Minna und die magische Stadt - Carina Zacharias - E-Book

Minna und die magische Stadt E-Book

Carina Zacharias

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Beschreibung

Handwerk ist MAGIE! Das 12-jährige Waisenmädchen Minna will nicht zaubern. Sie träumt davon, ein echtes Handwerk zu erlernen! Doch als sie ausgerechnet in der magischen Stadt eine Lehre beginnt, warten auf sie allerlei Verwicklungen und Abenteuer. Als Junge verkleidet gelingt es Minna tatsächlich, eine der begehrten Lehrstellen zu ergattern. Dumm nur, dass der mürrische Buchbinder, bei dem sie in die Lehre geht, nie wieder ein Buch binden will. Irgendetwas stimmt da nicht. Wird Minna es schaffen, hinter sein Geheimnis zu kommen? Was verbirgt sich in den dunklen Katakomben der verbotenen Unterstadt? Und was hat das alles mit dem alten Schlüssel zu tun, der einst ihren Eltern gehörte? Eine neue Fantasy-Welt voller Rätsel, Spannung und Magie!

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Carina Zacharias

Minna und die magische Stadt

Bibliografische Information der Deutschen National bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie unter: www.portal.dnb.de

1. Auflage, 2022

Copyright © Wunderhaus Verlag, Dresden

Lektorat: Carola Jürchott, Marianna Korsh

Korrekturlesen: Carola Jürchott, Hannah Koinig

Cover design, Satz & Layout: Marianna Korsh

Illustrationen im Buch: Carmen Wolff

Cover illustration: Assya Winn

www.wunderhaus-verlag.de

INHALT

Prolog

Die Stadt am Horizont

Minnas Entscheidung

Auf dem Weg zur magischen Stadt

Kontrolle am Stadttor

Der Buchbinder

Das Gesicht der Stadt

Unverschämtes Glück

Der Beschluss des Stadtamts

Der Rat des Bäckerlehrlings

Die tanzenden Schuhe

Das Geheimnis des Buchbinders

Zwei Diebinnen

Der Schlüssel

Unterstadt

Unerwartete Begegnung

Das verborgene Buch

Das Haus erinnert sich

Alles geht furchtbar schief

Der Bürgermeister

Der Plan

Der Spielzeugmacher

Der Uhrmacher

Der Hutmacher

Im Gefängnis

Die Magie der Bücher

Unerwartete Gäste

Eine Woche später

Danksagung

Prolog

Die Werkstatt war in Zwielicht getaucht. Das rötliche Morgenlicht drang nur schwach durch die zugezogenen Vorhänge. In der Mitte des Raums stand ein bärtiger Mann regungslos vor seiner Spindelpresse. Sein Blick war auf das Werkzeug gerichtet, mit seiner senkrechten Spindel, den beiden langen Griffen am oberen Ende und den zwei Platten am unteren. Er wartete.

Es klopfte an der Haustür. Ein lautes, herrisches Klopfen. Eine Männerstimme rief: „Ihre Zeit ist abgelaufen! Stellen Sie sich!“

Der Mann tat nichts dergleichen. Er drehte die Presse auseinander und nahm das Buch heraus, das zwischen den Platten eingeklemmt gewesen war. Es war so gut wie fertig, selbst der Titel war schon auf den Einband geprägt:

Er hatte die ganze Nacht lang daran gearbeitet.

Die Stimme rief wieder: „Wenn Sie nicht in zehn Sekunden an der Tür erscheinen, brechen wir sie auf und holen Sie gewaltsam heraus. Ich zähle herunter. Zehn!“

Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er trug das Buch zu seiner Werkbank hinüber und ergriff ein flaches, aus Knochen gefertigtes Werkzeug: ein Falzbein.

„Neun!“, rief die Stimme. „Acht. Sieben.“ Jemand machte sich geräuschvoll am Türschloss zu schaffen.

Der Mann setzte das Falzbein am Leder des Buches an.

„Sechs. Fünf.“

Es gab da eine Rille, eine Falte, wo Buchrücken und Buchdeckel ineinander übergingen. Diese fuhr der Mann nun mit dem Falzbein ab. Seine Bewegungen waren sicher und routiniert.

„Vier. Drei.“

Er drehte das Buch herum und wiederholte die Prozedur auf dem Buchrücken.

„Zwei. Eins!“

In diesem Moment legte der Meister sein Werkzeug beiseite. Das Buch war fertig.

Urplötzlich verstummten die Geräusche an der Tür. Keine wütende Stimme mehr, kein Klopfen, kein Aufbrechen des Schlosses. Der Mann atmete aus und die Anspannung wich aus seinem Körper.

Er schob das Buch in eine metallene Schatulle und schloss ihren Deckel mit einem leisen Klicken. Dann drehte er sich zu dem leeren Raum um. „Ich brauche einen sicheren Ort, um das zu verstecken“, sagte er zu dem Haus. „Kannst du mir dabei helfen?

Die Stadt am Horizont

Minna warf einen grimmigen Blick auf den wackligen Berg von Geschirr zu ihrer Linken. Blitzblank geputzt, türmten sich auf der Anrichte Teller, Untertassen, Gäbelchen und Schüsseln. Den halben Tag lang hatte sie gespült, gespült und noch mehr gespült. Jetzt waren ihre Hände schrumpelig wie Rosinen und die Schürze über ihrem Kleid nass und fleckig. Und noch immer stand sie auf dem kleinen Hocker, um die hohe Spüle zu erreichen, und hatte die Arme bis zu den Ellbogen im trüben Seifenwasser. Doch nicht mehr lange! Nur noch eine einzige dumme Tasse. Dann konnte sie endlich nach draußen zu Peppi. Ihr bester Freund hatte schon viel zu lange im Garten auf sie gewartet. Dabei war es doch sein Geburtstag und Minna hatte versprochen, ihm etwas Kuchen zu bringen. „Bin gleich da, Peppi“, sagte Minna leise zu sich selbst, während sie mit der Bürste über den Tassenrand fuhr. „Nicht mehr lange ... So, fertig!“

Mit dem Handrücken strich Minna sich eine hellbraune Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatte. Dann stellte sie sich vorsichtig auf die Zehenspitzen, um die letzte Tasse ganz oben auf dem Geschirrstapel abzustellen. Einen Moment lang kam alles ins Rutschen - um dann wieder liegen zu bleiben. Puh, noch mal Glück gehabt!

Minna riss sich die Schürze vom Körper und sprang von dem Hocker herunter. Nichts wie raus!

Da wehte ein fröhlicher Singsang durch den Flur bis in die Küche: „Miiinnaaa!“

Minna gefror mitten in der Bewegung. „Oh nein.“ Fieberhaft suchte sie nach einem Versteck - unter dem Tisch, im Küchenschrank, hinter dem geblümten Vorhang? Doch es war schon zu spät. In diesem Moment kam Olga in die Küche gewatschelt und riss Minna dabei mit ihrem ausladenden Hinterteil beinahe von den Füßen.

Erschrocken schnappte Olga nach Luft und spähte an dem voll beladenen Tablett vorbei, das sie in den Händen trug. „Was stehst du denn hier im Weg herum?“

Minna biss sich auf die Unterlippe. Jetzt bloß kein falsches Wort oder sie käme heute gar nicht mehr nach draußen. Voll böser Vorahnungen beäugte Minna das schmutzige Geschirr auf dem Tablett in Olgas Händen.

Schnaufend und mit wehenden Rockschößen durchquerte diese die Küche. Sie schüttete das schmutzige Geschirr in das Spülbecken, dass das Wasser nur so spritzte. Dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich zu Minna um. „Worauf wartest du? Das spült sich nicht von allein.“

Minnas Herz sank. „Ich dachte ...“

„Du sollst nicht so viel denken. Sieh dir das nur an.“ Das spritzende Spülwasser hatte einen nassen Fleck auf Olgas Kleid hinterlassen. „Das passiert, wenn du nicht rechtzeitig den Tisch abräumst. Wir haben Gäste, Minna!“

Ja, das konnte sie hören. Lautes Gelächter und Stimmengewirr schallten aus dem Esszimmer herüber. Dort wurde Kuchen gegessen und Tee getrunken, während sie die ganze Arbeit hatte. Wütend ballte Minna die Hände zu Fäusten.

Da betrat Olgas Schwester Irma die Küche. Sie war weniger dick als Olga, hatte aber die gleichen kleinen, fiesen Augen. Diese Augen leuchteten nun fröhlich, während sie säuselte: „Du hast etwas vergessen, Olga.“ Ihr Blick fiel auf Minna und sie zwinkerte ihr zu. „Wir hatten Minna doch ein Stück Kuchen versprochen, wenn sie mit dem Spülen fertig ist.“

Erst jetzt fiel Minna der Teller auf, den Irma in der Hand hielt. Darauf balancierte das dünnste Scheibchen Schokoladenkuchen, das Minna je gesehen hatte. Beinahe konnte man hindurchschauen, so dünn war es. Doch es war besser als gar nichts. Minna wollte den Teller entgegennehmen, aber Irma zog ihn zurück.

„Na, na, na“, tadelte sie und warf einen vielsagenden Blick auf das schmutzige Geschirr in der Spüle, das Olga dort abgeladen hatte. „Wie ich sehe, bist du noch nicht fertig.“

Minna sperrte ungläubig den Mund auf. Dann konnte sie sich nicht länger beherrschen und stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Wie soll ich denn jemals fertig werden, wenn immer mehr dreckiges Zeug nachkommt?“

Sofort erkannte sie ihren Fehler. Irmas Gesicht verfinsterte sich und Olga stieß etwas aus, das beinahe wie ein Knurren klang.

„Hast du das gehört, Olga?“, fragte Irma ihre Schwester.

„Und ob ich das gehört habe, Irma.“

„Wir bringen ihr Schokoladenkuchen - und das ist der Dank?“

„Sie war schon immer eine undankbare Göre.“

Minna konnte nur mühsam ein Stöhnen unterdrücken. Sie wusste genau, was jetzt kommen würde.

„Wir haben dich in unser Heim aufgenommen“, rief Olga theatralisch, „und wie unser eigen Fleisch und Blut großgezogen.“

„Nichts als Ärger und Kosten hatten wir“, ergänzte Irma mit Leidensmiene. „Doch wir konnten nicht anders. Wir sind einfach zu gutherzig und selbstlos.“

Minna hätte den Text mitsprechen können, so gut kannte sie diese alte Leier. Und wie immer musste sie sich auf die Zunge beißen, um nicht zu widersprechen. Olga und Irma hätten sie nie freiwillig aufgenommen. Es war Frieda, die jüngste der drei Schwestern, die Minna großgezogen hatte, bis sie sieben Jahre alt gewesen war.

„Damals“, nahm Olga den Erzählfaden auf, „an jenem regnerischen Abend, als deine Eltern in unserem Dörfchen eine Unterkunft für die Nacht brauchten, haben wir sie aufgenommen.“

Ja, aber nur, weil sie für das Zimmer teuer bezahlt haben, dachte Minna bei sich.

„Mit dabei hatten sie dich, ein wenige Monate altes Baby“, ergänzte Irma. „Und am nächsten Morgen waren sie spurlos verschwunden. Ohne eine Nachricht, ohne irgendeinen Hinweis.“

„Nur du warst noch da“, schloss Olga. „Lagst schreiend im Bettchen. Doch deine Eltern ließen sich nie wieder blicken. So blieb uns nichts anderes übrig, als dich großzuziehen und durchzufüttern.“

Minna schwieg noch immer, den Blick auf ihre Schuhe gerichtet. Egal, wie oft die beiden Schwestern diese alte Geschichte erzählten, jedes Mal schnürte es ihr wieder ein wenig die Luft ab. Minna wusste nicht, wer ihre Eltern waren oder warum sie so plötzlich verschwunden waren. Sie wusste nur, dass Frieda damals Mitleid mit dem schreienden Bündel gehabt hatte. Sie hatte ihre älteren Schwestern überredet, das elternlose Kind aufzunehmen und großzuziehen. Und das hatte sie getan, liebevoll und mit Hingabe. Bis zu Minnas siebtem Lebensjahr, als Frieda sich eine schwere Grippe eingefangen hatte und gestorben war.

Minna hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an Frieda. Es waren vor allem Gefühle, Gerüche und Klänge, die ihr im Gedächtnis geblieben waren. Ihre festen und warmen Umarmungen. Ihre Stimme, wenn sie ihr abends Gutenachtgeschichten vorgelesen hatte. Oder das Gefühl des weichen Stofftaschentuchs an ihren Wangen, wenn sie Minnas Tränen trocknete.

Minna blendete das Zetern der beiden Schwestern aus, während sie ihren eigenen Gedanken nachhing. Sie glaubte nicht, dass Olga und Irma sich je für sie interessiert hatten, als ihre jüngere Schwester noch lebte. Doch seit Friedas Tod sorgten die beiden dafür, dass Minna tagein tagaus nichts anderes tat als zu putzen, zu spülen und Wäsche zu waschen.

Früher, und die Erinnerung versetzte Minna einen Stich in die Brust, hatte sie noch darauf gehofft, dass ihre Eltern zurückkommen und sie holen würden. Doch mit jedem Jahr, das verging, wurde ihre Hoffnung darauf ein wenig kleiner. Minna war jetzt zwölf - ihre Hoffnung war schon viele Male kleiner geworden. Plötzlich fragte sie sich, wie lange eine Hoffnung schrumpfen konnte, ehe nichts mehr von ihr übrig blieb.

„Also ...“ Irma stellte das hauchdünne Stück Schokoladenkuchen auf dem Tisch ab. „Das hier kannst du essen, wenn du mit dem Spülen fertig bist.“ Damit stolzierte sie aus dem Zimmer.

„Und fertig heißt fertig“, ergänzte Olga wichtigtuerisch. Sie folgte ihrer Schwester und schlug so schwungvoll die Tür hinter sich zu, dass ein unheilvolles Scheppern erklang. Voller Schreck fuhr Minna herum. Doch sie konnte nichts mehr tun: Der riesige Berg von Geschirr war wie eine Lawine ins Rollen gekommen und ergoss sich auf den Dielenboden, wo ein Stück nach dem anderen in unzählige Scherben zersprang. Hilflos sah Minna zu. Erst als die letzte Untertasse über den Boden gerollt und umgekippt war, bemerkte sie, dass sie sich die Ohren zuhielt. Langsam ließ sie die Hände sinken.

Sie bereute es schon im nächsten Moment, als Olga, die die Tür wieder geöffnet und ihren knallroten Kopf hereingestreckt hatte, aus vollem Halse schrie: „Was hast du getan? Das wird teuer, kleines Fräulein. Um das Geld für neues Geschirr zu sparen, wirst du bis zu deinem 20. Geburtstag nichts als Haferschleim essen. Und räum das gefälligst auf! Oh, dieses Mädchen ... Womit haben wir das nur verdient?“ Jammernd zog sie die Tür wieder hinter sich zu. Danach schien es auf einmal sehr still zu sein in der Küche. Nur an der Spüle tropfte der Wasserhahn, als würde er weinen.

Minna stand lange bewegungslos da, den Blick auf das Fenster gerichtet. Dahinter lag der Garten, wo sie sich in einer versteckten, von Büschen umgebenen Ecke mit Peppi verabredet hatte. Ein Entschluss reifte in ihrem Kopf: Keinen einzigen Teelöffel würde sie an diesem Tag mehr spülen!

Vorsichtig nahm Minna den Kuchenteller, stieg über die Scherben und kletterte auf die Anrichte. Von dort konnte sie das Fenster öffnen und hinausspähen. Laue Sommerluft wehte ihr entgegen. Es war nicht hoch, nur ein kleiner Sprung trennte sie von dem Gras unter ihr. Minna lauschte. In der Ferne war Gelächter zu hören. Doch die Fenster des Esszimmers, wo Olga, Irma, und ihre Gäste schmausten, wiesen zur Straße auf der anderen Seite des Hauses, nicht zum Garten. Ein Rotkehlchen sang und der Abend dämmerte bereits. Es war später, als Minna gedacht hatte. Doch die Luft war rein. Mit einem vorsichtigen Sprung war sie im Freien, den Kuchenteller fest im Griff. So schnell sie konnte, lief sie durch das hohe Gras. Mehrmals schaute sie dabei über die Schulter, doch niemand schien ihre Flucht bemerkt zu haben. Sie duckte sich hinter einen Komposthaufen und krabbelte auf allen vieren unter einem Haselnussstrauch hindurch, den Kuchenteller vorsichtig vor sich her schiebend. So gelangte sie in ihr von Hasel- und Brombeersträuchern umstandenes Geheimversteck in der hintersten Ecke des Gartens. Hier traf sie für gewöhnlich auf Peppi.

Doch Peppi war nicht da.

„Peppi?“, rief Minna leise. „Peppi, wo bist du?“

Keine Antwort. Nur die Blätter wisperten im Abendwind.

Minna setzte sich ins Gras und starrte ins Leere. War sie zu spät gekommen? Hatte sie ihn zu lange warten lassen?

Ein Rascheln ließ sie aufhorchen. Ein spitzes Schnäuzchen schob sich aus dem dichten Gebüsch in das Halbdunkel ihres Verstecks, gefolgt von zwei schwarzen Knopfaugen. Die Schnauze schnüffelte prüfend. Dann trippelte auch der Rest des Igelkörpers ins Freie.

„Hallo, Peppi!“, begrüßte Minna ihn überglücklich. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.“

Peppi schien es ihr nicht übel zu nehmen. Er hatte den Kuchen bereits entdeckt und schnupperte neugierig daran.

„Ich weiß, es ist nicht viel ...“, sagte Minna entschuldigend. Doch der Kuchen schien ohnehin nicht nach Peppis Geschmack zu sein. Er fand stattdessen eine Nacktschnecke im Gras, die er schmatzend zerkaute. Minna verzog angeekelt das Gesicht. „Schokoladenkuchen ist wohl nichts für Igel? Na ja, dann trotzdem guten Appetit.“ Sie biss von dem Kuchenstück ab und ließ es so langsam wie möglich auf der Zunge zergehen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Peppi“, flüsterte sie dem Igel zu.

Minna wusste natürlich, dass normale Kinder keinen Igel als besten Freund hatten. Sie hatten andere Kinder als beste Freunde. Minna hingegen hatte nie Zeit gehabt, Freundschaften mit anderen Kindern zu schließen. Dafür war sie immer viel zu beschäftigt damit, den Haushalt in Ordnung zu halten. Olga und Irma verdienten ihr Geld nämlich damit, Zimmer an Reisende zu vermieten. Oft waren das Händler, die auf dem Weg zu der magischen Stadt durch ihr kleines Dörfchen reisten. Manchmal kamen die Männer und Frauen auch gerade aus der Stadt zurück, die Taschen voller wunderlicher magischer Dinge, die sie dort gekauft hatten. So oder so kamen sie alle durch ihr Dorf und suchten eine Unterkunft für eine Nacht, ehe sie weiterreisten. In Olgas und Irmas großem Haus waren mehr als genug Zimmer, die sie Durchreisenden anbieten konnten. Doch seitdem Minna alt genug war, um die Hausarbeit zu erledigen, hatte keine von beiden je wieder einen Finger gerührt, um Staub zu wischen, Teppiche auszuklopfen oder Fenster zu putzen. Das konnte schließlich Minna machen.

Manchmal sah Minna die Kinder aus dem Dorf in den Straßen Seil springen oder Fußball spielen, während sie Zimmerpflanzen goss oder die Bettwäsche lüftete. Ob sie überhaupt wussten, dass Minna existierte? Minna seufzte. Wahrscheinlich nicht.

„Aber dafür habe ich ja dich, Peppi.“

Peppis Schmatzen klang, als wollte er ihr zustimmen. Der Igel nahm ihr nicht übel, dass sie nicht viel Zeit hatte. Er freute sich, dass sie ihn im Garten wohnen ließ und ihm ab und zu etwas Essen vorbeibrachte. Wann immer sie sich davonstehlen konnte, kam Minna nach draußen und redete mit ihm. Manchmal wirkte es fast, als würde er sie verstehen. Doch antworten konnte er natürlich nicht. Deswegen hatte er ihr auch nicht sagen können, wann sein Geburtstag war. Minna hatte einfach beschlossen, dass es heute sein sollte.

Zufrieden beobachtete sie, wie Peppi das Gras rund um ihre Füße nach weiteren Insekten absuchte. Dann wandte sie sich ab und schob einen bestimmten Ast in der Hecke beiseite. Eine Lücke entstand, durch die sie schon unzählige Male zuvor geschaut hatte.

„Da liegt sie, Peppi“, hauchte Minna. „Die magische Stadt.“

Das Haus von Olga und Irma lag ganz am Rande des Dorfes, sodass Minna durch die Zweige der Hecke über die Felder und den Wald bis zu dem Hügel blicken konnte, auf dem die berüchtigte Stadt lag.

„Man sagt, die Handwerker dort stellen magische Dinge her, Peppi.“ Minnas Herz schlug höher. „Und eines Tages bin ich eine von ihnen!“

Der Igel durchkämmte mit seiner Schnauze die Grashalme. Er schien nicht sehr interessiert und Minna konnte es ihm noch nicht einmal übel nehmen. Sie hatte ihm schon Hunderte Male von der Stadt erzählt und von ihrem Traum, dort ein Handwerk zu erlernen. Sehnsüchtig betrachtete sie die dunklen Silhouetten der weit entfernten Türme und Häuser, die sich gegen den Abendhimmel abzeichneten. Dort reisten all die Männer und Frauen hin, die sich bei Olga und Irma für eine Nacht ein Zimmer mieteten. Wenn sie über die Stadt redeten, sperrte Minna die Ohren auf und saugte begierig alles auf, was sie mithören konnte. Doch dort gewesen war sie noch nie. Sie war überhaupt noch nie aus diesem Dorf herausgekommen.

„Erst letztens hat mir ein Mann Stiefel gezeigt, die er dort gekauft hatte. Hast du das gesehen, Peppi? Es war hier im Garten. Als er die Stiefel angezogen hatte, ist er meterhoch gesprungen. Und immer, wenn er wieder auf dem Boden landete, sprang er das nächste Mal ein bisschen höher. Bis er schließlich über das ganze Haus bis auf die Straße sprang! Auf einmal war er weg - hops, hops, hops ist er über die Dächer davongehüpft und aus dem Dorf hinaus. Dabei hatte er noch nicht mal die Miete gezahlt. Olga und Irma waren stinksauer. Aber ich glaube, es war gar keine Absicht. Er wusste einfach nicht mehr, wie er anhalten sollte.“ Minna kicherte.

Peppi antwortete nicht, aber Minna sah ihm an, dass er ganz genau zuhörte. Sie warf einen weiteren sehnsüchtigen Blick durch die Hecke auf die Stadt in der Ferne. Dabei spielte sie gedankenverloren mit dem Wollfaden, den sie um den Hals trug. An dem Faden hing ein bronzener Schlüssel, den sie nun unter ihrem Kleid hervorzog und betrachtete. Dieser Schlüssel gehörte zu den wenigen Dingen, die ihre Eltern damals zurückgelassen hatten. Außer ihm war da nur noch ein alter Koffer mit Kleidern und eine kaputte Taschenuhr gewesen. Und natürlich Minna selbst.

Den Schlüssel trug Minna jeden Tag bei sich. Liebevoll strich sie nun mit dem Daumen über seinen kunstvoll verzierten Griff, der ein aufgeschlagenes Buch darstellte. Sie hatte keine Ahnung, zu welchem Schloss er passte. Aber sie mochte den Gedanken, dass ihre Eltern ihn einst in den Händen gehalten hatten.

Olga und Irma meinten, ihre Eltern wollten Minna loswerden und hatten sie deswegen zurückgelassen und sich davongemacht. Doch das glaubte Minna nicht. Irgendetwas war damals passiert. Sie musste nur herausfinden, was.

„Eines Tages, Peppi“, sagte Minna zum tausendsten Mal, „werde ich von hier fortgehen, in die Stadt reisen und eine magische Handwerkerin werden. Und vielleicht finde ich irgendwann sogar heraus, wer meine Eltern waren und was mit ihnen passiert ist.“

Ihr Traumbild zersprang in schillernde Scherben, als Irmas schriller Schrei die Luft durchdrang. „Was ist das denn? Ungeziefer in unserem Garten!“

Minna fuhr herum. Sie war so in ihrer Traumwelt gefangen gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie Olga und Irma sich ihrem Versteck genähert hatten. Nun standen sie mit grimmigen Mienen über ihr und Irma deutete mit einem zitternden Finger auf Peppi. Der Igel rollte sich blitzschnell zu einer Kugel zusammen und bewegte sich nicht mehr.

„Das kommt dabei heraus“, dröhnte Olga, „wenn man den Garten so verwildern lässt. Morgen wirst du den Rasen mähen, die Hecken schneiden und Unkraut jäten, Minna. Und glaube ja nicht, du kommst damit weg, all die Scherben in der Küche zu verteilen und dich dann davonzustehlen. Das wird noch ein Nachspiel haben. Aber erst einmal kommt dieses Ungeziefer hier weg.“

Minna blinzelte. „Ungeziefer?“ Dann verstand sie und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. „Ihr meint Peppi? Aber wo soll er denn hin?“

„Na, wie wäre es mit ...“ Kurz schien Olga nach der richtigen Antwort zu suchen. Dann stahl sich ein böses Lächeln auf ihre Lippen. „Dem Kochtopf? Ich wette, das Ding würde ein passables Ragout abgeben.“

Minna sah sie ungläubig an. „Ragout?“, krächzte sie.

„Wunderbare Idee!“ Irma schnippte ungeduldig mit den Fingern. „Dann ist es wenigstens noch für etwas gut. Also, worauf wartest du, junge Dame? Oder soll ich ihn selbst in die Küche bringen und ihm den Hals umdrehen?“

„Nein!“, rief Minna entsetzt. „Ich ... ich erledige das schon!“ Schnell beugte sie sich schützend über ihren stachligen kleinen Freund. „Keine Angst“, flüsterte sie. „Es wird alles gut.“ Dabei hatte sie keine Ahnung, ob das stimmte.

Behutsam schob sie ihre Hände unter Peppi, der nach wie vor zu einer Kugel zusammengerollt war. Dadurch standen seine Stacheln spitz in alle Richtungen ab. Doch Minna war so vorsichtig, dass es gar nicht richtig wehtat. Peppi rührte sich nicht, während Minna ihn hochhob und sich durch das Gebüsch kämpfte. Mit gesenktem Kopf ging sie durch den abendlichen

Garten und spürte Olgas und Irmas Blicke im Nacken. Erst nachdem sie durch die Hintertür ins Haus geschlüpft war, hob sie den Kopf und atmete durch.

„Keine Sorge“, flüsterte Minna dem eingerollten Igel in ihren Händen zu. „Ich werde nicht zulassen, dass sie Ragout aus dir machen.“ Peppi entrollte sich so weit, dass er die Schnauze herausstrecken und sie fragend ansehen konnte. Doch Minna hatte jetzt keine Zeit für Erklärungen. Sie huschte durch den Flur in die Küche, während sie fieberhaft nach einer Lösung suchte.

Minnas Entscheidung

Der Küchenboden war noch immer von Scherben übersät. Minna trat vorsichtig auf und spürte die scharfen Kanten durch die dünnen Sohlen ihrer abgetragenen Schuhe. Sie drückte die Tür hinter sich zu und setzte Peppi auf dem Tisch ab. Der Igel sah sich schnuppernd um und schien verwirrt von dem plötzlichen Ortswechsel.

„Nicht runterfallen!“, mahnte Minna. „Wir müssen dich irgendwie in Sicherheit bringen. Vielleicht kann ich dich auf mein Zimmer schmuggeln. Und heute Nacht, wenn die Schwestern schlafen, schleiche ich mich raus und bringe dich in den Wald ...“ Sie verstummte, als sie Olgas und Irmas Schritte im Flur hörte.

„Diese Göre“, hörte sie Olgas schimpfende Stimme durch die Küchentür. „Ich habe es immer schon gesagt, Frieda hat sie verhätschelt. Da kann unser guter Einfluss nichts mehr ausrichten. Was in den ersten Lebensjahren verdorben wurde ...“

„Oh ja“, pflichtete Irma ihrer Schwester bei. „Wir hätten Frieda ohnehin niemals erlauben dürfen, sie zu behalten. Wir hätten sie zurückschicken sollen.“

„Zurückschicken?“, fragte Olga. „Aber wohin?“

„Na, zur magischen Stadt, wo ihre Eltern herkamen.“

Minna stockte der Atem. Sie riss die Augen auf.

„Aber wir hatten keine genaue Adresse“, wandte Olga ein. „Niemand hätte sie haben wollen.“

Irma seufzte. „Wie wahr .“

Ihre Stimmen wurden leiser, während sie sich den Flur entlang entfernten.

Minna stand bewegungslos in der stillen Küche und starrte auf die Tür, ohne etwas zu sehen. „Peppi“, flüsterte sie. „Sie kamen aus der magischen Stadt. Meine Eltern ...“ Ein Kloß in ihrem Hals erstickte ihre Stimme. Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf die magische Stadt am Horizont geblickt und sich dorthin geträumt. Und hatte nie gewusst, dass ihre Eltern von dort gekommen waren. In diesem Moment verbanden sich die beiden größten Wünsche in Minnas Herzen zu einem und gaben ihrem Sehnen eine Richtung. Auf einmal wusste Minna ganz genau, was sie zu tun hatte.

Ohne ein weiteres Wort nahm sie Peppi in die Hände und stürmte, so schnell und so leise sie konnte, auf ihr Zimmer.

Eigentlich war es eher eine Abstellkammer als ein Zimmer. Putzeimer, Besen und Regale voller Staubwedel, Putzmittel und Lappen nahmen den größten Teil des winzigen Raums ein. Der einzige Platz, der wirklich Minna gehörte, war das Bett in der hinteren linken Ecke. Minna drückte die Zimmertür leise hinter sich ins Schloss und setzte Peppi auf den Boden. Dann zog sie den alten Lederkoffer ihrer Eltern unter ihrem Bett hervor.

„Wir hauen ab!“, eröffn ete sie dem Igel, während sie die Schnallen aufspringen ließ. „Ich kann nicht glauben, dass sie das all die Jahre vor mir geheim gehalten haben. Oder vielleicht haben sie es noch nicht einmal absichtlich geheim gehalten. Vielleicht haben sie einfach nie einen Gedanken daran verschwendet, es mir zu erzählen.“ Heiße Wut stieg in Minna auf und sie riss den Deckel des Koffers heftiger auf, als nötig gewesen wäre. „Ich muss nur noch ein paar Sachen packen und dann sind wir beide auf und davon. Ich setze dich im Wald ab und du kannst ein glückliches Igelleben führen, weit weg von Olga und Irma. Und ich ...“ Minna hielt kurz inne. Ihre Wut verschwand unter einem warmen Glücksgefühl und ihr Blick verklärte sich. „Ich gehe zur magischen Stadt!“

Ein grummeliges Geräusch von Peppi riss Minna aus ihren Träumereien. „Du hast ja recht. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Vor allem dürfen Olga und Irma nichts merken.“ Minna sah auf die alten Sachen ihrer Eltern im Inneren des Koffers. Sie kannte jedes einzelne Teil auswendig, von den Röcken und Hemden über die Reserveknöpfe bis hin zu der alten Taschenuhr, die immer nur rückwärts lief. Minna wühlte zwischen den Kleidern, bis sie das kalte, runde Gehäuse der Uhr in der Hand spürte. Sie ließ den Deckel aufspringen. Dann runzelte sie die Stirn.

„Merkwürdig“, sagte sie. „Die Uhrenzeiger. Sie springen! Vor und zurück, vor und zurück. Dabei laufen sie sonst immer rückwärts.“ Minnas Augen gingen hin und her, während sie das sonderbare Verhalten der Zeiger beobachtete. Dann riss sie sich von dem Anblick los und schloss den Deckel mit einem leisen Klicken. Sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken.

„Die Uhr nehme ich mit“, murmelte sie. „Als Andenken. Den Schlüssel sowieso.“ Sie fasste an die Stelle, wo der Schlüssel unter ihrem Kleid auf ihrer Haut lag. Nach kurzem Zögern packte sie noch ein kleines Näh-Etui mit Schere, Nadel und Faden ein. Das konnte man immer gebrauchen. Doch sie wusste, dass sie nicht zu viel einstecken durfte, denn sie würde weit gehen und alles tragen müssen. Ihre Kleider lagen ordentlich gefaltet in einem alten Pappkarton. Minna entschied sich für ein Paar Strümpfe, etwas Unterwäsche und ihr einziges, braunes Wechselkleid. Genau wie dasjenige, das sie gerade trug, hatte es früher Irma gehört und war ihr viel zu groß. Sie hatte den Saum zigmal umnähen müssen, damit er nicht über

den Boden schleifte, und die Ärmel krempelte sie auf. Beide Kleider waren alt, hässlich und Hunderte Male geflickt, doch etwas Besseres hatte sie nicht. Die Sachen ihrer Mutter aus dem Koffer anzuziehen, kam ihr wie ein Frevel vor. Sie hatte sich noch nie dazu überwinden können. Trotzdem tat es Minna im Herzen weh, den Koffer zurücklassen zu müssen. Ehe sie noch länger darüber nachdenken konnte, schloss sie ihn und schob ihn zurück unter ihr Bett. „Es sind nur Dinge“, sagte sie sich. „Sie bringen meine Eltern nicht zurück.“

Dann stand sie auf und sah auf Peppi herunter. Der Igel saß auf dem schmalen Fleckchen freien Holzbodens zwischen Bett und Putzregal wie bestellt und nicht abgeholt. „Pass auf. Ich habe folgenden Plan.“ Minna sprach leise, damit nur Peppi sie hören konnte. „Erst werde ich die blöden Scherben wegräumen und dabei Brot und Obst als Proviant aus der Küche stibitzen. Du bleibst währenddessen hier in meinem Zimmer und gibst keinen Mucks von dir. Heute Nacht versuchen wir, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Und bei Sonnenaufgang, während Olga und Irma noch tief und fest schlafen, gehen wir los.“ Minna atmete tief durch. „Alles klar?“

Peppis Blick war nicht anzusehen, ob er einverstanden war oder sie für verrückt hielt. Minna entschied sich, von Ersterem auszugehen. Sie schluckte ihre Nervosität hinunter.

„Also gut. Dann ist es beschlossen.“

◉ ◊ ◉

Vorerst lief alles genau nach Minnas Plan. Olgas dröhnendes Schnarchen brachte bereits das Haus zum Beben, während Minna die letzten Scherben in den Mülleimer kehrte und sich ein Bündel mit den wenigen Dingen band, die sie mitnehmen wollte. Sie legte sich angezogen ins Bett und wälzte sich die halbe Nacht herum. Vor Aufregung tat sie kaum ein Auge zu. Irgendwann fiel sie dann doch in einen leichten Schlaf, aus dem sie von den ersten goldenen Sonnenstrahlen geweckt wurde, die durch ihr Fenster fielen. Sofort war Minna hellwach und schwang die Füße aus dem Bett.

„Au! Oh, Entschuldigung, Peppi.“ Minna rieb sich den Fuß, den sie beinahe auf Peppi abgesetzt hatte. Zum Glück waren seine Stacheln nicht aufgestellt gewesen und hatten sie nur ein wenig in den großen Zeh gepikst. Der Igel grummelte.

„Psst, ist ja gut. Ich hoffe bloß, ich habe die Schwestern nicht geweckt.“ Angstvoll lauschte Minna. Doch schon im nächsten Moment donnerte ein weiterer Schnarcher von Olga durchs Haus und sie atmete auf.

„Dann also los!“

Minna kam sich vor wie in einem Traum, als sie ihre Schuhe schnürte, ihr Bündel schulterte und Peppi auf die Hand nahm. Tat sie das gerade wirklich? Oder würde sie morgen früh aufwachen und wieder in ihrem Bett liegen?

Leise und wachsam wie eine Katze schlich Minna die Treppe hinunter. Sie wusste genau, über welche Stufen sie hinwegsteigen musste, weil sie fürchterlich knarzten. Im nächsten Moment hatte sie auch schon die Haustür geöffnet und stand in der frischen Luft des Sommermorgens. Ihre Finger zitterten ein klein wenig, als sie mit einem leisen Klicken die Haustür hinter sich schloss.

Minna verharrte. Jede Faser ihres Körpers rechnete damit, gleich Olgas bellende Stimme oder einen schrillen Schrei von Irma zu hören.

Doch alles blieb ruhig.

Bis plötzlich ein lautes Klingeln die Stille durchschnitt.

Minna sprang vor Schreck in die Luft. Etwas flog auf sie zu und landete vor ihren Füßen. Minnas Verstand schlug panisch Purzelbäume, ehe sie erkannte, was es war: Die Zeitung.

„Guten Morgen!“, rief der Zeitungsbote ihr von seinem Fahrrad aus zu. Dann war er auch schon an ihr vorbeigeradelt.

„M-Morgen“, stotterte Minna reichlich verspätet. Sie holte zittrig Atem. Mit wackligen Knien stieg sie die drei Treppenstufen vom Türabsatz zur Straße hinunter. Die Zeitung ließ sie liegen, wo sie war.

Peppi auf den flachen Händen vor dem Körper tragend, ging Minna die Straße entlang. Um sie herum erwachte das Dorf. Menschen hängten die Bettwäsche zum Lüften aus dem Fenster oder traten in Pantoffeln vor die Haustür, um die Zeitung hereinzuholen. Minna spürte ihre Blicke, doch sie sah stur geradeaus und ging immer weiter. Und weiter. Bis dorthin, wo das Dorf aufhörte und der Wald begann. Erst hier blieb sie stehen und erlaubte sich einen letzten Blick zurück.

Doch ihr altes Zuhause war bereits hinter anderen Häusern verborgen und nicht mehr zu sehen. Ein kleiner Tropfen Wehmut mischte sich unter Minnas Aufregung, als sie daran dachte, dass es nicht nur das Heim von Olga und Irma, sondern auch das von Frieda gewesen war. Der Ort, wo sie zusammen gespielt und gelacht und Märchen gelesen hatten. Doch dann straffte sie die Schultern und wandte sich ab. Frieda hätte bestimmt gewollt, dass Minna sich aufmachte und ihr Glück suchte. Mit diesem Gedanken verließ Minna die Straße und bog in den Waldweg ein.

Obwohl die Sonne bereits aufgegangen war, herrschte unter dem Blätterdach des Waldes noch ein schattiges Zwielicht. Minna wusste, dass sie schnell sein musste, damit Olga und Irma sie nicht mehr einholen konnten. Doch bei dem Gedanken daran, dass sie Peppi irgendwo hier zurücklassen musste, wurden ihre Schritte immer langsamer und langsamer.

„Es ist zu deinem Besten“, erklärte sie dem Igel, der nach wie vor in ihren Händen saß. Minna konnte seine kleinen Pfötchen auf ihren Handtellern spüren. Er drehte sich zu ihr herum und sah sie so fragend an, dass Minna seinem Blick ausweichen musste. „Nein, Peppi. Dorthin, wohin ich gehe, kann ich dich nicht mitnehmen.“

Minna hielt nach einem Platz Ausschau, an dem sie Peppi absetzen konnte. Doch nichts schien ihr gut genug. „Unter diesen Baum? Nein, es ist viel zu feucht und ungemütlich hier. Oder in diesem Laubhaufen? Nein, da finden wir noch etwas Besseres.“

Es war kein besonders großer Wald und irgendwann begannen die Bäume sich zu lichten. Minna wurde klar, dass sie die Entscheidung nicht länger aufschieben konnte.

Sie hockte sich hin und setzte Peppi auf etwas Moos am Wegesrand ab. Der Igel sah mit seinen schwarzen Knopfaugen zu ihr hoch.

Minna schluckte. „Du wirst dich hier sicher bald wohl fühlen und viele Igelfreunde finden.“ Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die feuchten Augen. „Leb wohl, Peppi.“

Damit wandte sie sich um und stürzte weiter. Doch nach wenigen Schritten konnte sie sich nicht länger beherrschen. Sie blickte über die Schulter zurück. Peppi saß noch immer dort, wo sie ihn abgesetzt hatte, und sah ihr nach.

Als sich Minna diesmal wieder abwandte, verschleierten Tränen ihr die Sicht. Ärgerlich blinzelte sie sie fort. Doch der Anblick, der sich ihr daraufhin bot, ließ sie strauchelnd zum Stehen kommen.

Ganz plötzlich waren die letzten Bäume hinter ihr zurückgeblieben. Sie gaben den Blick frei auf einen ungepflasterten Weg, der sich zwischen Weiden und Äckern durch flaches Land schlängelte. Dahinter lag ein Berg und auf dem Berg lag sie: die magische Stadt.

Minna schob den Riemen ihres Beutels höher auf die Schulter und wischte sich die Nase an ihrem Ärmel ab. Dann ging sie weiter, ihr Ziel fest im Blick.

Auf dem Weg zur magischen Stadt

Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Der Himmel war strahlend blau und ein leichter Wind raschelte in den Weizenfeldern. Rote Mohn- und blaue Kornblumen säumten den Wegrand und irgendwo sang unermüdlich eine Feldlerche.

Doch Minna hatte dafür kein Auge. Gehetzt setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie lief, so schnell es irgend ging, ohne zu rennen. Dabei sah sie immer wieder über die Schulter, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass Irma und Olga ihr hinterhereilen, sie am Kragen packen und wieder zurück nach Hause schleppen würden.

Doch je weiter sie sich von dem Dorf entfernte, desto ruhiger wurde sie. Irgendwann war sie so weit gegangen, dass die Schwestern sich schon ein Pferd hätten nehmen müssen, um sie noch einzuholen. Und Minna hatte noch nie gesehen, dass eine der beiden reiten konnte. Wahrscheinlich würden sie im hohen Bogen im Graben landen, wenn sie es versuchten. Bei der Vorstellung gab Minna ein nervöses Kichern von sich. Sie zwang sich dazu, langsamer zu gehen. Das musste sie auch schon deshalb, weil sie völlig aus der Puste war. Sie nahm ihr Bündel auf die andere Schulter und atmete tief durch.

In diesem Moment hörte sie hinter sich Hufgetrappel und ein lautes Rumpeln. Als sie sich umwandte, sah sie eine Kutsche auf sich zukommen, die von zwei großen braunen Pferden gezogen wurde. Bei diesem Anblick gefror Minna innerlich zu Eis. Sie konnte weder denken noch ihre Gliedmaßen rühren.

Natürlich. Irma und Olga hatten sich eine Kutsche gemietet, um sie einzufangen.

„He!“, rief der Mann auf dem Kutschbock. Er trug einen großen Schlapphut und hielt sowohl die Zügel als auch eine Peitsche in der Hand. „He, beweg dich!“

Minnas Gedanken waren immer noch vor Angst eingefroren, sodass sie reichlich spät begriff, was der Mann meinte.

„Weg da!“, rief der Kutscher und sah sie unter der Krempe seines Huts hinweg böse an. „Na los, mach Platz! Bist du schwerhörig oder was?“

Gerade noch rechtzeitig sprang Minna beiseite, um den schweren Hufen und den rumpelnden Rädern zu entgehen. Der Kutscher rief ihr noch ein paar böse Verwünschungen hinterher, dann war die Kutsche vorüber.

Minnas Herz raste, als wollte es den klappernden Pferdehufen Konkurrenz machen. Das waren nicht Irma und Olga gewesen. Die Kutsche hatte gar nichts mit ihr zu tun.

Doch der Schreck saß ihr so tief in den Knochen, dass sie ein paar weitere Atemzüge brauchte, ehe sie sich wieder in Bewegung setzten konnte.

◉ ◊ ◉

Minna lief den ganzen Tag. Die Weizenfelder wechselten sich mit Kuhweiden ab und bisweilen kam sie an einem Bauernhof vorbei. Der Weg machte mal eine Rechts- und mal eine leichte Linkskurve. Doch im Großen und Ganzen blieb die Szenerie immer gleich und die Stadt am Horizont wollte und wollte nicht näher kommen.

Irgendwann schmerzte Minnas rechte Schulter unter dem Riemen ihres Beutels, also zog sie ihn nach links. Sobald die linke Schulter schmerzte, wechselte sie wieder auf die rechte Schulter. Doch irgendwann taten beide Seiten weh und sie versuchte schlicht, an etwas anderes zu denken.

Doch als wollte der Schmerz so leicht nicht aufgeben, kroch er zusätzlich in ihre Füße. An einer Ferse bildete sich eine Blase und Minna musste anhalten, um ihr Stofftaschentuch darumzuwickeln. Ein paar Hundert Meter weiter scheuerte auch der andere Fuß, aber sie hatte kein zweites Taschentuch, um ihn ebenfalls zu verbinden. Minna biss die Zähne zusammen.