Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Stolpersteine sind die Wegemarken auf der Suche nach dem privaten Glück...- und das Leben ist voll davon, sie zu überwinden. Ort des Geschehens? Der schnöde Alltag mit seinen wechselvollen Momenten: Der ganz normale Wahnsinn erweist sich dabei einmal mehr als Hort von Sehnsüchten und Träumen, aber auch als Moloch von menschlichen Abgründen und Unduldsamkeiten. Die Szenerie -, bestimmt von Zuversicht und Neugier, Können und Erfahrung. Im Mittelpunkt: Die pure Vielfalt! Starke Frauen im Widerstreit mit ebenbürtigen oder doch schwächelnden Männern; zwistige Geschwister, gefühlsverletzte Familien und bewegte, lebendige Generationen. Emotionale Stimmungsbilder: Gemalt aus Banalitäten und farbenfrohen Überraschungen. Mit nachgezeichneten Konturen, aus ungebremster Vorfreude erster Aufeinandertreffen. Hier, nachempfundene pastöse Farbmotive aus Liebhabern und Leidenschaften; dort eintönige Pinselstriche -, überdeckt mit poröser Patina aus Enttäuschungstupfern, die sich über ein bittersüsses Durchhalten legt, wenn die Zuneigung erst einmal in die Jahre gekommen ist. Achtzehn Minidramen erzählen davon - verspielt, sprachgewaltig, augenzwinkernd und hintersinnig: Wie ist die Farbe ins Leben gekommen und wie hat sie sich verdunkelt? Wer schafft es als Lebenskünstler; wer bleibt zurück? Ein Brennglas, das vertraute, verträumte oder verborgene Geschehnisse offenlegt und sie vergnüglich mit dem Leser teilt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nicht-alltägliche Geschichten, die das Leben schreibt. Spurensuche in achtzehn Momentaufnahmen; nachverfolgt von Ralf Rodrigues da Silva; Basel 2019
Eins: Zweiter Frühling – Dritte Wahl
Zwei: Tote Tränen trocknen nicht
Drei: Worte sind wie Pfeile
Vier: Mit den Augen einer Anderen
Fünf: Lautloses Crescendo
Sechs: Was passiert, wenn’s passiert
Sieben: Der Kuss ohne Schluss
Acht: Zeitenwende – Wendezeiten
Neun: Vom Hören – Sagen
Zehn: Zwilling wider Willen
Elf: Gastarbeiter Ausgeschlossen
Zwölf: Digital –Dating – Day
Dreizehn: Totenstille Todesstille
Vierzehn: Lapp – Land für Saubermänner
Fünfzehn: Anjehörjenaarbeet, von wejen
Sechzehn: Notte Italianità
Siebzehn: Digitales Infernal
Achtzehn: Kleinstadtidyll gibt’s immer
Anmerkung des Verfassers
Der Autor hat sich in Kapitel fünfzehn bewußt „laut- und schriftsprachlich“ seinem Haupt-Protagonisten verpflichtet: Erstens läßt ihn der Berliner-Kiezcharakter in seiner Sprache in der Rolle des Patienten kontrastreicher erscheinen – noch dazu im Umfeld eines akademischen Lehrkrankenhauses; zweitens wird damit die „Unvereinbarkeit” mit der Kommunikation seiner Gesprächspartnerin auch noch authentischer und dadurch deutlicher betont. Insofern wurden orthographische oder grammatikalische Eigenheiten nicht nur bewußt in Kauf genommen; sie werden hier vielmehr extra als “gegensprachlicher” Stilakzent eingesetzt – trotz einer dadurch bedingt erschwerten Lesbarkeit.
Sein verknautschtes Gesicht wetteiferte schlaftrunken mit seinem faltenreich zusammengequetschten Kissen. Seinen Peiniger fest umklammernd, überhörte er fast den Wecker. Erbarmungslos und irgendwie errettend: Hatte er so doch wenigstens noch eine minimale Chance, die Druckstellen zu bereinigen, die sich über Nacht unfreiwillig in sein Gesicht gegraben hatten.
Weiß der Kuckuck, wie er es heute wieder geschafft hatte, beim „Sparring gegen das kosmetische Vergessen“ als Sieger den Platz verlassen zu haben…
Jedenfalls stand er jetzt; und er war erleichtert, daß seine Pyjamahose ihm bekundete, daß auch sein zuverlässigster Anhänger bereit war, ebenso aufgeweckt den Tag durchzustarten.
„Dann woll‘n wir mal, alter Knabe“, hörte er sich selbstkritisch im Spiegel seiner nächtlichen Eskapaden sagen. Es klang dabei weniger überschwänglich und aufmunternd als beabsichtigt. Mehr so abwartend. Und eher mit einem Unterton von Trotz, Stolz und Selbstgefälligkeit.
Seine inzwischen schütteren Haare, der erkennbare Bauchansatz und die nicht mehr ganz so maskuline Silhouette ließen keinen Zweifel daran: Er war unwiderruflich im Auge des Orkans seiner „Post-Middle-Age-Periode“ angekommen.
Und es gefiel ihm nicht wirklich, bereits die Vorstufe in die Bedeutungslosigkeit zwischen Seniorenteller und Zahnersatzleistungen erklommen zu haben.
Der Blick in den Spiegel ernüchterte ihn ein zweites mal. Denn das, was da wildwüchsig aus Nase und Ohren zum Guten-Morgen-Gruß salutierte, schwächte sein Ego auf schamlose Weise: „Den „Knaben“ nehme ich zurück, „Alter“ muss wohl bleiben?! Wer hatte nochmal gesagt, daß alt werden nichts für Feiglinge ist…?“
Auch die Augenbrauen kamen ihm heute viel hervorstechender und ausufernder vor. Und so ertappte er sich dabei, seine Trimmer-Prozedur nicht nur auf die Brust- und Genitalgegend zu beschränken, sondern mit der Pinzette auch noch die Innen- und Außenwelt seiner Gesichtsbehaarung in eine akzeptable Form zu giessen; Ohrmuscheln inklusive.
Nach einer ausgedehnten Dusche, After-shave, Peeling und Augenmaske fühlte er sich deutlich wohler…; fürs Erste war er mit seinem Körperbild versöhnt.
Seine jetzt merklich ins Jugendliche gesteigerte Attitüde führte ihn leichtfüßig an den Küchentresen.
Hier pflegte er allmorgendlich die Ouvertüre zu seinem siegreichen „Frauen“feldzug aufzuspielen.
Er suchte trotz seiner fortgeschrittenen Lebenserfahrung noch immer den körperlichen Nahkampf, der sich nicht primär auf seine überschüssigen Pfunde konzentrierte –, die konnte man wegtrainieren oder einfach nur hinnehmen –!
Nein, er brauchte vielmehr regelmäßig die Selbstbestätigung durch das weibliche Geschlecht und die Herausforderung eines Flirts. Schließlich hatte er sich darin seit Jahren geübt. Daneben konnte er unvoreingenommen von sich behaupten, daß er die Kunst der Verführung beherrschte und natürlich hatte er sie mit der Zeit systematisch verfeinert.
Worauf sollte er warten? Er war seit über zwei Jahren geschieden und mindestens fast ebenso lange auf der Pirsch.
Er mochte sein Single-Dasein: „Verbindlich unverbindlich!“, pflegte er seinen One-Night-Stands oder Affären ungeniert zuzuprosten, wenn beim erstmaligen Aufeinandertreffen die Champagnergläser den ersten Akt in einer Hotelbar oder direkt in der gebuchten Kategorie einläuteten.
Das wurde von den Umworbenen bisher immer anstandslos akzeptiert. Er nahm sich immer diese Freiheit; und die feminine Freiheit nahm sich ihn!
So sah er sich keineswegs veranlasst, an dieser Strategie etwas zu ändern. Und er war als Handelsreisender mit ihr eigentlich ganz gut durch die testosterongesteuerte Zeit gekommen, die ihn immer wieder woanders hintrieb. Nur selten überkam ihn das Gefühl, er müsse bodenständiger werden oder gar die Finger lassen von der gelebten seriellen Monogamie. Das sollte warten.
Nachdem er sich angekleidet und einen vorläufigen Blick auf seinen „Ereignis-Kalender“ geworfen hatte, prüfte er noch einmal vorsorglich alles…
„Hatte er für heute Abend auch wirklich nichts vergessen?! Nein, mercerisierter Baumwollhipster in unschuldigem Weiß, natürlich von Calvin Klein; Boss-Anzug in Slim Passform; glattlederne Lloyd Schuhe, zweifarbig; signalhafter Hermesgürtel und die gleichmarkige „Cravate Façonnée H Bicolore“ in 100% Seide für den Button-Down Kragen an René Lezard-Gewebe.
„Alles da. Bin präpariert, kann losgehen!“, resümierte er noch ganz außer Atem ob des zügigen Zusammentragens aller Eindruckslenker.
Sein persönlicher Anschwärmfaktor schien sich für ihn so ganz allmählich ins Unermeßliche zu steigern…!.?
Dann: Selbstauflösende Schrecksekunde…„Halt! Das ovalblaue Rundstück für die garantierte Standfestigkeit und extrareißfeste Kondome sowie natürlich Lube für die geschmeidige Eindringlichkeit seiner Ausführungen, das muß natürlich mit!“, vervollständigte er süffisant und amüsiert seine Liste der siegesgewissen Helfershelfer; letztere würde das abendliche Objekt der Begierde sicher strafmildernd tolerieren...
Er wähnte sich als Herr über die erotisch-fantasierte Kontaktanbahnung und als überlistigen „Herrn der Ringe“, die seine Hose jenseits aller Markennamen haltsuchend umgürtelten…
Schließlich sahen auch Mitkonkurrenten seines Alters nicht weniger rundlich und unspektakulär aus, und dennoch hatten sie Erfolg, so sein selbstberuhigender Kommentar zur bestandskräftigen Selbstanalyse.
Er spekulierte auf den Trumpf seines Charmes und auf die inneren Werte, die er Zug um Zug zum Aufblühen bringen würde. Eine bewährte Strategie und ein lohnenswertes Unterfangen, wie es schien. Scheitern? Für ihn ein „No-Go“!
Nach einem eher durchschnittlichen Arbeitstag war die Stunde der Wahrheit gekommen. In der verabredeten Lokation hatte er also erwartungsgeschwängert den Tresen von heute Morgen mit dem eines stylischen Hotspots der Clubkultur getauscht. Er rutschte nervöser als üblich auf dem mühsam erkletterten Stahlrohr des nicht gerade bequemen Sitzmöbels, das seinem gedrungenen Unterleib so gar nicht entgegenkam. Er war versucht, die Unsicherheit durch einen coolen Blick zu überspielen und dabei seine Empfangsbereitschaft auf Tiefenschärfe einzustellen. Zum einen Teil gelang ihm das, der andere versagte dabei kläglich…Dennoch: Nichts sollte ihm verborgen bleiben; nichts wollte er sich entgehen lassen.
Ihren betörend-aufreizenden Blick, den Duft ihrer langen, blonden Haare, den „High-Heels“- bewegten Hüftschwung der hochgewachsenen Beine und das atemberaubende Outfit. Ganz abgesehen von dem Auf und Ab ihres sichtbar aufatmenden, bebenden Dekolletés und dem Offenbarungsrot ihrer vollmundigen Lippen...So zumindest erhoffte es sich die beseelte Absicht des Möchtegern-Casanovas für ihre traumtrunkene Erfüllung.
Er war bereit, sich selbstlos und kühn in die Topliga der Lustpotentaten zu begeben und dort erneut die zentrale Rolle des Liebeslibero einzunehmen.
Jetzt war es an ihr, seine Spielzüge zuzulassen und mit ihm aufzusteigen.
Während er das Eis im Cocktailglas seines Martini rouge mit dem Olivenstick stilsicher drehte, betrat sie endlich das Spielfeld.
Und wie sie das machte: Unbeirrbar, Schritt für Schritt, empfangsbereit, einfach direkt auf ihn zu.
Er taxierte sie dabei und suchte etwas an ihr zu entdecken, was er sich noch Sekunden zuvor so eroberungswürdig ausgemalt hatte.
Der angedachte wippende Gang war indes einem stiefellastigen, eher beherrscht kantigen Überbrückungsmanöver gewichen; noch dazu gab er kaum einen Millimeter ihrer Beine frei.
Der gemutmaßte elektrisierende Blick –,…er präsentierte sich hier unkalkulierbar als voltarmes, hornbebrilltes Kugelrund, während die prognostizierte Faszination ihres Dresscodes, ihm höchstens wegen ihrer unschmeichelhaften Schlichtheit die Sprache verschlug. Und auch die schmalllippigen und nur nude getönten umformenden Ränder ihrer makellosen Zahnreihen weckten in ihm auf den ersten Blick etwa soviel Leidenschaft und Lust auf die erste „Pressung“ wie bei einem Winzer nach dem frühzeitigen frostigen Kälteeinbruch gegenüber seinen gebeutelten Trauben.
„Vielleicht wird sich ja noch das olfaktorische Potential ihrer immerhin langen Haare als zugkräftig erweisen. Und vielleicht kann auch die durchaus erkennbare Dynamik ihrer hervorstechendsten Argumente das hoffnungsträchtige Mitbeben beim ein oder anderen Atemzug in ihm noch lustgewinnend auslösen...!?“, so die angestrengte Zuversichtsperspektive des Barbetroffenen.
Innerhalb kürzester Zeit war „seine Femme Fatale“ auf Durchschnittstyp runtergestuft und er zugleich unfreiwillig mit ihr –,...für‘s Erste war die Fallhöhe für den Endvierziger damit enorm; er schien soeben mit ungebremster Wucht und Härte in der schnöden Realität von Dating-Portal-Dates aufgeschlagen. Für eine Sekunde schoß ihm durch den Kopf, er hätte sie am besten „deleted“…
War er wirklich bereit, Abstriche zuzulassen?
In Slow-Motion sah er die letzten Meter des haarumwehten Mittelmaßes; ungehindert überwältigte sie sogleich den Tresen und ihn ähnlich energiegeladen. Mit einem entwaffnenden „Da bin ich also“, streckte sie ihm hintergründig lächelnd die Hand entgegen, während sie ebenso ungeziert wie gekonnt den Barhocker neben ihm erobert hatte.
Er nippte noch schnell an seinem Glas, lächelte jovial und etwas befremdet zurück und dachte: „Geschüttelt, statt gerührt also...!“ Natürlich, ihm wäre es in diesem Moment lieber gewesen, daß sich das Anzitat an seinen 007-Helden auch im übertragenen Sinne besser von der „Originalseite“ zeigte: Noch besser wäre es gewesen, sie hätte seine Gefühlswelt gleich derart auf den Kopf gestellt, daß er sich – gerührt und auch angenehm getroffen –, ihrer Erscheinung nicht hätte erwehren können.
Und nun?
Innerlich durchzuckte es ihn; damit schwanden zugleich auch alle bisherigen Eindruckssplitter aus seinem Kopf; er war gewillt, beiden eine Chance auf den zweiten Blick einzuräumen.
„Ja, schön, daß es geklappt hat…“, triumphierte seine wiedergewonnene Fassung über das Geschehen.
Im übrigen war ja auch weit und breit keine erstklassige Alternative zu sehen, die bezüglich seiner Entladungsambitionen hätten zeitnah Abhilfe schaffen können. Er hatte sich auf heute eingestellt. Er wollte es wissen. Er wollte!
„Beatrice, richtig?! Ich hab‘s nicht so mit Namen“, versuchte er ihren musternden Blicken standzuhalten. „Angelo ist übrigens wirklich mein Klarname, nicht mein Nickname…“, schob er aufklärerisch nach; dann fragte er nach, was sie trinken wolle. Natürlich hatte er dabei an perlenden Champagner gedacht.
Beatrice ließ sich auf einen „Campari Orange“ ein und fand beim Anstoßen sein Lächeln eine Spur zu breit, seine Stimme nicht so erotisch, wie sie beim letzten WhatsApp-Kontakt noch auf sie gewirkt hatte. Ihr war auch nicht entgangen, daß sich hinter seiner ganzen Markenwelt sein Bauch vehement gegen die betuchte Knopfleiste auflehnte. Und sie befand, daß der Begriff „Lachfalten“ in besagten Regionen noch mal einen ganz neuen Bedeutungshorizont dazugewinnen würde.
Angelo warf sprachtaktisch sein ganzes Know-how in die Waagschale: „Auf das, was kommt. Verbindlich unverbindlich!“, platzte er lakonisch lächelnd und mit „seiner Tür ins Haus“. Wie immer hoffte er auf kalkulierte Zustimmung.
Beatrice quittierte das Ansinnen mit einem augenzwinkernden „Eins : Null, für Dich!“ Und sie war sich dabei sicher, daß ihr Gegenüber die Zweideutigkeit ihrer Anspielung nicht mal annäherungsweise bemerkt hatte: „Sollte etwa eine wie „Sie“ mit einem wie ihm...?!“ Es dürfte ihm eigentlich nicht wirklich entgangen sein, daß Sie – den Schrittlängen und Distanzen zum Bartresen sei Dank – genügend Zeit gehabt hatte, um ihn eingehend zu mustern... So, jedenfalls Beatrice’ ebenso kritische wie selbstgewisse Vermutung.
„Angelo, welch verheißungsvoller Name…“, hatte sie noch beim letzten Blick in das Online-Portal gedacht…
Und jetzt war sie beim Eintritt in die Bar antriebsgemindert in den „Standby-Modus“ zurückgewichen: „Lieber Gott steh’ mir bei! Dann werd‘ ich’s schon durchstehen...“ Ursprünglich hatte sie sich vorgenommen, beherzt und mit raumgreifenden Schritten die etwa zehn Jahre ältere fleischgewordene Zweibeinigkeit an der Bar für ein Rendevous zu erobern.
Stattdessen hatte sie sich bereits mit der ersten ferndiagnostischen Inaugenscheinnahme darauf eingestellt, daß daraus nichts werden würde. So war sie, dem Anstand gehorchend, mit angezogener Handbremse auf ihn zugeschritten; immer darauf bedacht, sich die Enttäuschung nicht im Geringsten anmerken zu lassen.
Das Nahziel vor Augen wollte sie den Minusmief der wohlklingenden reichlich verkörperten sechs Buchstaben ihres Gegenübers einfach erst mal weglächeln. Zu selbstgefällig hatte dieser Angelo ihrer Einschätzung nach seine Ellbogen auf dem Tresen platziert. Seine Statur insgesamt wirkte fast ein wenig tolpatschig; das hatte er wohl dem für ihn zu groß geratenen Barhocker zu verdanken, bei dem die Füße wegen der erkennbar kurzen Beine Mühe hatten, richtig Halt zu finden, befand Beatrice in ihrer Körperanalyse.
Und seine überspielte Unsicherheit machte aus der zur Schau gestellten Coolness eine ungewollt gequälte Kreatur. Im übrigen hatte Beatrice beim buchstäblich schrittweisen Blick auf Angelo‘s bauchunterbewohnten „Untermieters“ auch desillusioniert registrieren müssen, daß letzterer ihn unübersehbar auf Normalmaß zurückgestutzt hatte – Den Anflug von Gedanken an fantasiebemühte Maßeinheiten versagte sie sich ebenso schnell wie er sich aufgedrängt hatte…
Sie konnte sich beim besten Willen bei ihm nicht mehr vorstellen, daß blutgetränkte Schwellkörper dazu beitragen könnten, die wahre Größe seines Gemächts zu untermauern und selbiges in die Lage versetzte, mit ihm über sich hinauszuwachsen…
Nichts war mehr zu erahnen von der Weltläufigkeit und Anziehungskraft des Zeilenzampanos vorausgelaufener Digitalwelten.
Beider Blicke waren unterdessen blutleerer geworden, ganz so wie die Gläser ihrer Aperitifs, die sie wohl wegen der stockenden Konversation ein wenig zu schnell geleert hatten.
Während der entzauberte Angelo noch darüber nachdachte, wie er die Situation etwa durch die Bestellung eines weiteren Drinks zu seinen Gunsten verbessern könnte, nahm ihm Beatrice ohne Umschweife die Sorge um die Fortsetzung des zweifelhaften Vergnügens:
„Ich nehme Dich beim Wort, Angelo. Lass mich verbindlich unverbindlich bleiben! Wir vergessen das hier einfach und verbuchen das unter „Frühlingserwachen“. Wir sind erwachsen genug, uns dieses Theater nicht weiter anzutun! Du bist in doppelter Hinsicht nicht die engelhafte Erscheinung, für die ich Dich in meiner Sexgier gehalten habe. Und ich merke, wie Du mich verzweifelt in zweiter Reihe parkst…! Auch wenn Du Dir redlich Mühe gibst, Deine Enttäuschung zu verbergen. „Second-Hand“ um jeden Preis…!? Das ist für mich keine Option! Ich dank Dir trotzdem für den Drink, mein Lieber und darf Dir jetzt aufrichtig Spaß mit weniger kritischen Chat-Buddies wünschen...“
Beatrice warf in Gewinnermanier ihren Kopf in den Nacken, sprang angetrieben vom Hocker und brachte sich souverän in den Stand.
Sie rückte den stahlrohrenen Dreibeiner beherzt in die Ausgangsposition zurück, im Begriff, unverzüglich den Rückzug anzutreten.
Angelo konnte sie gerade noch betroffen und irgendwie entlarvt mit einer Hand auf der Schulter ausbremsen.
„Respekt! Sicher, ich bin vielleicht nicht der, der Dir vorschwebt; und, ja, Du bist auch nicht das, was meinem sonstigen Beuteschema entgegenkommt. Aber willst Du mich wirklich so kalt stellen? Ist doch nicht ganz fair. Wir hätten uns sicher irgendwie arrangieren können und dabei wär‘ der Spaß erfahrungsgemäß auch nicht zu kurz gekommen...!?“ Hoffnung auf ein Gewinnergoal keimte in ihm auf
Beatrice war geradezu belustigt über soviel Mittelmäßigkeit und Naivität. Darüber hinaus fühlte sie sich nur noch mehr bestätigt. Sie entriß sich entschlossen der flehentlichen Gegenwehr und ließ Angelo gekränkt und ratlos zurück. Ihre gesamte Erscheinung beatmete jetzt durchdringend den Raum. Dazu sah sie mit ihrem siegreichen Lächeln, in ihrem wiegenden Gang und angesichts der Leichtigkeit ihrer Bewegungen plötzlich viel anmutiger und attraktiver aus.
Sie hatte mit nur einer Buchstabenlänge Vorsprung ihrem Namen alle Ehre gemacht; war bereit gewesen, dem „Verirrten“ wie die Seligmachende in Dante’s göttlicher Komödie zur Seite zu stehen beim Durchkreisen der Sphären der Sehnsuchtshimmel durch das Paradiso – nur, daß sie ihm den Weg in den Feuerhimmel mit all seiner Herrlichkeit heutzutage offensiv versperren mußte!
Soeben das „Geliked“ entzogen; ihn einfach mal eben zukunftsträchtig „geblockt“!
Und der Übergang in das „Freudenreich“ mit „Ihr“ -,…
…er [!] hatte ihn ganz einfach nicht mehr verdient!
Es war kalt geworden in der etwas in die Jahre gekommenen Berner Villa im Bauhausstil mit der unberührten Fassade. Man sah dem architektonischen Kleinod heute irgendwie an, daß der Mix aus edlen Materialien und mannigfaltigen Weißtönen den Blick auf die ihm innewohnende Alltagstristesse zu verhüllen suchte.
Der Himmel verdüsterte sich, wolkenverhangen. Ein zorniges Gewitter zog auf. Und sie wollte nur eben schnell die Fensterläden schließen, noch bevor er mal wieder verspätet nachhause käme.
Er mochte es nämlich nicht, wenn die Scheiben des so wohl geordneten Rechtecks, in dem sie seit ungezählten Jahren lebten, tropfnasse Schlieren bildeten und dabei einen inakzeptablen Grauschleier verursachten; die Durchsicht auf das Wesentliche wäre dadurch enorm getrübt: „Sie werfen auch ein ganz schlechtes Licht auf die häuslichen Verhältnisse, wenn Du sie nicht unverzüglich beseitigst...!“, hämmerten sich erinnernd seine Worte in ihr Ohr.
Und sie wußte, daß sie sich dieser Aufgabe wird widmen müssen, wenn nur erst das Wetter ihr die Chance dazu gäbe. Sie hing für einen überraschten Moment ihren Gedanken nach, während das handanatomisch perfekt überkreuzende Riegelschloß beider großformatigen Fensterladenhälften einrastete.
Exakt dort, wo sie mittig zusammentrafen. Es kam ihr diesmal etwas beschwerlicher vor als sonst und auch die Schatten, die das Innenlicht durch die Lamellen hindurch nach draußen projizierte, wirkten dunkler, unförmiger, bedrohlicher als gewöhnlich. Sie waren den gerade einsetzenden Donnergeräuschen und Blitzlichtern ebenbürtig; selbst der sintflutartige Niederschlag bereitete ihr jetzt Sorge.
„Regina, Regina, wieder mal im Regen stehen gelassen“, so ihre metaphorische Selbstberuhigung. Und sie bemerkte resigniert, daß das einzige, was ihr derzeit mit dem prasselnden Nass zu eigen war, sich auf die gemeinsamen Anfangsbuchstaben beschränkte: „Als ob es die Möglichkeit eines Zurück aus dem tiefen Fall geben könnte...“, entsprang es Regina's ernüchterndem Abgleich.
Aus der einstigen „göttlichen Königin“, zu der ihre Eltern sie hoffnungsfroh mit der Taufe gemacht hatten – und die namensgemäß von ihm verlangte, sie auf Händen zu tragen, war unterdessen etwas anderes geworden; sie war anders geworden! Auch der Glanz „ihrer Krone“ damit matter...
Er hatte sie unter seinen Händen ungefragt ganz allmählich zu einer „Wassernixe im Dauer-Schauer“ geformt:
Zu einer, die sich, abgetaucht unter der Oberfläche, durch das Leben schlängelte und deren Beine durch eine beengende Flosse zusammengehalten, längst nicht allen Strömungswiderständen trotzen konnte.
Die ihr gleichsam den festen Boden unter den Füßen raubte. Die ihr noch dazu die Entscheidung darüber abzunehmen schien, ob die Unterwelt ihr Zuhause bleiben würde, oder ob andere Erdenbürger sie mit dieser „Behinderung“ überhaupt je ernstzunehmend in ihre Welt aufnähmen und sie dort auch als eine von ihnen würden ertragen können....!? Sie fröstelte kurz. Schüttelte sich, die aufsteigenden Tränen mühsam unterdrückend.
Dann versagte sie sich weitergehende Diagnosen.
Jetzt, zusätzlich abgeriegelt von der Welt dort draußen, vergewisserte sie sich nochmals abschließend: „Ja, alles war gut verschlossen.“
Beim Blick über die wohl geformte Tischdecke fuhren ihre erkalteten und leicht zittrigen Finger über das kostbare Leinen. Regina nestelte erst an einer sich auflehnenden Falte, die sich im naturreinen Stoff über den ausladenden Wengeholz-Vierbeiner gelegt hatte; dann schloß sie sogleich den Berührungspfad entmutigt entlang der Knopfleiste ihres cashmeregewebten Twin-Sets ab.
„Umsonst umsorgt, vermutlich verkocht!?“, dämmerte es ihr nicht das erste mal. Das Essen.....,– kalt. Wie so oft in letzter Zeit. So erkaltet wie ihre mehr als fragil gewordene Beziehung, die zwischenzeitlich auf äußerst tönernen Füssen stand. „Es wird später“, hatte er vorhin noch ungeniert angekündigt.
Und sie wußte, daß es nicht arbeitsbedingt war.
Seine Affäre mit diesem „Phantom“ und dem unaufgeregten Initial „I“ hatte das andropausenhafte Feuer in ihm entfacht. Das wußte Regina von einem Stofftaschentuch, das den Namen der Unbekannten mit einem Großbuchstaben preisgab; sie hatte es vor nur drei Monaten eher unfreiwillig zum Waschen aus seiner Hosentasche entnommen, um es zu entsorgen, ohne danach je nach Aufklärung zu fragen. So war dieses „I“ nicht mehr ganz so klammheimlich zur personalisierten Ursache und Wirkung zugleich avanciert für seinen selbstherrlichen „Zweiten Frühling“.
„Ich verstehe, Stefan“, hatte sie abgestumpft in den Skype-Himmel zurückgemeldet, hoffend, daß er ihr die digitale Demütigung nicht sofort ansah. „Geht schon in Ordnung!“, konnte sie schnell noch routinemäßig nachschieben, bevor die Verbindung buchstäblich einseitig von ihm abgebrochen wurde.
Sein Machtmonopol (sollte sie es treffender als „Monopoly“ beschreiben…?) hatte das Chaos geradewegs perfekt bis in die virtuelle Dimension verlängert. Es wollte so gar nicht in das von ihm sonst so geschätzte Ordnungsprinzip passen. Ihr wurde bewußt, daß sie immer noch bemüht war, alles irgendwie zusammenzuhalten. Und doch: Ihr Resilienz-Akku schwächelte zunehmend, regelmäßig befüttert by Skype. Und natürlich von der stets virulenten Unperson, mit dem fraglichen Initial.
Stefan und sie …–, das fügte sich schon lange nicht mehr zu einem Paar. Unmerklich, aber nicht weniger schmerzlich zumindest für sie, war ihre Geschichte Geschichte geworden!
Beim Abräumen wanderten ihre Blicke von Wand zu Wand, nun zusätzlich getrieben vom Unwettertakt draußen. Sie blieben über jeden Tellerrand erhaben an dem hängen, was auch ihr einstmals das Gefühl von Ordnung gegeben hatte: Geschmackvolle Bilder hielten noch immer in noch geschmackvolleren Rahmen ihr kinderloses Leben auf anschauliche Weise fest.