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Beschreibung

Bildung, ihre Einflussfaktoren und Folgen sind häufig Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und medialer Diskurse. Ihre Sicherung stellt eine der zentralen Aufgaben der Gesellschaft dar. Die Bildungspsychologie beschäftigt sich aus psychologischer Perspektive mit Bildungsprozessen über die gesamte Lebensspanne sowie mit den Bedingungen und Maßnahmen, die Bildungsprozesse beeinflussen können. Dieses Lehrbuch stellt die Bildungspsychologie in einer vollständig überarbeiteten Neuauflage umfassend vor. Der systematische Aufbau des Buches entspricht dem Strukturmodell der Bildungspsychologie, das die Dimensionen Bildungskarriere, Aufgabenbereiche und Handlungsebenen umfasst. Im ersten Teil des Bandes werden die verschiedenen Phasen einer individuellen Bildungskarriere vom Säuglings- und Kleinkindalter, über den Vorschul-, Primär-, Sekundär- und Tertiärbereich bis hin zum mittleren und höheren Erwachsenenalter dargestellt. Teil 2 des Buches beschäftigt sich mit den Aufgabenbereichen der Bildungspsychologie und umfasst die Tätigkeitsfelder Forschung, Beratung, Prävention, Intervention sowie Bildungsmonitoring und Evaluation. Den Handlungsebenen (Makro-, Meso- und Mikroebene), auf denen diese Aufgaben zu leisten sind, ist schließlich der dritte Teil des Bandes gewidmet. Alle Kapitel des Bandes folgen einem einheitlichen Aufbau, anhand dessen die zentralen Theorien, Modelle und empirischen Befunde vorgestellt werden, die praktische Bedeutsamkeit des Themas beleuchtet und ein Ausblick auf künftige Herausforderungen und Aufgaben für die Bildungspsychologie gegeben wird. Zahlreiche Kästen mit Beispielen aus Forschung und Praxis sowie Zusammenfassungen und Reflexionsfragen tragen zur Veranschaulichung und Vertiefung der Inhalte bei.

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Christiane Spiel

Thomas Götz

Petra Wagner

Marko Lüftenegger

Barbara Schober

(Hrsg.)

Bildungspsychologie

Ein Lehrbuch

2., vollständig überarbeitete Auflage

Univ.-Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel. Studium der Mathematik, Geschichte und Psychologie in Wien. 1980 – 1989 Universitätsassistentin am Institut für Psychologie der Universität Wien. 1989 – 1992 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1992 – 1995 Assistenzprofessorin am Institut für Psychologie der Universität Wien. 1995 Habilitation. 1995 – 2000 Gastprofessur am Institut für Psychologie der Universität Graz. 2000 – 2018 Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Seit 2018 emeritierte Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

Univ.-Prof. Dr. Thomas Götz. Studium der Musik und Psychologie in Regensburg und München. 2002 – 2006 Wissenschaftlicher Assistent und ab 2005 Privatdozent am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie, Diagnostik und Evaluation der LMU München. 2002 Promotion. 2005 Habilitation. 2007 – 2019 Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau (Schweiz). Seit 2011 Adjunct Professor an der McGill University in Montreal (Kanada) und seit 2019 Professor für Bildungspsychologie und gesellschaftliche Veränderungen an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

Prof. (FH) PD Dr. Petra Wagner. Studium der Psychologie in Wien. 1994 – 2000 Tätigkeit als Schulpsychologin in Niederösterreich. 2000 – 2006 Universitätsassistentin im Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien. 2003 Promotion. 2009 Habilitation. Seit 2006 Professorin für Psychologie an der Fakultät für Medizintechnik und Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Oberösterreich.

Assoz.-Prof. Dr. Marko Lüftenegger. Studium der Psychologie in Salzburg, Lissabon und Wien. 2012 Promotion. 2013 – 2017 Universitätsassistent am Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien. 2019 Habilitation. 2017 – 2021 Assistenzprofessor am Zentrum für Lehrer*innenbildung und der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. 2019 Habilitation. Seit 2021 Assoziierter Professor für Entwicklungs- und Bildungspsychologie des Schulalters am Zentrum für Lehrer*innenbildung und der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

Univ.-Prof. Dr. Barbara Schober. Studium der Psychologie in Bamberg. 1994 – 1996 Psychologisch-technische Assistentin an der Psychiatrischen Klinik der LMU München. 1997 – 2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik und Evaluation der LMU München. 2001 Promotion. 2001 – 2007 Universitätsassistentin im Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien. 2007 Habilitation. Seit 2011 Professorin für Psychologische Bildungs- und Transferforschung an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

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Umschlagabbildung: © iStock.com by Getty Images / tolgart

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

2., vollständig überarbeitete Auflage 2022

© 2010 und 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3108-6; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3108-7)

ISBN 978-3-8017-3108-3

https://doi.org/10.1026/03108-000

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|5|Vorwort

Dieses Lehrbuch stellt die Bildungspsychologie in einer vollständig überarbeiteten Neuauflage umfassend vor. Es basiert auf der 2010 erschienenen 1. Auflage, stellt jedoch eine substanzielle Weiterentwicklung dar. Es wendet sich an Wissenschaftler*innen, die im Bildungsbereich forschen, an Lehrende und Studierende der Psychologie bzw. verwandter Studienrichtungen, an Lehramtsstudierende aller Richtungen, an praktisch tätige Psycholog*innen sowie weitere Personen, die in Bildungseinrichtungen arbeiten oder sich allgemein mit psychologischen Aspekten des Bildungsgeschehens auseinandersetzen wollen. Eine Besonderheit des Buches besteht in seinem systematischen Aufbau, der dem Strukturmodell der Bildungspsychologie entspricht. Da dieses Modell sowie Konzeption und Gegenstand der Bildungspsychologie im ersten Kapitel ausführlich beschrieben werden, gehen wir hier nur so weit darauf ein, dass der Buchaufbau verständlich wird.

Der Begriff „Bildung“ wurde von dem mittelalterlichen Philosophen und Theologen Meister Eckhart in die Deutsche Sprache eingeführt. Er bedeutete für ihn das „Erlernen von Gelassenheit“ und wurde als „Gottessache“ angesehen, „damit der Mensch Gott ähnlich werde“. Auch wenn diese ursprüngliche Bedeutung sicher nicht mehr im Fokus steht und sich der Begriff über Zeit, Milieus und Denkrichtungen immer wieder gewandelt hat, so ist er doch ungebrochen aktuell. Bildung, ihre Einflussfaktoren und Folgen sind häufig Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und medialer Diskurse. Ihre Sicherung stellt eine der zentralen Aufgaben der Gesellschaft dar. Die hohe Relevanz und Präsenz zeigt sich auch darin, dass der Bildungsbegriff in vielfältiger Weise verwendet und verknüpft wird. Wir sprechen z. B. von Bildungsreisen, Bildungsbürger*innen oder dem Bildungsministerium. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Umso erstaunlicher ist es, dass „Bildung“ nicht früher explizit von der Psychologie aufgegriffen und eine Bildungspsychologie etabliert wurde. Die Bezeichnung Bildungspsychologie wurde zwar schon 1931 von Werner Straub in seiner Arbeit über „Die Grundlagen einer experimentellen Bildungspsychologie“ verwendet, der darunter eine „spezielle Psychologie des Tatbestandes Erziehung“ in „unmittelbarem Zusammenhang mit der pädagogischen Theorie“ verstand. Danach scheint der Begriff jedoch wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Erst im Jahr 2000 wurde der erste Lehrstuhl im deutschsprachigen Raum mit der Denomination „Bildungspsychologie“ an der Universität Wien gegründet. Mittlerweile gibt es bereits einige Professuren mit dieser Bezeichnung.

Im Jahr 2010 haben die Herausgeber*innen Christiane Spiel, Barbara Schober, Petra Wagner und Ralph Reimann die Bildungspsychologie erstmals in Buchform vorgestellt. Die Resonanz darauf sowie die Rezeption waren so positiv, dass wir |6|uns entschieden haben, in einem geänderten Herausgeber*innenteam erneut ein Lehrbuch zur „Bildungspsychologie“ herauszugeben. Bei der Neuausgabe handelt es sich um eine substanziell überarbeitete Version. Gleich geblieben ist der grundlegende Buchaufbau basierend auf dem Strukturmodell der Bildungspsychologie. Die Themenfelder der Bildungspsychologie sind entlang von drei Dimensionen strukturiert, die den thematischen Rahmen des Faches abstecken. Diese Dimensionen umfassen die verschiedenen Phasen einer individuellen (I) Bildungskarriere, welche die gesamte Lebensspanne inkludiert und damit lebenslanges Lernen ins Zentrum stellt, die (II) Aufgabenbereiche der Bildungspsychologie sowie die (III) Handlungsebenen, auf denen diese Aufgaben zu leisten sind.

Bildungskarriere. Die chronologische Bildungskarriere ist in sieben Phasen gegliedert, in denen jeweils andere Bildungsziele im Vordergrund stehen. Sie umfasst das Säuglings- und Kleinkindalter, die Vorschule, den Primär-, Sekundär- und Tertiärbereich, das mittlere und das höhere Erwachsenenalter.

Aufgabenbereiche. Die fünf Aufgabenbereiche der Bildungspsychologie umfassen die Tätigkeitsfelder Forschung, Beratung, Prävention, Intervention sowie Bildungsmonitoring und Evaluation. Diese Aufgabenbereiche sind gleichberechtigte Tätigkeitsfelder und repräsentieren „gemeinsam“ das inhaltliche Aufgabenspektrum der Bildungspsychologie.

Handlungsebenen. Die bildungspsychologischen Aufgaben sind auf drei Handlungsebenen zu leisten, deren Übergänge fließend sind: auf einer Makroebene (Ebene der bildungspolitisch relevanten Gesamtsysteme), auf einer Mesoebene (Ebene der Institutionen) sowie auf einer Mikroebene (Ebene der individuellen Bedingungen).

Das Buch umfasst damit – neben dem einleitenden Kapitel, das die Bildungspsychologie vorstellt – insgesamt 15 Themenblöcke, die den Segmenten des Strukturmodells entsprechen (7 Phasen der Bildungskarriere, 5 Aufgabenbereiche, 3 Handlungsebenen). Diese Themenblöcke (= Kapitel) sind strukturell jeweils gleich aufgebaut: Zuerst wird ein allgemeiner Überblick gegeben, der den Stand der Wissenschaft zusammenfasst. Danach werden zentrale Theorien, Modelle und empirische Befunde dargestellt, die die praktische Bedeutsamkeit des Themas beleuchten, sowie ein Ausblick auf künftige Herausforderungen und Aufgaben für die Bildungspsychologie gegeben. Abschließend werden die zentralen Aussagen des Beitrags zusammengefasst und Reflexionsfragen formuliert. Diese beiden Aspekte sind neu und sollen den Einsatz des Buches in der Lehre unterstützen. Ein weiterer zentraler Unterschied zum 2010 erschienenen Buch ist, dass Beispiele aus Forschung und Praxis in die Kapitel, die die Segmente des Strukturmodells vorstellen, bereits integriert sind und nicht in eigenständigen Illustrationskapiteln vorgestellt werden, wodurch das Buch auch deutlich kompakter geworden ist.

Wir danken allen Autor*innen herzlich für ihre Beiträge und ihr Engagement. Marie-Christine Rühle, Isabell Schechtel und Sina Ludwig danken wir für den |7|Schluss-Check der Beiträge. Last but not least danken wir dem Hogrefe Verlag, allen voran Jürgen Hogrefe und Susanne Weidinger für ihre Unterstützung.

Wir wünschen allen Leser*innen der Bildungspsychologie eine spannende Lektüre und viele Anregungen für Forschung und Praxis.

Wien, im Februar 2022

Christiane Spiel

Thomas Götz

Petra Wagner

Marko Lüftenegger

Barbara Schober

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 Bildungspsychologie: Konzeption, Strukturmodell, Stellenwert und Perspektiven

Teil I: Bildungskarriere

Kapitel 2 Bildungspsychologie des Säuglings- und Kleinkindalters

Kapitel 3 Bildungspsychologie des Vorschulalters

Kapitel 4 Bildungspsychologie des Primärbereichs

Kapitel 5 Bildungspsychologie des Sekundärbereichs

Kapitel 6 Bildungspsychologie des Tertiärbereichs

Kapitel 7 Bildungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters

Kapitel 8 Bildungspsychologie des höheren Erwachsenenalters

Teil II: Aufgabenbereiche

Kapitel 9 Bildungspsychologische Forschung

Kapitel 10 Bildungspsychologische Beratung

Kapitel 11 Bildungspsychologische Prävention

Kapitel 12 Bildungspsychologische Intervention

Kapitel 13 Bildungsmonitoring und Evaluation

Teil III: Handlungsebenen

Kapitel 14 Bildungspsychologie auf der Mikroebene: Individuelle Bedingungen des Lehrens und Lernens

Kapitel 15 Bildungspsychologie auf der Mesoebene: Organisatorische Bedingungen des Lernens und Lehrens

Kapitel 16 Bildungspsychologie auf der Makroebene: Das Gesamtsystem im Fokus

Anhang

Die Autor*innen des Bandes

Sachregister

|11|Kapitel 1Bildungspsychologie: Konzeption, Strukturmodell, Stellenwert und Perspektiven

Christiane Spiel, Petra Wagner, Thomas Götz, Marko Lüftenegger & Barbara Schober

|12|Das Wort Bildung hat in unserer Alltagssprache seinen festen Platz. Ganz selbstverständlich sprechen wir von Bildungseinrichtung, Bildungswesen, Aus- und Fortbildung, Bildungslücke, Bildungsmotivation und bezeichnen Personen als hoch- oder wenig gebildet. Schulleistungsstudien wie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) und PISA (Programme for International Student Assessment) haben dazu beigetragen, dass die Bedeutung von Bildung für den Einzelnen sowie für die Gesellschaft als Ganzes in den letzten Jahrzehnten verstärkt in das Blickfeld der nicht wissenschaftlichen Öffentlichkeit gerückt ist (siehe Bos & Postlethwaite, 2001; Ertl, 2006; Kohler, 2005; Liessmann, 2017; Spiel, 2017). Auch in der Wissenschaft hat der Bildungsbegriff seine Verankerung, wenn auch seine inhaltliche Bedeutung historischen und kulturellen Schwankungen unterliegt und er in Abhängigkeit von gesellschaftspolitischen Strömungen unterschiedlich definiert wird (Götz, Frenzel & Pekrun, 2018). Unbestritten ist seine Breite, die weit über institutionelles Lernen und Lehren hinausgeht.

Das vorliegende Kapitel beschreibt die Grundstruktur der „Bildungspsychologie“. Sie beschäftigt sich mit dem gesamten Feld der Bildung, setzt einen starken Fokus auf lebenslanges Lernen und damit die gesamte Bildungskarriere eines Individuums und ist in einem integrativen Rahmenmodell verankert, dem Strukturmodell der Bildungspsychologie. Das Strukturmodell ermöglicht es, psychologisches Handeln in dem breiten Feld von Bildung systematisch einzuordnen. Es unterstützt bei der Identifikation von Feldern intensiver respektive vernachlässigter bildungspsychologischer Aktivitäten sowie bei der Identifikation von Stärken und Handlungsbedarfen; es zeigt auch die Notwendigkeiten interdisziplinärer Kooperationen auf.

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werden Konzeption und Gegenstand der Bildungspsychologie vorgestellt. Der zweite Abschnitt präsentiert das Strukturmodell der Bildungspsychologie. Mit der Frage der Einordnung der Bildungspsychologie als Grundlagen- respektive Anwendungsfach setzt sich der dritte Abschnitt auseinander. Der vierte und letzte Abschnitt diskutiert Stellenwert und Perspektiven der Bildungspsychologie.

1 Bildungspsychologie: Konzeption und Gegenstand

Die Begriffsbestimmung von Bildung bewegt sich auf zwei Ebenen: einer formalen und einer inhaltlichen. Auf formaler Ebene wird Bildung übereinstimmend sowohl als Prozess als auch als Produkt, d. h. Ergebnis des Prozesses, aufgefasst (Götz et al., 2018; Langewand, 1997; Tenorth, 2020a).

|13|Begriffsbestimmung: Bildung auf formaler Ebene

Bildung als Produkt bezeichnet die überdauernden Ausprägungen der Persönlichkeit eines Menschen, die unter einer gesellschaftlich-normativen Perspektive wünschenswert sind.

Bildung als Prozess beinhaltet den Aufbau und die Art und Weise der sozialen Vermittlung dieser wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen.

Mit der Frage, welche Persönlichkeitsausprägungen (= welche Produkte) gesellschaftlich wünschenswert sind, begibt man sich auf die inhaltliche Ebene der Begriffsbestimmung. Wodurch sich ein „gebildeter“ Mensch auszeichnet, unterliegt hierbei nicht nur einem historischen Wandel, sondern wird auch von verschiedenen sozialen Milieus unterschiedlich bewertet (siehe Barz, 1999; Bremer, 2012; Tenorth, 2020b). Allgemein historisch betrachtet, pendelte die inhaltliche Bedeutung des Bildungsbegriffs in der Vergangenheit zwischen einem humanistischen (ganzheitlichen) Bildungsideal und einem Verständnis, das sich an gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen orientiert. Reduzierte in der jüngeren Vergangenheit ein instrumenteller Bildungsbegriff die Gebildetheit einer Person auf deren abrufbares Faktenwissen (d. h. Bildung war hier gleichbedeutend mit der Existenz eines hohen formalen Bildungszertifikats), wurde in der Folge eher wieder ein Bildungsbegriff favorisiert, der neben beruflich-fachlichen Qualifikationen auch soziokulturelle Kompetenzen (z. B. soziale Umgangsformen) einschließt. Auch die grundsätzliche Frage, welchen Einfluss der Bildungsprozess auf die Prägung der Persönlichkeit (Bildungsprodukt) hat, wurde vermehrt diskutiert (siehe z. B. Liessmann, 2017).

Ein derart eher ganzheitliches Bildungsverständnis weist eine im Grunde undefinierbare Menge von Bildungsmomenten auf. Denn unter dieser Perspektive bildet in der Tat jede erdenkliche Situation den Menschen in der einen oder anderen Weise. Dies ist für die Forschung eine Herausforderung, weshalb wir uns bei der Konzeption der Bildungspsychologie nur mit einer Teilmenge befasst haben (Spiel & Reimann, 2005a; Spiel, Reimann, Wagner & Schober, 2010). Diese fußt u. a. auf den Ansätzen von Barz (1999, 2002) und Baumert (2000, 2002). Ersterer nennt verfügbare Wissensbestände und kulturelle Fähigkeiten sowie kommunikative Kompetenz und Ausstrahlung als Komponenten, die gemäß Befragungen über verschiedene soziale Milieus hinweg für Bildung immer konstitutiv sind.

Baumert (2000, 2002) identifiziert innerhalb der schulischen Bildung moderner Gesellschaften Grundmuster (Universalien) mit Bildungszielen für die allgemeinbildende Schule. Dazu gehören:

die Vermittlung der kulturellen Basiskompetenzen (Beherrschung der Verkehrssprache, mathematische Modellierungsfähigkeit, fremdsprachliche Kompetenz, |14|informationstechnologische Kompetenz sowie Selbstregulation des Wissenserwerbs); insbesondere die Vermittlung von Kompetenzen zum Umgang mit informations- und kommunikationstechnischen Medien gewinnt als fächerübergreifende Kompetenz in modernen, hoch technisierten Gesellschaften zunehmend an Bedeutung (Leutner, Opfermann & Schmeck, 2014; Spiel, 2017);

die Vermittlung eines hinreichend breiten, in sich gut organisierten, vernetzten sowie in unterschiedlichen Anwendungssituationen erprobten Orientierungswissens in zentralen kulturellen Wissensbereichen (diese Wissensbereiche umfassen die verschiedenen Fächer; die elementare Vertrautheit mit jedem von ihnen macht Allgemeinbildung aus);

sowie der Aufbau sozial-kognitiver und sozialer Kompetenzen (Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, zum Mitempfinden, zur Hilfsbereitschaft, zur Kooperation, zur Verantwortungsbereitschaft, zum moralischen Urteil).

Gemeinsam stellen diese beiden (sich partiell überschneidenden) Ansätze auf einer bestimmten Abstraktionsebene allgemeingültige Komponenten von Bildung dar, welche ergänzt durch berufsbezogene Kompetenzen und Fertigkeiten gesellschaftlich wünschenswerte Persönlichkeitsausprägungen repräsentieren (Spiel et al., 2010; siehe auch Spiel & Reimann, 2005a, 2006). Wobei die 21st Century Skills (4 Cs: Collaboration, Communication, Creativity, Critical Thinking), die insbesondere von der OECD gefordert und forciert werden (Ananiadou & Claro, 2009), diese Komponenten noch erweitern.

Wie jedoch die angeführten Erweiterungen zeigen, sind auch die als allgemeingültig angesehenen Komponenten von Bildung keine fixen Größen, sondern unterliegen einem Entwicklungsprozess und könnten kaum erschöpfend dargestellt werden. Daher haben wir entschieden, den Gegenstand der Bildungspsychologie eine Ebene höher zu verankern, d. h. auf Ebene von Bildungszielen respektive Aufgaben von Bildung, die in ihrer Umsetzung zur Entwicklung und Förderung von Bildungskomponenten führen. Wir haben uns dabei dem International Panel on Social Progress (IPSP) angeschlossen, welches weltweit das Fachwissen hunderter führender Expert*innen zu Fragen des sozialen Wandels in einem Bericht zusammengetragen hat, der sich an alle sozialen Akteur*innen, Bürgerbewegungen, Organisationen, Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen richtet (Fleurbaey et al., 2018). Laut dem Kapitel über Education im Manifest des IPSP liefert Bildung einen Beitrag zu sozialem Fortschritt durch vier (miteinander verbundene) Ziele respektive Aufgaben (Spiel et al., 2018):

humanistisch: durch Entfaltung der individuellen und kollektiven Begabungen und Talente;

bürgergesellschaftlich: durch Förderung der aktiven Teilnahme an einer demokratischen Gesellschaft und am öffentlichen gesellschaftlichen Leben;

ökonomisch: durch Vermittlung von Wissen und Kompetenzen für den Arbeitsmarkt;

durch soziale Gerechtigkeit.

|15|Übergeordnetes Ziel des gesamten Bildungsgeschehens ist es, dass möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft gemäß dieser Ziele und Aufgaben von Bildung möglichst viele Bildungskomponenten in möglichst hoher Ausprägung aufweisen. Die individuelle Konfiguration dieser Bildungskomponenten repräsentiert „die Bildung eines Menschen“ (siehe dazu auch Spiel et al., 2010, für eine axiomatische Formulierung siehe Spiel & Reimann, 2005a).

Bildungspsychologie

Die Bildungspsychologie beschäftigt sich mit allen Bildungsprozessen, die zur Entwicklung von Bildungskomponenten (= wünschenswerte Persönlichkeitsausprägungen aus gesellschaftlich-normativer Perspektive) beitragen, sowie mit den Bedingungen, Aktivitäten und Maßnahmen (wie z. B. Instruktion durch Lehrpersonen, individuelles Lernverhalten, Wissensvermittlung durch (digitale) Medien), die diese Prozesse beeinflussen (z. B. initiieren, aufrechterhalten, unterstützen, optimieren) können.

2 Das Strukturmodell der Bildungspsychologie: Ziele und Nutzung

Die Bedingungen, Aktivitäten und Maßnahmen, die Bildungsprozesse beeinflussen, können

sich auf verschiedene altersspezifische Bildungsphasen eines Individuums beziehen (= Bildungskarriere),

unterschiedliche bildungspsychologische Aktivitäten und Maßnahmen erfordern (= Aufgabenbereiche) und

auf verschiedenen Abstraktions- und Aktivitätsniveaus (= Handlungsebenen) angesiedelt sein (siehe auch Spiel, Reimann, Wagner & Schober, 2008; Spiel et al., 2010).

Dimensionen, Segmente und Module des Strukturmodells

Das Strukturmodell der Bildungspsychologie wird durch drei Dimensionen aufgespannt: (1) die Bildungskarriere eines Individuums, (2) die Aufgabenbereiche von Bildungspsycholog*innen und (3) die Handlungsebenen, auf denen die bildungspsychologischen Aktivitäten und Maßnahmen angesiedelt sind.

Das Strukturmodell der Bildungspsychologie umfasst 15 Segmente und 105 Module (siehe Abbildung 1.1).

Jedes Segment hat eine eindeutige Position auf einer Dimension des Strukturmodells mit übergreifendem Bezug hinsichtlich der beiden anderen Dimensionen; z. B. Vorschulalter.

|16|Jedes Modul hat eine eindeutige Position auf allen drei Dimensionen des Strukturmodells; z. B. Intervention auf der Mikroebene im Sekundärbereich.

Jedes Individuum durchläuft eine chronologische Bildungskarriere, die weder mit der Schule beginnt noch mit ihr endet. Dementsprechend ist für die Bildungspsychologie explizit die gesamte Lebensspanne als Gegenstand deklariert (siehe Abbildung 1.1), analog zur Lifespan Perspective der Entwicklungspsychologie (siehe z. B. Baltes, Staudinger & Lindenberger, 1999; Peterson, 2013).

Bildungskarriere

Die Bildungskarriere eines Individuums umfasst sieben Phasen: Säuglings- und Kleinkindalter, Vorschulalter, Primärbereich, Sekundärbereich, Tertiärbereich, mittleres Erwachsenenalter und höheres Erwachsenenalter.

In dieser „Bildungskarriere“ sind einige Bildungssituationen für alle Individuen obligatorisch, manche jedoch nur für bestimmte Gruppen von Bedeutung. Generell ändern sich in den verschiedenen Phasen die jeweils primären Ziele und Bedingungen von Bildungsprozessen (Spiel & Reimann, 2005a, 2006; Tippelt & Gebrande, 2014). Bildungsprozesse in späteren Phasen finden unter anderen Bedingungen und mit anderen Zielsetzungen statt als solche im Schulalter. Im mittleren Erwachsenenalter (nach Krampen & Reichle, 2008: 30. bis 60. Lebensjahr; nach Freund & Nikitin, 2018: 30. bis 70. Lebensjahr) ist stärker zwischen berufs- versus privatorientierter Bildung zu differenzieren, wobei Bildungsprozessen im Privatbereich (z. B. Besuch von Volkshochschulkursen) oftmals vielfältigere Motive zugrunde liegen, wie etwa der Wunsch nach sozialen Kontakten (Kruse & Maier, 2002; Schmidt-Hertha & Thalhammer, 2016). Derartige Bildungsmotive treten im höheren Erwachsenenalter noch weiter in den Vordergrund (z. B. Besuch von Senior*innenakademien oder Senior*innenstudien).

Die institutionellen Phasen der Bildungskarriere vom Vorschulalter bis zum Tertiärbereich sind über Länder und Kulturen hinweg nicht einheitlich. Daher hat das Strukturmodell in diesen Karrierephasen keine universelle Gültigkeit (siehe Mc Guckin & Minton, 2014). Es gilt jedoch für die deutschsprachigen Länder, an die sich das Buch primär richtet.

Durch die Dimensionen der Bildungskarriere bekommt lebenslanges Lernen einen zentralen Stellenwert in der Bildungspsychologie. Die Europäische Kommission (z. B. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2000; Rat der Europäischen Union, 2018) und auch viele Forscher*innen vertreten die Ansicht, dass die Förderung von lebenslangem Lernen eine wichtige Aufgabe und Herausforderung für die Zukunft Europas darstellt (z. B. Jarvis, 2009; Longworth & Davies, 2013; Saar, Ure & Holford, 2013).

|17|Die Weitergabe des vorhandenen Fachwissens und die Förderung von evidenzbasierter Praxis erfordern Aktivitäten und Maßnahmen (Weinert & De Corte, 2001), die auf der zweiten Dimension des Strukturmodells der Bildungspsychologie, den Aufgabenbereichen, angesiedelt sind (siehe Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Strukturmodell der Bildungspsychologie

Aufgabenbereiche

Die Bildungspsychologie unterscheidet fünf Aufgabenbereiche: Forschung, Beratung, Prävention, Intervention sowie Monitoring und Evaluation.

Die Grenzen zwischen diesen Aufgabenbereichen sind zweifellos fließend; im Besonderen betrifft dies die Aufgabenbereiche Prävention und Intervention. Und selbstverständlich findet Forschung in allen Bereichen statt. Doch trotz dieser offenkundigen Überschneidungen und der Argumentation mancher Autor*innen für eine integrierte Betrachtung der Bereiche (z. B. Hager & Hasselhorn, 2008; Schneider, 1998) erscheint eine Segmentierung dahingehend sinnvoll, dass damit sowohl die Breite der gesamten Dimension als auch die Breite innerhalb eines Aufgabenbereichs sichtbar gemacht werden können. Insgesamt wird anhand dieser Dimension des Strukturmodells deutlich, dass die verschiedenen Aufgabenbereiche einerseits gleichberechtigte bildungspsychologische Tätigkeitsfelder darstellen und andererseits miteinander vernetzt sind.

Die beschriebenen bildungspsychologischen Aufgaben sind auf verschiedenen Handlungsebenen (3. Dimension des Strukturmodells) zu leisten, die an dem öko|18|logischen Modell von Bronfenbrenner (siehe u. a. Bronfenbrenner & Morris, 2006) orientiert sind (siehe Abbildung 1.1).

Handlungsebenen

Bildungspsychologische Aufgaben sind auf drei Handlungsebenen lokalisiert: der Mikroebene (Ebene der individuellen Bedingungen), der Mesoebene (Ebene der Institutionen) und der Makroebene (Ebene der bildungspolitisch relevanten Gesamtsysteme).

Diese Handlungsebenen systematisieren die oben angesprochenen Bedingungen und Maßnahmen, von denen gemäß psychologischer Theorien Effekte auf Bildungsprozesse angenommen werden. So sind auf der Mikroebene vor allem die individuellen Lernprozesse von Relevanz, z. B. die Instruktion durch Lehrpersonen. Auf der Mesoebene geht es um die Bedingungen und Wirkungen der Institutionen, die ein Individuum im Verlauf der Bildungskarriere durchläuft, z. B. ob eine Schule in Form von Leistungs- oder Altersgruppen organisiert ist. Auf der Makroebene geht es um politische Programme und strukturelle Bedingungen (wie z. B. Gesamtschule versus differenziertes Schulsystem).

Vergleichbar zu den genannten Aufgabenbereichen gilt auch für die Handlungsebenen, dass sie weder isoliert voneinander bestehen noch strikte Grenzen aufweisen. Forschungserkenntnisse sollten Begründungen für Maßnahmen und Veränderungen auf den verschiedenen Ebenen liefern. Neu entwickelte Maßnahmen haben durch Evaluation ihre Wirksamkeit nachzuweisen. So erfordert lebenslanges Lernen nicht nur Aktivitäten und Maßnahmen auf der individuellen Ebene (Mikroebene), sondern benötigt vielmehr die aktive Beteiligung von Institutionen und Organisationen, um die notwendigen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten für kontinuierliches Lernen zur Verfügung zu stellen (Mesoebene). Dies betrifft sowohl die Arbeitswelt (Mulholland, Ivergård & Kirk, 2005; Pimmer, Pachler & Attwell, 2010) als auch die Schule, deren Aufgabe es ist, Bildungsmotivation und Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen aufzubauen und zu fördern (Hargreaves, 2004; Schober, Finsterwald, Wagner, Lüftenegger, Aysner & Spiel, 2007; Spiel, Lüftenegger, Schober & Finsterwald, 2017). Zur Schaffung effektiver Bildungsbedingungen in den verschiedenen Lernsettings, welche Individuen durchlaufen (wie Familie, Schule, Arbeitsplatz sowie größere Gemeinschaften), benötigt lebenslanges Lernen auch politische Unterstützung (Makroebene; siehe Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, 2011; Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, 2004; Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, 2019).

Die Möglichkeit, Maßnahmen und Forderungen in einem Rahmenmodell zu verorten, stellt auch für fachexterne Personen, Institutionen und Instanzen einen Vorteil dar (siehe auch Spiel, Schober, Wagner, Reimann & Strohmeier, 2016). Es |19|können Zusammenhänge verschiedener Forschungsaktivitäten und Anwendungsmöglichkeiten aufgezeigt und damit inner- und interdisziplinäre Kommunikation unterstützt werden.

Die bildungspsychologischen Aktivitäten waren und sind mit Blick auf die einzelnen Segmente des Strukturmodells sehr unterschiedlich verteilt. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts lag der Hauptfokus bildungspsychologischer Aktivitäten im deutschen Sprachraum auf dem Primär- und Sekundärbereich (Röhr-Sendlmeier & Salgert, 1995) und der Mikroebene. In der Zwischenzeit hat eine deutliche Ausweitung sowohl auf frühere als auch auf spätere Phasen der Bildungskarriere stattgefunden. Eine noch stärker ausgeglichene Verteilung würde nicht nur Diskursthemen wie „Wissensgesellschaft“, „Digitalisierung“ oder „Alterspyramide“, sondern auch den Anforderungen von lebenslangem Lernen besser entsprechen. Das Strukturmodell trägt als Grundlage dazu bei, sichtbar zu machen, in welchen Segmenten hohe bildungspsychologische Aktivität vorliegt bzw. welche Segmente eher vernachlässigt werden (siehe nachfolgende Kapitel in diesem Buch).

Zusätzlich zur Verortung von konkretem bildungspsychologischem Handeln im Strukturmodell sollte auch die Benennung der Population erfolgen, auf welche sich dieses Handeln bezieht. Wir argumentieren dafür, dass die Zielpopulationen nach ihren Bildungsvoraussetzungen differenziert werden sollen. Wie sich die jeweilige Ausprägung der Bildungsvoraussetzungen erklärt, ist im Rahmen des konkreten bildungspsychologischen Handelns anzugeben und unter Umständen selbst Gegenstand einer Forschungsaktivität. Das bildungspsychologische Handeln wiederum intendiert, die Bildungsvoraussetzungen der Zielpopulation zu verändern, z. B. bei Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten (= Bildungsvoraussetzung) durch Lernförderung auf der Mikroebene oder durch Schulentwicklung hinsichtlich digitaler Kompetenzen von Lehrpersonen auf der Mesoebene, sofern diese Kompetenzen nicht ausreichend vorhanden sind (= Bildungsvoraussetzung). Damit wird deutlich, dass das Konzept der Bildungsvoraussetzungen ein dynamisches und kein statisches ist. Es gewährleistet eine hohe Flexibilität, da in Abhängigkeit von den aktuell betrachteten Bildungsvoraussetzungen und dem bildungspsychologischen Handeln dieselbe Person auch unterschiedlichen Zielpopulationen angehören kann.

3 Zur Relation von Grundlagen- und Anwendungsorientierung

Innerhalb vieler Teildisziplinen der Psychologie – u. a. auch innerhalb der Pädagogischen Psychologie (z. B. Heller, 1986; Pintrich, 2000; Richter, Souvignier, Hertel, Heyder & Kunina-Habenicht, 2019) – wurde die Frage, ob man ausschließlich |20|ein Anwendungs- oder nicht auch ein Grundlagenfach oder sogar beides ist, immer wieder diskutiert (siehe dazu auch Kanning et al., 2007). Die Bildungspsychologie betrachtet diesen Dualismus als überwunden (siehe bereits Hofer, 1987). Brandstädter et al. (1974) wiesen schon vor vielen Jahren darauf hin, dass die Effizienz pädagogisch-psychologischen Handelns von der Qualität des durch eigenes Forschen entwickelten Wissens abhängt; Forschungs- und Praxistätigkeit müssen daher eine funktionale Einheit bilden (siehe auch MacKay, 2002; Richter et al., 2019; Skowronek, 1999), deren Vernachlässigung für den Bildungssektor problematisch ist. Denn bei der Separierung guter Konzepte (sprich Forschungsleistungen) von konkreten Realitäten (sprich Anwendungsmodalitäten) besteht die Gefahr, dass zukunftsweisende Ideen zu reinen Verbalisierungen verkommen und keinerlei Umsetzung erfahren (Prawat & Worthington, 1998). Diese Verzahnung von Grundlagen und Anwendung bekommt auch jenseits des Bildungsbereichs zunehmend mehr Bedeutung für Universitäten (= Mesoebene), wo der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse als dritte Mission (Third Mission) von Universitäten bezeichnet wird (Brandt, Schober, Somoza & Spiel, 2018). Ohne Zweifel hat sie jedoch für den Bildungsbereich besonders hohe Relevanz (siehe auch Spiel, 2020), was impliziert, dass wissenschaftlich tätige Bildungspsycholog*innen auch gefordert sind, den universitären „Elfenbeinturm“ zu verlassen (Schober, Brandt, Kollmayer & Spiel, 2016; Spiel, 2020).

Abbildung 1.2: Quadrantenmodell wissenschaftlichen Arbeitens (nach Stokes, 1997, S. 73) mit den von Stokes genannten Repräsentanten der verschiedenen Quadranten

|21|Die Bildungspsychologie versteht sich daher weder als (eher) Grundlagen- noch als (eher) Anwendungsfach, sondern als ein Fach, das beide Komponenten gleichermaßen umfasst. Auf theoretischer Ebene lässt sich diese Haltung innerhalb des Quadrantenmodells wissenschaftlichen Arbeitens von Stokes (1997) verankern. Dieses Modell lehnt die eindimensionale Sichtweise (Grundlagen- vs. Anwendungsfach) als zu simpel ab und postuliert mit dem Erkenntnis- sowie dem Anwendungsziel zwei Dimensionen, in deren Raster sich Disziplinen einordnen können (siehe Abbildung 1.2).

Bildungspsychologie = use-inspired basic research

Die Bildungspsychologie ist im Quadratenmodell wissenschaftlichen Arbeitens von Stokes (1997) unter use-inspired basic research einzuordnen, da sie sowohl Erkenntnis- als auch Anwendungsziele verfolgt.

Diese Ausrichtung soll die reine Grundlagenforschung ohne explizites Anwendungsziel, die für wissenschaftlichen Fortschritt unentbehrlich ist, keinesfalls ausschließen. Die Verzahnung von Erkenntnis- und Anwendungsziel wird jedoch als Kernmerkmal bildungspsychologischer Identität aufgefasst.

4 Bildungspsychologie: Stellenwert und Perspektiven

Die Bildungspsychologie fokussiert mit der Bildungskarriere über die Lebensspanne als zentrale Dimension explizit lebenslanges Lernen. Gemeinsam mit den beiden anderen Dimensionen, den Aufgabenbereichen bildungspsychologischen Handelns und den Handlungsebenen, spannt die Bildungskarriere das Strukturmodell der Bildungspsychologie auf. Mit diesem Aufbau liefert die Bildungspsychologie eine tragfähige, verständliche und sowohl für die interne als auch für die externe Kommunikation praktisch verwendbare Rahmenstruktur zur Verortung bildungspsychologischen Handelns, welche mittlerweile auch für andere Disziplinen im Bildungsbereich, z. B. die Erziehungswissenschaften, diskutiert wird (Spiel, Schober, Wagner & Reimann, 2014). Ihr Gegenstand sind Bildungsprozesse, die zum Aufbau und zur Förderung von Bildungskomponenten (= wünschenswerte Persönlichkeitsausprägungen aus gesellschaftlich-normativer Perspektive) beitragen, sowie Bedingungen, Aktivitäten und Maßnahmen, die diese Prozesse beeinflussen können. Die Population, auf welche das bildungspsychologische Handeln gerichtet ist, wird anhand der Bildungsvoraussetzungen definiert, welche wieder Gegenstand bildungspsychologischer Aktivitäten sind. Mit ihrer Themenstruktur inkludiert die Bildungspsychologie Bereiche wie z. B. die Lehr-Lernforschung oder die Instruktionspsychologie. Durch den expli|22|ziten Einbezug von Meso- und Makroebene lenkt sie den Fokus auf die Relevanz von Bildungsinstitutionen als „Rahmen“ für individuelle Lernbedingungen und -aktivitäten (Mikroebene), jedoch auch weit darüber hinaus. Und sie bezieht die politische und kulturelle Ebene (Makroebene) mit ein, deren Vorgaben und Entscheidungen dann wieder auf der Mesoebene gestaltet werden. Wie wichtig es ist, diese Ebenen und ihre Wechselwirkung in den Blick zu nehmen und sie bewusst zu gestalten, zeigen u. a. die Nationalen Bildungsberichte (z. B. Eder, Breit, Schreiner, Krainer, Seel & Spiel, 2019).

Die Konzeption der Bildungspsychologie hat bei ihrer ersten Vorstellung in der deutschsprachigen Psychologie-Community zu einer intensiven Diskussion mit durchaus heterogenen Kommentaren und Reaktionen geführt, die wir bewusst forciert und aktiv geführt haben (siehe Spiel & Reimann, 2005b). Sehr positive Kommentare kamen von Anfang an aus der Praxis (Lang, 2005), wo der Terminus „Bildungspsychologie“ mittlerweile als selbstverständlich akzeptiert ist, sowie von Vertreter*innen benachbarter Disziplinen (Bos, 2005). In der Zwischenzeit ist die Bildungspsychologie offensichtlich bereits „akzeptiert“. Dies belegen u. a. neue Professuren für Bildungspsychologie im deutschsprachigen Raum. Zusätzlich hat die Bildungspsychologie als „Bildung-Psychology“ auch ihre Aufnahme in anglo-amerikanische Journals gefunden (siehe z. B. Mc Guckin & Minton, 2014). Einen Meilenstein für die Visibilität der Bildungspsychologie in der englischsprachigen Scientific Community stellt sicher die Herausgabe des Special Issues „Bildung-Psychology: Theory and practice of use inspired basic research“ im European Journal of Developmental Psychology dar, das auch als Buch veröffentlich wurde (Strohmeier, Wagner & Schober, 2018).

Damit hat die Bildungspsychologie, die auf der Basis ihres immanenten Strukturmodells ermöglicht, Inhalte und Leistungen bildungspsychologischen Handelns zu verorten, nicht nur die Diskussion in Wissenschaft und Praxis angeregt, sondern auch entsprechende Forschung. Wir gehen davon aus, dass das Strukturmodell es explizit gestattet, Schnittstellen mit anderen Disziplinen, wie z. B. mit der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, sowie Felder interdisziplinärer und multidisziplinärer Aktivitäten systematisch zu identifizieren und darzustellen.

Das Strukturmodell sollte jedoch nicht den Eindruck vermitteln, alle bildungspsychologischen Segmente oder Module seien immer in vergleichbarem Ausmaß frequentiert. Bestimmte Module können Zentren der Aktivität, andere dagegen eher unterrepräsentiert sein. Das Strukturmodell kann jedoch dazu beitragen, deutlich zu machen, wie sich die Aktivitäten in der Bildungspsychologie verteilen. Dies wird auch anhand der nachfolgenden Kapitel in diesem Buch veranschaulicht. Die aktuelle Verteilung resultiert aus den gegenwärtigen gesellschafts- und bildungspolitischen Diskussionen. So haben TIMSS und PISA auch der Öffentlichkeit klargemacht, dass eine Verbesserung des Bildungssystems entspre|23|chende Maßnahmen auf der Makroebene erfordert. Konsequenterweise sollten Bildungspsycholog*innen ihren Expert*innenstatus vermehrt auf die Meso- und Makroebene ausrichten; und dies mit Blick auf die gesamte Bildungskarriere und alle Aufgabenbereiche.

Verständlicherweise deckt niemand im Rahmen der eigenen Tätigkeit das komplette Themenspektrum ab – Bildungspsycholog*innen spezialisieren sich auf einige wenige (meist benachbarte) Segmente oder Module. Für konkretes bildungspsychologisches Handeln sollte jedoch unter Rückgriff auf das Strukturmodell immer eine Verortung erfolgen. Dadurch kann (auch in der fachexternen Kommunikation) verdeutlicht werden, dass die jeweilige individuell ausgewählte bildungspsychologische Tätigkeit lediglich das (momentan) favorisierte Segment oder Modul des „Themengebäudes“, nicht aber das Fach an sich repräsentiert. Dies gilt analog für die Darstellung der Bildungspsychologie bzw. einschlägiger Forschungsergebnisse im Rahmen von Curricula und die Themenwahl von Bachelor- und Masterarbeiten sowie Dissertationen.

Generell ist im Kontext des Lissabon-Prozesses der Europäischen Union (der Europäischen Strategie für ökonomische, soziale und ökologische Erneuerung) ein wachsender politischer Druck entstanden, Lehr-Lernprozesse zu fördern. Als Konsequenz wurden neue Marktsegmente sowie neue Ressourcen geschaffen, aus denen wiederum neue Forschungsfelder im Bildungsbereich entstanden sind, entstehen oder gefordert werden, z. B. im Bereich Erwachsenenbildung oder Schulleistungsmessung (z. B. Bildungsstandards; siehe auch Bos, 2005; Eder et al., 2019). Das Strukturmodell liefert dabei die Möglichkeit, derartige neue Themen zu verorten, was das Modell auch für Bildungsinteressierte außerhalb der Scientific Community attraktiv macht (siehe Lang, 2005).

Reflexionsfragen

Reflektieren Sie die vom International Panel on Social Progress im Kapitel über Education formulierten vier Ziele von Bildung mit Blick auf die Situation in Ihrem eigenen Land. Inwieweit sind die Ziele erreicht? Was behindert die Erreichung, was könnte sie fördern?

Diskutieren Sie die Möglichkeiten und Chancen, die die Verortung von bildungspsychologischen Maßnahmen und Aktivitäten in einem Strukturmodell bietet.

Überlegen Sie, in welche Module des Strukturmodells Ihnen bekannte bildungspsychologische Aktivitäten oder Maßnahmen zu verorten sind (mindestens fünf) und begründen Sie die Verortung.

Überlegen Sie, welches Segment (welches Modul) des Strukturmodells der Bildungspsychologie und welche Zielpopulation Sie am meisten interes|24|siert. Überlegen Sie sich eine bildungspsychologische Maßnahme für diese Zielpopulation, die in dem ausgewählten Segment (Modul) verortet ist.

Begründen und diskutieren Sie, warum sich die Bildungspsychologie sowohl als Grundlagen- als auch als Anwendungsfach versteht.

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|29|Teil I: Bildungskarriere

|31|Kapitel 2Bildungspsychologie des Säuglings- und Kleinkindalters

Stepanka Kadera & Sabine Walper

|32|1 Einführung

Kaum eine andere Entwicklungsphase ist von markanteren Entwicklungen gekennzeichnet als die des Säuglings- und Kleinkindalters, und keine andere Phase fordert Eltern mehr in der Betreuung ihres Nachwuchses, um seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen und jene Stimulation zu gewährleisten, die für den großen Kompetenzzuwachs in dieser Entwicklungsphase unabdingbar ist (Bornstein, 2019; Sanders & Morawska, 2018). Eltern und – sofern vorhanden – Geschwister stellen den ersten und primären Entwicklungs- und Bildungskontext von Kindern dar, der nicht nur für das rein physische Überleben des Kindes, sondern auch den Verlauf zahlreicher Entwicklungsveränderungen in diesen ersten Lebensjahren entscheidend ist. Schon die Bezeichnungen einzelner Phasen innerhalb dieser ersten drei Lebensjahre verweisen darauf, dass hier in enger zeitlicher Abfolge „Meilensteine“ der Entwicklung zu meistern sind (siehe Kasten). In diesem Kapitel werden die Entwicklungsbesonderheiten im Säuglings- und Kleinkindalter als Basis von Bildungsprozessen und -verläufen erläutert. Danach wird auf die Bedeutung möglicher Risiko- und Schutzfaktoren, insbesondere sozioökonomischer Ressourcen, eingegangen. Anschließend werden praktische Implikationen für die Elternbildung und frühe Fremdbetreuung diskutiert sowie zukünftige Forschungsbereiche aufgezeigt.

Entwicklungsphasen im Säuglings- und Kleinkindalter

Das Säuglingsalter im weiteren Sinne bezieht sich auf das erste Lebensjahr, also die Zeit, in der Kinder in der Regel gestillt werden und noch nicht laufen können.

Innerhalb dieser Altersspanne umfassen die ersten drei Monate die erweiterte Neugeborenenphase, in der zahlreiche Besonderheiten der Motorik und neurologischer Funktionen dem spätfötalen Muster angeborener Reflexe folgen (z. B. Saugen, Suchen beim Berühren der Wange). Es lassen sich erste interindividuelle Unterschiede z. B. in der Erregungsregulation oder der Stabilität von Rhythmen der Körperfunktionen erkennen. Die Zeit zwischen dem 4. und 12. Lebensmonat macht das Säuglingsalter im engeren Sinne aus – eine Zeit, in der sich vor allem kognitive, aber auch soziale und emotionale Kompetenzen deutlich entwickeln (Elsner & Pauen, 2018).

Das Kleinkindalter bezieht sich auf die Zeit des zweiten und dritten Lebensjahres zwischen Säuglingsalter und Kindergartenalter.

|33|Im englischen Sprachraum bezeichnet „infancy“ die Phase der ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahre, in denen Kinder in aller Regel noch nicht bzw. erst rudimentär der Sprache mächtig sind, während die Bezeichnung der „toddler“-Phase (etwa im zweiten und dritten Lebensjahr) darauf verweist, dass das Kind zwar schon auf eigenen Füßen steht, sich zunächst aber nur unsicher eigenständig fortbewegen kann (Bornstein, 2019; Levine & Munsch, 2020).

In anderen Kulturen wird durch die Bezeichnung einzelner Entwicklungsphasen zum Teil auf andere Errungenschaften wie das erste soziale Lächeln der Kinder oder deren Fähigkeit eigenständig zu sitzen Bezug genommen (Bornstein, 2019). In allen Kulturen gilt jedoch diese erste Lebensphase des Kindes als eine besondere Phase, die durch ein markantes Entwicklungstempo gekennzeichnet ist und in der es einer intensiven Zuwendung bedarf.

Entwicklungs- und Bildungsprozesse im Säuglingsalter sind erst in jüngster Vergangenheit in den Fokus der Bildungsforschung gerückt, die Kinder typischerweise erst ab dem Kindergartenalter mit einbezogen hat (Becker-Stoll, Niesel & Wertfein, 2014; Köller et al., 2019). Zunehmend wurde deutlich, dass (informelle) Bildungsprozesse bereits mit der Geburt beginnen und die Wurzeln aller späteren Bildungsprozesse in der frühen Kindheit liegen. In dieser frühen Entwicklungsphase werden grundlegende Voraussetzungen für Lern- und Bildungsprozesse geschaffen, die als ein wichtiges Fundament für lebenslanges Lernen dienen. Damit ist auch das Wirkungspotenzial von (qualitativ hochwertigen) frühen Bildungsinvestitionen hoch, und so korrespondiert auch die Forcierung frühkindlicher Bildung mit deren empirisch belegten positiven Effekten auf spätere Schulkarrieren (Spieß, Schneider, Schwerdt & Lüdemann, 2016; Wehner, 2019).

Im Gegensatz dazu kann in der Entwicklungspsychologie die Säuglingsforschung auf eine lange Tradition zurückblicken (siehe Elsner & Pauen, 2018; Levine & Munsch, 2020). Zu den markantesten Erkenntnissen der letzten 40 Jahre gehört die Einsicht, wie beachtlich die sozialen, kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten des Kindes schon weit vor Beginn der Sprachbeherrschung sind – Erkenntnisse, die wesentlich das Bild vom „kompetenten Säugling“ geprägt haben (Kavsek, 1996; Ziegenhain & Gloger-Tippelt, 2013). Hierbei hat die Forschung sehr davon profitiert, dass sich auch andere Entwicklungswissenschaften mit dem Säuglings- und Kleinkindalter befassen (z. B. biologische Evolutions- und Verhaltensforschung, Entwicklungsphysiologie und -neurologie, Kulturanthropologie sowie Ethologie, siehe Berk, 2011; Elsner & Pauen, 2018). Gerade die frühen Jahre des Säuglings- und Kleinkindalters sind in jüngerer Vergangenheit vermehrt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, denn hier verdichtet sich die Frage nach dem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt, nach der Bedeutung früher Erfahrungen für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes und – damit verbunden – auch nach den Chancen früher Prävention und Intervention zur nachhaltigen Förderung der kindlichen Entwicklung.

|34|2 Stand der Wissenschaft

2.1 Entwicklungen im Säuglingsalter aus der Bildungsperspektive

Kinder kommen keineswegs als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Sie sind ausgestattet mit hilfreichen Reflexen (Saugen, Schlucken, Greifen), vorgeburtlich geübten Sinnesleistungen (Hören, Schmecken, Fühlen) und psychophysiologischen Teilsystemen, die sie auf ihre soziale Umwelt hin orientieren, Selbstregulation ermöglichen und so ihr Überleben sichern helfen. Insgesamt erweist sich das Verhalten von Säuglingen mit ihrer Fähigkeit zur Habituation, zur Orientierung und zur Selbstregulation als organisiert, aber es bestehen auch beträchtliche individuelle Unterschiede hinsichtlich Reife, Stabilität und Elastizität dieser Systeme (Brazelton, 2011). Insbesondere (zu) früh geborene Kinder sind im Nachteil.

Risiken für früh geborene Kinder

Früh geborene Kinder (Geburt vor der 37. Schwangerschaftswoche oder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 2.500 Gramm) verfügen häufiger über geringere Möglichkeiten der Erregungskontrolle, d. h. sie sind schwerer zu besänftigen, ihre Informationsverarbeitung und -integration ist aufgrund einer höheren Reizschwelle erschwert, und auch hinsichtlich der Entwicklung komplexerer kognitiver Leistungen sowie der motorischen Kraft und Koordination sind sie im Nachteil (z. B. Levine & Munsch, 2020). Hinzu kommen oftmals neurologische und respiratorische Beeinträchtigungen mit Notwendigkeit der mechanischen Beatmung (Poets, Wallwiener & Vetter, 2012). Das „schwierige“ Verhalten eines Neugeborenen kann es den Eltern erheblich erschweren, beidseitig befriedigende Interaktionen mit ihrem Kind aufzubauen, und mag so die Beziehung auch längerfristig negativ überschatten.

Säuglinge haben schon intrauterin Erfahrungen gesammelt, die ihr Erleben und Verhalten nach der Geburt beeinflussen. Selbst die hirnphysiologischen Entwicklungen, die sich schon während der Schwangerschaft vollziehen, sind nicht nur Resultat von Reifungsprozessen, sondern spielen mit Erfahrungen zusammen, die in der späten vorgeburtlichen Phase zunehmend auch externen Ursprungs sind (Johnson & de Haan, 2015). Beispiele für vorgeburtliche Lernprozesse anhand externer Reize sind die Ausrichtung auf die mütterliche Stimme (vor allem der allgemeine Sprechrhythmus, die Intonation und das Betonungsmuster), die Muttersprache und sprachrelevantes Lernen (Wahrnehmung der Lautkontraste, die insbesondere für phonologisch-prosodisches Sprachwissen und Bedeutungsunterscheidung relevant sind) (siehe Siegler, Saffran, Gershoff & Eisenberg, 2021; Weinert, 2020; Weinert & Grimm, 2018).

|35|Im Verlauf der erweiterten Neugeborenenzeit stabilisiert sich das zunächst noch unreife Verhaltensrepertoire des Kindes und liefert damit die Grundlage für die großen Lernleistungen der folgenden Monate und Jahre, für deren Bewältigung es zentral auf die Unterstützung durch eine Betreuungsperson – in aller Regel die Eltern – angewiesen ist. Im Säuglingsalter ab rund drei Monaten bildet das Baby grundlegende Kompetenzen in allen bedeutenden Lebensfunktionen inklusive Fortbewegung, Nahrungsaufnahme und Kommunikation aus. Vom 3. oder 4. Lebensmonat bis Ende des ersten Lebensjahres entwickeln Säuglinge zahlreiche neue motorische Funktionen wie blickkontrolliertes Greifen, Sitzen, Krabbeln, Aufstellen etc. (siehe Elsner & Pauen, 2018). Ihre Sehfähigkeit verbessert sich, sodass auch das aktive visuelle Erkunden flüssiger wird. Die Wachphasen werden deutlich länger, und die Interaktion mit den Eltern gewinnt zunehmend den Charakter eines gesprächsähnlichen Austauschs mit Blicken, Mimik, Lauten und Gesten (Adamson, 2018). In diesem Lebensabschnitt findet auch ein starkes Gehirnwachstum statt (Diamond, 2000), das kognitive Veränderungen wie längere Aufmerksamkeitsphasen und zielgerichtetes Schauen befördert (Elsner & Pauen, 2018). Der neurologische Reifungsschub ermöglicht es Kindern im Alter von acht bis zwölf Monaten immer besser, dominante Reaktionstendenzen aufzuschieben bzw. zu unterdrücken und so Wahlmöglichkeiten hinsichtlich ihres Verhaltens zu gewinnen (Diamond, 1991). Auch die Gedächtnisleistungen steigern sich, wobei insbesondere im dritten Quartal des ersten Lebensjahres – parallel zu den neurologischen Veränderungen – ein merklicher Zuwachs beim Langzeitgedächtnis zu verzeichnen ist (Rovee-Collier, 1997).

Tabelle 2.1: Sozio-emotionale Entwicklungsaufgaben im Säuglingsalter (nach Waters & Sroufe, 1983; siehe auch Baker, 2018)

Alter

Aufgabenbereich

Aufgaben der Bezugsperson

0 – 3 Monate

Physiologische Regulation (Reflexbewegungen, nicht nahrhaftes Saugen)

Behutsame, konsistente Pflegeroutinen, die u. a. die Regulierung von Schlaf- und Wachphasen unterstützen

3 – 6 Monate

Handhabung von Spannungen

Sensitive, kooperative Interaktion

6 – 12 Monate

Aufbau einer effektiven Bindung zu Bezugspersonen

Erreichbarkeit, Bereitschaft zu antworten/Feinfühlige Responsivität

12 – 18 Monate

Erfolgreiche Exploration

Sicherer Bezugspunkt

Insgesamt weiten sich die kognitiven Fähigkeiten der Kinder im Säuglingsalter bedeutend aus (Goswami, 2001; Siegler et al., 2021). Noch vor Sprachbeginn sind Kinder fähig, Kontingenzen zu lernen, Kausalrelationen zu erfassen, Kategorien zu formen und Konzepte zu bilden. Jedoch können neue Wörter auch ohne die zugrun|36|deliegenden Konzepte erlernt werden, wie aktuelle empirische Befunde belegen (Weinert & Grimm, 2018). Beim kognitiven „Begreifen“ der Umwelt wird der motorischen Entwicklung und Wahrnehmung, insbesondere der Entwicklung des Greifens, eine wesentliche Rolle zugeschrieben (siehe Zimmer, 2019). Auch wenn Kinder schon in dieser sehr frühen Entwicklungsphase durchaus aktive Gestalter ihrer eigenen Entwicklung sind, kommt doch der sensitiven Kooperation seitens der Eltern, d. h. ihrem Aufgreifen und Beantworten kindlicher Signale und ihrer Unterstützung der kindlichen Exploration, eine zentrale Bedeutung zu. In Tabelle 2.1 werden zentrale Aufgaben der Bezugsperson aufgelistet und entsprechende Aufgabenbereiche je nach Alter, in dem die Aufgaben für gewöhnlich anstehen, erläutert.

2.2 Die frühe Eltern-Kind-Interaktion und die Entwicklung der Bindung als Voraussetzung für Bildung

Eltern sind in der frühen Entwicklungsphase ihrer Kinder auf vielfältige Weise gefordert. Bornstein (2019) unterscheidet vier übergeordnete Typen von Betreuungsleistungen, die in dieser Entwicklungsphase im Vordergrund stehen und für die Entwicklung der Kinder maßgeblich sind. Hierzu gehört neben der Sorge um das leibliche Wohl der Kinder auch schon die frühe Anleitung von Lernerfahrungen, zum einen im sozial-interaktiven Bereich, aber auch im Umgang mit der dinglichen Umwelt. Darüber hinaus nehmen Eltern durch die Gestaltung der kindlichen Umgebung Einfluss auf deren Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. So erwies sich etwa eine stimulierend und unterstützend gestaltete Umgebung als positiver Faktor für die motorische Entwicklung der Kinder zwischen dem 2. und 11. Lebensmonat (Abbott, Bartlett, Fanning & Kramer, 2000).

Vier übergeordnete Typen von elterlichen Betreuungsleistungen gegenüber ihren Säuglingen (nach Bornstein, 2019, S. 13 f.)

Körperlich-gesundheitliche Fürsorge (nurturant caregiving): Schutz und Überwachung, Sorge für Gesundheit und körperliches Wohlbefinden

Soziale Anregung (social caregiving): visuelle, verbale, affektive und körperliche Verhaltensweisen von Eltern, die diese nutzen, um ihren Säugling in interaktiven Austausch mit ihnen einzubeziehen (küssen, streicheln, lächeln, vokalisieren und spielerischer Face-to-face-Kontakt)

Anleitung (didactic caregiving): vielfältige Strategien, die Eltern einsetzen, um ihren Säugling für die Umwelt außerhalb der Dyade zu interessieren und seine Interaktion mit der dinglichen Umwelt anzuregen

Gestaltung der materiellen Umwelt (material caregiving): die Bereitstellung und das Arrangement der materiellen physischen Umweltgegebenheiten für den Säugling (z. B. Ausstattung mit Spielzeug und anderen stimulierenden Gegenständen bzw. Gegebenheiten, Begrenzung des Bewegungsraums)

|37|Babys lernen vor allem „interaktiv“. Eine wesentliche Rolle spielt bei diesen Lernprozessen die wechselseitige Nachahmung, die schon bei Neugeborenen beobachtbar ist (siehe Bornstein, 2019; Gloger-Tippelt, 2018). Zunächst ist es aber vor allem die Mutter, die das Verhalten des Kindes nachahmt und die Mimik spiegelt, während Säuglinge erst zunehmend in die Lage versetzt werden, auch umgekehrt das Verhalten der Mutter nachzuahmen. Hierbei ist die Synchronizität und Kontingenz im Interaktionsverhalten mit der Betreuungsperson von besonderer Bedeutung. Reagiert die Mutter prompt und responsiv auf das Verhalten des Kindes, so investiert es beträchtliche Aufmerksamkeit und zeigt positives Interesse. Ist das Verhalten der Mutter jedoch nicht auf das des Kindes bezogen, so löst dies deutliches Unwohlsein bei den Kindern aus (Lengning & Lüpschen, 2019). In der Passung zwischen kindlichem Verhalten und dem ihrer Mütter gibt es bedeutsame interindividuelle Unterschiede. Insbesondere bei Müttern, für die aufgrund kontextueller und personeller Faktoren ein hohes Risiko für inadäquates Elternverhalten diagnostiziert wurde, ist die Synchronizität beeinträchtigt (Leclère et al., 2014). Diese Fähigkeiten lassen sich jedoch systematisch im Rahmen von Feinfühligkeitstrainings verbessern. Diese Trainings zielen darauf ab, die kommunikativen Signale der Kleinkinder wahrzunehmen, zu interpretieren und prompt und adäquat zu reagieren (Ziegenhain & Fegert, 2018).

Kommunikation und Spracherwerb beginnen lange vor den ersten Wortäußerungen der Kinder und sind deutlich von der Eltern-Kind-Interaktion und den Erfahrungen im familiären Umfeld in den ersten Lebensjahren abhängig (Roskos & Neumann, 1993). Hierbei greifen Eltern intuitiv auf ein spezielles Register der kindgerichteten Sprechweise zurück (Ammensprache oder „Motherese“), die in ihrer stimmlich erhöhten Prosodik für Säuglinge besonders attraktiv ist, und passen sich dem sprachlichen Stand und sprachlichen Fortschritten des Kindes an (Weinert & Grimm, 2018). Hierbei kommt der Prosodik sowohl eine aufmerksamkeitslenkende als auch verhaltensregulierende (beruhigende oder anregende) Funktion zu. Ab dem 6. Lebensmonat werden die Kinder zunehmend aktive Kommunikationspartner. In der Eltern-Kind-Interaktion schaffen Eltern die Grundstruktur und den Rahmen für den wechselseitigen Austausch und ermöglichen so den Kindern, ihren Beitrag zum Zwiegespräch im Rahmen des „Gerüsts“ zu leisten, das die Eltern bereitstellen („Scaffolding“). Diese Art der Strukturierung, die Raum für Eigenleistungen des Kindes lässt, unterstützt Lernfortschritte der Kinder in vielfältigen Entwicklungsbereichen (siehe auch Staples & Bates, 2018) und wirkt sich auch positiv auf die Entwicklung von prosozialem Verhalten aus (Köster, Cavalcante, Cruz de Carvalho, Resende & Kärtner, 2016).