Swim Away - Kiki Sieg - E-Book

Swim Away E-Book

Kiki Sieg

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Beschreibung

«Glaubst du das wirklich?», fragte Aurelie. «Was?» Er fuhr sich durch die Haare. Etwas Hoffnungsvolles lag in seiner Stimme. «Dass man Sportliches und Privates verbinden kann?» Sie schüttelte den Kopf. «Dass ich Profi werden könnte.» Aurelie ist talentiert, diszipliniert und ehrgeizig – gute Voraussetzungen, um erfolgreiche Triathletin zu werden. Doch als sie gemeinsam mit den anderen Jugendlichen ihres Vereins zum ersten Mal im Nachwuchscup Norddeutschland startet, stellt sich die Frage: Wie weit geht sie, um die Beste zu sein? Aurelie ist hin- und hergerissen. Zwischen ihrem Team und ihren eigenen Zielen, zwischen Stolz und Gewissensbissen, zwischen richtig und falsch. Darf es außer Training noch etwas anderes in ihrem Leben geben oder ist Triathlon schon längst viel mehr geworden als nur ihr Hobby? Eine fesselnde Geschichte über das Gewinnen, Verlieren und das, was dazwischenliegt.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über die Autorin
Klappentext
Impressum
Prolog
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Dennis
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Epilog
Bonuskapitel Marlon
Dank
Bleib in Bewegung
Aurelies Geschichte geht weiter:

 

 

 

 

 

 

Swim Away

Sportroman

 

 

Kiki Sieg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Teil 1 der Triathlon-Trilogie

 

Über die Autorin

Kiki Sieg wurde 1989 in der Nähe von Köln geboren und ist zwischen Rheinland und Eifel aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie überwiegend schwimmend, Rad fahrend und laufend. Sie hat Geographie in Bonn und Münster studiert und war für Auslandssemester in den USA und Finnland. Heute lebt sie mit ihrer Familie in einem roten Holzhaus im schwedischen Wald und macht das, was sie schon immer machen wollte: Geschichten erzählen.

Mehr über sie erfährst du auf www.siegbooks.com.

 

Klappentext

«Glaubst du das wirklich?», fragte Aurelie.

«Was?» Er fuhr sich durch die Haare. Etwas Hoffnungsvolles lag in seiner Stimme. «Dass man Sportliches und Privates verbinden kann?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Dass ich Profi werden könnte.»

 

Aurelie ist talentiert, diszipliniert und ehrgeizig – gute Voraussetzungen, um erfolgreiche Triathletin zu werden. Doch als sie gemeinsam mit den anderen Jugendlichen ihres Vereins zum ersten Mal im Nachwuchscup Norddeutschland startet, stellt sich die Frage: Wie weit geht sie, um die Beste zu sein?

Aurelie ist hin- und hergerissen. Zwischen ihrem Team und ihren eigenen Zielen, zwischen Stolz und Gewissensbissen, zwischen richtig und falsch. Darf es außer Training noch etwas anderes in ihrem Leben geben oder ist Triathlon schon längst viel mehr geworden als nur ihr Hobby?

Eine fesselnde Geschichte über das Gewinnen, Verlieren und das, was dazwischenliegt.

 

Impressum

© 3. Auflage, 2025 Kiki Sieg

 

Lektorat: Anne Siebels, Bonn

Cover: Frederike Schmengler, Köln

 

© 2019 Kiki Sieg – alle Rechte vorbehalten.

 

Kerstin Siegburg Kvarnhagen 1

57474 Ramkvilla

Schweden

 

[email protected]

Kiki Sieg Newsletter: www.siegbooks.com/Newsletter

Instagram: @kikisieg Facebook: @kikisieg

 

Triggerwarnung: Sportsucht, Alkoholsucht

 

 

 

 

 

 

Für meine Omas

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Freibäder sind komische Orte. Monatelang sind die Schwimmbecken von Planen bedeckt, Rettungsleinen vereist und Liegestühle weggeräumt. Niemand verschwendet einen Gedanken an sie, solange noch Schnee liegt.

Dann kommt der Frühling, zwar später als erhofft, aber dafür plötzlich. Kurz nach der ersten Kugel Eis, die man mit offener Jacke isst, regt sich die Sehnsucht nach dem Geruch von in der Sonne getrockneten Badeanzügen. Sehnsucht nach den Möglichkeiten des Lebens, die einem im Sommer, während man im Freibadbecken treibt und den Himmel betrachtet, unendlich erscheinen. Sehnsucht nach dem heißesten Tag des Jahres, an dem ein schmieriger Film auf der Haut klebt. Sehnsucht nach dem Wasser, das die Spuren verwischt, sodass niemand mehr weiß, was sich soeben aufgelöst hat:

Sonnencreme? Schweiß? Tränen?

 

Doch noch froren nackte Teenagerfüße, wenn sie über die dunklen Steinplatten des Freibades liefen. Die gemähte Liegewiese lag ebenso verlassen da wie die Plastikbänke beim Kiosk. Einsame Wassertropfen rannen aus dem Rüssel des ramponierten Plastikelefanten, der in der Mitte des Babybeckens stand. Im Nichtschwimmerbecken trieben drei Fünftklässler auf Luftmatratzen. Sie spielten Trockenbleiben.

Dennis, Teilzeit-Rettungsschwimmer mit Hannover-96-Kappe, die er ins Gesicht gezogen hatte, um seine pickelige Stirn zu verdecken, lehnte am Geländer und beobachtete die Kinder gelangweilt. Wenn niemand hinsah, scrollte er über den Bildschirm seines Handys. Hin und wieder streckte er sich, um das Vereinstraining im Schwimmerbecken mitverfolgen zu können. Jeden Freitag verrenkte er sich den Hals und hing einem Tagtraum nach, der einzig in Detailtreue und Dramatik variierte – je nachdem, wie viel Raum die Sehnsucht in Dennis gerade einnahm. Sie galt immer derselben Person: der Schwimmerin, die an seinem ersten Arbeitstag vor ein paar Wochen in die Bademeisterkabine geeilt war und den Oberbademeister nach einer Ersatzschwimmbrille gefragt hatte. Sie war ein paar Zentimeter größer als Dennis, bewegte sich kraftvoll und trug den dunkelblauen Badeanzug, an dessen Seiten orangene Streifen leuchteten, mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er ihre zweite Haut. Ihr braunes Haar schwang in einem lockeren Zopf um ihre Schultern. Obwohl sie ungefähr im gleichen Alter sein mussten – so um die siebzehn – hatte sie ihn keines Blickes gewürdigt. Er hingegen hatte sein Herz sofort an sie verloren.

An diesem Freitag lief Dennis‘ Tagtraum so ab: Eine Hitze, wie Hannover sie lange nicht mehr erlebt hatte, brütete über der Stadt und das Freibad hatte einen neuen Besucherrekord erreicht. Im Radio erinnerten sie daran, Wasser zu trinken. Dennis war vollauf damit beschäftigt, dreizehn Kleinkinder und deren Mütter im Babybecken in Schach zu halten. Trotzdem entging es ihm nicht, als die Schwimmerin aus der Umkleidekabine kam. Selbst aus fünfzig Metern Entfernung fiel ihm auf, dass sie matt wirkte – ihr Zopf schwang nicht im Takt ihrer Bewegung und ihr Blick war nicht wie sonst nach vorne gerichtet, sondern auf die Fliesen am Boden. Er beschloss, sie im Auge zu behalten.

Gerade, als Dennis von einer Mutter, deren Kind bis zur Unkenntlichkeit mit Sonnenmilch eingeschmiert worden war, dazu aufgefordert wurde, einen Schwimmreifen in Marienkäferform aufzublasen, erlitt die Schwimmerin im Wasser einen Schwächeanfall. Ohnmächtig sank sie an den Boden des Beckens. Niemand bemerkte es. Nur Dennis, der einzige Teilzeit-Rettungsschwimmer Hannovers, der alle Schwimmbecken gleichzeitig überwachen konnte, besaß die Reaktionsschnelligkeit und Geistesgegenwart, ihr Untergehen zu bemerken. Schneller als Usain Bolt rannte er zum Beckenrand und machte einen Kopfsprung, um den ihn Michael Phelps beneiden würde. In letzter Sekunde zog er die bewusstlose Schwimmerin aus dem Becken und belebte sie vor den bewundernden Blicken der Freibadbesucher wieder, woraufhin sie sich beim ersten Augenaufschlag unsterblich in ihn verliebte und –

Ein klatschendes Geräusch und kalte Wasserspritzer auf dem T-Shirt zwangen Dennis‘ Aufmerksamkeit zurück zum Nichtschwimmerbecken. Einer der Fünftklässler heulte. Er war von den anderen Kindern ins Wasser geschubst worden.

Dennis seufzte. Während er, weniger wie ein Rettungsschwimmer und mehr wie ein Babysitter, in die entbrannte Rangelei eingriff, verblasste sein Tagtraum. In der nasskalten Wirklichkeit des Freibades, die aus Siebziger-Jahre-Betonbauten und vermoosten Fliesen bestand, erkannte er, dass ein Mädchen wie die Schwimmerin niemals von einem Typen wie ihm würde gerettet werden müssen. Was sollte ihr schon passieren.

 

In Aurelies Tagträumen war Dennis, der Rettungsschwimmer vom Nichtschwimmerbecken, noch nie vorgekommen. Für seine Schwärmerei hätte sie nicht mehr als ein Schulterzucken übriggehabt. Nur eine Sache hätte sie klargestellt.

Sie war keine Schwimmerin.

Sie war Triathletin.

 

1

 

Aurelie schlug wasserspritzend am Beckenrand an. Sie hielt sich an der kalten Metallstange des Startblocks fest, wobei jeder Muskel ihres Oberkörpers hervortrat. Ihr Brustkorb vibrierte, als ob sie auf der letzten Bahn keine Luft mehr geholt hätte. Es war ihr zuzutrauen.

»Wie schnell war ich?«, fragte sie atemlos.

Ein paar braune Strähnen hatten sich an ihrem Nacken aus der Badekappe gelöst. Sie fummelte sie wieder hinein und wartete auf die Antwort ihres Trainers Michael Giebel. Dieser sah sie, ein Baumwollshirt mit der verwaschenen Aufschrift ITU Weltcup 2003 tragend, streng an. »Darum ging es überhaupt nicht«, erwiderte er.

Michael war nicht nur der Trainer, sondern außerdem der Gründer und das einzige erwachsene Mitglied von Tri-Feuer Kleefeld, dem vielleicht kleinsten Triathlonverein Deutschlands.

Wie jeden Freitag seit Beginn der Freibadsaison hatte er am Rand des Schwimmerbeckens gestanden, die Zwischenzeiten seiner jugendlichen Athleten gestoppt und sich zwischendurch mit dem Oberbademeister über die schwierige Trainingssituation in den Hannoveraner Sportbädern unterhalten. Zum ersten Mal hatte Michael unterschiedliche Trainingspläne für die Mädchen und Jungs zusammengestellt und nun musste er feststellen, dass das Training der Mädchen nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Ihr solltet doch zusammenbleiben«, sagte er und deutete auf drei weitere Mädchen, die mit einigen Metern Abstand zueinander auf den Beckenrand zugeschwommen kamen. Aurelie folgte seinem Blick und murmelte »Sorry«.

Es klang nicht besonders überzeugend.

Bella, die eigentlich Isabella hieß, schlug am Beckenrand neben Aurelie an.

»Welchen Teil von Teamsprint hast du nicht kapiert?«, stieß sie hervor, noch bevor sie richtig Luft geholt hatte. Den Vorwurf in ihrer Stimme hätte man selbst mit fünf übereinander gezogenen Badekappen nicht überhören können. Aurelie tat trotzdem so, als wäre sie tief in die Auswertung ihrer Pulsuhr versunken.

»Du warst schon nach hundertfünzig Metern weg!« Bella boxte ins Wasser. Ihre bernsteinfarbenen Augen bohrten sich in Aurelies hellblaue. Sie war fast einen Kopf kleiner als Aurelie, doch wenn sie wütend war, wirkte es nur noch halb so viel.

»Wir werden uns in Lehrte sowas von blamieren«, fügte sie verärgert an Michael gewandt hinzu.

Aurelie zog es weiterhin vor, nicht zu antworten. Schweigend sah sie zu, wie auch Lea und Kim endlich den Beckenrand erreichten.

»Warum habt ihr nicht gewartet?«, keuchte Lea. Unter ihren Sommersprossen wirkte sie noch blasser als sonst.

Kim lehnte sich schwer atmend an den Startblock. Sie hatte runde Abdrücke um die Augen und erinnerte Aurelie an einen Hundewelpen, den man gegen seinen Willen ins Wasser geworfen hatte.

»Ich halte dieses Tempo keine siebenhundertfünfzig Meter durch«, stieß Kim hervor und hievte sich auf das Abflussgitter. »Wie soll ich danach noch Rad fahren und laufen? Das ist Selbstmord.«

»Wenn du etwas mehr Körperspannung hättest–«, begann Aurelie.

»Wenn du sie in deinem Schwimmschatten schwimmen ließest–«, unterbrach Bella sie sofort mit funkensprühenden Augen, die durch ihren mit wasserfestem Kajal gezogenen Lidstrich noch zusätzlich betont wurden.

Mehr konnte man nicht mehr verstehen. Durcheinanderrufende Mädchenstimmen ersetzten die konzentrierte Stille, die bis dahin im Freibad geherrscht hatte. Selbst die Rettungsschwimmer der anderen Becken schauten zu ihnen herüber.

In dem Moment schlug Tom, der schnellste Schwimmer von Tri-Feuer Kleefeld, auf der Nebenbahn am Beckenrand an. Sein Haar war schwarz und entlang der Kinnpartie erkannte man den Ansatz eines Dreitagebartes, auf den er länger gewartet hatte, als er zugeben würde.

Er rückte seine Schwimmbrille zurecht und wollte sich in Position für den nächsten Hundert-Meter-Sprint bringen, hielt sich dann jedoch angesichts der Streitereien auf der Mädchenbahn mit übertrieben verzogenem Blick die Ohren zu.

»Das ist ja ein Gekreische wie beim Sommerschlussverkauf«, sagte er und kratzte sich am Kinn. Er bemerkte Bellas kurzen, aber stechenden Blick nicht, was vermutlich besser so war.

Für solche Momente bewahrte Michael eine Trillerpfeife in seiner Hosentasche auf. Er empfand sie als pädagogisches Unding, doch die Mädchen ließen ihm keine Wahl. Er brauchte jede Einzelne der vier für die bevorstehende Wettkampfsaison.

Der schrille Pfiff ließ sie sofort verstummen, auch wenn Aurelie und Bella sich weiterhin feindselig über das Wasser hinweg anstarrten. Michael hätte sie am liebsten auf getrennten Bahnen weiter schwimmen lassen, doch mehr als zwei Trainingsbahnen standen ihm nicht zur Verfügung.

»Zweihundert Meter Kraul GA1 – Grundlagenausdauer Eins. Das bedeutet locker.« Er hängte sich die Trillerpfeife resolut um den Hals. »Danach reden wir noch mal darüber, was Teamsprint bedeutet.«

Aurelie setzte ihre Schwimmbrille auf und wollte sich abstoßen, doch Michael kam ihr mit einem weiteren Einsatz der Trillerpfeife zuvor.

»Es gilt Überholverbot«, sagte er. »Und Aurelie schwimmt hinten!«

Vier Augenpaare, manche untermalt mit verwischter Wimperntusche, schauten ihn böse an.

»Jetzt lässt er wieder den Lehrer raushängen«, flüsterte Bella laut genug, dass er es hören konnte.

Doch zu Michaels Erleichterung setzten sie sich ohne weiteren Widerstand in der von ihm angeordneten Reihenfolge in Bewegung. Er wendete sich den Jungs zu, die bereits viel zu lange am Beckenrand rumgehangen hatten.

»Ihr braucht gar nicht so blöd zu grinsen, ihr behindert euch auch ständig gegenseitig.« Michael hatte sehr wohl gesehen, wie sie sich beim letzten Hundert-Meter-Intervall gegenseitig an der Rollwende gehindert hatten.

»Wir machen das aber nur zum Spaß«, erwiderte Tom.

 

Die Mädchen schwammen in kurzen Abständen hintereinander her. Aurelie fand, dass es vom Beckenrand aus betrachtet einfach nach dem perfekten Teamschwimmen aussehen musste.

Blöderweise hatte Michaels Anweisung zur Folge, dass sie auf der Stelle schwamm.

Sie konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, mit fünf schnellen Armzügen an Kim, Lea und Bella vorbeizuziehen und ihr eigenes Tempo zu schwimmen. Wobei, es müssten noch nicht mal schnelle Züge sein. Ihre normale Geschwindigkeit würde reichen, um die anderen zu überholen.

Ihr war schon das ganze Schwimmtraining über nicht besonders warm gewesen, aber nun breitete sich eine Gänsehaut auf ihrem Rücken aus. Obwohl es schon Ende Mai war und der Beginn der Triathlonsaison nicht mehr weit weg, ließ der Sommer auf sich warten. Aurelie wusste nicht, was von beidem sie mehr ersehnte.

Nach jedem Atemzug musste sie einen Moment bewegungslos durchs Wasser gleiten, um nicht in Bellas Füße reinzuschwimmen. Bellas Beinschlag war so stark, dass Aurelie in dessen Schwimmschatten fast von selbst mitgezogen wurde. Sie konnte noch weniger nachvollziehen, warum Kim und Lea Mühe hatten, dranzubleiben.

Bei der Vorstellung, dieses Tempo auch beim Mannschaftssprint in Lehrte schwimmen zu müssen, zog sich Aurelies Bauch schmerzhaft zusammen. Die erste Teilnahme am Nachwuchscup Norddeutschland und die Mädchenmannschaft von Tri-Feuer Kleefeld würde gleich von Beginn an zeigen, dass sie keine Konkurrenz war. Dabei wollte Aurelie doch genau das Gegenteil beweisen.

Frustriert schwamm sie näher an Bella heran und streifte mit den Fingerspitzen deren Fußsohlen.

Nur, um sich abzulenken.

Und weil sie wusste, dass es Bella wahnsinnig machte.

 

Als sie mit den zweihundert Metern fertig waren, gab Michael ihnen die Aufgabe, siebenhundertfünfzig Meter – die Schwimmdistanz des Mannschaftssprints – im Team zu schwimmen.

»Ihr startet zusammen, ihr finisht zusammen«, sagte er, warf die Stoppuhr in seinen Rucksack und rieb sich mit den Händen über die Augen. »Wie schnell ihr dabei seid, ist mir egal.« Er wandte sich ab und nahm das Gespräch mit dem Bademeister wieder auf.

»Süß, wie er sich bemüht, Konsequenz an den Tag zu legen«, flüsterte Lea.

»Wer schwimmt vorne?«, fragte Aurelie.

»Du.« Bella zog ihre Badekappe an der Stirn zurecht. Ihre dicken, schwarzen Locken ließen sich darunter kaum bändigen.

»Aber schwimm nicht zu schnell«, rief Kim Aurelie noch hinterher, als diese sich schon vom Beckenrand abgestoßen hatte. Unter Wasser machte sie zwei Delfinkicks. Die anderen mussten sich beeilen.

 

Dieses Mal achtete Aurelie bei den Rollwenden darauf, dass Kim und Lea in ihrem und Bellas Wasserschatten blieben. Es dauerte nicht lange, bis Bella bei jedem Armzug Aurelies Füße streifte, was Aurelie langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb – obwohl sie wusste, dass sie es provoziert hatte. Sie schwamm schneller, woraufhin Kim und Lea zurückfielen, Bella aber immer noch an ihren Füßen klebte. Bei der nächsten Wende hielt sie es nicht länger aus und stoppte.

»Schwimm vor.«

Bella, das Gesicht halb unter Wasser, ließ Blubberblasen aufsteigen und machte keine Anstalten, die Führung zu übernehmen.

Es gab nur wenige Menschen, bei denen Aurelie so schnell die Geduld verlor wie bei Bella. »Würdest du jetzt bitte vorschwimmen?«

»Das kommt ganz drauf an«, antwortete diese.

»Worauf?«

»Darauf, ob du bitte aufhören könntest, dich wie die größte Egoistin unter der Sonne zu verhalten. Obwohl wir natürlich alle wissen, dass du das bist.«

»Es ist nicht mein Problem, wenn ihr zu langsam seid.«

»Dann kann ich dir leider nicht helfen.«

Wütend stieß Aurelie sich vom Beckenrand ab. Bella konnte lange darauf warten, dass Aurelie sie anbettelte, sich die Führungsarbeit zu teilen. Aurelie konnte beim Schwimmen die Gruppe anführen. Beim Rad fahren auch. Beim Laufen sowieso. Sie brauchte keine Unterstützung. Erst recht nicht von Bella.

Mit jedem Armzug ließ sie ihrem Ärger Luft und verwandelte ihn in Energie. Sie spürte die Kraft bis in ihre Fingerspitzen und konzentrierte sich darauf, weit vorne einzutauchen. Wenige Armzüge später traten ihre Füße ins Leere.

Während Aurelie ihren Gedanken nachhing, achtete sie nicht mehr darauf, ob die anderen zurückfielen oder nicht. Sie konzentrierte sich auf den Streifen schwarz eingefärbter Fliesen auf dem Boden des Beckens, der ihr die Richtung wies. Es spielte keine Rolle, dass das Wetter zu kalt für diese Jahreszeit war und dass sie seit Tagen eine Erkältung mit sich herumtrug. Hundert Meter in ihrem Lieblingstempo und sie spürte die Kälte nicht mehr. Erst, wenn ihr Körper warmgelaufen war, fühlte sie sich in ihm zu Hause. Solange sie sich bewegte, war sie lebendig. Solange sie sich bewegte, zählte nur das Hier und Jetzt.

Solange sie sich bewegte, war alles gut.

Als Aurelie mit den siebenhundertfünfzig Metern fertig war, hatte Bella eine halbe Bahn Rückstand, Lea eine ganze und Kim hatte sie fast überrundet.

Michael stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben dem Startblock und schaute sie resigniert an.

Alles, was er sagte, war: »Das darf in Lehrte nicht passieren.«

Alles, was Aurelie antwortete, war: »Ich weiß.«

 

2

 

Fünfhundert Meter später war das Training zu Ende. Bevor Aurelie aus dem Becken stieg, zog sie Badekappe und Schwimmbrille ab und tauchte ihren Kopf unter. Neben ihr erschien Tom, die nassen Haare in alle Richtungen abstehend.

»Du hast da was«, sagte er und deutete auf ihre Augen.

»Was denn?«, fragte Aurelie und wollte sich schon über das Gesicht wischen.

»Abdrücke«, feixte Tom und setzte im selben Moment zu einem Hechtsprung in Richtung Leiter an. Doch Aurelie war schneller als er. Sie griff seine Knöchel und ließ sich nach unten sinken, sodass Tom mit unter Wasser gezogen wurde. Er versuchte, sich zu befreien, doch Aurelie hatte den Wasserwiderstand auf ihrer Seite. Sie stieß sich an seinen Schultern nach oben, wodurch er noch tiefer nach unten sank. Er versuchte noch, sie daran zu hindern, aber seine Hände griffen ins Leere.

Hustend tauchte er auf, als Aurelie bereits am Beckenrand stand.

»Sehr witzig«, sagte sie und kramte in ihrem Rucksack, der auf einer der Holzbänke neben dem Schwimmerbecken lag, nach einem Handtuch. Kaum war sie aus dem Wasser raus, fror sie. Sie wickelte sich das Handtuch eng um den Oberkörper und warf einen Blick auf ihr blinkendes Handy.

Eine WhatsApp-Nachricht von ihrem Vater.

Aurelie steckte das Handy zurück in die Seitentasche ihres Rucksacks, ohne die Nachricht zu öffnen.

Tom stieg nun ebenfalls aus dem Becken. »Entspann dich doch mal«, sagte er.

Nicht nur am Kinn hatte sein lang ersehnter Bartwuchs endlich eingesetzt, auch auf seinem durchtrainierten Oberkörper fielen Aurelie dunkle Haare auf, die sie vorher noch nie wahrgenommen hatte.

»Ist was?« Tom nahm seine Schwimmbrille ab. Sein Blick fiel auf Aurelies Mund. Sie presste ihre Lippen zusammen, weil sie selbst spürte, dass sie blau angelaufen waren. »Bist du krank?«

»Ich bin nie krank«, antwortete Aurelie und ging, so schnell es auf dem rutschigen Kachelboden möglich war, in Richtung Dusche.

Im Vorbeigehen sah sie Bella aus dem Becken steigen. Es war der Moment des Schwimmtrainings, in dem die Aufmerksamkeit ihr allein gehörte. Aurelie war überzeugt davon, dass Bella ihre schwarzen Badeanzüge grundsätzlich eine Nummer zu klein kaufte. Was lächerlich war, aber funktionierte. Aurelie beneidete Bella nicht um deren große Oberweite. Aber selbst ihr fiel auf, dass am Ende des Schwimmtrainings plötzlich alle männlichen Rettungsschwimmer in der Nähe waren, selbst der Typ mit der Hannover-96-Kappe, der im Kinderplanschbecken am anderen Ende des Freibades aufpasste.

Bevor Aurelie hinter der Tür zum Duschbereich verschwand, warf sie einen Blick zurück. Bella wurde von den Jungs ihres Vereins umringt und lachte über einen Witz von Fabian, stieß dabei jedoch wie aus Versehen mit Tom zusammen. Dessen Blick ruhte jedoch noch auf der Tür, die soeben ins Schloss fiel.

 

Aurelie mochte am Duschen nach dem Training am meisten, dass sie nichts hörte, solange sie direkt unter dem laufenden Wasserstrahl stand. Egal, was für einen Unsinn Bella, Kim und Lea von sich gaben, sie musste es nur auszugsweise mit anhören.

Mit geschlossenen Augen stand Aurelie da, ließ das Wasser auf sich herabprasseln und lockerte ihre Schulterblätter. Als der Strahl nachließ, griff sie nach ihrem Shampoo. Die Tür zum Duschbereich öffnete sich und Kim und Lea traten herein. Sie hingen ihre Rucksäcke auf und stellten sich unter die Duschköpfe gegenüber von Aurelie.

»Ich weiß gar nicht, warum Michael mich im Nachwuchscup angemeldet hat.« Kim löste das Haargummi vorsichtig aus ihren blondbraunen Haaren. »Damit ich bei jedem Rennen Letzte werde?«

»Wirst du nicht«, beruhigte sie Lea und stellte die Wassertemperatur der Dusche auf Anschlag. »Und wenn, dann bin ich ganz in deiner Nähe.«

Bella trat summend in den Duschraum, ließ ihre Tasche schwungvoll in die letzte trockene Ecke fallen und stellte sich unter den Duschkopf neben Aurelie.

»Jetzt sind Kim und ich schon so weit, dass wir uns darüber streiten, wer diese Saison Letzte wird«, sagte Lea.

»Dann sind wir ja schon zu dritt«, antwortete Bella, während sie ihren Badeanzug bis auf Hüfthöhe runter zog.

»Immerhin haben wir Aurelie«, erwiderte Kim.

»Abwarten«, kam es gleichzeitig von Aurelie und Bella. Aurelie warf Bella einen bösen Blick zu, doch die ignorierte ihn.

»Wusstet ihr, dass die anderen Vereine alle Teamkapitäne haben?«, sagte Bella stattdessen. »Könnten wir doch eigentlich auch wählen, jetzt, wo wir im Nachwuchscup starten. Dann hätten wir jemanden, der unsere Interessen vertritt. Bei der Saisonplanung und so. Oder bei der Wahl der Trainingsanzüge.«

Aurelie verdrehte hinter ihren geschlossenen Lidern die Augen. Das war typisch. Bella wusste selbst, dass sie niemals schneller als Aurelie sein würde, also suchte sie nach einer anderen Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen.

Aurelie hielt ihren Kopf unter das Wasser, um die letzten Shampooreste aus ihrem Haar zu spülen. Dann nahm sie ihren Rucksack und verließ den Duschraum.

Ihre Interessen würde Bella als Teamkapitänin sowieso nicht vertreten.

 

Aurelie nutzte die Zeit, während sie alleine im Umkleideraum war, um den Badeanzug in Ruhe auszuziehen und sich ungestört abzutrocknen. Sie balancierte auf ihren Badelatschen, um den Boden nicht mit den nackten Füßen berühren zu müssen, und war bereits in ihre Unterwäsche geschlüpft, als Stimmen vor der Umkleidetür erklangen.

»... mega süß.«

Bella verstummte, als sie sich an Aurelie vorbei in die Umkleide quetschte. Sie ließ ihre Tasche auf das andere Ende des Bänkchens in der Mitte des dunklen Raumes fallen. »Wir reden später weiter«, sagte sie zu Kim und Lea.

»Ich weiß eh, um wen es geht«, sagte Aurelie und zog ein weißes T-Shirt über.

»Ach ja?« Bella ließ ihren Badeanzug zu Boden fallen. »Dann weißt du sicher auch, dass du nicht sein Typ bist.«

»Mir kommen gleich die Tränen.« Aurelie knöpfte ihre Jeans zu und hielt inne. »Ach nein, doch nicht.« Sie drehte sich zu ihrem Spind um und griff nach ihren Sneakers.

Bella zog ihr Handtuch eng um den Körper, zückte ihr Smartphone und lächelte in die Kamera.

Aurelie verließ im Eiltempo die Umkleide, während die anderen noch passende Hashtags für Bellas Selfie überlegten.

Jedes Mal wunderte sie sich, wie überdimensioniert der Ausgang des Freibades war. Vier Meter über ihr waren schwere Holzbalken angebracht, unter denen es selbst im Hochsommer nicht warm wurde. Der Boden war gefliest und an den Seiten hingen gelb-orangene Schließfächer, von denen die meisten defekt waren. Dieser Bereich des Freibades war einer der trostlosesten, und das sollte was heißen. Dort entlangzugehen war trotzdem einer von Aurelies Lieblingsmomenten nach dem Training. Sie war ausgepowert und endlich erfüllte eine wohlige Wärme ihren Körper, selbst die Fingerspitzen. Fast entwich ihr sogar ein Pfeifen.

Auf Höhe der Jungenumkleide ging die Tür auf und Tom und Fabian traten heraus.

»Wie lief’s bei euch heute?«, fragte Aurelie.

»Ganz gut«, antwortete Fabian. Er war fast so groß wie Tom. Seine schulterlangen Haare tropften auf sein T-Shirt. »Bei euch ja anscheinend auch...« Er zwinkerte Aurelie zu und drehte sein Piercing wieder in die Lippe.

Aurelie kramte in ihrem Rucksack nach dem Fahrradschlüssel, um nicht antworten zu müssen. »Gibt es bei euch eigentlich schon etwas Neues?«, fragte sie dann.

Um an der Teamwertung der Jungen teilnehmen zu dürfen, mussten pro Altersklasse mindestens vier Starter gemeinsam antreten. Tri-Feuer Kleefeld hatte zwar insgesamt fünf männliche Triathleten, jedoch in unterschiedlichen Altersklassen. Jojo, Lukas und Paul waren siebzehn und gehörten damit in die Jugend A; Tom und Fabian bereits achtzehn und zählten so zu den Junioren.

»Michael sucht schon seit Wochen nach einem weiteren Starter für die Jugend A«, sagte Tom und ging durch das Drehkreuz am Ausgang des Freibades. »Aber finde mal jemanden, der zufällig Triathlet ist, zufällig super gut und zufällig noch nicht zum VfL Hannover gegangen ist.«

Der VfL Hannover war der große Triathlon-Verein der Stadt, mit mehreren hundert Mitgliedern, Sponsoren, Trainingszeiten im Leistungsstützpunkt und einer Trainerin, die für ihre Kompromisslosigkeit bekannt war.

»Praktisch unmöglich.« Fabian rubbelte seine Haare im Gehen noch schnell mit einem Handtuch trocken. »Als würde man im Wettkampf Rücken schwimmen und sich wundern, warum man die Boje verfehlt.«

 

An den Fahrradständern vor dem Freibad waren nur noch ihre eigenen Räder angeschlossen. Tom setzte sich auf einen der metallenen Bögen und holte sein Handy heraus.

»Und ihr beide startet dann in der Einzelwertung der Junioren?«, fragte Aurelie. Sie schloss das alte Studentenrad ihrer Mutter auf, das sie immer benutzte, wenn sie in der Stadt unterwegs war.

»Uns bleibt ja nichts anderes übrig.« Fabian zuckte mit den Schultern und ging zu seinem Rad.

»Ihr könntet ja eine Trainingskooperation eingehen«, schlug Aurelie vor.

»Mit dem VfL? Nur über meine Leiche«, sagte Fabian.

»Immerhin müsst ihr so keinen Teamsprint machen.«

»Teamsprint ist geil. Da kann man richtig ballern.«

»Dafür sind Lea und Kim nicht schnell genug«, antwortete Aurelie.

»Erwartest du vielleicht etwas viel?«, fragte Tom und wendete seine Aufmerksamkeit für einen Moment vom Bildschirm in seiner Hand ab. »Es wird eure erste Saison im Nachwuchscup.«

Ihre Blicke trafen sich. Sie wussten beide, was Aurelie erwartete.

»Aha, die Coolen hängen bei den Fahrrädern rum«, unterbrach sie Paul. Während alle anderen Sweatshirts übergezogen hatten, trug Paul T-Shirt und Shorts. Die Breite seines Oberkörpers erinnerte an einen kleinen Braunbären und auch sonst schienen menschliche Reflexe wie Kälte oder Schmerz bei ihm nur unterschwellig ausgeprägt. »Wo sind der Alk und die Kippen?«

»Keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Fabian und deutete betont unauffällig in Aurelies Richtung. »Ich trinke ja nie Alkohol.«

»Vor allem nicht während der Saison«, fügte Aurelie entschieden hinzu.

»Die Saison hat noch gar nicht begonnen.« Paul hob die Hände. »Außerdem ist Freitag. Und ich verstehe einfach nicht, wie die Tochter eines der besten Spirituosenhändler der Stadt so eine abwehrende Haltung gegenüber Alkohol haben kann. Du sitzt doch an der Quelle!«

»Vielleicht ja genau deswegen.«

»Aber das ist doch Quatsch. Schau dir Tom an.« Paul legte den Arm um ihn. »Er sitzt auch an der Quelle und lässt uns regelmäßig dran teilhaben. Eure Väter haben schließlich das Hannoveraner Alkoholmonopol.«

»Nicht mehr«, warf Tom ein. Aurelies und Toms Väter hatten zusammen einen Importhandel für die besten und hochpreisigsten Spirituosen aus der ganzen Welt betrieben. Begonnen hatten sie vor über zwanzig Jahren mit dem Verkauf von südamerikanischem Wein. Doch vor ein paar Monaten hatten sie ihre Zusammenarbeit ohne Vorwarnung beendet und schienen nun nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander zu arbeiten.

»Heißt das, wir können nicht mehr bei dir Vorglühen?« Paul sah Tom entsetzt an.

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht. In zwei Stunden bei mir.«

Stille trat ein, bis die restlichen Jugendlichen dazu stießen. Lukas und Jojo gehörten zu der Minderheit, die noch Pokémon Go spielte. Anscheinend hatten sie hinter den Mülltonnen des Freibades einen Fang machen können. Bella kam als Letzte durch den Ausgang gehastet, die Wimperntusche noch in der Hand. Sie berührte Toms Unterarm. »Was geht bei dir heute Abend?«

»Mit den Jungs einen trinken.«

»Na, vielleicht sieht man sich ja.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre Korkenzieherlocken.

Lukas, der in sein Smartphone vertieft gewesen war, schaute auf. Er hatte seine nassen Haare zu einem lockeren Dutt hochgebunden. »Schickes Instagram-Foto.«

»Welches denn?«, fragte Bella.

»Das After-Workout-Bild.«

»Ach, das war doch nur ein Schnappschuss.«

Die Jungs drängten sich um Lukas, um das Bild anzusehen. Währenddessen griff Aurelie nach ihrem eigenen Handy und las die Nachricht ihres Vaters.

Michael quetschte sich mit einem Stapel Schwimmbretter unter dem Arm durch das Drehkreuz. »Gibt’s was zu gucken?«, fragte er.

»Nein«, erklang es im Chor und das Handy verschwand in Lukas Hosentasche.

»Was hast du so lange noch gemacht?«, fragte Jojo seinen Vater.

»Noch mal mit dem Bademeister geredet, ob wir nicht mehr Schwimmzeiten bekommen können«, antwortete Michael. »Aber da ist nichts zu machen.«

Michael und Jojo stiegen in Michaels alten Passat, die anderen auf ihre Fahrräder. Aurelie fuhr immer erst dann los, wenn sie es nicht länger hinauszögern konnte. Die Stimmung bei ihr zu Hause war in den letzten Monaten immer schlechter geworden. Tom ahnte das. Er drehte an seinem Zahlenschloss herum.

»Willst du heute Abend nicht mitkommen? Es gibt ja auch alkoholfreie Cocktails«, sagte er.

Aurelie schüttelte den Kopf. »Außerdem kann ich nicht. Mein Vater hat geschrieben. Verpflichtendes Abendessen.«

»Die haben wir auch immer noch. Es war lustiger, als wir noch zusammen am Tisch saßen«, sagte Tom.

Seitdem sich die geschäftlichen Wege ihrer Väter getrennt hatten, hatte es für Aurelie kein von langer Hand geplantes Familienessen mehr gegeben. Doch nun war es anscheinend an der Zeit, die Tradition wieder auflebenzulassen und den besten Wein Argentiniens in Aktion – beim Essen – und in einem gesellschaftlich anerkannten Umfeld – der intakten Familie – vorzuführen. Aurelie freute sich nicht besonders dadrauf.

»Lass es doch ausfallen.« Tom sah sie herausfordernd an. »So wichtig ist deine Anwesenheit nun auch nicht, um den Kunden vom außergewöhnlichen Geschmack der Weine zu überzeugen.«

»Das stimmt.« Sie schloss ihr Fahrrad auf. »Aber ich brauche neue Laufschuhe.«

 

3

 

Das weiß verputzte Haus mit dem roten Dach war das einzige freistehende in der Sturmstraße. Ein polierter Messingzaun umrahmte das Grundstück. Vor dem Eingang lag eine Fußmatte, an der das Preisschild auf der Rückseite noch nicht verwittert war.

Aurelie stellte ihr Fahrrad in der Garage ab, nahm ihren Schwimmrucksack und schloss die Haustür auf. Ein würziger Essensgeruch strömte ihr entgegen. Ihre Mutter Margret arbeitete in der Küche über zwei dampfenden Kochtöpfen. Sie hatte ihr braunes Haar bereits mit dem Lockenstab in Form gebracht und mit Klammern hochgesteckt. Zum Schutz trug sie eine Kochschürze. An ihrer Stirn hing eine winzige Schweißperle. Auf der Anrichte neben ihr lagen gehackte Kräuter. Sie schaute auf die Uhr.

»Gut, dass du da bist«, rief Aurelies Mutter sofort durch die angelehnte Küchentür. »Kannst du bitte den Esstisch mit dem Porzellan aus dem Wohnzimmerschrank decken?«

»Meißner oder Rosenthal?«, rief Aurelie zurück.

Seitdem Aurelies Großvater, der Vater ihrer Mutter, im letzten Jahr verstorben war, hatte sie das Gefühl, in einem modernen Antiquariat zu leben – so viele wertvolle Gegenstände, die ihre Mutter neben einer beträchtlichen Geldsumme geerbt hatte, standen nun überall im Haus verteilt. Aurelie stellte ihre Schuhe in das unterste Regal des antiken Schuhschränkchens, das ihre Mutter mit Zeitungen ausgelegt hatte, um es vor den Gebrauchsspuren des Alltages zu schützen.

»Rosenthal«, erklang es aus der Küche.

»Wie viele Teller?«

»Sieben. Oder acht? Frag Johannes.« Eine Spur Genervtheit schlich sich in die Stimme ihrer Mutter. Das kam selten vor. Sie legte normalerweise Wert darauf, sich keinen Unmut anmerken zu lassen. Aurelie war anscheinend nicht die Einzige, die kurzfristig von diesem Abendessen erfahren hatte. Früher hatte ihre Mutter gerne die Kunden ihres Mannes bewirtet. Gäste mit ihren Kochkünsten zu beeindrucken und aufwendige Feste zu organisieren gehörten zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.

In den letzten Wochen hatte sie Aurelies Vater allerdings immer wieder in den Ohren gelegen, dass dieser weniger arbeiten sollte, damit sie endlich all die Dinge unternehmen konnten, für die sie früher keine Zeit gehabt hatten. Doch obwohl es dank des Erbes nicht mehr nötig war, dass ihr Vater Vollzeit arbeitete, schien er sich nicht von seinem Weinhandel trennen zu können. Mittlerweile arbeitete er sogar fast doppelt so viel wie früher.

Das Ess- und Wohnzimmer war ein offen gestalteter Raum, dessen Fensterfront den Blick auf die großzügige Terrasse als auch den dahinterliegenden Garten mit den Blumenbeeten freigab. Teure Zierpflanzen waren ein weiteres Interessensgebiet von Aurelies Mutter. Sie hatte sich auf Geranien, Fuchsien und Fächerblumen spezialisiert und bereits alle Vorbereitungen getroffen, damit der Garten bald in voller Blüte stand. Alles, was noch fehlte, waren ein paar sonnige Tage.

Aurelie ging in den linken Teil des Zimmers, der von einem massiven Esstisch aus dunklem Holz vereinnahmt wurde; einem weiteren Erbstück von Aurelies Großvater. Auf der anderen Seite gab es ein Sofa und zwei Sessel sowie einen Couchtisch mit gehäkeltem Blumendeckchen. An der Wand dazwischen stand ein Klavier.

Ihr Vater saß in einem dunkelgrünen Ohrensessel und sortierte Weinprospekte. Mit seinen weißen Haaren, dem modernen Haarschnitt und dem schlichten schwarzen Cashmerepullover sah er aus, als sei er einer Werbung für teure Armbanduhren entsprungen. Manchmal versuchte Aurelie, sich ihn beim Sport vorzustellen, mit Schweißflecken und in Funktionskleidung. Doch der Gedanke erschien so abwegig, dass es ihr einfach nicht gelingen wollte.

Sie nahm einen Stapel Teller aus dem Schrank. »Wie viele Gäste hast du eingeladen?«, fragte sie.

»Zwei Paare.« Ihr Vater sah so gut gelaunt aus wie lange nicht mehr. »Sie haben die argentinische Torrontés noch nie probiert.«

»Das ist ja dann deine Chance«, sagte Aurelie. Sie wusste, dass die Torrontés eine der edelsten Weißweinsorte Argentiniens war, da ihr Vater die Anbaugebiete bereits mehrmals persönlich besucht hatte.

Aurelie holte Besteck und Gläser aus dem Schrank. Gehörten Weingläser rechts oder links neben den Teller?

»Was ich noch fragen wollte«, fuhr sie fort, während sie das Geschirr um den Tisch herum anordnete. »Letzte Woche beim Intervalltraining ist mir aufgefallen, dass die Sohlen meiner Laufschuhe ziemlich abgelaufen sind. Kann ich neue haben?«

»Natürlich kannst du dir neue Laufschuhe kaufen«, sagte ihr Vater.

»Wirklich?«, fragte Aurelie überrascht. Ihr Vater verwaltete die Finanzen der Familie und selbst das Erbe hatte nicht dazu geführt, dass er großzügiger geworden wäre, was Aurelies teure Triathlonausrüstung anging. Sie hatte eher das Gefühl, dass er noch weniger als sonst bereit war, sie zu unterstützen. Ihre Ahnung bestätigte sich prompt, als er antwortete:

»Mit deinem eigenen Geld kannst du machen, was du willst.«

»Mein Taschengeld reicht dafür aber nicht«, erwiderte sie und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen. »Gute Laufschuhe kosten über hundert Euro. Das weißt du doch.«

Aurelie hatte sich von ihrem eigenen Geld gerade erst eine neue Schwimmbrille gekauft. Sie stellte das Weinglas links neben den Teller.

Ihr Vater stand auf. Er legte seine Mappe auf die Anrichte, sodass sie wie zufällig unter der aktuellen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung hervorschaute. »Weingläser fasst man unten an. Und sie gehören rechts neben den Teller«, erwiderte er. »Das weißt du doch.«

»Ist das ein nein?«, fragte Aurelie.

»Es ist ein vielleicht – solange der Abend gut läuft.«

 

Aurelie deckte den Tisch zu Ende und ging danach in den Keller, um ihre nassen Schwimmsachen auf der Wäscheleine aufzuhängen. Als sie die Kellertreppe zwei Stufen auf einmal nehmend wieder hochkam, stieß sie mit ihrer Schwester zusammen. Agnes stand mit einem leidenden Ausdruck im Gesicht am Treppenabsatz und umklammerte das Geländer, als könne sie ohne dessen Hilfe nicht aufrecht stehen.

Obwohl Agnes vier Jahre älter war als Aurelie und schon studierte, war sie einen Kopf kleiner. Als Kind hatte Aurelie ihre Schwester um deren blondes lockiges Haar und die Stupsnase beneidet. Heute war sie froh, keinen so ausladenden Po zu haben. Es reichte, wenn Agnes darüber klagte, wie schwer es sei, passende und trotzdem moderne Jeans zu finden. Wie sich das mit der Suche nach einem Neoprenanzug gestalten musste, wollte Aurelie sich gar nicht erst ausmalen.

»Hi.«

Agnes Stimme war brüchig. Sie hatte einen dicken Schal umgebunden, ihr Zopf war unordentlich und ihre Nase rot. Aurelie unterdrückte einen Seufzer. Die Sache war die: Agnes war nicht krank. Agnes hatte Liebeskummer. Und das schon seit einer halben Ewigkeit.

Genau genommen, seitdem ihr Freund – Ex-Freund – Rüdiger sie an Neujahr verlassen hatte. Aurelie hatte sich die Geschichte öfter anhören müssen, als gut für irgendjemanden sein konnte, Agnes eingeschlossen.

Um Mitternacht hatten sich Agnes und Rüdiger noch geküsst und ewige Liebe geschworen (das behauptete Agnes zumindest – auch wenn Aurelie sich kaum vorstellen konnte, dass ein paragraphenversessener und humorfreier Jurastudent wie Rüdiger zu solchen Emotionen fähig war).

Doch als am nächsten Tag die Uni-Bibliothek ihre Türen nach der Festtagspause wieder öffnete, hatte er ihr erklärt, sich dieses Jahr voll und ganz auf sein Examen konzentrieren zu müssen und deswegen keine Kapazitäten mehr (seine Worte) für eine Freundin zu haben. Er hatte es mit Outlook und Excel »berechnet« und Agnes als Beweis seinen ein halbes Jahr im Voraus verplanten Terminkalender gezeigt.

Aurelie konnte es Rüdiger nicht verdenken, mit Agnes Schluss gemacht zu haben. Sie wusste nur zu gut, wie anstrengend ihre Schwester sein konnte. Doch sie nahm ihm übel, dass sie seitdem ein neues Maß von Agnes Wehleidigkeit aushalten musste.

»Kannst du mir mit den Stühlen helfen?«, fragte Aurelie. »Zwei fehlen noch.«

Der Kopf ihrer Mutter erschien im Türrahmen. Sie hatte Lippenstift in dezentem rotorange aufgetragen und die Klammern aus ihrem Haar genommen.

Nachdem sie den Esstisch inspiziert hatte, blieb ihr Blick an Agnes geblümter Leggins hängen.

»Du machst dich aber noch frisch, ja? Und du, Aurelie«, sie deutete auf Aurelies grauen Kapuzenpullover und die zerrissenen Jeans, »bitte auch.«

»Ich weiß nicht, ob ich heute in der psychischen Verfassung für ein Abendessen mit Gästen bin.« Agnes stützte sich schwerfällig auf einer Stuhllehne ab. »Ich fühle mich schon den ganzen Tag so schlapp und das kam jetzt alles so plötzlich...«

Hoffnungsvoll blickte sie zu ihrer Mutter. Sie schaffte es sogar, einen feuchten Glanz in ihre Augen zu legen. Man sah ihrer Mutter an, dass sie abwog. Wie wichtig war es, dass die Töchter mit am Tisch saßen?

Doch bevor sie etwas erwidern konnte, kam Aurelies Vater umgezogen die Treppe herunter. Nun trug er ein lachsfarbenes Hemd und seine beste Leinenhose. »Natürlich isst du mit«, sagte er. »Aurelie auch. Wir sind schließlich eine Familie.«

»Aber wir haben mit Wein doch gar nichts am Hut«, entgegnete Agnes. »Und wie wichtig ist das Ganze überhaupt noch?«

Damit spielte Agnes auf die Frage an, die sich Aurelie auch schon gestellt hatte: Spielte ein perfekter Verkaufsabend überhaupt noch eine Rolle?

Der Blick ihres Vaters verhärtete sich. »Meine Firma ist die Grundlage unseres Lebens. Das wird sie auch in Zukunft bleiben. Ich erwarte, dass ihr euch dementsprechend verhaltet. Uwes Frau ist Ärztin. Du wirst dich bei ihr nach einem passenden Facharzt erkundigen. Und was Aurelie angeht – sie freut sich schon darauf, unsere Gäste nicht auf dem Trockenen sitzen zu lassen, und versucht einen Abend lang über etwas anderes als ihre Sport-AG zu reden. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«

Er schritt energisch an ihnen vorbei in die Küche. Aurelie beschlich der Verdacht, dass es bei dem Weingeschäft weniger um die Zukunft ihrer Familie als um das Ego ihres Vaters ging. Sie schaute Agnes resigniert an.

»Dabei habe ich noch nicht mal das Physikum«, flüsterte diese, als sie die Treppe hochgingen, um sich frischzu machen.

»Und wir sind schon seit Ewigkeiten keine AG mehr, sondern ein eingetragener Sport-Verein«, murmelte Aurelie.

 

Aurelies Zimmer war zwar genauso ordentlich, dafür aber weniger detailverliebt eingerichtet als der Rest des Hauses. Für Details interessierte Aurelie sich eigentlich nur, wenn es um ihr Training ging. Sie besaß ein großes Bett, einen Schreibtisch und einen Schrank – und dazwischen viel Teppichboden, auf dem sie getragene Sportsachen nach Disziplin geordnet in kleinen Haufen griffbereit aufbewahren konnte. Sie machte einen großen Schritt über einen Stapel Finisher-T-Shirts und ließ sich mit ihrem Handy aufs Bett fallen.

Sie öffnete Instagram. Beim Durchscrollen fiel ihr ein rotstichiges Foto mehrerer Cocktailgläser auf. Die meisten ihrer Vereinskameraden waren darauf verlinkt. Sie warf ihr Handy ans Fußende des Bettes und öffnete ihren Kleiderschrank.

Aurelie kramte nach der einzigen Bluse, die sie besaß. Der hellblaue Stoff war zerknittert und hätte ein Bügeleisen vertragen. Doch anstatt sich um die Knitterfalten zu sorgen, zog sie die Bluse schnell über und öffnete das Trainingstagebuch auf ihrem Laptop. Nachdem sie das Schwimmtraining nachgetragen hatte, überflog sie die vergangenen Einheiten.

Seit den Weihnachtsferien hatte sie kein einziges Training verpasst. Aurelie hätte gerne noch mehr trainiert, aber Michael bestand auf ein bis zwei Ruhetage die Woche. Der Körper bräuchte die Zeit zur Regeneration und zum Leistungsaufbau. Aurelie war zwar der Meinung, dass ihr Körper weniger Zeit dafür brauchte, trotzdem hielt sie sich an die Vorgaben. Michael war früher bei Weltcuprennen gestartet. Er musste wissen, wovon er sprach. Und wenn das alles war, was sie tun musste, um ihre Leistung zu steigern, war sie gerne bereit dazu.

An der Wand über ihrem Schreibtisch hing ein Kalender, auf dem sie die Tage bis zum ersten Wettkampf zählte. Es waren nur noch dreizehn. Ihr Bauch kribbelte aufgeregt. Seit letztem Spätsommer sehnte sie den Beginn der Triathlonsaison herbei. Sie konnte es kaum erwarten, den ersten Startschuss zu hören und endlich herauszufinden, ob sie recht hatte mit der leisen Ahnung, die sie immer dann beschlich, wenn sie voll und ganz im Schwimmen, Rad fahren und Laufen aufging: Dass sie das Zeug hatte, Rennen im Nachwuchscup zu gewinnen.

Die Türklingel ertönte. Aurelie zupfte noch mal an ihrer Bluse herum, warf einen Blick in den Spiegel und strich sich eine abstehende Haarsträhne hinters Ohr. Sie war nicht geschminkt, aber frisch sah sie trotzdem aus. Ihre hellblauen Augen strahlten und ihre Haut war ziemlich pickelfrei. Chlor musste eine Geheimwaffe gegen Unreinheiten sein.

Sie lächelte und stellte dabei erfreut fest, dass es gar nicht gezwungen aussah.

 

4

 

Für Aurelie sahen die Kunden ihres Vaters immer gleich aus. Männer mit Wohlstandsbäuchen und Frauen mit teuren Handtaschen. Je grauer das Haar der Männer, desto gelifteter erschienen ihr die Gesichter der Frauen.

Sie redeten jedes Mal über die gleichen Themen: ihre Jobs, ihre Autos und ihre Sommerhäuser auf Madeira. Wenn sich das Gespräch doch mal um Sport drehte, dann entweder um Golf oder um Tennis – im Gegensatz zu Triathlon waren das Sportarten, die ihr Vater akzeptierte.

Einmal, daran konnte Aurelie sich noch genau erinnern, hatte ein Mann mit besonders voluminösem Bauch von der Mountainbikeausrüstung erzählt, in die er tausende von Euro investiert hatte. Ihr Vater hatte höfliche Nachfragen gestellt und Aurelie hatte sich darüber gewundert, dass er den Begriff Schaltgruppe kannte. Das war während eines Abendessens gewesen, das bei Toms Eltern stattgefunden hatte. Toms Mutter Penelope hatte bereits einige Gläser Wein intus gehabt und den Mann mit einem leichten Lallen in der Stimme gefragt, ob er eigentlich an Bergen absteigen und schieben müsse, woraufhin Aurelies Vater seltsam verkrampfte und Penelope den Rest des Abends keines Blickes mehr würdigte. Wahrscheinlich hatte er Sorge gehabt, dass sich ihr Kommentar negativ auf die Bestellung des Mannes auswirken würde. Tom und Aurelie hatten sich gegenübergesessen und Blickkontakt vermieden, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.

An dem Tag hatte Aurelie ihren Vater vor dem Schlafengehen noch gefragt, was er eigentlich gegen Ausdauersportarten habe. Er hatte sie fast schon gekränkt angeschaut und mit dem Mund voller Zahnpasta etwas von »vergeudeter Zeit« genuschelt.

 

Aurelie warf einen schnellen Blick ins Wohnzimmer, bevor sie in die Küche ging, um ihrer Mutter beim Anrichten der Vorspeise zu helfen.

Die Gäste sahen in der Tat aus wie immer. Ein übergewichtiger Mann mit goldener Armbanduhr hatte den Arm um eine Frau mit dunklem, kinnlangem Haar gelegt. An ihrem Unterarm hing eine besonders teuer aussehende Handtasche. Sie lachten über etwas, das ihr Vater gesagt hatte. Am Fenster stand ein weiterer Mann. Er war untersetzt und sein dunkelgraues Hemd spannte in der Taille. Er unterhielt sich mit Agnes, die ihre Haare nicht nur zum ersten Mal an diesem Tag gekämmt, sondern sogar zu einer kompliziert aussehenden Flechtfrisur arrangiert hatte. Statt Leggins trug sie jetzt enge schwarze Jeans.

»Sind wir doch nur sieben?«, fragte Aurelie. Ihre Mutter nickte und drückte ihr Sektgläser in die Hand. »Rainers Frau wurde im Büro aufgehalten. Verteil die schon mal.«

 

Das Abendessen, das für ihren Vater ein Dinner, und für Aurelie eine Verkaufsveranstaltung war, nahm seinen vorbestimmten Lauf. Das Essen wurde in den höchsten Tönen gelobt, zum Hauptgang schenkte ihr Vater den Gästen unter großem Aufheben die argentinische Torrontés ein und als sich Uwe und Sabine Richards nach den klimatischen Verhältnissen im Anbaugebiet erkundigten, griff ihr Vater wie zufällig nach seinen Prospekten und erklärte ihnen, wie perfekt sich die Sorte dem Relief des Landes angepasst habe. Da Aurelie noch nichts zum Gespräch beigetragen hatte, konnte ihr Vater ihr auch nicht vorwerfen, nur über Sport zu reden.

In Gedanken saß Aurelie nicht am Tisch. In Gedanken schwamm sie durch den Maschsee. Das Wasser war trüb und beeinträchtige ihre Sicht, aber das war egal. Sie hatte keine Angst vor dem, was unter oder vor ihr sein mochte. Sie spürte, wie das kalte Wasser des Sees mit jedem Arm- und Beinschlag durch die Öffnungen ihres Neoprenanzuges an ihre Haut gelangte. Sie hieß jeden Wassertropfen willkommen.

In dem schmutzigen See fühlte sie sich frei. Das Einzige, was zählte, war die Boje in einigen hundert Metern Entfernung. Alle paar Armzüge hob sie den Kopf, um zu kontrollieren, dass sie geradewegs auf die Boje zuschwamm. Dann tauchte sie wieder unter und sah nur noch grünliches Wasser vor sich. Sie vertraute darauf, in die richtige Richtung zu schwimmen.

Ein leichter Stoß von Agnes Ellbogen brachte Aurelies Aufmerksamkeit zurück an den Esstisch. Ihr Vater sah sie auffordernd an. Sie hatte keine Ahnung, was er von ihr wollte.

»Es hat geklingelt«, wiederholte er.

Aurelie sprang auf, wobei ihr die Serviette vom Schoß fiel, und eilte in den Flur. Obwohl ihr Vater ihre Gedanken nicht lesen konnte, fühlte sie sich ertappt.

 

In der Haustür stand eine Frau, die jünger aussah, als Aurelie erwartet hatte. Sie schätzte sie auf Mitte dreißig. Ihr Haar war mit viel Haarspray nach hinten toupiert. Sie trug einen dunkelgrauen Filzmantel und ihre ausgestellte senfgelbe Leinenhose endete einige Zentimeter über ihren Knöcheln. Hochwasserhosen lagen also wieder im Trend.

»Sie müssen Herrn Dreyers Frau sein.« Aurelie gab ihr die Hand.

»Lebensgefährtin.« Sie warf für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick in den Spiegel, der neben der Haustür hing, und zog eine Haarsträhne glatt. »Sara Landmann. Du kannst Du sagen. Also Sara. Soll ich die Schuhe ausziehen?«

Aurelie schüttelte den Kopf. Sie folgte Sara Landmanns Blick auf die ordentlich nebeneinander aufgereihten Schuhe. Einer von Aurelies Laufschuhen war auf den Teppich gerutscht. Sie stellte ihn zurück in das Schuhschränkchen.

»Deine?«, fragte Sara Landmann.

»Jep.«

»Die wollte ich mir auch kaufen. Bin mir nur noch unsicher wegen der Stabilität. Kannst mir ja später mal deine Meinung zu den Schuhen erzählen.«

Auf keinen Fall, dachte Aurelie. Sie wollte nicht über Laufschuhe sprechen, sondern sich neue kaufen können.

 

Zu Aurelies Erleichterung bekam Sara Landmann die nächste Dreiviertelstunde keine Gelegenheit, sie über das Dämpfungsverhalten ihrer Laufschuhe auszufragen. Aurelies Mutter hatte das Gespräch auf ihr Lieblingsthema gelenkt: Kunst.

Es gab keine Ausstellung in Hannover, die ihre Mutter verpasste. Aurelies Grundschulzeit war von Sonntagen eingerahmt gewesen, die sie mit ihrer Schwester und ihren Eltern in Museen verbracht hatte. Am liebsten hatte sie mit Agnes in den großen Hallen Fangen gespielt. Es hatte etwas Überzeugungskraft bedurft, um Agnes zum Fangen zu animieren, aber wenn Aurelie fest genug an ihren blonden Zöpfen gezogen hatte, ging es schon. Ihre Mutter hatte deswegen ständig mit ihr geschimpft und erklärt, dass man sich in einem Museum anders zu benehmen habe, während ihr Vater mehr als einmal beide Augen zugedrückt hatte, als sie durch die Gänge geflitzt war.

Nur wenn ihre Mutter in der Nähe war, hatte er eine missbilligende Miene aufgesetzt. Aurelie wusste noch, wie traurig sie gewesen war, als sie sonntagnachmittags immer öfter zu Klaviervorspielen fuhren, anstatt ins Museum. Bei den Vorspielen musste man stillsitzen. Vielleicht hatte ihre Mutter deswegen darauf bestanden, dass Agnes und sie Unterricht nahmen.

Aurelie blieb ihrer Taktik treu, sich nicht am Gespräch zu beteiligten. Stattdessen beobachtete sie Sara Landmann. Neben ihrem Teller stand nur ein Glas Wasser. Sie hatte den Wein abgelehnt, obwohl Aurelies Vater ihr vom charakterstarken, aber trotzdem blumigen Geschmack vorgeschwärmt hatte.

Als ihre Mutter aufstand, um den Nachtisch aus dem Kühlschrank zu holen, verstummte das Gespräch für einen Moment. Sara Landmann öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, griff Aurelie nach der Weinflasche.

»Möchten Sie nicht doch ein Glas probieren? Er schmeckt besser als viele andere Muskatsorten.« Aurelie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber sie hatte es ihren Vater schon unzählige Male sagen hören.

»Alles gut.« Sara Landmann zwinkerte Aurelie zu. »Ich muss morgen früh raus.«

»Sie Arme, müssen Sie etwa auch samstags ins Büro?«, rief Aurelies Mutter durch die offene Tür.

»Wenn es das nur wäre«, sagte Rainer Dreyer. »Sie rennt jeden Morgen ins Fitnessstudio. Also nicht, dass ich nicht auch was davon hätte«, er lachte, »aber etwas übertrieben ist es schon.«

»Gesundheit ist mir wichtig«, sagte Sara Landmann in einem selbstbewussten Tonfall. »Dafür stehe ich eben auch mal um vier Uhr morgens auf oder verzichte auf Alkohol.«

»Meistens hilft ein Gläschen Wein ja beim Einschlafen«, warf Aurelies Vater ein, doch sein Kommentar ging ungehört unter, weil Agnes ihr Besteck auf den Teller hatte fallen lassen. »Sie stehen um vier Uhr morgens auf? Jeden Tag?«, fragte sie ungläubig.

»Alles eine Frage der Gewohnheit.« Sara Landmann konzentrierte sich nun voll und ganz auf Agnes. »Seitdem ich ein Full Body Workout in meine Morgenroutine integriert habe, muss ich zwar früher aufstehen, aber dafür bin ich viel produktiver geworden. Machst du Sport?«

Aurelie hielt die Luft an. Nicht, weil Sara Landmann Agnes Hüftgold gemustert hatte, sondern weil das S-Wort gefallen war. Immerhin hatte sie Agnes angesprochen und nicht Aurelie. Und Agnes hatte sich noch nie für Sport interessiert und auch noch nie welchen gemacht. Abgesehen von den ersten vier Wochen des 10. Schuljahres, in denen sie es mit Badminton versucht hatte, aber nach einem geprellten Handgelenk gleich wieder beenden musste.

»Nein«, antwortete Agnes wahrheitsgemäß. Aurelie entspannte sich wieder. Sie wollte ihrer Schwester schon dankbar zulächeln, als diese hinterher schob:

»Aurelies Sportpensum reicht eh für die ganze Familie.«

Agnes zuckte zusammen, als Aurelie gegen ihr Schienbein trat. »Was?«, fragte sie. »Stimmt doch!«

»So viel trainiere ich nun auch wieder nicht«, erwiderte Aurelie gepresst.

»Was machst du denn?«, fragte Sara Landmann und fasste sich an ihr toupiertes Haar, als befürchtete sie, dass eine Haarsträhne außer Kontrolle geraten sein könnte.

»Kennen Sie nicht.«

»Sie macht Triathlon«, sagte Agnes in einem Tonfall, der nahelegte, dass sie es komplett verrückt fand.

»Ist das das mit Schießen und Skilanglauf?«, fragte Rainer Dreyer.

»Du meinst Biathlon, Schatz.« Sarah Landmann warf Aurelie einen entschuldigenden Blick zu. »Also, das finde ich ja wirklich toll. Ein Triathlon steht auch noch auf meiner Bucket List. Sich einmal beweisen, dass man zu solch einer Leistung fähig ist. Kein Wunder, dass du so gute Laufschuhe hast.«

»Und, bist du Erste?«, fragte Rainer Dreyer.

Mit dieser kleinen Frage hatte er es geschafft, den Finger direkt in Aurelies offene Wunde zu legen. Sie hatte schon mehrmals auf dem Treppchen gestanden. Aber gewonnen hatte sie noch nie.

»Die Saison hat noch nicht begonnen«, antwortete Aurelie vage und mied dabei den Blick zu ihrem Vater. »Aber ich gebe natürlich mein Bestes.«

»Bewundernswert«, mischte sich Frau Richards ein, die bisher mehr zugehört als gesprochen hatte. »Da kann man sich doch eine Scheibe abschneiden. Vielleicht sollten wir uns auch etwas mehr bewegen und«, sie hob ihr Weinglas schuldbewusst in die Höhe, »ein bisschen weniger dem Genuss frönen.« Ihr Mann nickte zustimmend.

»Es ist nur eine Schul-AG«, erwiderte Aurelies Vater schnell und schenkte Frau Richards Wein nach. In seinem Tonfall lag etwas Endgültiges. »Das Privileg der Jugend, in ihrer Freizeit Luftschlösser zu bauen. Aurelie weiß, dass es langsam an der Zeit ist, erwachsen zu werden. Im Sommer will sie ein Berufspraktikum in meinem Betrieb machen. Laufschuhe bezahlt man schließlich nicht mit Trainingskilometern.« Er stand auf. »Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen vor dem Nachtisch gerne noch meine private Weinsammlung.«

Alle anderen erhoben sich ebenfalls.

Nur Aurelie blieb sitzen, da sie noch damit beschäftigt war, in ein Taschentuch zu husten. Sie hatte sich an ihrer Apfelschorle verschluckt.

 

Aurelies Vater führte das Ehepaar Richards und Rainer Dreyer in den Weinkeller. Sara Landmann und Agnes setzten ihr Gespräch über Morgenroutinen im Wohnzimmer fort. Aurelie entschuldigte sich auf die Toilette. Sie sank niedergeschlagen auf den zugeklappten Toilettensitz und starrte die blau-weiß gemusterten Emaillefliesen an.

Es war das erste Mal, dass ihr Vater von einem Berufspraktikum in seiner Firma gesprochen hatte. Noch nie hatte er ihr gegenüber etwas angedeutet. Er wusste gar nicht, ob sie daran Interesse hatte.

Falsch.

Er wusste genau, dass Aurelie kein Interesse hatte. Sie interessierte sich nicht für Wein. Auch nicht für den besten Wein Südamerikas.

Sie stand auf, ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke fließen und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ihr Lächeln wirkte noch immer überzeugend, auch wenn sie sich nun mehr dafür anstrengen musste.

 

»... er hat sich seitdem kein einziges Mal mehr bei mir gemeldet«, sagte Agnes in einem ihrer verzweifeltesten Tonfälle zu Sara Landmann, als Aurelie ins Wohnzimmer zurückkam. Agnes zupfte Grashalme aus einem der Blumentöpfe auf der Fensterbank. Sara Landmann sah sie mitfühlend an. »Das Wichtigste ist, dass du dich ab jetzt auf dich konzentrierst. Du musst dich selbst wieder lieben lernen.«

»Aber das ist so schwer.«

Sara Landmann legte Agnes die Hand auf den Unterarm. »Es wird vielleicht das Schwerste sein, was du je getan hast, aber es ist so wichtig, dass du nicht mehr zurückblickst, sondern nur noch nach vorne.«

Aurelie stellte sich mit einer neuen Apfelschorle zu ihnen. »Rüdiger hat doch eh einen Stock im Arsch«, warf sie ein. »Ich konnte ihn nie leiden.«

»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Agnes. »Du weißt gar nicht, worum es geht. Du warst noch nie in einer Beziehung. Du warst noch nicht einmal verliebt. Du kannst gar nicht wissen, wie sich das anfühlt.«

Agnes lag falsch, doch Aurelie korrigierte sie nicht. Es war einfacher, stark zu sein, wenn man solche Gefühle ignorierte. In einem angestaubten Teil von Aurelies Herzens rührte sich trotzdem etwas. Sie spürte ein Ziehen und hatte plötzlich einen süßlichen Geruch in der Nase, obwohl ihre Mutter herzhaft gekocht hatte. Fast wäre sie versucht gewesen, genau wie Sara Landmann und Agnes in den abendlichen Himmel zu blicken und nach Antworten zu suchen. Stattdessen nahm sie einen weiteren Schluck Apfelschorle und vergrub die Erinnerung wieder.

»Hast du es schon mal mit Meditation versucht?«, fragte Sara Landmann. »Ich meditiere jeden Morgen eine halbe Stunde. Hat mein Leben verändert. Du bist wertvoll, Agnes, und du musst dir jeden Tag Zeit für dich selbst nehmen.«

Aurelie fügte im Stillen hinzu, dass Agnes nichts anderes machte, als sich auf sich selbst zu konzentrieren.

»Und weißt du, was das wichtigste Wort überhaupt ist?«, fragte Sarah Landmann.

»Ich?«, sagte Agnes.

»Nein.«

»Was dann?«

»Habe ich doch gerade gesagt. Nein. Das ist das wichtigste Wort überhaupt. Du musst lernen, Grenzen zu ziehen. Nur so nimmt man dich ernst.«

Die Therapiestunde wurde durch eine Stimme aus dem Weinkeller unterbrochen. Rainer Dreyer rief nach seiner Lebensgefährtin. Aurelie fragte sich, ob Sara Landmann bei ihm auch nein sagte. Wahrscheinlich nicht.

 

Aurelie war froh, als sich die Gäste endlich, ausgestattet mit Prospekten, jedoch ohne ausgefüllte Bestellscheine, verabschiedeten. Ihr taten die Mundwinkel vom angestrengten Lächeln weh. Ihr Vater sah nicht besonders zufrieden aus.

»War doch ein schöner Abend«, sagte Aurelies Mutter zu ihm. Er schaute sie versteinert an und verschwand wortlos in seinem Büro.

Agnes und Aurelie räumten das Geschirr in die Spülmaschine.

»Musstest du mich eben so vorführen?«, flüsterte Aurelie.

»Wieso?«

»Wer soll jetzt im Sommer Weinflaschen entstauben, ich oder du?«

»Ach so«, Agnes fasste das benutzte Besteck mit spitzen Fingern an und warf es in die Spülmaschine. »Sorry. Aber eigentlich war das alles Frau Landmann schuld. Sie hat schließlich damit angefangen.«

Aurelie stellte das unbenutzte Weinglas zurück in den Schrank.

»Und wenn schon.«

Nach neuen Laufschuhen konnte sie ihren Vater an diesem Abend nicht mehr fragen.

 

5

 

Aurelie vertagte die Frage nach den Laufschuhen, bis sie am nächsten Mittwoch ihre Sachen für das Intervalltraining auf der Aschenbahn im alten Stadion Eilenriede packte. Es stand der abschließende Fünftausend-Meter-Test vor Saisonbeginn an.

Aurelie nahm ihre Laufschuhe aus dem Regal und betrachtete deren Sohlen. Das Profil war kaum noch zu erkennen. Sie brauchte wirklich dringend neue. Das letzte Mal, dass sie ihren Vater dazu hatte überreden können, ihr neue Laufschuhe zu kaufen, war bestimmt schon eineinhalb Jahre her. Da hatte er es zwar auch schon widerwillig getan, aber so ablehnend wie jetzt war er Triathlon gegenüber damals noch nicht gewesen.

Sie ging in das Homeoffice ihres Vaters, einen engen Raum mit altmodischem Schreibtisch, heruntergezogenen Jalousien und unzähligen Aktenordnern. An der Wand hingen Auszeichnungen der hochwertigsten Spirituosen, die er verkaufte. In den letzten Tagen hatte ihr Vater äußerst griesgrämig gewirkt und sich jedes Mal, wenn Aurelies Mutter einen Vorschlag für eine Freizeitaktivität machte – der Besuch eines Pferderennens oder einer neu eröffneten Saunalandschaft – in sein Arbeitszimmer verzogen und jeden angemeckert, der es wagte, ihn zu stören. Doch nun waren Aurelie Laufschuhe mit gutem Profil wichtiger, als der erneuten Diskussion um ein Berufspraktikum weiterhin aus dem Weg zu gehen.

»Ich wollte noch mal wegen der Laufschuhe nachfragen«, sagte sie.

Ihr Vater schaute von einem Stapel Rechnungen auf. Erst jetzt fiel Aurelie auf, dass es der Einunddreißigste war; Monatsende.

»Wie alt bist du, Aurelie?«, fragte er sie.

»Siebzehn?«

»Wenn du Laufschuhe brauchst, such dir einen Nebenjob.«

»Die Zeit fehlt mir dann aber fürs Training.«

»Triathlon ist dein Hobby, nicht deine Zukunft. Das ist dir klar, oder?« Ihr Vater nahm seine Brille ab und betrachtete Aurelie nachdenklich.

»Du bist alt genug, um dein Leben realistisch zu planen. Wenn du in den Sommerferien drei Wochen Praktikum bei mir machst, überlege ich es mir mit den Schuhen noch mal. Ich will dich doch nur vor Enttäuschungen bewahren.«

Aurelie hatte gehofft, dass er das mit dem Praktikum während des Abendessens nur gesagt hatte, um die Aufmerksamkeit zurück auf den Weinhandel zu lenken. Doch das war anscheinend nicht der Fall gewesen. Die Prioritäten ihres Vaters waren offensichtlich. Bestimmt brauchte er sie als unbezahlte Arbeitskraft.

Er konnte einfach nicht nachvollziehen, wie viel Aurelie Triathlon bedeutete. Es machte sie traurig, doch es weckte auch ihren Ehrgeiz.

»Danke, aber ich verzichte«, sagte sie und drehte sich auf dem Absatz um.

 

Das alte Stadion Eilenriede wurde nicht nur so genannt, weil es mittlerweile ein neues Stadion hundert Meter entfernt gab, sondern auch, weil es wirklich alt war. Seitdem die Fußballjugend von Hannover 96 dort nicht mehr trainierte, wurde es kaum noch genutzt.

Auf den Bänken, die kreisrund um das ehemalige Spielfeld angebracht waren, lösten sich bereits Bretter. Das Gras war kleeübersät. In den Ecken türmten sich verwitterte Blätter aus dem letzten Herbst.

Für Tri-Feuer Kleefeld waren dies Nebensächlichkeiten. Was zählte, war, dass sich außer ihnen niemand für das Stadion interessierte. Denn die meisten Hannoveraner Sportvereine trainierten im Leistungsstützpunkt auf der anderen Seite der Innenstadt.

Die Aschenbahn war uneben und an einigen Stellen fehlte der Belag sogar ganz. Aber sie war vierhundert Meter lang, das hatte Michael selbst ausgemessen, und damit erfüllte sie seiner Meinung nach die Voraussetzung für ein leistungsorientiertes Bahntraining.

Die Jugendlichen von Tri-Feuer Kleefeld liefen lockere Runden auf der Bahn. Nach zwanzig Minuten versammelten sie sich um Michael. Die Wolkendecke hatte Löcher bekommen und vereinzelte Sonnenstrahlen fielen auf den Rasen. Seit dem letzten Schwimmtraining im Freibad hatte sich das Wetter deutlich verbessert.

Michael zog mit einem abgebrochenen Zweig einen Strich durch die Asche. Die Trillerpfeife baumelte wie als Vorwarnung bereits um seinen Hals. Bella, in schwarzem Top und mit getapten Knien, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte missmutig. Vielleicht lag es daran, dass Tom, der bei dem kleinsten Anzeichen von Sonne direkt seine verspiegelte Sonnenbrille und eine nach hinten gedrehte Kappe trug, sie noch keines Blickes gewürdigt hatte, weil er mit Fabian in ein Gespräch über Fußball vertieft war.

»5.000 Meter«, sagte Michael und schaute sie ernst an. »In der Leichtathletik gilt das als Langstrecke. Teilt es euch gut ein.«

Lukas zog die Schnürsenkel nach, während Paul abwesend auf seine Fußspitzen starrte. Kim, Lea und Jojo diskutierten noch immer über eine Klausur, die sie geschrieben hatten. Michael forderte sie dazu auf, sich entlang der Startlinie aufzustellen. Aurelie hatte das Gefühl, die Einzige zu sein, die sich auf den Test freute, obwohl sie noch immer ein Husten plagte.

»Wie viele Runden noch mal?«, flüsterte Jojo.

»12,5«, erwiderte Lukas. »Wie wäre es mit Zuhören?«

»Ich muss ihm schon den ganzen Tag zuhören«, antwortete Jojo genervt. Er ritt gerne auf seinem Schicksal herum, Trainerkind zu sein. Aurelie fand, dass es Schlimmeres gab.

Michael pfiff in seine Trillerpfeife und der Testlauf begann. Tom setzte sich, dicht gefolgt von Fabian, an die Spitze. Aurelie ordnete sich dahinter ein. Sie wollte es schnell angehen, aber nicht zu schnell. Am besten aber schnell genug, um Bella keine Chance zu geben, sich in ihrem Windschatten festzusetzen.