Beziehungskosmos - Felizitas Ambauen - E-Book

Beziehungskosmos E-Book

Felizitas Ambauen

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Beschreibung

Willkommen im Beziehungskosmos! Wir tauchen ein in die Schema-Arbeit: Journalistin Sabine Meyer und Psychotherapeutin Felizitas Ambauen nehmen die Leser*innen an die Hand und führen sie auf leicht verständliche und nahbare Art an psychologische Kernfragen heran. So wie man es aus ihrem erfolgreichen Podcast "Beziehungskosmos" kennt. Es geht um Prägungen aus der Kindheit und daraus entstehende Beziehungsmuster. Um unflexible Glaubenssätze, die unsere Weltsicht beengen und um starre Schemata, die wenig Entwicklungsspielraum lassen. Es geht um Emotionen und Bedürfnisse und darum, wie wir eine immer tiefere Verbundenheit zu uns selbst und unserem inneren Kind erlangen können. Dieses Buch hilft, sich selbst und Beziehungen im Allgemeinen besser zu verstehen. Dies ist ein psychologisches Fachbuch sowie ein persönliches Arbeitsbuch mit vielen konkreten Übungen und Reflexionsfragen. Schritt für Schritt führt dieses Buch zu mehr Selbsterkenntnis und in Richtung Schema-Integration. PS: Das Buch funktioniert mit und ohne Podcast!

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BEZIEHUNGSKOSMOS –Nach dem Podcast nun endlichauch das Buch!

Journalistin Sabine Meyer und Psychotherapeutin Felizitas Ambauen nehmen uns an die Hand und führen uns auf leicht verständliche und nahbare Art an psychologische Kernfragen und die Schema-Arbeit heran.

Die beiden Autorinnen unterstützen uns, Prägungen aus der Kindheit und die daraus entstandenen Beziehungsmuster zu erkennen. Sie richten das Augenmerk auf unflexible Glaubenssätze und starre Schemata, welche wenig Entwicklungsspielraum zulassen. Sie spüren vernachlässigten Grundbedürfnissen und Gefühlen nach. Dieses Buch ist eine liebevolle Begleitung auf dem Weg zur Selbsterkenntnis – mit dem Ziel, immer tiefere Verbundenheit zu sich selbst und seinem inneren Kind zu erlangen. Es ist ein psychologisches Fachbuch und ein persönliches Arbeitsbuch mit konkreten Übungen sowie Reflexionsfragen.

«Diese Frauen werden Ihre Beziehung verbessern!»Sonntags-Zeitung

«Der Beziehungskosmos gewinnt Gold!»Suisse Podcast Award of the Year 2023

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2023, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Illustration: © Lynn Grevenitz / Kulturkonsulat GbR

Umschlaggestaltung und Satz: Lynn Grevenitz / Kulturkonsulat GbRwww.kulturkonsulat.com

Lektorat: Katrin Sutter und Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH, www.cpibooks.de

ISBN Print: 978-3-907238-23-3

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-32-5

INHALT

1.Vorwort – Oder Willkommen im Beziehungskosmos

Sabine Meyer – Journalistin

Felizitas Ambauen – Psycho- und Paartherapeutin

2.Einleitung – Oder was uns wichtig ist

3.Wer bin ich – Oder die Ebenen der Prägung

Biologische Ebene

Individualpsychologische Ebene

Gesellschaftlich-kulturelle Ebene

4.Ballon & Ziegelstein – Oder Ressourcen & Altlasten

Reflexionsfragen

Sabine fragt Feli

5.Schema-Therapie – Oder der theoretische Hintergrund

Wie läuft eine Schema-Therapie ab?

Sabine fragt Feli

6.Schema-Modell – Oder die vier Modi im Überblick

Erwachsenen-Ich – Regie

Autoritäre Stimmen – maladaptive Glaubenssätze

Inneres Kind – Gefühle und Bedürfnisse

Bewältigungsstrategien – Schema-Coping

Reflexionsfragen

Sabine fragt Feli

7.Schemata – Oder wie starre Muster entstehen

Wie entsteht ein Schema?

8.18 negative Schemata – Oder wenn der Auto-Pilot übernimmt

Die 18 negativen Schemata nach Young

Weshalb sind es negative Schemata?

Bedürfnisdomäne 1: Abgetrenntheit / Ablehnung

Bedürfnisdomäne 2: Autonomie / Leistung

Bedürfnisdomäne 3: Beeinträchtigter Umgang mit Begrenzungen

Bedürfnisdomäne 4: Fremdbezogenheit / Aussenorientierung

Bedürfnisdomäne 5: Übertriebene Wachsamkeit / Gehemmtheit

9.Emotionale Grundbedürfnisse – Oder was wir alle brauchen

Bindung und Sicherheit

Autonomie und Selbstwirksamkeit

Realistische Grenzen und Selbstkontrolle

Selbstachtung und Wertschätzung

Spontaneität, Lust, Spiel und Spass

Freiheit, Bedürfnisse zu erleben und mitzuteilen

10.Autoritäre Stimmen – Oder über maladaptive Glaubenssätze

Das Zuhause der autoritären Stimmen

Wer sind meine autoritären Stimmen?

Über nicht hilfreiche Glaubenssätze

Wie entstehen solche Glaubenssätze?

Lernen am Modell

Fordernde autoritäre Stimmen

Strafende, schuldinduzierende autoritäre Stimmen

Reflexionsfragen

Sabine fragt Feli

11.Übungen zu den autoritären Stimmen

«Die 10 Gebote»

«Familienstempel»

«Schemaskop»

«Hugo»

12.Grundwerte – Oder wie ich meinem inneren Kompass folge

Hinter die autoritären Stimmen schauen

Ein Leben im Sinne unserer Grundwerte

Die Grundwerte auf der Beziehungsebene

Sabine fragt Feli

13.Übungen zu den Grundwerten

«Der Anfang der Kette»

«Leuchtturmsätze»

«Landkarte der Errungenschaften»

«Memento mori»

«Meine Vision»

14.Das innere Kind – Oder wie echte Selbstfürsorge gelingen kann

Was ist das Ziel der Arbeit mit dem inneren Kind?

Alte, schemagebundene Gefühle und Reaktionen

Aktuelle, situationsadäquate Gefühle und Reaktionen

Innere Kind-Anteile

Verletzbarkeit

Ärger / Wut

Mangel an Disziplin und Struktur / Impulsivität

Glück / Unbeschwertheit

Sabine fragt Feli

15.Übungen mit dem inneren Kind

«Wie geht es Dir? – Was brauchst Du gerade?»

«Spieglein, Spieglein an der Wand»

«Kind im Schatten»

«Gefühlsbrücke»

«Selbstumarmung»

«Wut-Brief»

«Imagination»

16.Schema-Coping – Oder über die Masken, die wir anziehen

Wie entstehen diese Coping-Strategien?

Fight – Überkompensation, Kampf, Blenden

Flight – Gefühls-  und Situationsvermeidung, Verleugnung

Freeze – Unterwerfung, Erduldung, Überanpassung

Schema-Coping im Kopf

Wenn Grundbedürfnisse sich konkurrenzieren

Die Maske ablegen

Der Fehler im System

Sabine fragt Feli

17.Übungen zum Schema-Coping

«Maskenball»

«Kompass»

«Kleidertausch»

18.Schema-Chemie – Oder der «Nähe-Dis-Tanz»

Die vier Bindungsmuster

Die sichere Bindung – alles im grünen Bereich

Die abweisend-vermeidende Bindung – deal but not feel

Die ambivalent-verstrickte Bindung – feel but not deal

Schema-Chemie

Flight – Flight

Flight – Freeze

Freeze – Freeze

Fight – Freeze

Fight – Fight

Sabine fragt Feli

19.Polysecure – Oder wieso wir mehr als eine sichere Bindung brauchen

«You are my one and only!»

«Du bist alles, was ich will!»

Ein Blumenstrauss an Beziehungsformen

Über breitere Beziehungsnetze

20.Integration – Oder wo wir auf dem Weg zur Selbsterkenntnis hinwollen

Schema-Integration

21.Positive Schemata – Oder vom Auto-Piloten in die Regie

Die 18 positiven Schemata

Wie entsteht ein positives Schema?

Bedürfnisdomäne 1: Bindung / Sicherheit

Bedürfnisdomäne 2: Autonomie und Selbstwirksamkeit

Bedürfnisdomäne 3: Gesunde Grenzen / Struktur

Bedürfnisdomäne 4: Wertschätzung / Anerkennung / Selbstwerterhöhung

Bedürfnisdomäne 5: Spiel, Lust, Spass, Spontaneität

22.Erwachsenen-Ich – Oder wissen, wer ich bin!

Es ist ein langer Weg

Sabine fragt Feli

23.Übungen zum Erwachsenen-Ich

«Ballonfahrt»

«Ressourcen-Collage»

«Netzwerk-Analyse»

24.Dankbarkeit – Oder ein Brief zum Schluss

Über die Dankbarkeit

Unsere Dankbarkeitsbriefe

Dank

Podcast-Folgen & Literaturliste

Anmerkungen & Literaturverzeichnis

1VORWORT — ODER WILLKOMMEN IM BEZIEHUNGSKOSMOS

Willkommen im Beziehungskosmos. Bevor wir tief in die Schema-Arbeit eintauchen, möchten wir Euch ein wenig von uns erzählen.

Wir, das sind Sabine Meyer, Journalistin aus Zürich, und Felizitas Ambauen, Psycho- und Paartherapeutin aus Nidwalden.

Seit Anfang 2020 machen wir gemeinsame Sache: erst den Podcast «Beziehungskosmos»; im Frühjahr 2022 kamen Live-Auftritte hinzu – und jetzt haben wir zusammen unser erstes Buch geschrieben. Niemals hätten wir uns bei der ersten Aufnahme erträumen lassen, dass wir als unabhängiger, werbe- und sponsoringfreier Podcast einmal zu den meistgehörten der Schweiz gehören und dann noch ein Buch schreiben würden.1 Wir freuen uns riesig!

Dass wir gemeinsam unterwegs sind, muss wohl Schicksal sein. Kennengelernt haben wir uns bei einer Radiosendung im Sommer 2019. Sabine, damals noch Redaktorin bei «Input», einem Gesellschaftsformat von Schweizer Radio und Fernsehen SRF, lud Felizitas als Expertin zum Thema «Mental Load» ein. Es war das erste und einzige Mal, dass Sabine eine Fachperson live in ihrer «Input»-Sendung hatte, denn normalerweise wurde alles im Vorfeld aufgezeichnet. Felizitas war sogleich offen für dieses Experiment und schrieb in der Bestätigungsmail: «Liebe Sabine, cool! Ja gerne, halte mir den Nachmittag frei. Ich bin noch für vieles zu haben, wenn Du willst. » Rückblickend erscheint uns das wie eine Prophezeiung.

Der Auftritt von Felizitas im Radio lief gut, doch wirklich entscheidend und noch viel besser war, was danach geschah: Anstatt wie üblich die Expertin gleich zum Ausgang zu begleiten, kamen wir ins Gespräch und Stunden später zur Erkenntnis, dass wir beide unglaublich gerne über den Menschen und sein Verhalten nachdenken und dass wir das zusammen besonders gerne tun. Und wir stellten fest, dass wir viel mehr zu sagen gehabt hätten, als es in der kurzen Zeit am Mikrofon möglich gewesen war.

Ein Gedanke führte zum nächsten. Auf jeden Fall verabschiedeten wir uns mit dem Satz: «Also komm, wir machen zusammen einen Podcast.» Ein weiteres Treffen und sechs Monate später sassen wir in einem Podcast-Studio in Zürich und nahmen unsere allererste Folge auf – «Beziehungskosmos» war geboren. Und Sabine meinte danach: «Wenn das vierhundert Leute hören, dann können wir für Schweizer Verhältnisse bereits zufrieden sein.» Nun, es wurden etwas mehr … Heute sind es mehrere zehntausend pro Folge. Offensichtlich geniessen es auch andere, mit uns über den Menschen und sein Verhalten nachzudenken und sich selbst besser kennenzulernen.

Wieso nun aber ein Buch? Die Idee schlummerte schon länger in uns beiden. Immer wieder hörten wir von Hörer*innen, die sich seitenweise Notizen zu unseren Folgen machten. Wir bekamen Mails, in welchen gewünscht wurde, dass wir Übungen nochmals genauer erklären, und auch bei den Aufnahmen kamen wir ab und zu an den Punkt, an dem wir dachten: «Ach, das wäre jetzt super, wenn wir auf ein Modell verweisen könnten.» Und so war irgendwann klar: Wir schreiben ein Buch zum Podcast!

Dieses Buch soll Euch auf leichtfüssige, aber fundierte Art und Weise in die Welt der Psychologie mitnehmen. Die Basis dazu bietet uns, genauso wie im Podcast, die sogenannte Schema-Arbeit – für Felizitas die psychologische Richtung, mit welcher sie in den letzten Jahren intensiv gearbeitet hat. Es geht um Prägungen aus der Kindheit und daraus entstehende Beziehungsmuster; um unflexible Glaubenssätze, die unsere Weltsicht beengen, und um starre Schemata, die wenig Entwicklungsspielraum lassen. Es geht um Gefühle und Bedürfnisse und darum, wie wir eine immer tiefere Verbundenheit zu uns selbst und unserem inneren Kind erlangen können. Dieses Buch soll dazu beitragen, sich selbst und Beziehungen im Allgemeinen besser zu verstehen.

Es ist ein Sachbuch, das Theorie vermittelt und Euch die Schema-Arbeit genauer erklärt, aber es ist ebenso ein Arbeitsbuch, das Euch anhand ganz konkreter Übungen die Möglichkeit bietet, Euch mit Euch selbst und Euren Beziehungen auseinanderzusetzen. Zudem findet Ihr am Ende der Kapitel Reflexionsfragen, die Ihr gedanklich oder – noch viel besser – schriftlich beantworten könnt. Wir empfehlen Euch, dass Ihr Euch dafür ein schönes Notizheft zulegt, das Euch auf diesem Prozess begleitet. So könnt Ihr jederzeit Eure Gedanken und Erkenntnisse aufschreiben – und bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt wieder durchlesen. Denn es ist gut möglich, dass sich Eure Erkenntnisse im Laufe der Zeit verändern. Die Notizen der Anfangszeit können wichtige Puzzleteile sein.

Das Buch ist aus unserem Podcast heraus entstanden. Dieser ist jedoch keine Vorbedingung, um dieses Buch zu lesen. Deshalb: Ganz herzlich willkommen an alle, die uns an dieser Stelle zum ersten Mal begegnen. Wir freuen uns, dass auch Ihr dabei seid.

Wer dennoch Lust hat, Buch und Podcast zu verbinden, findet jeweils die passenden Podcast-Folgen mit einem Kopfhörersymbol an der passenden Stelle im Text. Ganz hinten im Buch gibt es zudem eine Liste aller Podcast-Folgen von März 2020 bis Ostern 2023.

Ein Wort an unsere Leser*innen, die kein Schweizerdeutsch sprechen: Lasst Euch nicht davon abschrecken, dass unser Podcast im Dialekt gesprochen ist. Aus zuverlässigen Quellen aus Deutschland und Österreich wissen wir, dass man sich schnell reinhört. Wer es sich zu Beginn erleichtern will, kann die Abspielgeschwindigkeit reduzieren. Zudem findet Ihr unter der folgenden Fussnote eine kleine Einstiegshilfe. So wird der Podast sogar noch zum Sprachkurs!2

In diesem Buch sprechen wir vornehmlich nicht-psychopathologische Schema-Aktivierungen an. Aktivierungen also, die zwar schmerzhaft und störend sind, die uns aber nicht daran hindern, trotzdem ein hinreichend zufriedenes Leben zu führen. Wir sprechen über Schema-Aktivierungen, die uns in unserer Alltagsführung und unseren Beziehungen nicht grundsätzlich blockieren. Es kann aber auch sein, dass man durch seine Muster, die Lebensumstände oder eine psychische «Störung»3 komplett lahmgelegt wird und ein gutes Leben nicht mehr möglich ist. Dann braucht es professionelle Begleitung. Gewisse Schema-Prägungen sitzen so tief, dass sie nicht ohne Psychotherapie aufgelöst werden können. Da reichen kein Buch zur Selbsterkenntnis und kein Podcast aus. Wenn Ihr merkt, dass Ihr feststeckt oder Ihr Euch in einer Abwärtsspirale befindet, scheut Euch nicht davor, Unterstützung von einer Fachperson zu holen. Die professionelle Sicht von aussen und passende psychotherapeutische Interventionen sind hier von grossem Wert und manchmal unerlässlich. Dieses Buch ersetzt keine Psychotherapie.436

Nun, bevor wir loslegen, ein paar Worte über die Therapeutin Felizitas Ambauen und die Journalistin Sabine Meyer, denn letztlich spielen in beiden Berufen das professionelle Selbstverständnis, die Haltung und das Menschenbild eine ganz zentrale Rolle.

SABINE: «ICH BIN D’ SABINE MEYER, JOURNALISTIN.»

Dass ich Journalistin geworden bin, darüber staune ich noch heute. Es hat sich irgendwie, wie so vieles in meinem Leben, einfach so ergeben. Ein Bauchgefühl, dem ich gefolgt bin. Kein konkreter Plan.

Eigentlich wollte ich als Kind Zoodirektorin werden. Und anders als viele Berufskolleg*innen, habe ich auch nie mit Mikrofon und Kassetten gespielt. Hatte nie den Wunsch, anderen zu erklären, wie die Welt funktioniert. Im Gegenteil: Ich stand und stehe bis heute nur ungern im Zentrum. Beobachte lieber, was um mich herum geschieht. Aber vielleicht ist es genau das, was mich heute als Journalistin ausmacht. Es geht nicht um mich. Sondern um mein Gegenüber, um die Umwelt.

Dass ich überhaupt in den Journalismus eingestiegen bin, hat mit Israel und Palästina zu tun. Als Jugendliche hat mich dieser Konflikt im Nahen Osten enorm beschäftigt. Ich konnte nicht glauben, dass ein Konflikt so lange dauern konnte und es keine Lösung zu geben schien. Ich wollte wissen, wer im Recht und wer im Unrecht war. Also las ich Artikel um Artikel. Mit den Antworten war ich jedoch nie zufrieden. Alles schien mir gefärbt und gefiltert. Ich wollte mir selbst eine Meinung bilden, selbst an der Quelle sein, selbst Fragen stellen. Und ich erinnere mich, wie ich damals ein Stelleninserat der Auslandredaktion von Radio DRS in der Zeitung entdeckt, ausgeschnitten und an die Wand meines Kinderzimmers gepinnt habe. Da wollte ich hin!

Und da bin ich hingekommen. Nicht in die Auslandredaktion, aber zum damaligen Radio DRS – heute Radio SRF. Viele Jahre war ich im Nachrichtenjournalismus tätig, habe unzählige Interviews mit Politiker*innen geführt und es genossen, schnell und auf die Sekunde präzis zu arbeiten. Aber wirklich aufgeblüht bin ich immer dann, wenn es um den Menschen ging. Wenn ich Schicht um Schicht freilegen und eine Geschichte erzählen konnte. Dabei ging es mir nicht einfach um «schöne» Geschichten, sondern um «echte» Geschichten, die das Leben schrieb. In seiner Komplexität und Vielschichtigkeit. So wechselte ich nach einigen Jahren in die Hintergrundredaktion. Hier konnte ich mir für Gespräche Zeit nehmen und auf mein Gegenüber eingehen. Hier ging es nicht mehr darum, jemanden zu «knacken» und eine Antwort zu provozieren, sondern zu erfassen und zu vertiefen. Und dann kam dieses neuartige Format «Podcast». Während die meisten darunter nur Bahnhof verstanden, war ich sogleich Feuer und Flamme. Erst als Hörerin – und schon bald als Macherin. Mit diesem Format war wieder ganz viel möglich, was beim Radio undenkbar geworden war. «Das ist genau mein Ding», soll ich damals zu einem Radio-Kollegen gesagt haben. Und ja: Es ist mein Ding!

Seit bald zwanzig Jahren bin ich nun in der Medienbranche unterwegs und auch wenn ich nicht über alle Entwicklungen in diesem Bereich glücklich bin, so bin ich immer noch von Herzen gerne Journalistin. Erachte es als Privileg und bin mir meiner Verantwortung bewusst. Als Privileg, weil ich Fragen stellen darf (und muss), die anderen so vielleicht nicht erlaubt und möglich wären. Weil ich in Leben und Welten eintauchen kann, mit denen ich sonst nie in Kontakt gekommen wäre. Vieles erlebe ich aus erster Hand und ungefiltert. Als Verantwortung empfinde ich es, weil mir Menschen vertrauen. Sie übergeben mir ihre Geschichte, damit ich daraus etwas Neues mache. Und ich werde gehört. Ich habe die Macht, Themen zu setzen – oder eben nicht. Und so ist es mir stets ein Anliegen, Geschichten so zu erzählen, dass sich die Personen, die sie mir anvertraut haben, wiedererkennen. Und ich möchte Leben und Perspektiven ins Rampenlicht rücken, die sonst vielleicht überhört oder übergangen würden.

Mit meiner Arbeit – die ich inzwischen als freie Journalistin ausübe – möchte ich Menschen anregen, über Dinge nachzudenken, auch mal ihre eigene Welt hinter sich zu lassen. Möchte sie ermutigen, dass sie da hinschauen, wo es unangenehm ist – im Wissen, dass auch das zum Leben gehört. Ich möchte zum Denken anregen und Menschen in Bewegung bringen, sodass wiederum etwas anderes in Bewegung kommt. Und mit dem Beziehungskosmos – deshalb ist diese Arbeit so unglaublich erfüllend – ist genau das möglich.

SABINE: «UND MIR VIS-À-VIS …»FELI: «FELIZITAS AMBAUEN, PSYCHO- UND PAARTHERAPEUTIN.»

Psychotherapeutin werden, das wollte ich erst nicht. Denn diese Nische war schon besetzt von meiner Mutter. Sie arbeitete als Psychologin und nichts lag mir als Jugendliche ferner, als in ihre Fussstapfen zu treten. Auch wenn es mich schon damals brennend interessierte, wie ich zugeben muss. Auch wenn ich all ihre Bücher las und nie genug davon kriegen konnte zu erfahren, wie andere Menschen dachten und fühlten. Nach der Matura studierte ich also zunächst etwas anderes – durchaus ein wenig aus dem trotzigen Kind-Modus heraus –, nämlich Ethnologie und Medienwissenschaften. Doch bei beiden Fachrichtungen fehlte mir der direkte Bezug zum Individuum. Richtig gefesselt war ich immer erst, wenn es um die Psyche von Einzelpersonen oder um Beziehungen ging. Mir dämmerte, dass ich wohl nicht mehr viel länger vor der Entscheidung weglaufen konnte, mich meiner wahren Passion zuzuwenden, auch wenn es die Domäne meiner Mutter war. Eines Tages ging ich sehr spontan zum Sekretariat der Uni und meldete mich für Psychologie an. Ohne gross zu überlegen oder es mit anderen zu besprechen. Es fühlte sich in dem Moment einfach richtig an! Am Abend erzählte ich meiner besten Freundin und meinen Eltern davon. Die Antwort von allen war: «Endlich!» Und das finde ich auch.

Nach dem Psychologie-Studium in Bern schloss ich das Psychotherapie-Studium in Basel an. Der Schwerpunkt dort lag auf der kognitiven Verhaltenstherapie. Zufällig – zumindest hatte ich das vorher nicht gewusst – war die Schema-Therapie in Basel ein gewichtiger Teil der Psychotherapieausbildung und ich habe nebst dem Studium über 50 der 100 obligatorischen Selbsterfahrungsstunden mit einer Schema-Therapeutin verbracht. Und so viel Wichtiges über mich gelernt.

Es war Liebe auf den ersten Blick! Nun machte alles Sinn. Ich hatte den Rahmen gefunden, den ich lange gesucht hatte, innerhalb dessen ich psychotherapeutisch arbeiten wollte.

Die Schema-Therapie setzt mit ihren Interventionen und dem Fokus auf die Gefühle und Bedürfnisse der Menschen genau dort an, wo ich hinwill: das Innerste eines Menschen. Dorthin, wo man tief mit sich verbunden zu sein lernt und wegkommt vom Denken. Die emotionsfokussierte Arbeit stellt das Zentrum dar. Und gleichzeitig bietet das Modell der Schema-Therapie auch einen Rahmen, in den alles kognitiv und verhaltenstherapeutisch eingeordnet werden kann. Jede*r findet einen ersten Ansatzpunkt, um am Schluss zum wahren Selbst zu gelangen.

Ich liebe Menschen. Und Beziehungen. Ich wollte gute Therapiebeziehungen, gute Beziehungen meiner Klient*innen zu sich selbst und gute Beziehungen zwischen ihnen und ihren Liebsten. Da war ich in der Schema-Therapie und mit dem humanistischen und gestalttherapeutischen Hintergrund meiner Mutter, den ich mir bereits in der Jugend angelesen hatte, richtig. Hunderte von Stunden hatte ich als ihre Assistentin bei systemischen Familienaufstellungen zugebracht und mit jedem Tag war ich faszinierter – und verstand ich die Zusammenhänge besser.

Meine ganz grosse Leidenschaft gehörte aber den Paarbeziehungen. Einzelpsychotherapie liebte ich, aber sassen mir Paare gegenüber, dann wurde meine Faszination riesengross. Dafür brannte ich. Und so verschob sich über die Jahre meine Tätigkeit nach und nach immer mehr hin zu diesen Beziehungsbrennpunkten. Und das Schema-Modell liess sich darauf fabelhaft anwenden. Vor über 10 Jahren bot ich die ersten Workshops dazu an, weil ich merkte, dass die Paare in Gruppen oft gelöster waren, weil sie sich nicht direkt angesprochen – oder angegriffen – fühlten. Im Schutz der Gruppe war es oft leichter, für einen Selbsterfahrungsprozess offen zu sein.

Und heute macht die Schema-Arbeit den Löwenanteil meiner Arbeit aus. Mein Schwerpunkt hat sich von der Therapie immer weiter wegbewegt in Richtung Prävention und Selbsterfahrung. Und was soll ich sagen? Auch das passt perfekt!

Nach und nach habe ich weitere Konzepte hinzugezogen: systemische Ansätze in der Paartherapie, hypnotherapeutische Interventionen für die Arbeit mit dem inneren Kind, gestalttherapeutische Elemente und ganz viel aus der ressourcenorientierten Positiven Psychologie. Heute bin ich dort, wo ich als Psychotherapeutin sein will, und ich kann meine Arbeit so ausführen, wie ich es mir immer wünschte: frei und authentisch. Mit einem grossen Herz, mit viel Wohlwollen und Leidenschaft sowie mit fundiertem Fachwissen.

Nur ein einziger Wunsch blieb: dass ich so gerne mehr Menschen früher erreichen wollte. Bevor das ganze psychologische Gleichgewicht durcheinandergerät, bevor die Beziehungen zu festgefahren und starr geworden sind. Bevor es zu sehr weh tut! Und da traf ich Sabine Meyer.

Der «Beziehungskosmos» war das fehlende Puzzleteilchen! Und die Resonanz war und ist so überwältigend und wertschätzend, dass wir es bis heute manchmal kaum glauben können. So viele Menschen möchten lernen, sich besser zu verstehen, sich gut Sorge zu tragen und befriedigende Beziehungen zu leben. So viele möchten es, dass wir heute hier sitzen und dieses Buch schreiben dürfen.

Und wir freuen uns, Euch mit diesem Buch nebst dem Podcast ein weiteres Mosaiksteinchen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis mitzugeben. Auf dem Weg zum integrierten Selbst und zu mehr Beziehungsweisheit.

Wir wünschen Euch eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre!

2EINLEITUNG — ODER WAS UNS WICHTIG IST

Drei beige, bequeme Stühle stehen in einem hellen, runden Raum. Umgeben von Fenstern und Zimmerpflanzen. In der Mitte steht ein uralter Fernseher, der als Tischchen dient.

‹Hier ist es aber gemütlich›, so mein erster Gedanke, als ich, Sabine, den Therapieraum von Felizitas betrete. Hier würde ich mich wohl und sicher fühlen. Hier ist es so menschlich und so normal wie in einem Wohnzimmer. Hier kann man sich selbst sein.

Und ich, Felizitas, erinnere mich, wie ich nach dem ersten Telefongespräch mit Sabine, der Journalistin, dachte: ‹Die hört gut zu und nimmt sich Zeit, so teile ich gerne mein Wissen.›

Wir werden oft gefragt, wieso unser Podcast so gerne gehört wird. Das dürfte viele verschiedene Gründe haben. Aber einer ist ganz bestimmt unser sehr ähnliches Menschenbild. Das klingt vielleicht abstrakt. Aber es ist in der Psychotherapie sowie auch im Journalismus elementar, welches berufliche Selbstverständnis man hat und wie wir unseren Klient*innen respektive Interviewpartner*innen begegnen. Ob wir es neugierig und offen tun oder mit vorgefertigter Meinung und misstrauisch. Letzteres ist bei uns beiden glücklicherweise nicht der Fall. Wir beide mögen Menschen und gehen davon aus, dass sie im Kern gut sind. Und mit dieser wertschätzenden und wohlwollenden Haltung führen wir auch im Podcast die Gespräche und begegnen Euch hier jetzt als Autorinnen. Wir sind mit Euch auf Augenhöhe. Weder im Podcast noch in diesem Buch wollen wir Euch sagen, was für Euch richtig oder was falsch ist. Auch nicht, wer Ihr seid und was Ihr zu tun habt. Sondern wir zeigen Euch, welche Perspektiven es gibt und wie Ihr sie wechseln und verändern könnt. Zu dem Zeitpunkt, der für Euch passt. Wir zeigen mögliche Wege auf. Welchen Ihr am Ende gehen wollt, entscheidet Ihr allein.

Uns ist es wichtig, Dinge zu benennen und zu sagen, wo etwas schiefläuft oder was Probleme verursacht. Gerade auf gesellschaftlicher Ebene erachten wir es als essenziell, Defizite, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten auch anzusprechen. Das dürfen wir nicht ausklammern, auch wenn wir in diesem Buch auf die individualpsychologische Ebene fokussieren.

Wir werden in diesem Buch aber nicht nur Defizite anschauen. Unser Anliegen ist es ebenso, die positiven Seiten im Menschen zu stärken, Ressourcen zu aktivieren und gleichzeitig zu verstehen, wo der Schuh drückt. Und das kann auch mal unangenehme Gefühle hervorrufen oder weh tun. Wir werden dies wertschätzend und wohlwollend tun, ohne die Moralkeule zu schwingen. Denn nur so ist gesunde Entwicklung möglich. Nur so kommen wir in einen Zustand der Annäherung, bei dem wir offen sind, genau hinzuschauen und Neues zu wagen. Und so ist es unser Ziel, Ressourcen zu aktivieren und die Welt, so pathetisch das auch klingen mag, mit diesem Buch vielleicht ein klein bisschen solidarischer und gerechter zu machen. Dazu brauchen wir Veränderungen – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Vor Euch liegt eine Anleitung zur Selbsterkenntnis mithilfe der Schema-Arbeit. Ihr könnt das Buch von vorne nach hinten durchlesen, denn es ist so aufgebaut, dass Euch das Schema-Modell Schritt für Schritt erklärt wird, oder Ihr überspringt gewisse Kapitel und lest sie durch, wenn es für Euch stimmig ist. Es ist Euer Schema-Prozess.

Noch ein Wort zu unserer Sprache: Wir legen grossen Wert auf Inklusion und versuchen, möglichst alle Leser*innen anzusprechen. Wir verwenden in diesem Buch den Genderstern*. Denn die Welt besteht nicht nur aus Männern und Frauen5 und nicht nur aus Menschen, die sich diesen beiden binären Kategorien zugehörig fühlen. Wenn wir die Begriffe «Mann» und «Frau» verwenden, meinen wir das sozial konstruierte Geschlecht oder wie sich jemand selbst identifiziert – und nicht das zugeordnete Geschlecht. Dieses Buch soll niemanden aufgrund der sexuellen Orientierung ausschliessen.

Wir werden von Klient*innen sprechen. Damit beziehen wir uns – wenn nicht explizit anders erwähnt – auf Klient*innen, die Felizitas in ihrer Praxis begleitet hat. Sie alle sind reale Personen, deren Geschichten aber so anonymisiert sind, dass keine Rückschlüsse auf ihre Identität möglich sind.

Weitere Anmerkungen zu unserem Sprachgebrauch oder zu Begriffen versehen wir jeweils mit einer Fussnote, genauso wie Quellenangaben und Hinweise auf Literatur, die uns inspiriert hat. Die Erläuterungen dazu findet Ihr am Ende des Buches.

3WER BIN ICH — ODER DIE EBENEN DER PRÄGUNG

Wenn wir uns fragen, wer wird sind und wieso wir uns verhalten, wie wir uns verhalten, dann blicken wir oft zurück auf unsere Kindheit und die Ursprungsfamilie. Auch in diesem Buch legen wir den Schwerpunkt auf die individualpsychologische Ebene und somit auf die Kernfamilie6. Allerdings ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass wir auf der Ebene der Individualpsychologie nicht alle Antworten finden werden. Denn wie wir auf das Leben blicken und was uns prägt, hängt von viel mehr Faktoren als unserer Herkunftsfamilie ab. Nicht alle Kinder sind zudem bei zwei leiblichen Elternteilen aufgewachsen und trotzdem haben sie Muster durch ihre engsten Bezugspersonen erworben. Und diesen Beziehungsmustern wenden wir uns zu.

Wir unterscheiden in diesem Buch drei Ebenen der Prägung:

BIOLOGISCHE EBENE

Wir Menschen werden mit verschiedenen emotionalen und biologischen Ausstattungen und Temperamentsausprägungen geboren. Gewisse Menschen reagieren leicht ängstlich, andere schnell wütend und wiederum andere nehmen die Umwelt sehr sensibel und intensiv wahr. Einige sind tendenziell introvertiert, andere klar extrovertiert. Viele irgendwo dazwischen. Deshalb entwickeln Geschwister, die im selben Haushalt und bei denselben Bezugspersonen aufwachsen, meist nicht die gleichen Verhaltensmuster. Einige genetische Voreinstellungen begünstigen gewisse Prägungen stärker als andere und können einen Schutz- oder Risikofaktor darstellen. Zum Beispiel sind extrovertierte Menschen eher offen für Neues, was einen Schutzfaktor darstellen kann, und ängstliche Menschen sind eher sozial zurückgezogen und vorsichtig, was ein Risikofaktor sein kann.7 Allerdings kann die Extraversion auch zu leichtsinnigem Verhalten führen und Ängstlichkeit einen tatsächlich vor Unheil schützen. Ihr seht: Am Schluss ist es immer wichtig, ganz genau hinzuschauen.  53

Auch genetische, physische oder neurobiologische Unterschiede spielen eine zentrale Rolle bei der Prägung und der Wahrnehmung der Welt. Jemand, der von Geburt an mit Schmerzen zu kämpfen hat, erlebt sie anders als ein Mensch, der dadurch nicht eingeschränkt wird. Genauso beeinflussen psychische Beeinträchtigungen die Wahrnehmung der Welt. Aber auch wie unser Körper auf bestimmte Ereignisse und Stress reagiert, lässt uns andere Erfahrungen machen. Es macht einen Unterschied, wie resilient wir sind oder wie schnell wir Informationen verarbeiten können. Aber auch wie viel Erholung wir brauchen. All das hat einen Einfluss auf unsere Entwicklung.

Eine neurodiverse8 Person geht anders mit der gleichen Erfahrung um wie eine neurotypische9 Person, die sich vielleicht besser abgrenzen und schneller erholen kann.10 Neurologische Unterschiede können einen grossen Einfluss darauf haben, welche psychologischen Schemata eher entstehen. Hinzu kommt der Bereich der Epigenetik11, deren Erforschung noch in den Kinderschuhen steckt. Wir werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wohl noch viel mehr Erkenntnisse darüber erlangen, wie genetische und epigenetische Faktoren uns mitbeeinflussen. 1650

INDIVIDUALPSYCHOLOGISCHE EBENE

Das ist die Ebene, die wir in diesem Buch genauer beleuchten werden. In welchem Familiensystem sind wir aufgewachsen? Welche Grundwerte wurden uns vermittelt? Welche Glaubenssätze waren zentral? Welchen Erziehungsstil haben wir erfahren? Welche Beziehungsdynamiken haben wir bei unseren Hauptbezugspersonen erlebt? Welche besonderen Belastungsfaktoren gab es in unserer Kindheit? Wie haben unsere Bezugspersonen auf unsere Bedürfnisse und Gefühle reagiert – und konnten sie adäquat darauf eingehen? Waren wir in der Lage, eine sichere Bindung aufzubauen, und wurden uns hilfreiche Strategien vorgelebt und beigebracht, um mit schwierigen Situationen und negativen Gefühlen umzugehen? Zu dieser Ebene zählen all unsere Erfahrungen in der Kindheit – auch die pränatalen während der Schwangerschaft.

Natürlich schauen wir hier aber nicht nur den einzelnen Menschen isoliert von seinem Bezugssystem an. Manchmal ist es auch wichtig, den Radius etwas grösser zu machen und weitere Generationen hinzuzunehmen. Dann sprechen wir von transgenerationalen Prägungen. Denn gewisse Schemata haben eine längere Geschichte. Es gibt Familien, die sich von Generation zu Generation die immer gleichen «Aufträge» weitergeben, welche schwer wiegen können und oft lange nicht als solche erkannt werden.1256

GESELLSCHAFTLICH-KULTURELLE EBENE

Diese letzte Ebene spielt eine sehr zentrale Rolle, die oft unterschätzt wird. Vieles erachten wir als «normal» und als «gegeben». Viele Schranken und Grenzen sind nicht sichtbar, beispielsweise die oft erwähnte «gläserne Decke» in der Chef-Etage. Wir wollen hier deshalb kurz etwas ausholen: Wir alle wachsen in einer ganz bestimmten Zeit und Gesellschaft auf, die durch bestimmte Normen und Werte geprägt sind. Je nach Generation, Kultur, Religion oder sozioökonomischer Schicht verändert sich dieses Norm- und Wertesystem. Diese oft unausgesprochenen und nicht festgehaltenen Normen und Werte haben wir verinnerlicht. Wir wissen genau – oft implizit –, was sozial akzeptiert und was verpönt ist. Wir wissen, wo unser Platz im System ist, ob wir dazugehören dürfen, ob wir als non-konform gelesen werden oder nicht. Dieser Platz bestimmt Zugang und Ausschluss zu Ressourcen. Er hat mit Privilegien zu tun.

Diese kulturellen und gesellschaftlichen Normen, Werte und Strukturen prägen manchmal bewusst, aber vor allem unbewusst unser Verhalten und oft auch unser Wesen als Einzelne*r. Gerade wenn wir die individualpsychologische Ebene betrachten, ist es elementar, sich immer wieder bewusst zu werden, dass diese Ebene strukturell mit der gesellschaftlichen Ebene verwoben ist.13 Auf der gesellschaftlich-kulturellen Ebene spielt es oft keine Rolle, wie wir uns fühlen oder womit wir uns identifizieren, sondern, ob wir dem Bild der Mehrheitsgesellschaft entsprechen und wie wir von ihr gelesen werden.  38

Wir leben in einer Gesellschaft, die stark mit Kategorien und vor allem Hierarchien funktioniert und Menschen aufgrund von Merkmalen oder Zuschreibungen als besser oder schlechter einstuft. Als wertvoller oder wertloser. Dabei geht es nicht um einzelne Fälle, sondern um systematische Wiederholungen, oder anders gesagt, um strukturelle Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, sozioökonomischer Herkunft, Ethnie & Nationalität, Religion, Körper & Fähigkeiten, Alter oder sexueller Orientierung. Wir leben in einer mehrheitlich hetero- und mononormativ geprägten Gesellschaft, die in binären Kategorien denkt und in der Diskriminierungsformen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus14 oder Queer-Feindlichkeit strukturell verankert sind. Je nachdem wie ich von Diskriminierung betroffen bin – oft besteht eine Mehrfachdiskriminierung – und in welcher Umgebung ich aufwachse, nehme ich in der Gesellschaft einen mehr oder weniger privilegierten Platz ein oder wird mir einer zugewiesen. Wir bekommen ungefragt Rollen und das dazugehörige Skript und verinnerlichen diese. Auch aus all diesen Einflussgrössen entwickeln sich schliesslich unsere individuellen Schemata.

Viele von uns haben sich diese Rollenerwartungen so fest zu eigen gemacht, dass sie uns nicht mehr bewusst sind. Eine junge Frau, die keine Kinder will, fühlt sich vielleicht wertlos und fragt sich, woher dieses Gefühl kommt. Hat es wirklich nur mit ihrer Schema-Prägung aus der Herkunftsfamilie zu tun oder wie stark spielt hier das Bild der Gesellschaft, nämlich dass jeder weiblich sozialisierte Mensch einen Kinderwunsch verspüren sollte, eine Rolle?

In diesem Buch fokussieren wir wie erwähnt auf die individuelle Ebene. Trotzdem muss uns dabei immer bewusst sein, dass es noch mehr gibt, was unser Dasein beeinflusst. Dass uns diese gesellschaftlichen Anteile prägen und leiten und uns manchmal «unfrei» sein lassen, obwohl «Freiheit» – im Sinne von «Alle Türen stehen dir offen!» – draufsteht. Beispielsweise sind geschlechterstereotype Rollenbilder ein ganz gewichtiger Faktor bei der Schema-Prägung und fliessen ständig mit ein. Selbst wenn unsere Hauptbezugspersonen auf der Ebene der Kernfamilie versuchen, ein Kind möglichst geschlechtsneutral zu erziehen und die Stereotype nicht zu replizieren, wird die Gesellschaftsebene das ihre tun. Diese Mechanismen in ihrer Komplexität aufzuzeigen, sprengt den Rahmen dieses Buches, müssen aber für ein vollständiges Bild immer mitgedacht werden.

Wenn wir uns also Gedanken darüber machen, wer wir sind und wer wir sein möchten, dann ist es wichtig, dass wir uns dieser verschiedenen Ebenen bewusst sind. Sie lassen sich nicht klar trennen; oft vermischen sie sich. Niemand wird nur durch die Biologie, nur durch seine Kernfamilie oder nur durch die Gesellschaft geprägt. Alle drei sind voneinander abhängig und wirken wechselseitig.

Und um es noch etwas komplizierter zu machen: Es macht auch einen Unterschied, in welcher Lebensphase wir gerade stecken. Je nachdem ist die eine oder andere Ebene prägender. So ist die gesellschaftliche Ebene in der frühen Kindheit meist nur indirekt spürbar, beispielsweise durch den Erziehungsstil der Eltern. Hingegen spielen die gesellschaftlichen Werte und Normen eine viel grössere Rolle bei älteren Kindern und jungen Erwachsenen oder wenn wir selbst Eltern werden.  63

Ihr seht: Unsere Prägung ist ein komplexes Gefüge mit vielen Einflussgrössen. Es ist wichtig, dass wir das im Hinterkopf behalten. Nur so können wir verstehen, wie wir zu der Person geworden sind, die nun dieses Buch hier liest. Vor allem ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese Normen und Werte uns leiten und uns oft nicht bewusst sind. Sie sind die Brillen, durch welche wir die Welt sehen. Es gibt nicht die eine, wahre Wirklichkeit. Sondern sie ist immer das Ergebnis der Prägung auf allen drei Ebenen. Und vor allem ist diese Wirklichkeit für jeden Menschen anders.

Ein grosser Teil der Selbsterkenntnis besteht deshalb auch darin, sich der Brillen, die uns aufgesetzt wurden und werden – und somit der unbewussten Anteile –, immer bewusster zu werden. Denn durch welche Brille wir die Welt wahrnehmen, wie sicher wir uns darin fühlen und wie selbstwirksam wir agieren können, beeinflusst uns ganz beträchtlich in unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Und – das ist die gute Nachricht – wir können entscheiden, diese Brille(n) abzusetzen, zum Beispiel dank der Schema-Arbeit – so wie wir das auf den nächsten Seiten machen werden. Die weniger gute Nachricht ist, dass wir an Grenzen stossen werden, was möglich ist und was von der Gesellschaft gebilligt wird. Das kann sehr zermürbend und anstrengend sein. Trotzdem ermutigen wir Euch, es zu versuchen. Immer und immer wieder. Um langsam und stetig Veränderungen zu bewirken. Im Kleinen, aber eben auch im Grossen.

4BALLON UND ZIEGELSTEIN — ODER ÜBER RESSOURCEN UND ALTLASTEN

Wenn ich mich nun in die Schema-Arbeit stürze, muss ich dann meine ganze Vergangenheit aufarbeiten? Was nützt es mir zu wissen, woher die schwierigen Muster kommen? Und schaffe ich mir da nicht endlos neue Probleme?

Vielen bereitet der Gedanke, sich intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, Mühe oder macht vielleicht auch Angst. Plötzlich sieht man nur noch das Schwierige, alles, was nicht gut gelaufen ist, so die Sorge. Und Ihr fragt Euch vermutlich: Ist es wirklich nötig, so intensiv zurückzublicken, um seine Muster zu verstehen?

Die Antwort lautet: ja und nein.

Nur wenn ich meine Prägungen anschaue, kann ich verstehen, wie meine Weltsicht entstanden ist, welche Glaubenssätze mir mitgegeben wurden und wie ich dementsprechend gelernt habe, mich in der Welt zu positionieren. Aber es ist nicht nötig, jeden Schmerz noch einmal genauso zu fühlen wie damals und endlos darin einzutauchen, wenn man sich seinen Mustern zuwendet. Viele Klient*innen können sich auch überhaupt nicht oder nur bruchstückhaft an die Zeit ihrer Schema-Prägung, also an die ersten ungefähr zehn Jahre ihres Lebens, erinnern. Das ist keine zwingende Voraussetzung für Schema-Arbeit. Aber klar, die Kindheit psychologisch aufzuarbeiten, ist oft anstrengend und energiezehrend. Man muss da hinschauen, wo man eigentlich gerne wegsehen würde. Und es ist durchaus eine Nebenwirkung der Schema-Arbeit, dass alte, negative Gefühle geweckt werden können, die man lange Zeit erfolgreich zurückgedrängt hat. Aber es lohnt sich. Denn wegschauen ist langfristig keine nachhaltige und gesunde Lösung. Auf irgendeine Art und Weise holt uns die Vergangenheit doch immer wieder ein, nicht immer offensichtlich, nicht immer bewusst. Oft spüren wir nur, dass unser Körper reagiert oder dass wir immer wieder in dieselben Fallen tappen.

Diese Fallen, das sind unsere Schemata! Wiederkehrende Muster, die uns leicht zum Stolpern bringen. Und da sie weitgehend unbewusst ablaufen, macht es eben grossen Sinn, sie durch die Schema-Arbeit ans Licht zu holen. Auch wenn es anstrengend ist, auch wenn es weh tut.

Fokussiert man allerdings allein auf die Schemata und deren Veränderung, vergeht einem tatsächlich leicht die Lust an der psychologischen Arbeit. Am Ende hat man vielleicht sogar das Gefühl, dass alles nur noch schwer, verkorkst und anstrengend ist. Es fühlt sich an, als wäre der Rucksack voller schwerer Ziegelsteine, und je mehr man hinschaut, desto schwerer und zahlreicher werden sie. Irgendwann wirkt es kontraproduktiv, wenn man sich allein auf die Vergangenheit konzentriert. Man blickt nur noch zurück, sieht, was schwierig war, und verpasst das Hier und Jetzt. Aus genau diesem Grund blicken wir in der Schema-Arbeit bewusst auch auf das, was funktioniert. Wir schauen immer wieder auf Seiten und Aspekte im Leben, die uns als Ressourcen dienen, uns Leichtigkeit verschaffen, sich unbeschwert anfühlen, Auftrieb geben und uns wachsen lassen. Wir haben also immer Vergangenheit und Zukunft im Blick. Mit dem bewussten Fokus auf unsere Stärken blasen wir sinnbildlich einen Ballon auf, der uns hilft, die Ziegelsteine zu tragen. Und je mehr Luft wir in den Ballon pusten, umso leichter tragen wir die Ziegelsteine durchs Leben. Das absolute Gewicht der Steine wird dadurch zwar nicht leichter, jedoch das relative – und bereits das kann sehr entlastend sein.