4,99 €
Wozu so viel trainieren? Warum dem ersten Platz hinterherlaufen? Fragen, die sich Aurelie nie gestellt hatte. Gewinnen war ein Teil von ihr. Blöd nur, dass ihr diese Antwort auf einmal nicht mehr reichte. Aurelie will sich nicht mehr im Sport verrennen. Lieber möchte sie auf ein Date mit Marlon gehen. Sie wird ihren Ehrgeiz, die Beste sein zu wollen, schon in den Griff bekommen – auch falls sie es in den Kader schafft. Mit einem brüchigen Elternhaus, einer Schwester auf dem Selbstfindungstrip und einer anspruchsvollen Trainerin, wird Aurelies Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt. Was gibt ihr Halt, wenn die Selbstzweifel überhandnehmen und ein Fehltritt alles ins Wanken bringt? Bevor sie sich versieht, geht es weniger ums Gewinnen, als vielmehr darum, nicht alles zu verlieren.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kiki Sieg
Kiki Sieg wurde 1989 in der Nähe von Köln geboren und ist zwischen Rheinland und Eifel aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie überwiegend schwimmend, Rad fahrend und laufend. Sie hat Geographie in Bonn und Münster studiert und war für Auslandssemester in den USA und Finnland. Heute lebt sie mit ihrer Familie in einem roten Holzhaus im schwedischen Wald und macht das, was sie schon immer machen wollte: Geschichten erzählen.
Von Kiki Sieg bisher erschienen:
Swim Away. Sportroman (Teil 1 der Triathlon-Trilogie)
Bike Away. Sportroman (Teil 2 der Triathlon-Trilogie)
Run Away. Sportroman (Teil 3 der Triathlon-Trilogie)
Wozu so viel trainieren? Warum dem ersten Platz hinterherlaufen?
Fragen, die sich Aurelie nie gestellt hatte.
Gewinnen war ein Teil von ihr.
Blöd nur, dass ihr diese Antwort auf einmal nicht mehr reichte.
Aurelie will sich nicht mehr im Sport verrennen. Lieber möchte sie auf ein Date mit Marlon gehen. Sie wird ihren Ehrgeiz, die Beste sein zu wollen, schon in den Griff bekommen – auch falls sie es in den Kader schafft.
Mit einem brüchigen Elternhaus, einer Schwester auf dem Selbstfindungstrip und einer anspruchsvollen Trainerin, wird Aurelies Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt. Was gibt ihr Halt, wenn die Selbstzweifel überhandnehmen und ein Fehltritt alles ins Wanken bringt?
Bevor sie sich versieht, geht es weniger ums Gewinnen, als vielmehr darum, nicht alles zu verlieren.
Copyright © 2. Auflage 2025 Kiki Sieg
© 2020 Kiki Sieg - alle Rechte vorbehalten
Kerstin Siegburg
Kvarnhagen 1
57474 Ramkvilla
Schweden
Korrektorat: Annika Tag, Gailingen
Cover: Frederike Schmengler, Köln
Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
Schreib mir: [email protected]
Kiki Sieg Newsletter: www.siegbooks.com/Newsletter
Instagram: @kikisieg
Facebook: @kikisieg
Triggerwarnung: Sportsucht, Alkoholsucht, Scheidung
Für Laura,
die die Geschichte zum Leben erweckt hat
Hol dir das kostenlose Bonuskapitel zu Swim Away direkt in dein E-Mail-Postfach!
Tauche noch einmal in die Welt von Swim Away ein - diesmal aus der Sicht von Marlon!
Das Bonuskapitel setzt nahtlos am Ende von Swim Away an.
Einfach hier eintragen und gleich weiterlesen:
https://siegbooks.com/bonus-swimaway/
Neunziger Jahre
Die Schotterwüste verdiente die Bezeichnung Straße nicht. Eine Straße erleichterte das Vorankommen. Dafür war sie erfunden worden. Diese hier war von der kargen Landschaft kaum zu unterscheiden. Schlaglöcher und distelartige Sträucher verwandelten die steile Strecke zusätzlich in einen Slalomparcours, der darauf angelegt schien, jede Seele in die Verzweiflung zu treiben.
Die Menschheit befände sich noch immer auf dem zivilisatorischen Stand der Steinzeit, wenn alle Straßen wären wie diese, dachte er und verlor sich in einer Reihe von Beschimpfungen. Spitze Steinchen sprangen zur Seite, trafen seine sehnigen Waden oder den Rahmen seines Fahrrades. Der Schmerz erinnerte ihn daran, dass er in Bewegung war.
Auf seinen wettergegerbten Unterarmen hatte sich eine salzige Dreckkruste gebildet. Seine Kopfhaut, staubig und überhitzt, juckte unter dem schalenförmigen Helm. Eine verschwitzte Haarsträhne hing ihm vor den Augen.
Die Überquerung des viertausend Meter hohen Passes war der vorläufige Höhepunkt eines Abenteuers, in das er sich vor sechs Monaten mit einem aufgemöbelten Trekkingrad tausende von Kilometern entfernt aufgemacht hatte. Er war mit Erwartungen gestartet, an die er sich nicht mehr erinnerte. Das Leben war erstaunlich simpel, wenn man es an der Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit führte.
Den ganzen Tag saß er im Sattel.
Seit Stunden fuhr er bergauf.
Unten im Tal hatte er seine Vorräte in einem heruntergekommenen supermercado aufgefüllt. Bei der Erinnerung an den süßlichen Geruch der Lebensmittel im Laden drehte sich ihm der Magen um. Die Kassiererin, eine Chilenin mit glänzendem schwarzem Haar, hatte ihm neugierig zugelächelt. Es kam nicht oft vor, dass sie jemanden wie ihn traf, mit Gepäcktaschen an Vorder- und Hinterrad, selbst montierten Scheinwerfern, abgenutzten Radhandschuhen und deutschem Akzent. Er hatte ihre Worte noch im Ohr: ¡Buena suerte! – Hals- und Beinbruch.
Die Sonne brannte auf seinen Nacken. Der Schweiß tropfte ihm von der Nasenspitze. Er betrachtete das schmale Oberrohr des dunkelbraun lackierten Fahrrades. Der Stoff des Radtrikots kratzte am Kragen. Für einen Moment schloss er die Augen und legte die ganze Aufmerksamkeit auf den nächsten Tritt. Das Brennen in seinen Oberschenkeln. Atemzug für Atemzug, Tritt für Tritt.
Er hatte den Mund aufgerissen, den Rücken gekrümmt und umklammerte das Lenkrad wie einen Rettungsanker. Je länger sich der Anstieg dahinzog, desto unaufhaltsamer pochten Fragen in ihm: Warum tat er sich das an? Was war der Sinn dieser Quälerei? Wie sollte es danach weitergehen?
Der Pass bog rechts ab, gab den Blick frei auf Himmel und Gebirge. Er sah die Christusstatue, die die Passüberquerung und damit die Grenze zwischen Argentinien und Chile markierte – sah, wie weit es bis dahin noch war.
Er vergaß, dass er einen Gang hätte herunterschalten können. Als hätte er eine rote Ampel erreicht, klickte er die Schuhe aus den Pedalen. Keuchend griff er nach seiner Trinkflasche.
Am Ende seiner körperlichen Kräfte war er in den letzten Wochen oft gewesen.
Am Ende seiner mentalen hingegen noch nicht.
Ohne den Fahrtwind war die Hitze kaum auszuhalten. Mit zitternden Knien hockte er auf einem Felsen, aß eine überreife Banane und versuchte, seinem schmerzenden Rücken Linderung zu verschaffen. Überdeutlich spürte er jede Faser seines Körpers.
Seine Kommilitonen in Deutschland hatten recht gehabt. Man unterbrach sein Studium nicht, um mit dem Rad durch Südamerika zu fahren. Man wartete auf die Semesterferien, fuhr nach Südfrankreich oder an den Gardasee. Mit dem Auto.
Das hier waren die neunziger Jahre. Wer ins Flugzeug stieg, um ein Abenteuer am anderen Ende der Welt zu erleben, war selbst schuld.
Trotzdem – was würde er für eine vertraute Stimme geben, die ihm Mut zusprach. Die nächste Telefonzelle befand sich im Tal, das weit hinter ihm lag. Vielleicht gab es einen Apparat auf dem Gipfel. War das realistisch? Es spielte keine Rolle, denn er konnte sich ein Ferngespräch nach Europa eh nicht leisten. Die Tafel Zartbitterschokolade, die er im supermercado gekauft hatte, weil sie ihn an Zuhause erinnerte, hatte sein Tagesbudget schon gesprengt.
Doch was wäre, wenn er sie anriefe?
Jeden Abend, wenn er sich in seinem Schlafsack auf der dünnen Isomatte zusammenrollte und zuschaute, wie sich die Plane des Ein-Mann-Zeltes im Wind bewegte, dachte er an sie. An ihre bernsteinfarbenen Augen, hinter denen das Feuer brannte und an ihre geschwungenen Lippen, die zu einem Lächeln aufgelegt waren. An das Kleid, das sie bei ihrem ersten Tanz getragen hatte. Roséfarben, mit aufwändig gesticktem Saum und aufgenähten Blumenornamenten. Im Taillenbereich schwarz. Bei jeder anderen Frau hätte es kitschig gewirkt. Sie hatte es ohne Schmuck und mit hochgestecktem Haar getragen und ihm den Atem geraubt. In dieser winzigen, verrauchten Bar am Rande von Tigre hatte er die Augen nicht von ihr abgewendet. Sie hatten Tapas gegessen, Wein getrunken und bis zum Morgengrauen geredet.
Bei ihrem letzten Telefonat hatte sie abgelenkt geklungen. Oder bildete er sich das ein, weil er nicht glauben konnte, dass sie sich trotz seiner verrückten Träume und dem kleinen Geldbeutel für ihn entschieden hatte?
Er erreichte die Passüberquerung Paso de la Cumbre Stunden später. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in ein spektakuläres Abendrot. Die Luft war dünn, aber sie einzuatmen befreiend.
»Was für ein Leben willst du führen?«, hatte sie vor seiner Abreise gefragt.
Er hatte keine Antwort gehabt.
Hier, mit Sicht auf den Cerro Aconcagua, den höchsten Berg Südamerikas, wusste er es plötzlich.
Bald konnte er sie wieder in die Arme schließen. Er würde aussprechen, was er schon am Tag seiner Abreise empfunden, aber nicht in Worte hatte fassen können.
Dass er ein Leben mit ihr führen wollte.
Und dass er sie liebte.
Heute
Für einen Dienstagnachmittag Anfang Oktober war der Fußgängerweg an der List überfüllt. Aurelie konnte das beurteilen, schließlich joggte sie an allen Wochentagen, bei jeder Wetterlage und in allen Jahreszeiten dort entlang. Der Herbst stand in den Startlöchern. Eine schnelle Laufrunde an einem sonnigen Tag wie diesem musste einfach sein.
Sie wich Kinderwagen aus und überholte Männer, denen man selbst in einem Funktionsshirt ansah, dass sie sechzig Stunden pro Woche eingeschnürt in Anzug und Krawatte verbrachten. Versuchte einer von ihnen, sich an Aurelies Ferse zu heften, wechselte sie in einen zügigen Dauerlauf, den sie beibehielt, bis das verbissene Keuchen hinter ihr nicht mehr zu hören war.
Man könnte also sagen, es war alles wie immer.
Trotzdem hatte sich in den letzten Wochen einiges verändert. Aurelies linkes Handgelenk war zum Beispiel frei. Ihre Sportuhr ruhte in einer Schublade zwischen Startnummernband und Zeitmesstransponder in ihrem Kleiderschrank. Nur ein heller Abdruck auf der Haut deutete darauf hin, dass an dieser Stelle noch nicht lange etwas fehlte.
Sie hüpfte die schmalen Treppenstufen der Fußgängerbrücke hoch, die über den Kanal führte. Auf der Mitte lehnte sie sich an das Geländer und atmete die frische Luft ein. Links sah sie den Sprungturm des Freibades. Das Wasser war aus den Becken gelassen und die gesamte Anlage winterfest gemacht worden. Der Anblick der Schrebergartensiedlung auf der anderen Seite riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Sportuhr hatte viele tolle Funktionen: Geschwindigkeitsmessung, Herzfrequenz, GPS, Höhenprofil, Kalorienverbrauch, Erholungsstatus ... Die eine Funktion, die nichts mit sportlicher Leistung zu tun hatte, hätte sie jetzt am dringendsten gebraucht.
Ein Jogger mit weißen Kopfhörern in den Ohren kam die Brücke entlang auf sie zugelaufen. Aurelie erspähte die dicke Uhr an seinem Handgelenk.
»Entschuldigung«, rief sie. »Wie viel Uhr ist es?«
Auf der Stelle trabend, drückte der Jogger mehrere Knöpfe.
»Zwanzig vor drei«, keuchte er.
»Danke«, stieß sie hervor und drehte auf dem Absatz um, um in die Richtung zurückzurennen, aus der sie gekommen war.
Aurelie flog über den Bürgersteig. Sie bog in die Sturmstraße ein. Von Weitem sah sie den braunen Haarschopf ihrer Mutter zwischen den Ästen des Kirschlorbeers im Vorgarten hervorlugen. Durch das offene Gartentor sprintete sie in Richtung Haustür. Zu spät sah sie die grüne Gießkanne, die umgekippt auf dem schmalen Weg aus Pflastersteinen lag und stolperte. »Mama!«
Ihre Mutter reagierte nicht. Mit Gartenhandschuhen und Heckenschere bewaffnet, schnitt sie eine weitere Ecke in den Kirschlorbeer.
Im Flur schleuderte Aurelie ihre Laufschuhe in Richtung des antiken Schuhschrankes. Auf halber Treppe kehrte sie um und stellte die Schuhe ordentlich auf das zusammengelegte Stück Zeitungspapier in der untersten Regalreihe.
Erst jetzt nahm sie den deftigen Geruch von Rüben, Karotten und Speck aus der Küche wahr. Übelkeit stieg in ihr hoch. Vielleicht, weil sie gerade trainiert hatte. Vielleicht wegen der Erinnerung, die vor ihrem inneren Auge auftauchte: Ihre Eltern, Agnes und sie, wie sie an kalten Herbsttagen im Wohnzimmer zu Abend aßen. Im Fernseher liefen die Nachrichten. Damals hatte es oft Steckrüben-Eintopf gegeben.
Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass ihr eine halbe Stunde blieb, um zu duschen, sich umzuziehen und in die Stadt zu laufen. Aurelie eilte in ihr Zimmer und warf ihre Laufklamotten von sich. Bevor sie sich ihr Handtuch schnappte, checkte sie ihr Smartphone, das auf dem Schreibtisch neben ihrem Schulrucksack lag.
Keine neuen Nachrichten.
Im Bad stieß sie mit ihrer Schwester zusammen. Agnes lehnte am Waschbecken und zupfte ihre Augenbrauen im grellen Licht des Badezimmerspiegels. Sie hatte noch nie so viele Stunden im Bad verbracht wie in der letzten Zeit. Es musste an den Motivationskarten liegen, die sie rund um den Spiegel geklebt hatte. Am meisten hatte es Aurelie die cremefarbene Karte über den Zahnputzbechern angetan, auf der »Werde, der du bist« stand. Friedrich Nietzsche hatte damit bestimmt nicht gemeint, das Bad jeden Abend mit einer zwölfteiligen Hautpflegeroutine zu belegen.
Aurelie stopfte ihre Laufklamotten in den Wäschekorb und stieg unter die Dusche.
Agnes warf ihr durch den Spiegel einen Blick zu. »Ich bin hier beschäftigt.«
»Aber nicht in der Dusche«, antwortete Aurelie über das prasselnde Wasser hinweg. Sie schäumte ihre Haare ein. »So dicht sind deine Augenbrauen schließlich noch nicht.« Sie war aus dem Bad raus, bevor Agnes mit der zweiten Augenbraue begonnen hatte. Vor ihrem Kleiderschrank kam Aurelie einen Moment ins Stocken. Sie hätte sich vorher ein Outfit zurechtlegen sollen, wie sie es in der Wechselzone vor einem Triathlon tat. Jetzt fehlten ihr nicht nur die Zeit, sondern auch die Nerven, um lange über ihre Kleiderwahl nachzudenken. Sie griff das Erstbeste, was ihr in die Hände fiel, kämmte ihre nassen braunen Haare und band sie zu einem Zopf zusammen. Zuletzt tippte sie eine Nachricht:
WER ZUERST DA IST!
Als Aurelie schon einen Kilometer im Laufschritt durch Hannover geeilt war, erinnerte sie sich daran, dass ihr Vater keine Steckrüben mochte. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ihre Mutter dieses Gericht kochte. Weil ihr Vater nicht mit ihnen zu Abend aß.
Er wohnte ja nicht mehr bei ihnen.
Aurelie legte einen Zahn zu, fiel fast in ein leichtes Joggen. Sofort wechselte ihr Körper in den Sport-Modus und begann zu schwitzen. Sie verlangsamte ihr Tempo und hob ihren Arm, um ihren Achselbereich zu überprüfen. Warum war ihr ausgerechnet ein petrolfarbenes T-Shirt aus dem Schrank entgegengefallen? Darauf sah man Schweißflecken besonders schnell. Sie kam an einem Sanitätshaus vorbei, das an diesem sonnigen Nachmittag geschlossen hatte. Vor dem Schaufenster blieb sie stehen und betrachtete ihr Spiegelbild. Über dem T-Shirt trug sie eine Jeansjacke. Dazu eine schwarze, enganliegende Jeans. Unauffällige Sneakers. Zum Schminken hatte ihr die Zeit gefehlt, aber so wirkte sie wenigstens nicht so, als hätte sie sich Mühe gegeben.
Nur, falls er es auch nicht getan hatte.
Ihr Blick fiel auf den Rollator, der im Schaufenster zwischen Gesundheitseinlagen und Broschüren über ambulante Pflegedienste drapiert war. Kurz bevor sie im wahrsten Sinne des Wortes das erste Mal mit Marlon zusammengestoßen war, hatte sie fast eine Frau mit Rollator umgefahren. Aber nur fast. Es war gerade nochmal gut gegangen. Der ganze Sommer war gerade nochmal gut gegangen. Sie hatte es unversehrt bis hierhin geschafft. Okay, dann war sie eben so aufgeregt, dass ihre Hände zitterten. Dann spürte sie die Röte in ihrem Gesicht eben bereits. Kein Grund, noch nervöser zu werden.
Es war doch nur das erste offizielle Date ihres Lebens.
Was sollte schon schiefgehen? Sie würde einfach wie festgefroren auf ihrem Stuhl dasitzen, mit Schweißflecken, die bis zur Taille reichten und Marlon ins Koma schweigen. Aurelie zog ihren Zopf nach, klappte den Kragen ihrer Jeansjacke runter und wischte die feuchten Handinnenflächen an der Jeans ab. In normalem Tempo schritt sie durch Hannovers Einkaufsmeile und überlegte, was sie sagen könnte.
Marlon hatte einen der schönsten Laufstile, den sie jemals gesehen hatte. Er konnte sich quälen, was an sich schon eine Eigenschaft war, die Aurelie bewunderte. Noch mehr bewunderte sie jedoch, wie leicht es bei ihm wirkte. Nach dem Training fiel alle Anstrengung von ihm ab. Er war ausgelassen und ausgeglichen, egal, ob es gut oder schlecht für ihn gelaufen war.
Sie seufzte. Alles schöne Punkte, doch es gab ein Problem: Sie hatte sich vorgenommen, einmal nicht pausenlos über Triathlon zu reden. Klar, der Sport verband sie. Aber Aurelie wollte Marlon zeigen, dass sie mehr ausmachte als Sportverrücktheit.
Und sich selbst auch.
Aurelie bog endlich in die Seitenstraße ein, in der das Eiscafé Rom lag. Ihr Blick wurde schon von Weitem von Marlon angezogen, der neben der überladenden Eis-Tafel stand. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Er hatte die Arme locker vor dem Oberkörper verschränkt und beobachtete zwei Kinder, die mit prall gefüllten Eishörnchen aus dem Eingang stolzierten. Die Schlange vor der Eisdiele war lang und fast alle Plätze in der Sonne draußen belegt. Marlons braunen Locken waren kürzer als beim Radtraining letztes Wochenende. Er trug ein Hemd und bemerkte nicht mal, dass ihm zwei hübsche Mädchen am Tisch links von ihm schmachtende Blicke zuwarfen.
Aurelie unterdrückte das Bedürfnis, hinter der Litfaßsäule mit Werbung für eine Schülerhilfe zu verschwinden, die Beine in die Hand zu nehmen und so lange zu rennen, bis sich ihr Herz nur noch aus Anstrengung überschlug. So viel hatte sie sich diesen Sommer geleistet: Sie war ihrem Team davon gerannt, hatte heimlich bei der Konkurrenz mittrainiert, nur an den nächsten Wettkampf gedacht. Sie hatte Marlon vor den Kopf gestoßen.
Trotzdem wollte er sich mit ihr treffen.
Aurelie schaute auf ihre Handy-Uhr. Sie hatte sich so beeilt, dass selbst sie zehn Minuten zu früh dran war. Und Marlon wartete längst. Sie gab sich einen Ruck und ging auf ihn zu. Ein Lächeln legte sich ganz von alleine auf ihr Gesicht. Marlon hatte sein Handy herausgeholt und war in den Bildschirm vertieft. Je näher Aurelie ihm kam, desto mehr Adrenalin schoss durch ihren Körper. Nur noch zwanzig Meter von ihm entfernt schlängelte sie sich an einer Großfamilie vorbei, die den ganzen Bürgersteig in Beschlag nahm. Sie wollte schon seinen Namen rufen, als Marlon sich plötzlich merkwürdig straffte und sein Handy in die Hosentasche stopfte. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Mit zusammengezogenen Augenbrauen scannte er die Umgebung ab. Aurelie hob die Hand, doch er nahm es nicht wahr. Er zögerte, drehte sich abrupt um und verschwand mit schnellen Schritten hinter der nächsten Straßenecke.
Aurelie wartete. Abgesehen davon, dass ein Bus die Kreuzung überquerte, passierte nichts. Sie folgte Marlon, vorbei an den zwei tuschelnden Mädchen und sah gerade noch, wie sein Lockenkopf in der sich schließenden Bustür verschwand.
Mit dem Adrenalin verschwand Aurelies Aufregung. Der Appetit auf Eis war ihr schlagartig vergangen.
In ihrer Hosentasche vibrierte es. Einen kurzen Augenblick hoffte sie, dass es ihr Vater war, der sich endlich bei ihr meldete. Doch die Nachricht war von Marlon.
Schaff es heute nicht. Tut mir leid.
Ob ihr Vater oder Marlon – das Gefühl, versetzt worden zu sein, nicht gut genug zu sein, war genau das gleiche.
Aurelie stürmte durch die Reihen des Supermarktes, vorbei an einem Vater mit zwei gleich gekleideten Mädchen im Einkaufswagen sitzend und einer Studentin, die eine Flasche Federweißen prüfend in der Hand hielt. Aurelie musste den Einkauf so schnell wie möglich hinter sich bringen, denn die aufgereihten Mais-Konserven und etikettierten Sonderangebote erinnerten sie an denjenigen, an den sie nicht denken wollte.
Marlon arbeitete seit neuestem in einem Supermarkt – nicht in diesem, Aurelie war ja nicht lebensmüde – aber in einem, der genauso aussah. Vielleicht war er für einen Kollegen eingesprungen und hatte auf ein Eisdielen-Date mit ihr verzichtet, um Regale einzuräumen. In dem Fall wollte Aurelie nicht wirken, als hätte sie nach ihm gesucht. Vielleicht hatte er vergessen, dass er eine Fahrstunde hatte. Oder er hatte Altglas wegbringen müssen, oder, oder, oder ...
Was für lahme Ausreden! Aurelie ärgerte sich am meisten darüber, dass sie sich nach einer Entschuldigung dafür sehnte, dass Marlon sie nicht nur in letzter Sekunde versetzt, sondern ihr obendrein eine klägliche, einzeilige Nachricht geschickt hatte. Darauf würde sie sicher nicht antworten. Er hätte wenigstens anrufen können.
Sie pfefferte Crème fraîche, Schmand und Speck in den roten Einkaufskorb und schritt das Kühlregal entlang, um frische Hefe zu suchen. Sie war für Marlon über ihren Schatten gesprungen; einen Schatten aus Schweißflecken und unsicheren Blicken in Schaufensterfronten.
Und was hatte er getan?
Dafür gesorgt, dass das erste Date in ihrem Leben ein Reinfall geworden war, bevor es überhaupt angefangen hatte. Als hätte jemand sie darin bestärkt, das Siegerpodest zu erklimmen und absichtlich wieder herunter geschubst.
Versetzt zu werden war fast genauso schlimm, wie zu verlieren. Aurelie schmiss ein Bund Frühlingszwiebeln auf ihre Einkäufe und ging zur Kasse, an der eine gelangweilt aussehende Aushilfe auf sie wartete. Außerdem hatte sie sich den ganzen Tag auf einen Erdbeerbecher mit Sahne gefreut. Den hatte Marlon ihr auch versaut.
Bevor Aurelie den Haustürschlüssel aus der Hosentasche ziehen konnte, hatte Agnes ihr schon geöffnet. Ihre Augenbrauen waren jetzt nicht nur perfekt gezupft, sondern auch noch in einem Braunton nachgemalt, der zu dunkel für ihre blonden Haare war. Sie trug einen rosafarbenen Cardigan und Leggins.
Auch wenn Agnes nicht mehr den ganzen Tag lernte, hatte sich an ihrem Tagesablauf nicht viel geändert. Statt am Schreibtisch zu sitzen, lag sie nun auf dem Bett und schaute Netflix. Zufrieden wirkte sie damit nicht, das konnten selbst die Balken über ihren Augen nicht vertuschen. Aurelie ging grußlos in die Küche und legte ihre Einkäufe auf der Anrichte ab.
»Was ist dir über die Leber gelaufen?«, fragte Agnes.
»Will nicht drüber reden.«
»Wenigstens eine Person in dieser Familie, die bei Trost ist.«
»Hat Mama die Gartenarbeit nicht geholfen?« Ein stechender Geruch stieg Aurelie in die Nase. Sie schaute sich in der Küche um. »Und warum riecht es hier so verbrannt?«
»Sie hat den Eintopf auf dem Herd vergessen.« Agnes deutete zur Spüle. Neben einem Berg aus dreckigem Geschirr stand dort das, was das Abendessen hätte werden sollen, aber nun zu einer unerkennbaren, angebrannten Matsche geworden war. In den Wochen, in denen sie nur noch zu dritt in dem großen Haus wohnten, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren gekauft und renoviert hatten, hatte sich ihre Mutter verändert.
Erst hatte es vielversprechend ausgesehen. Ihre Mutter hatte befreit gewirkt und war nicht mehr auf Kleinigkeiten herumgeritten. Dann war es umgeschlagen, wann genau, konnte Aurelie nicht sagen. Jetzt putzte ihre Mutter nicht mehr, mied Supermärkte, kochte zu merkwürdigen Uhrzeiten. Das Lavendelraumspray war aufgebraucht. Die gebügelten Hemden ihres Vaters waren aus dem Treppenhaus verschwunden. Bis auf Toms Mutter Penelope kam niemand mehr zu Besuch.
Kurzum: Obwohl ihre Mutter höchstpersönlich ihren Mann vor die Tür gesetzt hatte, kam sie damit überhaupt nicht klar.
Der Anblick im Wohnzimmer bestätigte es einmal mehr. Die Haare ihrer Mutter waren ungewaschen. Unfrisierte Strähnen hingen in ihrem Gesicht. Die verquollenen Augen darunter waren nicht zu übersehen. Ihre Nägel waren dreckig von der Gartenarbeit. Sie hatte sich den grün-goldenen Hermès-Schal um die Schultern geschlungen, den Aurelies Vater ihr mal zum Jahrestag geschenkt hatte.
Auf dem Beistelltischchen vor ihr lugte unter unzähligen benutzten Taschentüchern die Heckenschere hervor. Sie zog die Nase hoch und versuchte sich an einem Lächeln, wobei ihr die Tränen umso mehr über die Wangen liefen. Aurelie hatte sich an die plötzlichen Gefühlsausbrüche ihrer Mutter noch nicht gewöhnt. Die widersprachen allem, was sie ihnen vorgelebt hatte. Wenn ihre Mutter weinte, wollte Aurelie in ihr Zimmer rennen, sich unter der Bettdecke verkriechen und es ebenfalls tun.
»Sag es ihr.« Agnes lehnte mit versteinerter Miene und verschränkten Armen am Klavier. »Was du mir gesagt hast. Sag es Aurelie.«
Ihre Mutter wand sich und schnäuzte sich erneut die Nase.
Aurelie räusperte sich und fragte vorsichtig: »Willst du dir vielleicht Hilfe holen?«
»Schön wär’s!«, stieß Agnes mit vor Wut bebender Stimme hervor. »Sie will, dass Papa zurückkommt!«
»Es war vorschnell von mir, ihn rauszuwerfen.« Ihre Mutter drehte den Ehering an ihrer linken Hand. »Ich muss in letzter Zeit so oft an früher denken ... unsere Urlaube an der Costa Brava ... der Geruch nach seinem Aftershave im Badezimmer ...« Ihre Lippen bebten. »Wenn ich noch einmal den sensationsheischenden Blick von Frau Mayer über mich ergehen lassen muss, drehe ich durch!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in erneutes Schluchzen aus.
Frau Mayer wohnte in einer Zweizimmerwohnung auf der anderen Straßenseite. Man erzählte sich, dass ihr Mann vor Jahren mit einer deutlich Jüngeren durchgebrannt war. Ob das stimmte, wusste Aurelie nicht. Doch es war Frau Mayer zuzutrauen, dass sie sich darüber freute, dass das bisher so perfekt wirkende Bild der Familie Kamm einen Kratzer bekommen hatte.
Was ihre Mutter anging, war Aurelie sich nicht sicher, ob sie wirklich ihren Vater vermisste oder einfach nur ihr gewohntes Leben.
Agnes Miene blieb ungerührt. »Vor Oma hält sie es übrigens auch immer noch geheim.«
»Mama wollte doch am Wochenende mit ihr telefonieren?«, fragte Aurelie.
»Hat sie aber nicht.«
»Das hätte die Sache so endgültig gemacht«, erwiderte ihre Mutter. Sie tupfte ihre Wangen mit dem Hermès-Schal ab.
»Er ist ausgezogen!« Agnes schlug auf die Tasten des Klaviers. Der schiefe Ton ließ ihre Mutter und Aurelie zusammenzucken. »Wie endgültig soll es noch werden?«
»Es ist eine vorübergehende Lösung. Wir sind immer noch verheiratet.«
»Noch.« Agnes Augenbrauen hätten sich zusammengezogen, wenn sie nicht festbetoniert gewesen wären.
Ihre Mutter zerknüllte ein Taschentuch in ihrer Hand. »Entscheidest du jetzt, wie ich mein Leben zu führen habe oder darf ich das noch selber tun?«
»Es geht aber nicht nur um deins.«
Daraufhin erhob sich ihre Mutter, klemmte sich die offene Taschentuchpackung unter den Arm und stolzierte aus dem Wohnzimmer. Das nächste Geräusch, das zu vernehmen war, war der Schlüssel der Schlafzimmertür.
Mit zitternden Händen räumte Agnes die benutzten Taschentücher in den Mülleimer. Aurelie brachte die Heckenschere in die Garage.
Zurück in der Küche setzte sie sich mit dem Rücken zur Wand auf einen Stuhl. Sie sah ihrer Schwester zu, die die Tür zur Abstellkammer öffnete, wieder schloss, dasselbe beim Kühlschrank machte und Aurelies Blick mied. Aurelie ahnte, dass sich hinter Agnes Wut in Wirklichkeit Verzweiflung verbarg. Schließlich holte Agnes die Frühlingszwiebeln hervor, die Aurelie eben erst eingeräumt hatte. Mit angestrengt ruhiger Stimme fragte sie: »Du willst auch nicht, dass er wiederkommt, stimmt’s?«
»Würde er eh nicht«, antwortete Aurelie ausweichend.
Agnes hatte ihr den Rücken zugewandt und wusch die Frühlingszwiebeln unterm Wasserhahn. Sie legte sie auf das Abtropfbrett neben der Spüle und drehte sich zu Aurelie um. Die Hände wischte sie an ihrer dunklen Leggins ab. Ihr Gesicht war gerötet. Sie war kurz davor, ebenfalls in Tränen auszubrechen. »Das war nicht meine Frage.«
Früher hätte Aurelie sich die Chance nicht entgehen lassen, eine aufgebrachte Agnes an den Rand der Verzweiflung und vielleicht noch ein Stückchen darüber hinauszutreiben. Einfach so, um zu sehen, was passiert. Doch Zeiten änderten sich.
»Nein, will ich nicht«, lenkte sie ein.
»Eben.« Agnes holte Aurelies restliche Einkäufe aus dem Kühlschrank. »Zum Abendessen gibt es Flammkuchen.«
»Aber ...«, der Blick ihrer Schwester ließ Aurelie verstummen. Statt Protest einzulegen, stand sie auf, um den Backofen vorzuheizen.
»Das kann echt nicht sein«, murmelte Agnes. Sie schnitt eine Zwiebel auf der Arbeitsplatte in Ringe. »So habe ich mir mein Leben mit Anfang zwanzig nicht vorgestellt.«
Obwohl die Flammkuchen gelungen waren, aß Aurelie mit wenig Appetit. Agnes beschwerte sich darüber, dass das glutenfreie Mehl aufgebraucht gewesen war. Ein Stück ließen sie für ihre Mutter übrig.
Später saß Aurelie im Schneidersitz auf dem Teppichboden in ihrem Zimmer. Es lagen weniger Wäscheberge als sonst darauf verteilt. Ihr Trainer Michael hatte angeordnet, mindestens drei Ruhetage pro Woche einzulegen, bis das Training im Dezember wieder richtig losging. Dabei hatte er Aurelie lange angeschaut. Er konnte stolz auf sie sein. Letzte Woche hatte sie sogar an vier Tagen nicht trainiert.
Aurelie betrachtete das Radtrikot ihres Vaters, das sie vor ein paar Wochen in seinem Safe gefunden und bisher nicht zurückgelegt hatte. Vielleicht würde er niemals bemerken, dass sie das Trikot an sich genommen hatte. Sie roch dran. Der künstliche Waschpulvergeruch hatte nachgelassen. Zwischen dem orangeroten Stoff zeichnete sich der Verlauf einer Bergkette ab. Die Alpen. Oder die Pyrenäen. Ihre Familie hatte früher regelmäßig den Sommerurlaub am Mittelmeer verbracht. Auf dem Hin- und Rückweg hatten sie im Elsass Pause machen müssen, damit ihr Vater den »besten Flammkuchen der Welt« essen konnte: die klassische Version mit Frühlingszwiebeln und Speck.
Vor zwei Wochen war Aurelie achtzehn geworden. Ihr Vater war geschäftlich unterwegs gewesen und hatte nicht zur Familienfeier erscheinen können. Dies war zumindest die offizielle Erklärung für seine Abwesenheit. Ihre Mutter hatte sie allen Verwandten, einschließlich ihrer eigenen Eltern, aufgetischt. Dass im Eingangsbereich kein einziges Paar Schuhe, geschweige denn eine Jacke ihres Vaters mehr hing, hatte niemand hinterfragt. Aurelie war den ganzen Tag unruhig gewesen. Erst, als ihr Handy kurz vor dem Abendessen klingelte und Papa über dem eingehenden Anruf stand, hatte sie realisiert, dass sie die ganze Zeit auf seinen Anruf gewartet hatte.
»Aurelie?« Ihr Vater hatte so nah geklungen. Als säße er zwei Straßen weiter im Auto und telefonierte über die Freisprechanlage. Sie hörte das Geräusch des Blinkers im Hintergrund. Für einen Moment hatte sie die irrsinnige Hoffnung, dass er gleich an der Haustür klingeln würde.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Danke«, brachte sie heraus.
»Tut mir leid, dass ich heute nicht dabei sein kann. Ich ...« Er beendete den Satz nicht. »Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete Aurelie automatisch, obwohl ihr etwas anderes auf der Zunge lag.
»Deiner Schwester?«
»Auch.« Stille. Aurelie atmete ein, versuchte, die Wörter zu sammeln, um die Frage zu stellen, nach deren Antwort sie sich sehnte und vor der sie sich gleichzeitig fürchtete. Sie wusste nicht, wie sie sie formulieren sollte, damit es nicht vor den Kopf geknallt klang wie sonst oft, wenn sie direkt war.
Er räusperte sich. »Ja dann.«
Sie schloss die Augen, sammelte ihren Mut, wappnete sich, setzte zum Sprechen an. Wann ...?
»Grüß mir alle.« Er legte auf.
Aurelie war enttäuscht zurückgeblieben. Warum war er so wortkarg gewesen? Warum ging er ihren Verwandten aus dem Weg?
Nach dem Abendessen hatte ihre Oma Bilder von früher sehen wollen. Agnes war im Keller verschwunden und kurze Zeit später mit zwei alten Fotoalben zurückgekehrt. Aurelie setzte sich neben ihre Oma, um die Fotos mit anzuschauen.
Auf einem Schnappschuss, der Aurelie in Erinnerung geblieben war, saß sie nackig im Sand. Sie war höchstens zwei Jahre alt. Im Hintergrund sah man Agnes, die an der Hand ihres Vaters knietief ins Meer watete. Darunter klebte ein weiteres Foto, das ihre Mutter vor einem Weinglas zeigte. Sie trug einen breiten Sonnenhut und lachte in die Kamera. Glücklich sah sie aus. Nicht wie die Person, die unter dem Vorwand, das Geschirr in die Spülmaschine räumen zu müssen, aus dem Wohnzimmer geflohen war.
Später am Abend, nachdem ihre Verwandten gefahren waren und Aurelie im Bett lag, hatte sie ihrem Vater eine WhatsApp-Nachricht geschickt und ihn zum Flammkuchen-Essen in die Sturmstraße eingeladen. Damit er und ihre Mutter reden konnten.
Ihr Geburtstag hatte sie traurig gestimmt. Sie sehnte sich nach der Zeit zurück, in der alles einfacher und sie eine Familie gewesen waren. Aurelie hatte die Bilder am Tag nach ihrer Geburtstagsfeier aus dem Fotoalbum stibitzt. Sie schob sie in die Rückentasche des Radtrikots zurück und versteckte es unter ihren eigenen Trikots im Kleiderschrank.
Ihr Vater hatte bis heute nicht auf ihre WhatsApp reagiert.
Ihre Frage, wann er wieder nach Hause kam, hatte sich damit irgendwie erledigt.
Der schmiedeeiserne Gartenzaun glänzte feucht vom Raureif der Nacht. Die frühmorgendliche Wolkendecke am Himmel kündigte Regen an. Aurelie trat im Halbdunkeln aus dem Haus. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, klemmte ihre Regenhose auf den Gepäckträger des alten Damenrades ihrer Mutter und schaltete den Dynamo an. Zügig schlängelte sie sich durch den Berufsverkehr. Kim und Fabian warteten an den Fahrradständern vor dem Schulgebäude auf sie. Fabian hatte seine schwarze Mütze tief über die Stirn gezogen. Kim trug ein mintgrünes Stirnband. Aurelie fragte sich, wie Kim es schaffte, dass ihre langen dunkelblonden Haare trotz des kräftigen Windes wie frisch gekämmt aussahen. Ihr gelang das nie.
»Sorry.« Aurelie schloss ihre Klapperkiste neben Fabians Mountainbike ab. »Ein Lastwagen hat meine Abkürzung blockiert.«
Gemeinsam durchquerten sie das hell erleuchtete Foyer des Wilhelm-Feuerlein-Gymnasiums und steuerten auf das Schwarze Brett mit den Aushängen zu. Kurz vor Schulbeginn war es voll und laut. Fabian vergewisserte sich, dass ihr Matheunterricht in der ersten Stunde nicht durch eine glückliche Fügung des Schicksals ausfiel. Aurelie und Kim checkten den Abschnitt mit den Informationen zu den außerschulischen Aktivitäten. Neben der ausgedruckten Tabelle mit den Trainingszeiten von Tri-Feuer Kleefeld klebte ein gelber Notizzettel mit einem draufgemalten Ausrufezeichen.
»Achtung, geänderte Trainingszeit«, las Aurelie Michaels lehrerhafte Handschrift vor. »Heute fünfzehn Uhr mit den Rädern am Freibad.« Es gab einen Grund, warum Michael Radfahren selbst bei schlechtem Herbstwetter noch nicht aus dem Trainingsprogramm strich: die anstehende Sichtung für den Niedersachsen-Kader, zu der vier Tri-Feuer-Athleten eingeladen worden waren.
»Wow, ich hätte nicht gedacht, dass dieser Tag noch ätzender werden könnte.« Kim fotografierte den Zettel, um das Foto Lea und Bella zu schicken.
Aurelie verstand Kims Unmut. Auf dem Weg zur Schule hatte sie die ersten Regentropfen abbekommen. Es war kalt und windig. Radtraining machte bei dieser Witterung keinen Spaß. Aurelie war das egal. Sie fieberte seit Wochen dem Kader-Wochenende entgegen. Sie konnte es kaum erwarten, ihrem Traum, eines Tages Profi-Triathletin zu werden, ein Stück näherzukommen.
Die Glocke für die erste Stunde klingelte und sie eilten in ihren Klassenraum.
Am Nachmittag regnete es stark. Trotzdem waren alle von Tri-Feuer Kleefeld zum Training erschienen, auch Kim. Sie und Lea trugen gelbe Warnwesten im Partnerlook. Jojo und Paul unterhielten sich flüsternd im verlassenen Eingangsbereich des Freibades. Beide hatten Neoprenüberschuhe über ihre Radschuhe gezogen.
Aurelie lehnte auf ihrem Rennrad zwischen Bella und Tom. Sie trug eine lange Radhose, drei Sportoberteile und eine regenfeste Radjacke übereinander. Ihre verspiegelte Radbrille war eigentlich zu dunkel für das trübe Wetter. Sie diente sowieso weniger gegen Regen und mehr als Schutz vor neugierigen Augenpaaren. Falls sie Marlon heute wiedersah. Beim Schwimmtraining am Montag hatte er gefehlt. Auch jetzt war er noch nicht aufgetaucht, obwohl es bereits nach fünfzehn Uhr war. Aurelie wollte die Radbrille schon erleichtert in die Rückentasche ihres Trikots stecken – es war eh komplett lächerlich, wie sie sich verhielt – als Marlon mit im Wind wehender Trainingsjacke angerauscht kam und Aurelie vergaß, cool zu bleiben. Sie schob ihre Brille weit die Nase hoch und versuchte, einen unbeteiligten Gesichtsausdruck aufzulegen. Im Gegensatz zu manchen anderen Gefühlsäußerungen fiel ihr das immerhin leicht. Ihr Herz überschlug sich trotzdem, als würde es auf einem Kettenblatt mit abgebrochenen Zähnen treten. Hinter ihren Brillengläsern verfolgte sie, wie Marlon Paul und Jojo mit Handschlag begrüßte, seinen Helm abnahm und etwas daran verstellte. Selbst mit plattgedrücktem Haar sah er gut aus. Sie wartete darauf, dass er über einen von Lukas typischen Witzen lachte und die Grübchen auf seinem Gesicht erschienen, die Aurelie als süß bezeichnet hätte, wenn sie zu den Mädchen gehören würde, die solche Worte benutzten.
Überhaupt lag wahrscheinlich genau da das Problem. Wenn sie etwas weniger sie selbst und stattdessen etwas süßer, lieber oder hübscher wäre, hätte er sie garantiert nicht versetzt. Plötzlich wünschte Aurelie sich, dass Marlon auf der Stelle alles stehen und liegen ließ, um ihr total nachvollziehbar zu erklären, warum er sie sitzen gelassen hatte. Recht schnell stellte sich jedoch heraus, dass Aurelies Telenovela zum Scheitern verurteilt war, da der männliche Hauptdarsteller das Drehbuch nicht gelesen hatte: Marlon hatte nicht das geringste Interesse daran, sich zu entschuldigen, geschweige denn, sich zu erklären. Er würdigte sie keines Blickes. Als sie auf die Räder stiegen, fuhr er kommentarlos an Aurelie vorbei, um neben Fabian an der Spitze zu fahren.
In Zweierreihen folgten sie der Landstraße aus Hannover heraus. Hin und wieder überholten Autos sie, die zu wenig Sicherheitsabstand ließen und ihnen zusätzliche Regenduschen verpassten. Verstohlen beobachtete Aurelie, wie Marlon etwas in der Tasche seiner Regenjacke suchte und vergaß, eine Straßenverengung anzuzeigen. Lukas, der hinter ihm radelte, bretterte unsanft über den Hubbel auf dem Asphalt. Er schaffte es geradeso, nicht hinzufallen. Michael ermahnte Marlon, aufmerksamer zu fahren.
»Wo der wohl mit seinen Gedanken ist«, raunte Tom, der neben Aurelie fuhr, ihr zu. Er trug ein schwarzes Bufftuch unterm Fahrradhelm und wie Aurelie eine lange Radhose, die seine trainierten Oberschenkel betonte.
Aurelie tat, als hätte sie keine Ahnung, worauf Tom anspielte.
Ein freches Grinsen erschien auf dessen Gesicht. Er hatte ein Talent dafür, Gesprächsthemen herauszupicken, über die Aurelie nicht reden wollte. »Geht da jetzt eigentlich mal was zwischen euch?«
Sie schaute angestrengt auf Pauls Hinterrad. Es war ein schwacher Versuch, Tom davonzukommen. »Habt ihr euch noch nie getroffen?«, hakte er prompt nach.
Aurelie gab sich geschlagen. Tom hatte sie eh längst durchschaut. »Nein«, sagte sie. »Entweder muss er arbeiten oder hat Fahrstunden ... oder sagt auf den letzten Drücker ab.«
»Echt?«
Aurelie glaubte, einen Beschützerinstinkt in Toms Augen aufflammen zu sehen, der neu war. Vielleicht interpretierte ihr Telenovela-Gehirn auch zu viel in ihn hinein. Sie passierten einen Kreisel. Tom lehnte sich in die Kurve. »Ich wäre das ganz anders angegangen.«
»Wärst du?«
Er schaltete einen Gang hoch und beschleunigte, um an Pauls Hinterrad zu bleiben. »Aber sowas von.«
Aurelie wischte die Regentropfen von ihrem Tacho und fragte sich, wie Tom das meinte.
Die Radgruppe bog von der Landstraße auf einen Feldweg ab. Abgeerntete Felder und kleine Waldstücke folgten aufeinander. Hin und wieder kamen ihnen Hundespaziergänger entgegen, ansonsten waren sie alleine. Auf dem nächsten geraden Stück wechselten sie die Radpositionen. Aurelie schloss zu Bella auf. Sie hatte es geschafft, zusätzlich zu ihren dichten schwarzen Locken ein dickes Stirnband unter ihren Helm zu quetschen. Obwohl Bella ein gutes Stück kleiner als Aurelie war, trat sie wie immer die dickeren Gänge. Ihre Blicke trafen sich. »Noch zwei Wochen«, sagte Aurelie. Sie sah in Bellas Augen, dass sie genauso gespannt war wie sie selbst. In den Kader zu kommen, würde sicher nicht leicht werden. Alleine schon, weil Ulrike Müller die Kadersichtung leiten würde.
Bella umkurvte mit den Händen an den Bremsen ein Schlagloch. »Was glaubst du, werden sie testen?«
»Schwimmen, Rad fahren, Laufen?«
»Haha.« Bella zog die Nase hoch. »Ich frage mich, ob sie nur auf die Zeiten schauen oder auch auf Entwicklung und Potenzial?«
Bella hatte dieses Jahr definitiv eine steile Entwicklungskurve hingelegt. Das wusste sie selbst. Da konnte Aurelie ruhig ein wenig den Finger in die Wunde legen.
»Hast du Angst, zu langsam für den Kader zu sein?«, fragte sie mit einem Augenzwinkern. Hätte sie Bella diese Frage vor sechs Monaten gestellt, hätte sie damit sofort einen riesengroßen Streit vom Zaun gebrochen. Doch seitdem sie den Nichtangriffspakt geschlossen hatten, waren sie auf dem besten Weg, sich anzufreunden.
»Quatsch ...« Bella klang nicht überzeugend.
»Ich glaube nicht, dass es nur auf die Zeiten ankommt«, antwortete Aurelie versöhnlicher. »Sie werden alles testen. Beweglichkeit, Athletik, Ausdauer ... die Fähigkeit, sich zu quälen.«
»Das wäre dann wohl deine Spezialität.«
»Vielen Dank auch.«
»Ist doch so. Ich kenne niemanden, der im Wettkampf so viel gibt wie du.«
»Vielleicht liegt meine Grenze ja einfach ein bisschen höher als bei anderen.« Aurelie war nicht sicher, ob sie sich noch gegenseitig aufzogen oder dazu übergegangen waren, sich Komplimente zu machen. Doch es machte Spaß und sie wollte noch einen draufsetzen. In dem Moment warf Marlon einen Blick über die Schulter zu ihnen. Es löste ein unangenehmes Gefühl in Aurelie aus. Plötzlich wünschte sie, Bella wäre still. Deren Aufmerksamkeit war jedoch auf einen Labrador gerichtet, der neben seinem Herrchen Platz machte, um die Radgruppe vorbeiziehen zu lassen.
»Du hast einfach eine krasse Leidensfähigkeit«, fuhr Bella fort. »Mit der Selbstverständlichkeit, mit der andere ihren Sonntagskuchen essen, läufst du bis zum Kotzen ... Ich kann nicht bis zum Kotzen laufen, kann ich einfach nicht, ich hab’s probiert, aber –«
»Ich habe mich noch nie im Wettkampf übergeben«, fiel Aurelie ihr ins Wort. Sie trat schneller in die Pedale. »Und das musst du auch nicht. Konzentriere dich lieber auf deine Trittfrequenz. Die ist zu niedrig.«
Nach zwanzig Kilometern hielten sie an einer verlassenen Bushaltestelle. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Straßen waren noch nass und die Luft feucht, sodass es sich kälter anfühlte, als es war. Michael nutzte die Trinkpause, um wie so oft in den letzten Wochen über die bevorstehende Kadersichtung zu sprechen.
»Zwei Tage volle Konzentration und alles geben.« Er rieb sich mit der Hand über den Kopf. Sein Haar wurde immer lichter. Es gingen Wetten um, wann er es einsehen und sich eine Glatze rasieren würde. »Es wird sich für euch lohnen.«
Aurelie nickte. Wenn sie es in den Kader schafften, würden sie wieder ordentliche Schwimmzeiten in den Hallenbädern der Stadt bekommen und mussten nicht mehr im Lehrschwimmbecken ihrer Schule trainieren. Nicht zu vergessen die Leistungsdiagnostiken. Tom und sie hatten sich schon oft darüber unterhalten, dass sie unbedingt einen Ergometertest auf dem Rad machen wollten.
Michael sah Tom, Marlon, Bella und Aurelie beschwörend an. »Wenn ihr alle vier in den Kader kommt, habe ich ganz neue Möglichkeiten, um euch zu fördern.«
»Müssen wir denn gefördert werden?«, unterbrach Marlon ihn. Ein ungewohnt herausfordernder Ausdruck lag in seinem Gesicht.
Michael runzelte die Stirn. »Wenn du nächste Saison besser abschneiden möchtet – ja.«
»Und was bringt mir das?«, entgegnete Marlon.
»Ruhm, Ehre, Ansehen?«, warf Tom ein.
Marlon blieb unbeeindruckt. »Wir verbringen Stunden mit Training. Wenn man mal genau darüber nachdenkt, ist das voll egozentrisch. Wir leisten damit nicht gerade einen positiven Beitrag zur Gesellschaft oder so. Es geht nur darum, wie schnell wir sind – sonst um nichts.«
»Du musst nicht zur Kadersichtung, wenn du nicht willst«, sagte Michael über Lukas unterdrücktes Lachen hinweg.
»Werde ich sicher nicht.«
Aurelie mied jeden Blick in Richtung Marlon. Was war mit ihm los? Kapierte er denn nicht, was für eine einmalige Chance sich ihnen bot? Der Niedersachsen-Kader! Bessere Trainingsbedingungen konnte man kaum bekommen.
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Marlon und Michael bildeten das Schlusslicht, wobei Michael sowieso meistens hinten fuhr. Aurelie trödelte mit dem Anfahren, damit sie belauschen konnte, was die beiden besprachen.
Tom ließ sich zu ihr zurückfallen. »Hat der seine Tage oder was?«
»Keine Ahnung«, murmelte Aurelie.
Sie konzentrierte sich auf das, was hinter ihr gesprochen wurde. Als Lehrer war Michael geübt darin, leise zu sprechen. Marlons Antwort brach frustriert aus ihm heraus, sodass Aurelie jedes Wort verstand: »Höher, schneller, besser. Ich kann’s nicht mehr hören.« Hitze schoss Aurelie vom Nacken in den Kopf. Ihr ganzer Körper fing an zu kribbeln, als er weitersprach: »Warum kann es nicht einfach mal gut genug sein, so wie es ist?«
Nach dem Training, Marlon hatte sich früher abgesetzt, um pünktlich seine Abendschicht im Supermarkt anzutreten, stand Aurelie noch mit Bella, Lea und Kim zusammen. Sie versperrten den Bürgersteig. Eine Frau mit Kinderwagen warf ihnen einen vorwurfsvollen Blick zu. Keiner von ihnen bemerkte es, denn sie unterhielten sich über die Kadersichtung, das einzige Thema, das es zurzeit für sie gab.
Es kursierten die wildesten Gerüchte. Bella war überzeugt davon, im Internet gelesen zu haben, dass es schon vorgekommen sei, dass alle Athleten hundert Mal hundert Meter schwimmen mussten. Wer nicht durchhielt, wurde automatisch rausgekickt und durfte bei den Rad- und Lauftests gar nicht erst antreten. Aurelie bezweifelte, dass das stimmte. Wobei es sie reizte, herauszufinden, ob sie zehn Kilometer in einer Schwimmeinheit schaffen konnte.
»Sie kontrollieren eure Taschen und kassieren alle Süßigkeiten ein«, erzählte Lea. Jetzt im Herbst hatte ihre sommerliche Bräune nachgelassen. Ihr Haar war noch immer so blond, als hätte sie den Tag am Strand verbracht.
Bella schaute verschwörerisch zu Aurelie. Ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten hinter ihrem wasserfesten Lidstrich. »Ich habe eine mit Geheimfach. Die nehme ich mit. Unsere Schokoladenvorräte sind dort sicher.«
»Findet ihr, dass Marlon recht hat?«, fragte Aurelie unvermittelt. »Dass unser Training sozusagen belanglos ist, weil wir niemandem damit helfen?«
»Ach«, Bella machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das Training führt dazu, dass wir fitter, ausgeglichener und energiegeladener sind. Das ist wichtig für ein gutes Abi, ein gutes Studium, später einen guten Job, mit dem wir unsere Familien versorgen und Steuern zahlen können.