch der harte Teil kam jetzt.

Minutenlang klickte sich Nora durch die Ordner auf der Suche nach etwas, das die Testspielinstanzen sein könnten. Sie hatte keine Ahnung, wonach genau sie suchen musste und ob sie es erkennen würde, wenn sie es sah. Doch dann, nachdem sie unzählige Dokumente, Rechnungen oder andere rätselhafte Dateien gescannt hatte, die bestimmt nicht für ihre Augen gedacht waren, stieß sie auf Gold.

Mit wachsender Aufregung klickte sich Nora durch mehrere Laufwerke, in denen sie eine Reihe vielversprechender Dateien fand sowie ein README.txt, das genau erklärte, wie das Spiel installiert und gestartet werden konnte. Wenn sie das richtig sah, sollte es ihr möglich sein, alles komplett auf ihren Rechner rüberzukopieren und das Spiel lokal laufen zu lassen, unabhängig von den NerdPride-Servern.

Nora atmete laut aus und ließ sich gegen die Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls fallen. Der entscheidende Moment war gekommen. Sollte sie es tun?

»Ich meine, es schadet ja wirklich niemandem«, sagte sie laut, als gäbe es außer ihr noch jemanden im Raum, den sie überzeugen müsste. »Ich schaue mir das Spiel nur ein bisschen an ...«

Noch während sie sprach, kopierte Nora die Dateien. Ein Ladebalken erschien, der sich langsam, aber stetig füllte.

Wie ein Feuerwerk explodierte ein irrsinniger Drang in ihr, einen Freudenschrei auszustoßen oder übermütig durch ihr Zimmer zu tanzen. Nora biss sich fest auf die Unterlippe, um sich davon abzuhalten. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, dass Jojo etwas hörte, hochkam und sie erwischte. Stattdessen gab sie dem Bewegungsdrang nach, indem sie ihren Schreibtischstuhl und ihr Sitzkissen beiseiteräumte, um Platz zum Spielen zu schaffen.