Bilder des Todes - Michael Blesin - E-Book

Bilder des Todes E-Book

Michael Blesin

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Klaudia Khamahan Leiterin der Mordkommission 1 Polizeipräsidium Köln-Kalk

Das E-Book Bilder des Todes wird angeboten von Isensee, Florian, GmbH und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Köln, Kommissarin, Krimi

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Cover: Stefanie Tegeler, Isensee Verlag, Oldenburg (i. Oldb.)

Lektorat: Sabine Welk, Troisdorf

Korrektorat: Sabine Welk, Troisdorf

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7308-1951-7

© 2022 Isensee Verlag, Haarenstraße 20, 26122 Oldenburg –

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Feder und Papier entzünden mehr Feuer als alle Streichhölzer der Welt

Malcolm Forbes

Für meine Mutter, für meine Schwiegermutter, für meinen Vater, die viel zu früh abberufen worden sind.

INHALT

Widmung

Prolog 1: Starnberger See. Vor vielen Jahren

Gegenwart: Prolog 2

Kapitel 1. Gegenwart

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Epilog 1

Epilog 2

Epilog 3

Quellenverzeichnis

Der Autor

Im Vinzenz Pallotti Hospital

in Bensberg sind knapp 600 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschäftigt. Davon 73 Ärztinnen und Ärzte sowie 179 Gesundheits- und Krankenpfleger. Sie arbeiten in 5 Fachabteilungen, die mit 223 Betten ausgestattet sind. Sie versorgen per annum 11.000 Patienten stationär und 27.000 Patienten ambulant.

In den Kreißsälen erblicken Jahr für Jahr 1.800 Kinder das Licht der Welt.

Im Ambulanten Operationszentrum werden pro Jahr über 2.000 kleine und mittlere Eingriffe vorgenommen, für die kein stationärer Aufenthalt notwendig ist.

Mehr unter www.vph-bensberg.de

Die Kreispolizeibehörde Rheinisch-Bergischer Kreis

beschäftigt um die 400 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Davon sind 360 Beamte oder Beamtinnen sowie

40 Regierungsbeschäftigte.

Die Polizeibehörde ist eine von 47 Kreispolizeibehörden auf Kreisebene in NRW.

Die 3 Polizeiwachen sind rund um die Uhr, also 24 Stunden lang, besetzt. Auf den Wachen Bergisch Gladbach und Burscheid befindet sich jeweils ein Polizeigewahrsam.

Im Durchschnitt werden pro Tag um die 130 Einsätze gefahren.

In den 4 Kriminalkommissariaten KK 1 bis KK 4 erfolgt die kriminalpolizeiliche Sacharbeit.

Die KK 1, 2 und 4 haben den Dienstort in Bergisch Gladbach. Das KK 3 verfügt zusätzlich über Standorte in Wermelskirchen und in Untereschbach.

In NRW sorgen 42.000 Polizisten und Polizistinnen für die Sicherheit unserer Bürger und Bürgerinnen.

Mehr unter www.polizei.rbk.de

Für diesen Roman gilt:

Die geschilderten Handlungen, die unterschiedlichen Orte und die verschiedenen Personen sind alle frei erfunden.

Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder bereits verstorbenen Personen oder mit Organisationen wären wirklich rein zufällig. Sie sind meinerseits nicht beabsichtigt.

Dennoch: Einige Personen, einige Gegebenheiten, einige Orte in diesem Kriminalroman sind wahrhaftig.

Die Mordkommission 1 im Polizeipräsidium Köln-Kalk mit dem Büro der Leiterin, Südseite, im 4. Stock. SIE ist allerdings meiner Gedankenwelt entsprungen.

Fast alle Stationen im Vinzenz Pallotti Hospital in Bensberg habe ich durchstöbert. Interessante Details sind bei den Führungen und bei den Interviews zum Vorschein gekommen.

Die Kreispolizeibehörde in Bergisch Gladbach mit der integrierten Polizeiwache, den hochmodernen Zellen im Kellerbereich, den Streifenwagen der Marke BMW.

Das sich im Familienbesitz befindliche Bauunternehmen Hoch3 GmbH & Co. KG in Wermelskirchen mit Geschäftsführer Rolf Körschgen, Dipl.-Ing. Architekt.

Das Bestattungshaus Trauerhilfe * Hackländer * van den Broek * Gerhards in Wermelskirchen. Die Niederlassung in Bergisch Gladbach ist meiner Fantasie entnommen.

Café Tilda im Liederkranz in der Laurentiusstraße 23. Wer in Tilda einmal gewesen ist, kommt immer wieder. So ergeht es auch mir als Autor von Kriminalgeschichten. Das Tilda habe ich für mich als Lieblings-Café auserkoren.

Wünschs Fleischspezialitäten

in der Hermann-Löns-Straße 130. Das Familienunternehmen ist bestens bekannt in der Stadt und im weiten Umland.

Das Hotel & Restaurant Malteser Komturei in Herrenstrunden, Bergisch Gladbach. Man hat einen herrlichen Blick über den seit 300 Jahren bestehenden See mit den beiden darin schwimmenden Schwänen.

Das 4* Novum Hotel in dem Ort Hinte in Ostfriesland. Nicht weit entfernt von der Seehafenstadt Emden.

Die Rochuskapelle Sand an der Herkenrather Straße im Stadtteil Sand. Sie ist dem heiligen Rochus von Montpellier gewidmet, der als Schutzpatron der Pestkranken gilt.

PROLOG 1

STARNBERGER SEE. VORVIELEN JAHREN.

Der Blick auf den ruhigen Starnberger See ist in dieser Sommernacht ein herrlicher Augenschmaus. Tiefsinnige Träume sind dabei angesagt. Von dem weiß angestrichenen Hotel Am See sind es nur vierzig Meter Fußweg bis zum weitläufigen feinsandigen Uferstrand. Das renommierte Hotel verfügt über zwei Stockwerke mit geräumigen Balkons, die einen direkten Blick auf den Starnberger See zulassen. Es ist 2.00 Uhr in dieser lauen Sommernacht, als ein junger Mann aus seinem Gästezimmer hinaus auf den Balkon im obersten Stock tritt. Er ist barfuss. Trägt nur eine bunte kurze Schlafanzughose. Die Temperaturen Mitte Juli sind warm. Es ist einfach ein wunderbares Gefühl, kaum bekleidet auf dem holzverkleideten Balkon zu stehen, die warme Luft zu genießen und auf das ruhige Wasser zu schauen. Er döst vor sich hin, denn er befindet sich den zweiten Tag in diesem Hotel. Für eine Woche hat er gebucht, will sich ein wenig erholen. Dabei die besondere Luft des gelobten Bundeslandes Bayern einsaugen. Die nach Seewasser riechende lauwarme Luft genießt er genüsslich. Beide Nasenflügel beben leicht. Just in diesem Augenblick denkt er wieder an die spitze aussehende Bedienung in dem Hotel, die er zur Mittagszeit im Speisesaal gesehen – und kurz angesprochen hat. Eine Person mit tollen Kurven, die ihm sofort zugesagt haben. Ihr Lächeln ist so anziehend gewesen, und ihre schlanke Figur hätte man unverzüglich inhalieren mögen.

Er hat sich instinktiv vorgenommen, sich um diese schmucke Frau zu kümmern. Ich hab ja noch einige Tage, denkt er bei sich. Ein verstohlener Blick auf ihre rechte Hand macht ihm klar: sie scheint nicht gebunden zu sein. Aber man weiß es nie, so seine sofortige gedankliche Einschätzung. Erst jetzt nimmt er wahr, dass das Nebenzimmer eine offenstehende Balkontüre aufweist. Er wundert sich ein wenig, denn wer lässt während der Nacht die Balkontüre zu seinem Gästezimmer offen. Zwei zaghafte Schritte macht er nach rechts. Neigt leicht seinen Kopf. Bemerkt eine schlafende weibliche Person in einem Doppelbett. Die dünne Bettdecke ist ziemlich auf die Seite geschoben. Die Frau trägt nur einen weißen Slip. Was sind das doch für aufreizende Pobacken! Schnell wendet er sich wieder ab. Möchte nicht in eine peinliche Situation hineingeraten. Sein nun wacher Blick wandert über die Landesstraße hin zum gepflegten Ufer des Sees. Er nimmt die Segelyachten in den verschiedenen Größen wahr, denkt bei sich: Warum nur kann ich mir keine Jacht leisten? Schon hört er die Worte seines Vaters: Reichtum muss man sich auf ehrliche Weise erarbeiten. Geschenkt wird dir nichts, Junge. Der junge Mann grinst. Recht hat mein alter Herr.

Plötzlich vernimmt er ein raschelndes Geräusch aus dem angrenzenden Zimmer. Und dann tritt diese Frau, die er gerade noch im Bett, nur mit einem weißen Slip bekleidet, gesehen hat, hinaus auf den Balkon. Sie trägt jetzt ein kurzes rotes Hemdchen.

„Ach, du bist es“, sagt sie leise in einem deutlich erkennbaren niederbayerischen Dialekt. In der Nacht sind Stimmen sehr gut zu hören.

„Oh, schön dich wieder zu sehen. Das freut mich sehr.“

Ihre beiden schmachtenden Blicke verraten allerdings weitaus mehr. Sie wollen sich. Sie sind jung. Sie wollen was erleben. Nach fünfzehn Minuten des gemeinsamen Gedankenaustausches sind seine Hände bereits unter ihrem kurzen roten Hemdchen, die dabei ihre festen und spitzen Brüste bereits massieren. Was sind das nur für tolle Knospen!

Er steht hinter ihr. Hält sie dicht an seinen Körper gedrückt. Macht eindeutige Bewegungen, die ihr signalisieren, was er gleich machen möchte. Sie spürt es, wie seine rechte Hand ihren Slip Richtung Kniekehle schiebt. Und dann spürt sie seinen festen Penis druckvoll in ihrem wunderschönen Körper. Sie jauchzt leise auf, bewegt sich geschmeidig gegen seine Stöße, nimmt das innere Beben in ihrem Unterleib mit glühender Wonne auf. Gott, wie schön ist doch Geschlechtsverkehr unter freiem Himmel – und niemand schaut zu. Nur der leuchtende Halbmond am Himmel.

Der Weg führt die beiden danach direkt in das Zimmer des jungen Mannes, wo sie sich im Doppelbett fast bis zur Bewusstlosigkeit lieben, schwitzen, Wasser pur trinken. Harter Sex ist anstrengend und kraftraubend. Ist aber wahnsinnig toll.

Am nächsten Morgen sitzen die beiden im geräumigen Speisesaal an einem gedeckten Tisch, genießen das opulente bayerische Frühstück. Die junge Dame seines Herzens hat es gerade noch geschafft, dass eine Freundin einspringt und für sie den Dienst übernimmt, damit die Gäste weiterhin einen tollen Service erhalten.

Nach dem Frühstück starten sie mit einer Fahrt durch den 400-Seelen zählenden Ort Seeshaupt, der am südlichen Ende des Starnberger Sees gelegen ist. Man befindet sich in Oberbayern. In der Ferne beobachten sie das wunderschöne Alpenpanorama. Während der Fahrt zum Yachthafen und der Dampferanlegestelle erkundigt sie sich bei ihm:

„Sag mal, mit wem habe ich denn so ausgiebig und hechelnd die Nacht durchgebumst?“

Er grinst hintergründig.

„Klaus-Dieter heiße ich.“ Pause… „Klaus-Dieter Rister. Kannst aber Klaus zu mir sagen.“ Weitere Pause…

„Und du?“ „Hannelore.“ Sie schaut ihn dabei durchdringend an. „Hannelore Engel. Meine Freunde nennen mich oft Hanni. Ich arbeite vierzehn Tage durchgehend als Bedienung im Hotel, schlafe in dem Zimmer, in dem du mich erspäht hast und habe danach frei. Noch wohne ich bei meinen Eltern in Tutzing.“

Die beiden Verschmusten genießen die wenigen verbleibenden Tage, denn Klaus-Dieter hat nur zehn Tage Urlaub erhalten. Dennoch: Einige Stunden befinden sie sich am Sandstrand, baden ausgiebig, mieten sich ein Elektroboot, fahren über den See. Er steuert das Boot, schließlich ist er Mann. Sie sitzt neben ihm – allerdings völlig nackt. Seine linke Hand findet zwischendurch immer wieder die für Männer tollste und Erregung stiftende Stelle am Körper einer Frau. Hanni stöhnt. Sie genießt. Sie hat die Augen fest geschlossen. Sie sonnt sich dabei. Sie träumt ausgiebig. Sie atmet sacht.

In der vorletzten Nacht lieben sich die zwei im Doppelbett von Hannelore. Sie haben bereits einige Orgasmen mit bebender Wonne durchlebt. Sie sind erst neunzehn Jahre alt. Während Klaus-Dieter schwitzend auf ihr liegt und das Liebesergebnis in ihren Körper fließt, haucht er ihr ins Ohr:

„Möchtest du meine Frau werden?“

Sie umspannt mit ihren beiden graziösen Händen die Pobacken des Geliebten, drückt diese rasend schnell anhaltend gegen ihren Unterleib, beißt ihm ins rechte Ohrläppchen, schnauft ein „Ja, ich will“ in sein Ohr. Vor lauter Glück fallen sie erneut auf die dunkelblaue Seidenwäsche des Bettes, und er beginnt, seine Geliebte zu liebkosen.

„Ich werde jetzt jeden Zentimeter deines tollen Körpers küssen“, offenbart er ihr leise. Seine Stimme vibriert vor lauter Lust. Er schreitet küssend zur Tat…

Am Samstag nach dem gemeinsamen Frühstück. Es ist der Tag seiner Abfahrt. Sie meint, an seinem BMW locker angelehnt:

„Gib mir bitte deine Adresse, damit ich dir schreiben kann. Willst du unsere Verlobungsringe alleine besorgen?“

Klaus-Dieter überlegt kurz, lächelt verschmitzt, schreibt dann auf einen Zettel: Klaus-Dieter Rister, Händelstraße, 51399 Burscheid.

„Meine Anschrift kennst du ja.“ Sie lächelt hinreißend.

Zum Abschied küssen sie sich hemmungslos, wobei seine beiden kräftigen Hände den Weg zu ihrem nackten Po finden. Er knetet das weiche Bindegewebe.

Sie weint plötzlich. Ist es Freude? Ist es das Gefühl, Unsicherheit oder Ehrlichkeit zu erleben?

Klaus-Dieter Rister benötigt mit seinem knallroten BMW für die sechsundfünfzig Kilometer bis zur Autobahn A 95 (München – Garmisch) nur fünfundzwanzig Minuten. Er grient dabei vor sich hin. Pfeift lautstark ein Lied. Greift zwischendurch nach seinem Handy, ruft seine Freundin Marlene an. Sagt zu ihr:

„Ich bin in rund fünf Stunden bei dir. Dann leg ich dich flach und pack dich…“

Er hört wie sie ruft: „Bums mich durch. Ich will dich immer wieder.“

Seine flotten Sprüche und sein inniges Versprechen im Doppelbett mit Hannelore sind dahin. Was soll es schon? Ist halt nur ein Urlaubsspaß gewesen. Frauen laufen genug herum. Und wir sind doch noch jung.

GEGENWART

PROLOG 2

Ostfriesland. Der Ortsteil Hinte mit seinen 8.000 Einwohnern liegt in einem strukturschwachen Landstrich. Viel Grün ist hier zu sehen. Viel Fläche ebenfalls. Man befindet sich in Ostfriesland. Die Seehafenstadt Emden ist wenige Kilometer entfernt. Im weiteren Umfeld von Hinte gibt es die Städte Norden-Norddeich, Aurich, Leer und Greetsiel. Alle diese Orte, dicht gelegen an der Nordseeküste, sind Anziehungspunkte für viele Urlauber aus ganz Deutschland, die diese herrliche jodhaltige Seeluft inhalieren wollen. Besonders aber für die vielen Erholungssuchenden aus NRW.

Im Gewerbegebiet von Hinte, Am Tennistreff, gibt es das 4* Novum Hotel, welches als Wellness-, Tagungs- und Sporthotel firmiert. Ein Schwimmbad, mehrere Saunen, drei Wasserbäder, vier Kegelbahnen, ein über den Ortsteil hinaus bekanntes Restaurant mit einer schmackhaften Küche, einer Bar und einer Tennishalle mit vier Tennisplätzen sind vorhanden. Alles superschick. Das Hotel ist in der Woche über stark ausgelastet. Die Kegelbahnen, das Restaurant sowie die Schwimm- und Saunalandschaft werden von vielen Hotelgästen genutzt, aber auch von den Bewohnern aus Hinte und den umliegenden Ortschaften. Für ein abendliches Dinner im Restaurant ist eine Platzreservierung unumgänglich. Sonst bleibt man draußen.

Es ist Sonntag. Das emsige Servicepersonal im Restaurant wirft einen Blick in den Wochenkalender. Kegelabend der Nordseesprotten, so steht es da zu lesen. Erst wird auf ostfriesisch gegessen, dann geht es in die Kellerräume, wo vier Kegelbahnen zur Verfügung stehen.

Nach und nach tröpfeln sie ein. Sechs Frauen. Sechs Männer. Alle aus Hinte. Sie kennen sich alle. Privat und beruflich.

Das Friesenessen dauert locker eine Stunde. Es wird leider unterbrochen durch einige Streitigkeiten, die mal wieder Kegelbruder Walter Remigius in angetrunkenem Zustand vom Stapel lässt. Er hetzt unheimlich gerne über andere Menschen. Zieht über sie her. Oft sind seine Andeutungen auch unter der Gürtellinie. Seine Ehefrau Jana versucht vergebens, ihren Mann zu beruhigen. Die anderen Kegelschwestern und Kegelbrüder sind mal wieder sauer, und sie versuchen, Walter zur Raison zu bringen. Er ist, wie so oft, furchtbar aufsässig. Hinzu kommen die acht Glas Bier, die er im Schnellgang hat in sich hineinlaufen lassen.

Später, während gekegelt wird, wird der Streit durch Walter erneut angefacht. Er hat inzwischen weiter getrunken, dazu einige Kööm zu sich genommen. Urplötzlich randaliert er, schmettert einen Stuhl gegen die Bretterwand, wirft eine Krabbe und einen Fisch, beides aus weißem Porzellan, gegen die Wand, schüttet danach einer Kegelschwester, die ihm gegenüber sitzt, sein restliches Bier aus dem Glas in den tief ausgeschnittenen Ausschnitt. Die Frau kreischt auf. Den Kegelbrüdern reicht es jetzt. Sie rufen das Servicepersonal, verlangen nach der Polizei. Jana, seine Ehefrau, weint wieder. Wie schon so oft. Zwei Kegelschwestern trösten sie.

Da zu dieser abendlichen Uhrzeit die Polizeistation Hinte im Gewerbegebiet nicht besetzt ist, rufen sie über 110 die Schutzpolizei in der Seehafenstadt Emden zu Hilfe. Der Streifenwagen mit zwei Schutzpolizisten schafft es, in fünfzehn Minuten vor Ort zu sein. Als Polizeihauptkommissar Jupp Jansen den Streithahn erkennt, schüttelt er nur seinen leicht kahlen Kopf. Er kennt Walter Remigius seit Jahren. Er ist sein Nachbar. Quer über die Straße in Hinte. „Walter, was soll das denn wieder? Komm, setz dich ruhig hin, hör sofort auf zu trinken.“

Doch Walter ist aufgekratzt. Er lallt bereits lautstark vor sich hin. Er nimmt sein Bierglas, wirft es Richtung des Schutzpolizisten, den er ja kennt. Dieser macht nun kurzen Prozess mit Walter, nimmt ihn vorläufig fest, legt ihm Handschellen an. Es ist nicht das erste Mal. Es gibt allerdings noch kurze Rangeleien mit dem Angetrunkenen, doch dann wird Walter mittels der beiden Kommissare aus dem Hotel abgeführt.

Es kehrt wieder Ruhe ein. Die Nordseesprotten kegeln weiter.

„Warum kann Walter das Saufen nicht lassen?“ so der allgemeine Tenor in der lockeren Runde. Ehefrau Jana weint noch immer. Es ist ihr alles äußerst peinlich. Mal wieder. Dennoch, das Geschehnis ist abgehakt. Man hat sich an die gelegentlichen Ausbrüche von Walter gewöhnt. Es geht weiter.

Jana weint jetzt auch nicht mehr. Warum nur hat sich Walter so zum Nachteil entwickelt? Warum nur? Was veranlasst ihn, sich schon seit einigen Jahren so gehen zu lassen?

1

GEGENWART

Brucknerstraße in Schildgen. Vor einem hellgelb angestrichenen Reiheneckhaus stehen zwei Frauen, die sich gerade herzlich voneinander verabschieden. Es ist 7.30 Uhr in der Früh. Ein normaler Wochentag. Sie küssen sich liebevoll. Innig sogar. Halten Händchen. Sie tun all dieses in der Öffentlichkeit. Die beiden hübschen Frauen leben als Liebespaar schon seit Jahren zusammen. Die Nachbarschaft kennt diesen Umstand. Man ist tolerant. Man geht herzlich miteinander um. Beruflich sind die Frauen in unterschiedlichen Arbeitsbereichen tätig. Franziska Hertzig ist Studiendirektorin. Sie leitet die Gemeinschaftsgrundschule im Stadtteil Refrath. Ihr Arbeitsbeginn ist heute erst um 10.00 Uhr. Sie hat einen Termin beim Zahnarzt. Aber die Vertretung in der Schulleitung ist dennoch gesichert.

Ganz anders sieht es aus bei Klaudia Khamahan. Sie ist im behördlichen Sprachgebrauch Erste Kriminalhauptkommissarin und Leiterin der Mordkommission 1 in Köln-Kalk. In ihrem privaten Wohnumfeld in Schildgen weiß man, dass sie unterschiedliche Arbeitszeiten hat, oft auch in einem blauen Streifenwagen mit neongelben Streifen abgeholt oder gebracht wird. Einige Male sogar mit Blaulicht. Die Anwohnerschaft schreckt dann oft zusammen. „Aber unsere Kriminalistin hat es stets eilig. Schließlich klärt sie Morde auf.“ Die Stimmenvielfalt der lieben Nachbarn deutet das so. Man beneidet sie nicht um ihren garantiert gefährlichen Job. Dass sie vor Jahren von einem Verbrecher angeschossen worden war, ist auch allen bekannt. Klaudia winkt ihrer Franziska mit einem anhaltenden Handkuss herzlich zurück. Sie steigt dann in ihren privaten Tiguan ein. Der Weg nach Köln-Kalk ins Polizeipräsidium ist über die Bundesautobahn A3 schnell zu erreichen. Im Präsidium weiß niemand etwas über ihr Privatleben. Das sei absolut tabu, so ihr freundlicher Hinweis, wenn Menschen zu viel von ihr privat wissen wollen.

2

Polizeipräsidium Köln-Kalk. Walter-Pauli-Ring.

Klaudia Khamahan begrüßt den Schutzpolizisten am Haupteingang mit einem freudigen „Guten Morgen, Hans! Das Wetter ist toll für dich!“ Sie betritt das Präsidium. An der Sicherheitsschleuse zeigt sie ihren Ausweis einem hinter Glas sitzenden zivilen Beamten. Klaudia fährt mit dem Fahrstuhl in den 4. Stock. Von hier sind es nur wenige Meter bis zu ihrem Büro auf der linken Seite des langen Ganges. Es riecht im Gang nach einem strengen Putzmittel, denn die Putzkolonne ist gerade mit dem Job fertig geworden. Das Büro von Klaudia liegt nur wenige Meter entfernt vom Sitz des Polizeipräsidenten, der ja ein politischer Beamter ist. Dazu hat er leider das falsche Parteibuch; er ist SPD-Mitglied. Die beiden kommen nicht gut miteinander aus. Eine Frau als Leiterin einer Mordkommission sei dem Herrn Präsidenten mehr als unheimlich. So argumentieren auch die anderen vier MK-Leiter, die Klaudia nicht sonderlich mögen. Ein Mann, ein Kollege, das ist eine richtige Vorgabe. Außerdem wird immer mal wieder gemunkelt, dass er eigentlich seinem Body-Body, also seinem Schulfreund, diesen Job zuschustern wollte. Beweise für dieses Gemauschel gibt es offiziell nicht, doch unter der Grasnarbe sind viele wichtige Absprachen getroffen worden.

Aber die MK-1-Leiterin hat den CDU-Innenminister auf ihrer Seite. Und – ihre kriminalistischen Erfolge bei der Sitte und auch hier im Bereich der Mordkommission sichern sie absolut ab. Sie sitzt fest im Sattel. Dazu ist sie noch eine rassig aussehende Frau. Sie verfügt über eine Traumfigur, um die sie von vielen Frauen beneidet wird. Männer bewundern sie offenkundig. Einige himmeln sie sogar an, doch sie kommen an sie nicht heran. Leider!

„Warum bloß?“, fragen sich die Mannsbilder.

Ihre Dienstwaffe, eine Walther P99, trägt sie im Holster rechts unter der Achsel. Klaudia ist Linkshänderin, gehört zu den 10 bis 15 % der Menschen in Deutschland, die alles mit der linken Hand tätigen. Ihr linker Arm ist kraftvoll.

Sie nimmt Platz hinter ihrem Schreibtisch aus hellem Holz, auf dem zwei Bildschirme aufgestellt sind. Reckt sich ein wenig im Bürostuhl aus schwarzem Leder. Rote Hauptakten stapeln sich auf dem Schreibtisch an der rechten Seite. Es sind laufende Vorgänge, die immer noch einer kriminalistischen Klärung bedürfen. Zehn weitere Hauptakten stapeln sich auf einem hellen Beistelltisch neben dem Schreibtisch. Alle diese Akten beinhalten noch eine Nebenakte, dick angefüllt mit akribischen Untersuchungsergebnissen. In der Nebenakte sind jeweils die Beweismittelakten zugeheftet. In der prall gefüllten Spurenakte ist jede Spur mit einer besonderen Nummer versehen.

Hierzu zählen auch tödliche Unfälle, Selbstmorde und ungeklärte Todesfälle in Krankenhäusern.

Es klopft an der Türe. Zwei ihrer Kriminalisten betreten das Dienstzimmer. Begrüßen ihre stets freundliche und charmante Chefin. Klaudia schlägt ihre langen toll geformten Beine übereinander. Ihr grauer Lederrock verschiebt sich ein wenig nach oben. Ein Teil ihres straffen Oberschenkels wird sichtbar. Die beiden Mitarbeiter nehmen das sinnlich auf, denn viele im Präsidium mögen sie. Nur nicht der Polizeipräsident. Viele wissen aber nicht zu 100 %, was das berufliche Verhältnis der beiden gestört oder zerstört hat.

„Wir überprüfen die Spur 78 noch einmal“, verdeutlicht der Ältere von beiden.

„Ist klar, wir sehen uns später.“ Klaudia weiß sofort, was sie angedeutet haben.

Plötzlich wirkt Klaudia nachdenklich. Wieder einmal sind drei Monate vergangen, denkt sie. Wie schnell doch die Zeit vergeht. In dem vor ihr liegenden Dienstkalender der Polizeigewerkschaft NRW ist auf dem heutigen Blatt Cold Cases eingestempelt. Sie greift mit einem Zögern nach zwei roten Hauptakten, die in der rechten Schublade des Schreibtisches liegen. Sie fragt sich in diesem Augenblick, wie sonst auch immer: „Wer hat es bloß auf die beiden Schutzpolizisten von der Polizeiwache Bergisch Gladbach abgesehen? Hat sich jemand an den beiden rächen wollen? Aber warum nur? Oder sind die beiden ein Zufallsopfer gewesen? Warum ist auf unseren Kollegen Jan Bongardts geschossen worden?“

Klaudia schluckt heftig. Dass Jan während der Operation verstorben ist, tut ihr noch heute in der Seele weh. Noch immer ist das so. Aber es geht auch um dessen Kollegin Adelheid Terbrüggen, die mit einem Kampfmesser schwer verletzt worden war. Sie hat, Gott sei Dank, knapp überlebt. Was wohl aus ihr geworden ist?

Zwei weitere Fallakten mit den erforderlichen Nebenakten liegen auf der anderen Seite des Schreitisches. Es sind ebenfalls Cold Cases, zwei immer noch nicht aufgeklärte Tötungsdelikte. Sie liegen bereits viele Jahre zurück.

Es ist der skelettierte Leichenfund auf der Kompostieranlage Birkerhof in Herkenrath. Nach Einschätzung der damaligen Ermittler hat es sich um eine brutale Hinrichtung gehandelt. Klaudia schaudert bei diesem Gedanken. Die Aussage des Bundeskriminalamtes ist für die Ermittler niederschmetternd gewesen: Niemand vermisse im Schengen-Raum die tote Person. Sie werde weiterhin als vermisste Person geführt. Die Person bleibe vorläufig ein Schattenmensch.

Das Schengener Abkommen wurde am 14. Juni 1985 im luxemburgischen Schengen geschlossen. Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland und Luxemburg waren damals die fünf Gründerstaaten des Schengener Abkommens. Ziel war es, die Binnengrenzen abzuschaffen zwischen den Gründungsstaaten, sodass die Bürger*innen ihre Binnengrenzen ohne Passkontrolle überschreiten durften.

Im Laufe der Zeit hat sich die Anzahl der Mitgliedsstaaten stark erhöht. Mittlerweile sind es sechsundzwanzig Staaten, die am Schengener Abkommen festhalten.

Klaudia hat spürbare Magenschmerzen. Das passiert immer, wenn sie diese besonderen Hauptakten, auch Fallakten genannt, in den schlanken Händen hält. Diese Akte ist schon vergilbt. Verstaubt ebenfalls. Sie trägt den Namen Brigitte Daumeter. Alter: Dreiundzwanzig Jahre. Wohnort: Bergisch Gladbach. Ortsteil Bensberg. Giselbertstraße. Dieser Mordfall liegt zirka achtundzwanzig Jahre zurück. Es ist eine Erblast ihres Vor-Vorgängers.

Klaudia hat sich zu diesem Verbrechen ein eigenes Stichwortverzeichnis angelegt, um schneller die wesentlichen Fakten griffbereit zu haben. Sie liest…

„Es geschah am Mittwoch. In der ersten Woche im Dezember. Der aufgezeichnete Notruf über 110 wurde um 21.03 Uhr von Sandra Schmitter abgesetzt. Sie sprach völlig aufgelöst von einem Mord an ihrer Mitbewohnerin in der Giselbertstraße. Zwei Streifenwagen mit vier Schutzpolizisten trafen wenige Minuten später am Tatort ein. Bis zum dortigen Haupteingang musste man eine mehrstufige Treppe hinabsteigen. Es waren ungefähr dreißig Meter zu laufen. Kalt war es an diesem Tag. Leichter Schneefall behinderte die allgemeine Arbeit der Polizei. Gleichzeitig traf auch der Rettungswagen der Freiwilligen Feuerwehr Bensberg an der oben liegenden Giselbertstraße ein. Die vor Ort tätigen Schutzpolizisten kümmerten sich um Sandra Schmitter, die komplett durcheinander war. Sie hatte bis jetzt noch nie einen Toten gesehen. Verständlich. Wenn man die eigene Wohngemeinschaft betritt und plötzlich vor der getöteten Mitbewohnerin steht, begreift man die Welt nicht mehr. Ihr war auf Anhieb klar: Hier hat ein fürchterliches Kapitalverbrechen stattgefunden.

Die Mordkommission MK 1 nahm vierzig Minuten nach dem Notruf die Ermittlungen in der Parterrewohnung, links, auf. Es war eines der vielen Hochhäuser mit sieben oder mehr Obergeschossen. Was den Ermittlern sofort auffiel: Die beiden Küchenfenster waren hell erleuchtet. In die Fenster konnte von außen eingesehen werden. Die Jalousien an beiden Fenstern waren nicht heruntergelassen. Und das um diese abendliche Uhrzeit? Im Wohnzimmer fand man Brigitte Daumeter, eingewickelt in eine blaue Wolldecke. Ihr roter Slip mit Spitzenbesatz und der rote BH lagen sorgfältig ausgebreitet auf der Wolldecke. Als diese durch die Ermittler geöffnet wurde, zählte man zwölf tiefe Messerstiche an der nackten Frau.

Klaudia Khamahan lehnt sich im schwarzen Ledersessel zurück. Sie atmet tief durch. Streckt die Arme mit einem leichten Aufschrei gen Himmel. Ob die Ermittler von damals auch nichts übersehen haben? hinterfragt sie sich immer wieder. Denn das wäre furchtbar!

Sie greift zu ihrem dunkelgrünen Telefon. Sie tippt die Kurzwahlnummer des Landeskriminalamtes in Düsseldorf ein. Dort besteht schon seit Jahren eine spezielle Abteilung von gewieften Sonderermittlern, deren Aufgabe es ist, Cold Cases erneut zu bearbeiten, in der Hoffnung neue Spuren entdecken und zuordnen zu können. Der Kollege kennt natürlich den Fall Brigitte Daumeter. Er erklärt kurz: „Der Mörder hat präzise und absolut sauber gearbeitet. Er hat kaum verwertbare DNA-Spuren hinterlassen. Der Typ ist aus dem Nichts gekommen. So ist er auch verschwunden.“

Klaudia ist traurig. Ihr Gewissen plagt sie, denn sie weiß, dieser Mörder läuft noch frei herum. Irgendwo in Deutschland? Oder im Rheinisch-Bergischen Kreis? Oder im Ausland? Sie blättert in ihrem Dienstkalender drei Monate weiter. Stempelt auf einem Blatt, es ist wiederum ein Mittwoch, den Vermerk hinein: Cold Cases überprüfen!

Ihr Diensttelefon klingelt. Ein Mitarbeiter aus der Stabsabteilung ruft zur Großen Runde, in der sich alle Kommissariatsleiter und natürlich auch Klaudia zu einer Besprechung mit dem Polizeipräsidenten einfinden. Klaudia verdreht die Augen.

Oh, diese nichts bringenden Laberstunden!

3

Polizeiwache Bergisch Gladbach. Judith Hoffmann, die Polizeihauptkommissarin, und Sheila Grosse, die Polizeioberkommissarin, treffen lachend und scherzend auf der Polizeiwache ein. Sie haben sich über aktuelle Kinderstreiche unterhalten. Die Wache ist im Parterre, im Gebäudekomplex an der Hauptstraße rechts, integriert. Das Gebäude hat neben dem Parterre noch drei weitere Stockwerke. Die beiden toll aussehenden Frauen gehen plaudernd in den Umkleideraum, wo jede die Uniform in einem Blechschrank eingeschlossen hat. Jede Streifenpolizistin, jeder Streifenpolizist trägt eine blaue Diensthose mit aufgesetzten Taschen. Dazu ein blaues Diensthemd mit Krawatte. Über diesem Hemd wird die leichte Schutzweste Klasse 1 getragen. Sie bietet Sicherheit heit gegen 9-Millimeter-Geschosse. Judith und Sheila tragen aus grundsätzlichen Erwägungen die Schutzweste. Die eigene Sicherheit gehe uns vor, sagen sie unisono. Und – beide haben eine Familie. Nun gehen sie hinüber in Richtung des Waffenraumes zu der hellgrau gestrichenen stählernen zentralen Schließfächeranlage. Der Waffenraum wird durch eine Überwachungskamera rund um die Uhr gesichert. Für eines dieser Schließfächer besitzt jeder Polizist, jede Polizistin, auf der Wache einen eigenen Schlüssel. In den Fächern werden die Dienstwaffen und die Magazine gelagert. Die Dienstwaffe, eine Walther P99, ist eine Faustfeuerwaffe, die bei Heckler & Koch, am Unternehmenssitz Oberndorf am Neckar, hergestellt wird. Sie ist effektiv auf fünfzig Meter. Dazu gehören zwei Stangenmagazine mit jeweils fünfzehn Patronen 9x15 Millimeter. Die Walther P99 wird auf der Wache in der Ladeecke fertiggeladen, dann in das Oberschenkelholster gesteckt. Die P99 hat keine manuelle Sicherung. Die Waffe ist im geladenen Zustand sofort schussbereit. Die Munition sind Actiongeschosse, d.h. die Projektile verbleiben im Körper eines Menschen stecken, weil Umstehende nicht gefährdet werden dürfen. Nach den Handschellen wird gegriffen, sie verschwinden an den hinteren Hosenbund. Die Pfefferspraydose wird rechts oder links am Hosengürtel aufgesteckt. Dann bewegen sich Judith und Sheila hinüber zur Waffenkammer, die nur zehn Schritte entfernt ist. Dort empfängt Sheila die Maschinenpistole MP5 mit einklappbarer Schulterstütze. Dieser Waffentyp wird ebenfalls bei Heckler & Koch hergestellt. Draußen auf dem Parkplatz gehen die beiden Schutzpolizistinnen hinüber zu dem dort abgestellten Streifenwagen der Marke BMW Variant mit Blaulicht und Martinshorn. Ihr Rufzeichen ist RHENA 1138. Im eigenen Funkkreis wird sich nur mit 1138 gemeldet. Judith, zweiundvierzig Jahre alt, überprüft nun den Innenbereich des Fahrzeuges: Funkgerät O.K.; Navi O.K.; Digitalkamera vorhanden, Batterie aufgeladen; Diensthandy in der Halterung, sogar aufgeladen; die beleuchtete weißrote Polizeikelle und die beiden 1,20 Meter langen schwarzen Schlagstöcke aus Eisen liegen im Fußbereich des Beifahrers. Die Besatzung von Streife 1138 hat Glück. Diesmal brauchen sie das private Handy im Einsatz nicht nutzen, denn das Diensthandy ist vorhanden. Die beiden Frauen wissen, dass Tausende von Kollegen und Kolleginnen Privathandys nutzen müssen, weil die Funkgeräte meistens kaputt oder nicht vorhanden sind oder sich in der Zulieferung befinden. Der bürokratische Moloch, auch als Innenministerium verspottet, der für die Sicherheit der Polizei verantwortlich zeichnet, kommt mal wieder nicht in die Pötte. Ein seit Jahren erkanntes, aber ein nicht zu behebendes Problem. Das gilt teilweise auch bundesweit. Öffentlicher Dienst halt.

Sheila, sechsunddreißig Jahre alt, steckt die Maschinenpistole MP5 in das rechte Seitenfach der Seitentüre des Polizeiwagens. Den Sicherheitsschlüssel für das Absperrschloss befestigt sie sich am Hosengürtel. Dann geht sie zur Heckklappe des Polizeifahrzeuges, öffnet diese, checkt die Utensilien. Ihr Blick erfasst das rollende Messgerät für die Unfallaufnahme, die rot-weißen Warnhüte, den überdimensionalen Zollstock, den Sanitätskasten und die Aktenordner. Sheila schaut hinüber zu Judith, meint nickend: Alles ist Okay.

Dunkle Regenwolken lassen erkennen, mit schlechtem Wetter rechnen zu müssen.

„Wir haben Glück gehabt, die Kontrolle ohne Regentropfen durchführen zu können“, findet Judith mit einem herzhaften Lachen, so dass ihre hübschen Lachfalten an den Augen zur Geltung kommen. Sheila fügt aber sofort an: „Wir werden heute bestimmt noch nass werden. Ich spüre diesen Umstand jetzt schon.“

Die Frauen steigen ein in den BMW Variant. Diesmal fährt Judith. Den Sprechverkehr regelt Sheila. Es ist 13.00 Uhr. Die Spätschicht hat für Streife 1138 begonnen. Sie dauert an bis 21.00 Uhr. Beide sind der Dienstgruppe Alpha zugeteilt. Judith reiht sich mit dem Streifenwagen ein in den rollenden Verkehr. Jetzt fängt es an zu regnen. Die Scheibenwischer starten mit ihrer Arbeit…

Beide Schutzpolizistinnen gehören zu den rund 40 % der Frauen, die ihren Dienst im Bereich der Kreispolizeibehörde versehen. Etliche dieser Frauen sind verheiratet. Einige haben Kinder. Für diese Kolleginnen ist es auf diese Weise möglich, in Teilzeit ihren Dienst als Schutzpolizistin auszuüben.

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Café Tilda im Liederkranz. Laurentiusstraße 23. Man muss Tilda ganz einfach lieben. Wer das tut, kommt immer wieder hierher zurück. Es ist so ein heimeliger Treffpunkt primär für Frauen. Ab und zu verirrt sich auch mal ein Mann in dieses Café. Wahrlich – in der Zwischenzeit sind schon mehr Männer hier gewesen. Oder er wird gnädig mitgenommen von der verehrten Gattin. Frauen wollen hier angeregt plaudern. Sie haben immer viel zu erzählen. Niemals können den Frauen die Themenvielfalten ausgehen. Sie sitzen in der Regel immer mit mehreren Frauen beisammen. Bei Tilda herrscht eine französisch-nordische Atmosphäre. Die Farbe Weiß ist im Café allgegenwärtig. Exquisite Handarbeiten und unterschiedliche Accessoires sind in vielen Regalen zu bewundern. Man kann alle diese Dinge auch käuflich erwerben. An achtzehn farbigen Holztischen sitzen die Gäste auf Stühlen oder Bänken. Natürlich auf bunten und gut gepolsterten Sitzkissen. Die weißen Mauern spenden dem schön geformten Raum eine wohlige Wärme. Die Decke des Cafés besteht aus Glasfenstern, die mit weißen großflächigen Tüchern bedeckt sind. Täglich besuchen bis zu einhundert Frauen das Tilda, denn hier wird ein tolles, variables Frühstück mit allem Drum und Dran gereicht. Kaffee, Tee und selbstgebackener Kuchen folgen zur Nachmittagszeit. Natürlich auch früher, wie dem Gast halt danach ist. Kleine Speisen für den leicht knurrenden Magen gibt es zu jeder Zeit. Hier wird alles möglich gemacht, was Frauen (und inzwischen auch Männer) sich wünschen.

Im Hintergrund hört man leise Radio Berg mit flotter Musik. Mit Evelyn de Sánchez im Studio und am Mikrofon. Man kennt diese wohlklingende Stimme. Das Café Tilda wird von zwei hübschen schlanken blonden Frauen geführt, die beide Familie haben, sich aber schon seit vielen Jahren kennen und miteinander befreundet sind. Sie sind Startup-Unternehmerinnen, die mit weiblichem Charme, mit großer Ausdauer das innovative Unternehmen führen. Christina Kombüchen, studierte Kunsthistorikerin, und Daniela Herbst, Hauswirtschaftliche Betriebsleiterin, kommen in ihrem Unternehmen auf eine wöchentliche Arbeitszeit von mehr als zweiundvierzig Stunden. Damit haben sie einen Fulltimejob inne. Zusätzlich sind noch zehn weitere Frauen im Einsatz, die in Teilzeitarbeit dafür sorgen, dass es den weiblichen Gästen (den Männern natürlich auch) an nichts fehlt, wenn sie sich zum Klönschnack im Tilda aufhalten.

Dr. Isabelle Hartmann liebt dieses Café ebenfalls heiß und innig. Bei einem von ihr durchgeführten Erste-Hilfe-Kurs im Vinzenz Pallotti Hospital haben sich die drei Frauen kennengelernt. Sie haben sich auf Anhieb verstanden. Frauen besitzen eine ganz besondere Chemie, miteinander klarzukommen. Isabelle wirft einen kurzen Blick in die Küche, ruft Christina und Daniela ein freundliches Hallo zu.

„Geht’s euch gut?“, erkundigt sich Isabelle.

„Na klar, wir blühen auf bei diesem Geschäft“, erwidert Daniela. „Isabelle, du siehst ja fantastisch aus in deinem dunkelblauen Lederrock. Und dazu noch einen schwarzen Blazer. Die weiße Bluse mit dem tollen Kräuselkragen steht dir absolut. Toll, passt zusammen wie Faust aufs Auge. Der Ausschnitt des blauen Pullovers hätte eigentlich noch tiefer sein können. Passt alles wahrlich gut zu deinem Frauentyp“, ruft Daniela ihr entgegen.

„Vielen lieben Dank für das schöne Kompliment“, haucht Isa zurück.

„Kommt Lisa auch noch?“, will Christina wissen.

„Sie wird in fünfzehn Minuten hier sein. Sie hat für ihren wuchtigen Jeep Wrangler auf Anhieb keinen Parkplatz gefunden. Sie sucht weiter auf der Parkpalette Buchmühle nach einer freien Lücke, die groß genug ist“, berichtet Isabelle. Lisa Mohr und ihr Ehemann führen das Unternehmen Glas Mohr in Herkenrath. Deren Slogan: Ihr Glasspezialist in Bergisch Gladbach. Lisa kennt die beiden Unternehmerinnen des Cafés schon seit langer Zeit durch die Veranstaltungen der Unternehmerfrauen Bergisch Gladbach e.V. Lisa ist dort im Vorstand stark engagiert. Isabelle hat sich inzwischen zu einigen Freundinnen gesetzt, denn nun wird erzählt und erzählt… Plauderstunden in diesem Café mit der besonderen Atmosphäre vergehen wie im Fluge. Inzwischen ist es wenige Minuten vor 17.00 Uhr. Christina und Daniela haben in dreißig Minuten einen zeitgleichen Termin bei einer Frauenärztin in Bensberg. Die Untersuchung bei den beiden wird wohl unangenehm sein. Man hat den Frauen geraten, nicht mit dem eigenen Auto zu fahren. Für Isabelle ist es eine Selbstverständlichkeit ihre Freundinnen zur Ärztin zu fahren.

„Los, Mädels, es ist an der Zeit“, ruft Isa salopp in die Küche hinein.

„Ja, ja, wir sind sofort fertig. Nur noch die Lippen nachziehen.“ Auch Lisa ist aufgestanden. Sie ordnet ein wenig ihre kastanienbraunen Haare, die einen kleinen Rotstich aufweisen. Sie zupft hier, zupft dort.

„Ich muss noch einkaufen.“ Sie schaut durch das mit einer gestickten Gardine versehene Fenster. „Mist, es regnet mal wieder und die Wolken hängen sehr tief. Es ist schon früh dunkel geworden.“

Christina, Daniela und Isabelle sind auf dem Sprung, verlassen schnell das Café. Lisa läuft einige Schritte versetzt hinter den Freundinnen, als ihr Handy melodisch klingelt. „Geht schon vor, ich hole euch sofort ein.“

Die drei Frauen überqueren schnellen Schrittes die Laurentiusstraße. Niemand ist bei diesem Nieselwetter zu sehen. Sie wenden sich der Buchmühlenstraße zu, durch die man zur Parkpalette Buchmühle gelangt. Es ist inzwischen mächtig dunkel. Dazu regnet es jetzt stärker. Die Frauen haben die Kapuzen ihrer farbigen Regenjacken über den Kopf gezogen. Dadurch ist die freie Sicht erheblich eingeengt. Im flotten Gang wollen sie den Golf von Isabelle erreichen. In der Mitte der Buchmühlenstraße werden Christina und Daniela urplötzlich von zwei vermummten Männern, die, wie aus dem Nichts kommend, attackiert. Die Männer, die nach Knoblauch und Urin stinken, drücken die Frauen mit grober Gewalt gegen die Hauswand, grabschen sofort an deren Körper herum. Der eine Typ hat bereits die rote Bluse von Christina weit aufgerissen, macht sich daran, den schicken roten BH herunterzuziehen. Er will mit aller Macht ihre hellhäutigen Brüste haben. Kratzspuren sind dabei unausweichlich. Mit der anderen Hand fasst er ihr reibend und drückend zwischen die schlanken Beine. Daniela ergeht es nicht anders. Sie ist mit ihren einhundertachtzig Zentimetern größer als der stinkende Kerl, doch der ist gewalttätiger. Er würgt kraftvoll ihren Hals. Jetzt ist er gerade dabei, ihr die schwarze Jeans zu öffnen, will diese herunterziehen. Der Typ ist heftig erregt, hechelt bereits. Es gelingt ihm, ihre Markenjeans halb herunter zu bekommen, versetzt ihr dabei Kratzer am weißen Oberschenkel. Die Frauen wehren sich heftig, schreien lauthals, haben aber keine Chance gegen die Brutalität dieser verkorksten Typen.

Isabelle, die vielleicht eine Minute später eintrifft, sieht das wilde Szenarium. Schreit gellend um Hilfe. Sie springt auf den Typen los, der Christina die rote Bluse komplett aufgerissen hat. Ihre verkratzten hellen Brüste liegen frei. Isabelle schlägt auf das Ungeheuer ein, doch es nützt nichts. Sie bekommt einen Faustschlag ins Gesicht. Stürzt auf den nassen Boden. Bleibt bewusstlos liegen. Isabelle hört die kreischenden Notschreie von Christina und Daniela nicht mehr.

Lisa, die auf den Weg zu ihrem Jeep Wrangler ist, nimmt die lautstarken Hilferufe von Isabelle innerlich blitzartig auf. Sie rennt sofort los. Sieht Isabelle auf dem Boden liegen. Sieht, wie diese Dreckskerle ihre Freundinnen vergewaltigen wollen.

„Haut ab, ihr verfluchten Schweine“, kreischt sie. Der kleinere Scheißer, der Daniela die schwarze Jeans bereits bis zu den Knien heruntergezogen hat, sieht die schmächtige einhundertdreiundsechzig Zentimeter kleine Lisa. Er grinst nur fies vor sich hin. Lässt aber von Daniela erst einmal ab. Er kommt hurtig auf Lisa zu, holt zwar mit dem rechten Arm weit aus, will dann aber nach ihrem schlanken Hals greifen. Lisa weicht dieser gefährlichen Situation kontrolliert mit dem linken Arm blitzschnell aus, dreht sich gekonnt mit dem Oberkörper, hebt beide Hände zum Kopf des Angreifers, packt hart zu, tritt unisono mit dem rechten Fuß mit aller Kraft in dessen Weichteile. Der schreit vor Schmerz gellend auf, beugt sich, kurzatmig und hustend, nach vorne, fällt auf die Knie. Lisa hebt ruckartig das rechte Knie an, trifft mit voller Wucht das fiese Gesicht. Es knackt hörbar. Lisa schätzt die Situation des Gegners richtig ein, der noch nicht kampfunfähig ist. Noch kann das Geschehen eskalieren. Sie breitet beide Arme ruckartig geradlinig aus, schlägt mit voller Wucht ihre beiden Handinnenseiten auf dessen Ohren. Der Typ schwankt, verdreht die Augen, fällt auf die Knie, kippt nach links weg, fällt auf das Pflaster. Lisa hat beide geballten Fäuste und ihre Beine noch immer in Angriffsposition.

Nun sieht sie aus den Augenwinkeln, wie der zweite Typ auf sie zukommt. Seine groben Hände sind starr ausgestreckt. Er will Lisas Hals würgen. Doch soweit kommt es nicht. Lisa attackiert ihn sofort mit einem doppelten Fauststoß, zieht danach dessen Oberkörper an sich, greift sofort mit beiden Händen an den Kopf des Angreifers, zieht dessen Kopf in einem Ruck nach unten, stößt mit dem Knie mit Wucht gegen sein Gesicht. Der fällt auf die Knie, versucht dabei einen Halt auszubalancieren. Als er sich in dieser Position befindet, macht Lisa eine Drehung um 180 Grad, tritt ihn mit einem nach hinten geschwungenen Halbkreisfußtritt an die Birne. Danach schlägt Lisa mit der rechten Faust gegen dessen Kehlkopf. Der Typ schnappt nach Luft, röchelt, verdreht endgültig die Augen, bricht zusammen. Bleibt regungslos auf dem Gehweg liegen.

„Was sind das doch für Dreckschweine“, hört man Isabelle aus dem Hintergrund mit hohler Stimme sagen. Sie ist wieder zu sich gekommen. Sofort wechselt sie hinüber zu Christina und Daniela, die beide auf dem nassen Boden sitzen und fürchterlich weinen. Christina hat sich in ihre Regenjacke eingehüllt, hält mit ihren Händen den Stoff fest. Sie zittert vor Kälte.

Lisa ist zwar aufgeregt, ist sich aber ihrer körperlichen Stärke klar bewusst. Sie nimmt ihr Handy, drückt die 110…

Streife 1138, die ihre Spätschicht bis 21.00 Uhr fährt, ist wenige Minuten nach dem Notruf in der Buchmühlenstraße eingetroffen. Die Einsatzzentrale hat die beiden Schutzpolizistinnen, Judith Hoffmann und Sheila Grosse, über den Überfall auf die Frauen mit der versuchten Vergewaltigung informiert. 1138 trifft zuerst bei den Frauen ein. Streife 1132 folgt drei Minuten später. Der angeforderte Rettungswagen der Freiwilligen Feuerwehr Bensberg ist nun auch vor Ort. Jetzt regnet es stark. Es hat immens abgekühlt.

Sheila und Judith haben den fiesen Männern sofort die Handschellen angelegt. Sicherheit muss sein. Sheila geht auf Christina und Daniela zu. Die Opfer frieren stark. Sheila nimmt die Frauen zunächst einmal in die Arme, tröstet sie. Isabelle hat ebenfalls auf die Freundinnen medizinisch korrekt eingewirkt. Die eingetroffenen Rettungssanitäter haben zusätzlich zwei Notärzte angefordert.

Judith übernimmt das weitere Kommando im polizeilichen Ablauf. Die Notärzte entscheiden, dass die angehenden Vergewaltiger, die inzwischen wieder bei Bewusstsein sind, ins Vinzenz Pallotti Hospital eingeliefert werden müssen. Ihre Verletzungen seien stark ausgeprägt. Sie seien aber transportfähig. Streife 1132 fährt mit diesen Männern in die Zentrale Notaufnahme nach Bensberg.

Judith will die drei Frauen nun nach dem Hergang befragen, als Isabelle sich als Ärztin vorstellt und den Vorschlag unterbreitet, den Tathergang im Café Tilda zu schildern. Das Großaufgebot an Rettungsfahrzeugen hat bei diesem Wetter kaum jemand bemerkt.

Als Christina, Daniela, Lisa und Isabelle, eingerahmt durch die beiden Schutzpolizisten, das Café Tilda betreten, herrscht urplötzlich große Aufregung. Die Mitarbeiterinnen bringen sofort Kaffee, Tee und kalte Getränke für die Anwesenden.

Judith und Sheila lassen sich zunächst die wichtigsten Details schildern. Trinken in aller Ruhe mit den Frauen den Kaffee. Die beiden Opfer haben sich ein wenig erholt; die Ehemänner sind auf dem Weg zu Tilda.

„Meine Damen, wir bitten Sie, morgen auf die Wache zu kommen, damit wir ein Protokoll verfassen können“, meint Sheila behutsam.

„Frau Mohr, durch Ihren mutigen Einsatz haben Sie dafür gesorgt, dass eine Vergewaltigung bei Frau Kombüchen und bei Frau Herbst nicht hat stattfinden können“, äußert Judith mit einer großen Bewunderung für Lisa. „Haben Sie denn keinerlei Angst gehabt? Sie sind doch eine sehr zierliche und schmächtige Frau?“

„Angst habe ich verspürt. Ist ja klar. Aber es ist um meine Freundinnen gegangen, die in Not geraten sind. Ich bin Schwarzgurtträgerin. Habe den 1. Dan in Karate-Shotokan.“

Christina und Daniela melden sich doch noch zaghaft zu Wort. „Wir beide möchten euch alle in vierzehn Tagen zu einem umfassenden Frühstück ins Tilda einladen. Die beiden Polizistinnen des Streifenwagens mit eingeschlossen. Wir würden uns sehr freuen. Sie alle haben uns in einer gefährlichen Notlage stark geholfen. Vielen, vielen Dank.“

Die Türe des Cafés öffnet sich schwungvoll. Die Ehemänner kommen hereingestürmt, nehmen ihre Ehefrauen in die starken Arme.

Isabelle macht jetzt demonstrativ deutlich, dass sie mit den Frauen und mit den Ehemännern ins Vinzenz Pallotti Hospital fahren will.

„Ihr werdet dort in der Zentralen Notaufnahme von einer Ärztin zunächst einmal begutachtet. Dann werden wir die blauen Flecke, die Kratzer, die Schürfwunden an euch fotografieren und somit dokumentieren. Dann könnt ihr die Fotografien und das ärztliche Attest morgen gleich mitnehmen, wenn ihr den Termin auf der Polizeiwache habt. Die Dokumente sind wichtig, wenn die Anzeige verfasst wird. Ich werde einen Tag später zur Polizei gehen, habe bereits um 8.00 Uhr die erste Operation.“

Isabelle wirkt plötzlich nachdenklich. „Wisst ihr, die äußeren Narben der Gewalt, die euch die Männer zugefügt haben, sind nach einer gewissen Zeit verschwunden. Die inneren Narben der männlichen Gewalt an euch werdet ihr sicher nie vergessen.“ Die beteiligten Frauen schweigen. Sie sind bedrückt. Auch die anderen weiblichen Gäste sagen kein Wort.

Sheila und Judith verabschieden sich von den drei Opfern und von der tapferen Lisa Mohr.

„Na, dann bis zum gemeinsamen Frühstück“, meint Sheila.

5

Vinzenz Pallotti Hospital. Fachabteilung Chirurgie.

Drei Operationen hat Dr. med. Isabelle Hartmann bereits erfolgreich mit ihrem Team am heutigen Donnerstag im OP-Saal 3 absolviert. Es sind schwerwiegende Operationen gewesen. Zuerst hat Isabelle das Karzinom mit dem Gewicht von einhundertfünfzig Gramm an der linken Magenwand eines sechzigjährigen Patienten entfernt. Die Operation hat sich über zweieinhalb Stunden hingezogen. Zwanzig Minuten später erfolgte die Entfernung eines Karzinomes an der Schilddrüse einer jungen Frau. Sie wird es sicher gut überstehen, weiß die Chirurgin, denn Schilddrüsenkrebs gehört zu den seltenen Krebserkrankungen, die aber dennoch sehr gefährlich sind. Mit dieser fachlichen Thematik beschäftigt sich Isabelle intensiv. Wissenschaftlich natürlich. Die Chirurgin geht bei schweren Krebserkrankungen immer mit einer inneren fachlichen Freude an die Arbeit, weil sie aus der eigenen Erfahrung weiß, diese Patienten vor dem oft sicheren Tod bewahren zu können. In der Regel jedenfalls. Ihr sind natürlich die veröffentlichten Zahlen des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg bekannt, die für das kommende Jahr die Krebserkrankungen in Deutschland mit knapp 450.000 beziffern. Bis zum Jahre 2030 sollen sich die Krebserkrankungen in unserem Land wahrscheinlich bei knapp 800.000 einpendeln. Was für ein furchtbares Zahlenmaterial, sagt sich Isabelle.

Ihr sind auch die dokumentierten schlimmen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation bekannt. Die Zahl neuer Krebserkrankungen auf der Welt werde in den kommenden Jahrzehnten stark ansteigen. Im Jahre 2040 dürften etwa 29 bis 37 Millionen Menschen neu an Krebs erkrankt sein, wie die Veröffentlichung zum Weltkrebstag am 4. Februar gezeigt hat. In diesem Jahr werde sich die Zahl der entdeckten Fälle auf knapp neunzehn Millionen beziffern. Die Zahl der krebsbedingten Todesfälle schätzt die Weltgesundheitsorganisation auf über zehn Millionen in diesem Jahr.

Isabelle arbeitet in ihrem privaten Zuhause in Bärbroich gerade an einen mehrseitigen Aufsatz für ein Schweizer Medizinisches Journal.

Das Thema lautet:

Seltene Krebserkrankungen. Will die Pharmaindustrie mangels ausreichender Gewinnzahlen nicht nachhaltig vorsorgen?

Zirka 100.000 Menschen in Deutschland erkranken per annum an einer seltenen Krebserkrankung, so wird es in ihrem Aufsatz später einmal zu lesen sein. Krebskrankheiten dieser Art gelten bei Kindern stets als selten. Die Diagnose und eine auf Erfolg ausgerichtete Therapie gestalten sich oft schwierig. Als selten gelten nach einer verbindlichen Definition der Europäischen Union alle Krebsarten, an denen jährlich weniger als fünf von zehntausend Menschen erkranken. Soll heißen: Praktisch gehören alle Fälle von Krebs bei Kindern zu den seltenen Krebsarten. Sie bleiben aber gefährlich.

Isabelle, noch immer im grünen OP-Outfit, lässt ihren Blick ein wenig im OP-Saal 3 schweifen. Mal wieder. Eine gewisse Neugierde ist immer dabei. Ab und zu passiert das. Es ist ein Sprung zurück in ihre berufliche Vergangenheit, die doch so spannungsgeladen gewesen ist!

Lieber Gott, wie oft habe ich dort als Anästhesiefachschwester der Intensivmedizin am Kopf von Patienten gesessen. Habe sie versorgt, betreut, auf sie aufgepasst. Als Mitglied in einem engagierten Operationsteam. Nun stehe ich seit einigen Jahren wieder im OP-Saal. Diesmal als Frau Doktor Hartmann, und als eine absolut erfolgreiche Chirurgin im Vinzenz Pallotti Hospital. Die differenzierten Operationen, die ich erfolgreich durchgeführt habe, kann ich schon nicht mehr zählen. Und wie oft bin ich traurig gewesen, wenn ich als Ärztin dennoch nicht habe helfen können. Manchmal ist der Tod einfach viel stärker. Aber er ist ein würdiger Gegner!

Isabelle schaut wiederum hinüber an ihren früheren Arbeitsplatz. Dabei denkt sie unwillkürlich an ihre allerbeste Freundin Ruth Szymanyak, die ebenfalls dort gesessen hat. Aber schon eine längere Zeit vor ihr. Etliche Jahre sind das gewesen. Ruth ist bereits Anästhesiefachschwester der Intensivmedizin gewesen, als Isabelle gerade zur Krankenschwester ausgebildet worden ist. Sie blickt traurig drein, denn ihre allerbeste Freundin Ruth ist tot. Gestorben im Vinzenz Pallotti Hospital. Auf der Chirurgie, unser beider jahrelanger Arbeitsplatz.

Michaela Bresan, die Krankenschwester, die nur Nachtdienst von 21.30 Uhr bis zum nächsten Morgen versieht, hat sie gefunden. Kurz nach Mitternacht. Ruth hat sich der todbringenden Leukämie durch Selbsttötung entzogen.

Isabelle schließt für einige Sekunden die Augen. Ganz fest sogar. Lieber Gott, wie sind wir alle traurig gewesen.

Das aus zwei Frauen bestehende Reinigungsteam wirbelt gerade durch den OP-Saal. Sie bereiten diesen für die nächsten Chirurgen vor, die Operationen noch vor sich haben. Wie werden die doch immer genannt? Die akademischen Handwerker! Die Zeit für das Putzteam ist knapp vorgegeben. Die Zeit ist präzise einzuhalten.

Urplötzlich erscheint Professor Dr. med. Vieshoffer, Chefarzt der Chirurgie und Unfallchirurgie. Mit einem freundlichen Lächeln blickt er hinüber zu Isabelle Hartmann.

„Verehrte Frau Kollegin, in zirka fünf Minuten wird ein Unfallopfer von Schockraum 1 zu uns auf Ebene 3 verlegt. Wie ich soeben gehört habe, sei bei der Frau die Milz gerissen. Eine Splenektomie, also eine Milzentfernung, stehe somit an. Akute Lebensgefahr, so der verlässliche, aber akute Tenor, aus der Zentralen Notfallambulanz. Trommeln Sie bitte sofort Ihr hervorragendes Team zusammen.“ Kurze Pause…

„Frau Kollegin, bei der Operation möchte ich liebend gern dabei sein. Will mir mal wieder ihre exzellente chirurgische Arbeit verinnerlichen“, führt der Chefarzt weiter aus. Wieder entsteht eine seiner kurzen Pausen…

Herr Professor, ich freue mich über Ihre geschätzte Anwesenheit. Wie immer! Sie wissen es doch.

Ein Chefarzt ist zugegen, wenn eine Chirurgin operiert? Traut er der Akademikerin das nicht zu? Will er auf der sicheren Seite sein? Durch seine Anwesenheit etwa? Mitnichten! Professor Vieshoffer kennt Isabelle Hartmann seit ihrer Ausbildung zur Krankenschwester, die sie damals mit Auszeichnung abgeschlossen hat. Da ist sie gerade fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Ebenfalls hat sie die zweijährige Zusatzausbildung zur Anästhesiefachschwester der Intensivmedizin bestanden. Natürlich mit Auszeichnung! Schon zu dieser Zeit hat der Chefarzt geahnt, dass Isabelle noch viel mehr wird leisten können. Die Selbsttötung von Ruth Szymanyak, der besten Freundin von Isabelle, hat er als Chefarzt unmittelbar miterlebt. Es ist erstmals passiert, dass sich eine erfolgreiche Mitarbeiterin seines Teams das Leben genommen hat, weil sie dem schrecklichen Teufelskreis Krebs vorzeitig entrinnen wollte.

Als Isabelle ihrem Chef nach zwei Jahren kund getan hat, sie habe sich für ein Medizinstudium an der Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg eingeschrieben, hat er sie spontan beglückwünscht. „Warum dieser plötzliche Entschluss?“ Der Chefarzt hat die Augenbrauen leicht hochgezogen. „Sie müssen doch jetzt um die achtundzwanzig Jahre alt sein – oder?“

„Wäre ich damals schon eine versierte Chirurgin gewesen, hätte ich den Lebenspartner meiner Freundin Ruth, Jan Bongardts, der mit einer Schussverletzung eingeliefert worden war, unter Umständen das Leben retten können. Genau hier im OP-Saal 3“, tut Isabelle kund. „Aber leider ist er einige Stunden später verstorben.“

Professor Vieshoffer erinnert sich exakt an diese abenteuerliche Dramatik in der Novembernacht, als der angeschossene Schutzpolizist eingeliefert worden war. Das sind turbulente Stunden der Angst um einen schwer verletzten Menschen gewesen. Für alle Beteiligten.

Aber Isabelle führt noch einen weiteren essentiellen Punkt an, der sie bewogen hat, nun doch Medizin zu studieren.

„Meine Freundin Ruth hat das Medizinstudium damals in Heidelberg begonnen, hat es dann aber aufgeben müssen. Ich will es aber schaffen! Ich will eine gute Ärztin werden! Ich will Menschen unbedingt helfen!“

Es klingt auftrumpfend, was Isabelle da von sich gibt.

Der Chefarzt betrachtet sie einige Sekunden lang. Er schweigt. Ihm ist sofort klar, dass Isabelle nach sechseinhalb Jahren Medizinstudium in Heidelberg am Neckar nach Bensberg zurückkehren wird. Mit einem erfolgreichen Abschluss als Ärztin. Garantiert wieder mit Auszeichnung!

Überrascht ist der Professor dennoch gewesen, als sie später bei ihm vorgesprochen hat: Als Frau Dr. med. Isabelle Hartmann. Das Medizinstudium abgeschlossen mit Summa cum laude. Ihre Doktorarbeit hat Isabelle bereits während des Medizinstudiums erfolgreich geschrieben. Ihre Doktor-Mutter ist unbeschreiblich stolz auf Isabelle gewesen. Professor Vieshoffer ebenfalls. Der normale Zeitraum zur Fachärztin, der im Normalfall sechs Jahre beträgt, hat Isabelle aufgrund ihrer außerordentlichen medizinischen und chirurgischen Fähigkeiten in fünf Jahren gepackt. Der Chefarzt protegiert seine Frau Doktor, seine so erfolgreiche Chirurgin, wo er nur kann. Dabei nimmt er den Neid der anderen Kollegen gerne in Kauf. Für Professor Vieshoffer ist Isabelle eine chirurgische Koryphäe, wenngleich er dieses exakt weiß, aber gegenüber Isabelle nicht ausspricht. Noch nicht! Diese fantastische Kollegin mit ihren grazilen Fingern muss dem Vinzenz Pallotti Hospital erhalten bleiben, koste es was es wolle, so sein fachlicher Gedankengang. Doch den menschlichen und charakterlichen Wandel bei Isabelle hat der erfahrene Chefarzt augenblicklich erkannt: Sie ist eine absolute Karrierefrau. Sie besitzt jetzt außerordentliche Führungsqualitäten.

Dennoch – sie ist Mensch geblieben. Solche Menschen sind aber leider eine absolute Mangelware.

Unterschiedliche Stimmen sind nun zu hören. Sie nähern sich dem OP-Saal 3. Das laute Rattern der Räder des Transportwagens ist nicht zu überhören. Beim kompletten Operationsteam steigt die innere Spannung. Was kommt da auf uns zu? Alle medizinischen Vorbereitungen sind abgeschlossen. Die große runde Uhr im OP-Bereich zeigt inzwischen 16.00 Uhr an. Die Türe öffnet sich mit einem lauten Saugdruck. Das Pflegepersonal der Zentralen Notfallambulanz übergibt das Unfallopfer an das OP-Team. Das Team lagert die Patientin fachgerecht auf dem OP-Tisch, schiebt den OP-Tisch mittels der Lafette auf die OP-Säule, die im Zentrum des OP-Bereiches installiert ist. Die Anästhesistin verabreicht das Narkosemittel. Das OP-Team desinfiziert das Unfallopfer gründlich, deckt es dann mit grünen Tüchern ab. Der Instrumententisch wird über die Patientin geschoben. Alle Instrumente liegen hier sichtbar gut geordnet. Sind somit sofort greifbar. Die beiden OP-Strahler, die an Teleskoparmen befestigt sind, spenden ein helles Licht.

Isabelle, die Oberärztin, sieht nun das Unfallopfer. Es ist eine junge Frau. Um die achtundzwanzig Jahre alt. Sie ist in einen Frontalzusammenstoß auf der Bundesautobahn A 4 involviert gewesen. Isabelle schaut kurz in die Runde. Alle stehen sie parat: die Anästhesiefachschwester der Intensivmedizin und die Anästhesistin am Kopf der Patientin. Die OP-Schwester und die OP-Springerin sowie der Assistenzarzt Franz Trappe. Isabelle kann Trappe absolut nicht verknusen. Der wird es auf Dauer nicht vergessen, dass Isabelle den Posten der Oberärztin erhalten hat – und nicht einer seiner drei geschätzten Kollegen, die sich auch in der Warteschlange befinden. Doch Isabelle plagt dabei ein anderer Gedanke. Kann dieser verheiratete Assistenzarzt der Stalker sein, der mich seit dem Tage meiner Ernennung zur Oberärztin telefonisch verfolgt und mir Angst einjagt? Der mir unsittliche Avancen ins Ohr haucht?

Jetzt und hier geht es aber um eine kranke Patientin. Und nicht um persönliche Animositäten.

In der beruflichen Hierarchie der weißen Götter wird auch mit knallharten Bandagen gekämpft, was Isabelle schnell festgestellt hat. Menschlich halt!

Die Operation kann nun beginnen. Der Chefarzt steht bequem in einem gewissen Abstand zum OP-Tisch. Beobachtet seine akademische Powerfrau mit den grazilen Fingern mit dem Hauch einer stillen Bewunderung. Er hat sich schon mehrmals mit dem Gedanken getragen, Frau Dr. Hartmann zu eröffnen, sie als seine Nachfolge sehen zu wollen, wenn er an die Charité nach Berlin wechselt. Es muss wohl bald geschehen, um ihr eine reibungslose Einweisung zu ermöglichen. Dann wäre meine verehrte Kollegin die erste und einzige ChefärztIN im Vinzenz Pallotti Hospital. Ja, sogar in allen drei Krankenhäusern von Bergisch Gladbach.

Was nun vonstatten geht, ist medizinische Routine par excellence. Oberärztin Dr. Isabelle Hartmann doziert im Flüsterton: „Bei einem Einriss der Milz, also der Milzruptur, mit Blutverlust in der Bauchhöhle ist immer von einem Notfall auszugehen, bei dem die Milz sofort entfernt werden muss. Die Standardmethode ist immer die offene Operation, bei der die Milz in Vollnarkose durch einen Bauchschnitt oder einen linken Rippenbogenschnitt entfernt wird.“ Im Team hat man ihre leisen Worte dennoch genau gehört.

„Herr Kollege, was wissen Sie generell über die Milz?“

„Die Milz ist ein 100 bis 250 Gramm schweres Organ im linken Oberbauch, direkt unter dem Zwerchfell liegend. Sie ist von einer Kapsel aus Bindegewebe umhüllt, liegt unmittelbar am Schwanzende der Bauchspeicheldrüse und ist mit dem Magen und dem Dickdarm verbunden“, antwortet Assistenzarzt Franz Trappe in seinem bekannten leicht arroganten Tonfall.

„Welche OP-Methode würden Sie anwenden?“, will die Oberärztin daraufhin in einem sanften Tonfall wissen.

„Natürlich den Rippenbogenschnitt.“ Seine Arroganz ist triefend. Spottend sogar.

„Falsch, Herr Assistenzarzt“, erwidert Isabelle im scharfen Ton. Bei dieser Diagnose kommt nur der Bauchschnitt infrage. Eigentlich sollten Sie das wissen, Herr Kollege! Das warum erkläre ich Ihnen während der Nachbesprechung.“

Aus dem Hintergrund ist der Zwischenruf des Chefarztes überdeutlich zu hören:

„Absolut richtig, verehrte Frau Oberärztin.“

Isabelle merkt sofort, wie in einer Hierarchie unter Ärzten gesprochen wird, wenn ein anderer Arzt blamiert oder runtergeputzt werden soll. Der Chefarzt, immer auf der Seite von Isabelle, hat den Assistenzarzt eingenordet. Dessen Arroganz will der Chefarzt brechen. Direkt vor dem Personal. Der Chefarzt neigt manchmal dazu: Er kennt keinerlei Erbarmen, wenn bei der morgendlichen Visite einer der Assistenzärzte einen Fehler macht oder eine falsche Einschätzung gegenüber einem Patienten tätigt. Er rügt diesen auch vor dem Patienten, vor allen anderen Kollegen und vor dem Pflegepersonal. Er begründet es wie folgt: Die jungen Ärzte sollen lernen, sich voll zu konzentrieren, sollen nachdenken, bevor sie sprechen. Für die Gemaßregelten ist das natürlich peinlich. Oft auch innerlich schmerzhaft. Aber diese Kritik bleibt haften, in der Regel für immer. Diese jungen Ärzte werden sich an die Schelte des Chefs immer mal wieder erinnern.

Isabelle streckt die Hand aus in Richtung der OP-Schwester. Die legt das Skalpell mit dem taubenblauen Griff in ihre rechte Hand. Isabelle setzt an zum Hautschnitt…

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Polizeikommissariat Emden. Es ist Montag in der Seehafenstadt Emden. Der Wind hat an der Nordsee stark aufgefrischt. Polizeihauptkommissar Jupp Jansen hat seinen Nachbarn, Walter Remigius, der in Hinte ihm schräg gegenüber wohnt, erst gegen 10.00 Uhr aus der Ausnüchterungszelle geholt. Nun sitzt ihm Walter in seinem Büro am überfüllten Schreibtisch gegenüber. Der in Wellenform gegossene Kaffeepott, garniert mit zwei grauen Seehunden, steht vor Walter. Er rührt den heißen und duftenden Kaffee aber nicht an. Remigius wirkt verschlafen. Ist auch noch ein wenig irritiert. Seine Alkoholfahne ist immer noch stark zu riechen. Das medizinische Untersuchungsergebnis belegt es: 2,1 Promille.

„Warum säufst du denn immer soviel, Walter“, will der Kommissar in einem sanften Tonfall wissen. Sie kennen sich gut aus dem Fußballverein. Alte Herren natürlich.

„Du hast uns doch schon genug Ärger in der vergangenen Zeit beschert“, formuliert der Schutzpolizist mit einer Portion Nachsicht.

„Und immer der Alkohol und deine Pöbeleien.“

Manche der früheren Vorfälle mit ihm hat man im Kollegenkreise einfach unter den Teppich gekehrt. Man kennt sich doch in Hinte. Jeder kennt jeden. Und wenn es um Alkohol geht, sind alle sehr großzügig. Vor allen Dingen Männer. Da hilft man sich gegenseitig. Verschweigt vieles. Man ist halt Mann!

„Du, Walter, wir müssen diesmal allerdings ein Protokoll verfassen. Geht nicht mehr anders. Die Frau, der du das Bier in den gewagten Ausschnitt geschüttet hast, will Anzeige gegen dich erstatten. Sie wird heute Mittag vorbeikommen“, erklärt Polizeihauptkommissar Jansen.

Walter Remigius schweigt. Er starrt vor sich hin auf einen imaginären Fleck. Sein Kopf ist geneigt. Er sitzt völlig ruhig auf seinem Stuhl. Hat beide Hände inzwischen auf den Schreibtisch gelegt. Nach einigen Minuten holt er sich ein Taschentuch aus der rechten Hosentasche, wischt sich damit die Augen frei.

„Weinst du etwa?“ Jupp Jansen schaut ihn direkt an.

Walter blickt seinen Nachbarn, den Polizisten aus Hinte mit wässerigen Augen an. Die Augen sind nur zur Hälfte geöffnet. Und dann passiert etwas völlig unerwartetes: Walter zuckt stark zusammen, krampfartig, weint nun hemmungslos, schluchzt ohne Unterbrechung, krümmt sich ununterbrochen auf seinem Stuhl. Er sinkt nieder auf den Boden. Liegt dort verkrümmt, weint und weint. Er ist nicht zu beruhigen. Jupp Jansen hat bereits zum Telefonhörer gegriffen, die 112 gewählt, ruft den Rettungswagen der Feuerwehr.

Nach dreißig Minuten hat sich Walter ein wenig beruhigt. Die Medizin der Rettungssanitäter hat geholfen. Er schaut Jupp, seinen Nachbarn, seinen Fußballfreund, seinen Kumpel, ausdruckslos an. Und dann fängt Remigius ohne Vorwarnung an zu reden…

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Malteser Komturei. Herrenstrunden. Die ein wenig zu kleine Rezeption am Haupteingang des Hotels und Restaurants ist mit einer jungen Dame besetzt. Sie sieht einfach schick aus in ihrem blauen Strickkleid sowie mit der dünnen goldenen Kette um ihren schlanken Hals. Das Tageslicht an dieser Stelle der Rezeption ist etwas schwach.

„Was kann ich für Sie tun?“ Sie schaut den breitschultrigen Mann im dunklen Maßanzug mit einem herzhaften Lächeln an.

„Mein Name ist Wladimir Baranow. Vor Tagen habe ich ein Doppelzimmer bestellt. Das hier sind Herr und Frau Daria und Bolek Kaczmarek aus Polen. Sie werden sich wohl drei Tage in Herrenstrunden aufhalten.“ Der russische Akzent von Wladimir ist deutlich herauszuhören.

„Ich freue mich, Sie bei uns zu haben“, entgegnet die junge Dame. „Wenn Sie sich bitte hier eintragen wollen?“ Baranow erklärt ganz nebenbei: „Das Ehepaar beherrscht die deutsche Sprache leider nicht. Das Anmeldeformular fülle ich aus.“

Es folgen, an Herrn Baranow gerichtet, noch einige Einzelheiten, die dem elegant gekleidetem Ehepaar den Aufenthalt in der Malteser Komturei verschönern sollen.

Das Paar sieht nach Geld aus, denkt die Dame an der Rezeption. Baranow übersetzt die Informationen in einer freundlichen Art, geleitet das Ehepaar im mittleren Alter auf das angegebene Zimmer. Die junge Dame in dem blauen Strickkleid schaut den drei Gästen nach. Unauffällig natürlich.