Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? - Lion Feuchtwanger - E-Book

Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? E-Book

Lion Feuchtwanger

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Beschreibung

Lion Feuchtwanger über das Judentum – über Zugehörigkeit und Freiheit, Barbarei und Demokratie 

Der große Erzähler bringt uns seine fundierten Überlegungen anschaulich und oft anrührend nahe. Das Lebensthema des 1933 aus der Heimat vertriebenen Lion Feuchtwanger, der nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzte, wird angesichts der bedrohlichen neuen Formen des Antisemitismus und vor dem Hintergrund eines neuen Angriffskrieges in Europa in einer Weise aktuell, die wir lange überwunden glaubten. Ein bis heute gültiger Beitrag von einem der profundesten Kenner der Geschichte des Judentums – mit bislang unveröffentlichten Reden und Essays. 

»Ich bin ein deutscher Schriftsteller,
mein Herz schlägt jüdisch,
mein Denken gehört der Welt.«
Lion Feuchtwanger

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Über das Buch

Hochaktuelle Feststellungen eines Weltbürgers: Feuchtwangers Verhältnis zum Judentum war ambivalent, gleichermaßen geprägt von lebenslangem Bemühen um Abgrenzung wie von einer anhaltenden Faszination. Die intensive Auseinandersetzung mit den Traditionen seiner Vorfahren begann er als rebellischer Jugendlicher, sie veränderte sich angesichts der Brutalität der Nazis und begleitete ihn bis ins amerikanische Exil. Was bedeutete es für ihn persönlich, für ihn als Schriftsteller und für sein Werk? Und noch wichtiger: für eine Gesellschaft wie die, in der wir alle leben?

Über Lion Feuchtwanger

LION FEUCHTWANGER, geboren 1884, erreichte mit seinen historischen Romanen und hellsichtigen Zeitromanen Millionenauflagen. Seine Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Sein Lebensweg führte ihn von München und Berlin über ausgedehnte Reisen bis nach Afrika. Als er 1933 auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nationalsozialisten stand und seine Bücher verbrannt wurden, lebte er bereits im französischen Exil in Sanary-sur-Mer. 1940 floh er aus dem besetzten Frankreich und ließ sich mit seiner Frau Marta im kalifornischen Pacific Palisades nieder, wo er 1958 starb, ohne Deutschland noch einmal betreten zu haben. 

NELE HOLDACK gab unter anderem Werke von Brigitte Reimann und Tillie Olsen, von Hans Fallada, Victor Klemperer und Mark Twain heraus. 

MARJE SCHUETZE-COBURN, Bibliothekarin der Feuchtwanger Memorial Library an der University of Southern California. 

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Lion Feuchtwanger

Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller?

Betrachtungen eines Kosmopoliten

Mit bislang unveröffentlichten Texten

Herausgegeben von Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn, Michaela Ullmann

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Motto

Prolog — Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? (1933)

1 — Nationalismus und Judentum

Was heißt Judentum? — (1933)

Nationalismus und Judentum — (1933)

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

2 — Schicksalsjahr 1933

Was haben die deutschen Intellektuellen vom Dritten Reich zu erwarten? — (1931)

Pogrome — (1933)

Deutsche Juden — (1933)

3 — Als Exilant in Frankreich

Offener Brief an den Bewohner meines Hauses Mahlerstraße 8 in Berlin — (1935)

Für eine Weltaktion — (1936)

»Deutschland - ein Wintermärchen« — (1936)

1

2

3

Das Dritte Reich und seine Regierung — (um 1936)

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Für »Das Wort« - Against Hitler — (undatiert)

Für den Freiheitssender — (1938)

4 — Als Exilant in den USA

Stellung zum Judentum — (1940)

Offener Brief an sieben Berliner Schauspieler — (1941)

Glück und Ende der deutschen Juden — (1942)

1

2

3

4

5

6

7

8

Caliban - Hitler und die Juden — (1942)

Die Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil — (1943)

1

2

3

4

5

5 — Wege in die Zukunft

Faschismus ist der wahre Feind — (1943)

Wir sterben nicht — (1943)

Der Prozess von Nürnberg, ein Ende und ein Anfang — (1945)

Von der völkerverbindenden Macht der Literatur — (1945)

1

2

3

Der Schriftsteller und der Begriff der Einen Welt — (1949)

Epilog

ANHANG

Die Erwachende — (1935)

1

2

Editorische Notiz

Impressum

Im Arbeitszimmer der Villa Valmer, Sanary-sur-Mer, 1930er Jahre.

Seit Mitte der zwanziger Jahre war Lion Feuchtwanger in der englischsprachigen Welt ein Bestsellerautor, noch bevor er es in seinem Heimatland wurde. In einem in London entstandenen, am 25. Dezember 1927 in den »Frankfurter Nachrichten« veröffentlichten Typoskript schreibt er unter der Überschrift »Deutschland und seine Schriftsteller, gesehen vom Westen« über den deutschen Schriftsteller, er sitze »im luftleeren Raum«, habe »Hersteller eines guten Buches zu sein und damit Schluss«. Die Engländer hingegen hielten es für selbstverständlich, dass Schriftsteller »zu allen Fragen der Politik, der Wirtschaft, der Kunst, zu den tausend Dingen des täglichen Lebens etwas zu sagen haben«, was eine »dauernde Beziehung zum wirklichen Leben« herstelle. Auch für den deutschen Schriftsteller fordert Feuchtwanger: »Ihn in die lebendige Welt lebendiger einzuordnen wäre von Vorteil für ihn und für die Welt.«

Wie eindrucksvoll er selbst diese gewandelte Rolle annahm und lebte, als er nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zum staatenlosen Exilanten wurde, wie hellsichtig und freimütig er sich einmischte, sich exponierte auch dort, wo es ihm selbst zum Nachteil gereichte, davon zeugen die Zeitungsartikel, Vorträge und weiteren Wortmeldungen dieses Bandes. Sie zeigen den Kosmopoliten in seiner politischen Empörung wie humanistischen Überzeugung, nicht zuletzt von einer zutiefst persönlichen, menschlichen Seite, die hier so deutlich hervortritt wie kaum zuvor. Aus Deutschland vertrieben, erkannte er in seinem Judentum eine prägende Konstante seines Lebens und literarischen Schaffens.

Prolog

Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? (1933)

Oft, von vielerlei Menschen und in mancherlei Sprachen, werde ich gefragt, ob ich mich als deutscher oder als jüdischer Schriftsteller fühle. Ich pflege zu antworten, ich sei nicht das eine noch das andere: ich fühlte mich als internationaler Schriftsteller. Wahrscheinlich seien meine Inhalte mehr jüdisch betont, meine Form mehr deutsch.

Vor fünfzehn oder noch vor zehn Jahren hätte ich anders geantwortet. Wir glaubten damals tiefer an die Kraft der Sprache. Meinten ernsthaft, die Sprache denke und dichte für den, der sie gebraucht; sie wirke aus sich selbst heraus schöpferisch Gedanken, Bilder, Inhalte. Wir überschätzten die Wirkung der Assoziationen. Wir glaubten, mit der deutschen Sprache senke sich die deutsche Vergangenheit, deutscher Himmel, deutsche Erde, deutsche Art in das sprechen lernende Kind. Sprechen, denken, fühlen seien identisch, verkündete der erste Sprachphilosoph des 19. Jahrhunderts, Fritz Mauthner. Auf sehr anderen Wegen kam dieser aufklärerische Gelehrte zu den gleichen Resultaten, der gleichen Überschätzung des Sprachlichen wie die Kabbala. Seine Gründe überzeugten uns, sie sind wohl auch heute noch nicht widerlegt. Dennoch wissen heute die meisten von uns tief innen, dass der Philosoph ein Imponderabile vergessen hat. Dieses Vergessene ist nicht schlüssig, es ist nicht nachweisbar, allein wir spüren es deutlich. Es ist nichts Mystisches, es ist ein unzweideutiges, einfaches Gefühl; nur unsere Erkenntnistheorie ist noch nicht scharf genug, es darzustellen.

Die am besten deutsch schrieben, Lessing, Goethe, Nietzsche, fühlten sich durchaus als Kosmopoliten. Die ausgezeichnete deutsche Shakespeare-Übersetzung von Schlegel und Tieck steckt, die Shakespeare-Philologie erweist es von Jahr zu Jahr deutlicher, voll von Fehlern; dennoch wird, in der fehlerhaften Übersetzung, Shakespeare in Deutschland tiefer begriffen als in den angelsächsischen Ländern, ist mehr deutscher Besitz als angelsächsischer.

Ich für meine Person bilde mir ein, ein nicht nur vordergründiges Deutsch zu schreiben, ich glaube, dass mein Deutsch Schwingungen hat, Hintergründe, auch vom besten Übersetzer nicht zu fassen; dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich in den angelsächsischen Ländern zumindest ebenso oder wahrscheinlich besser verstanden werde als im deutschen Sprachgebiet.

Ich fühle mich somit, trotzdem meine Sprache Deutsch und die innere Form meiner Werke von deutschen Schriftstellern stark beeinflusst ist, als internationaler Schriftsteller.

In Worte zu fassen, was »jüdisch« ist, das »Jüdische« wissenschaftlich abzugrenzen ist unmöglich. Jeder Unbefangene nimmt deutlich wahr, wie trotz des nach dem Krieg neu aufflammenden Nationalismus, trotz der schärferen Markierungen der äußeren Grenzen die inneren Grenzen der Völker und Rassen langsam verschwinden. Steigender Verkehr, bessere und raschere Erkenntnis vom einen zum andern löschen sie aus. Was am Einzelvolk für den sich entwickelnden übernationalen Typ gut ist, geht in dieses neue Wesen ein, was schwach ist, unnützlich, nur eigen-sinnig, verschwindet. Man mag diese Normierung beklagen, doch wenn man kühl hinsieht, wägend, mit dem Verstand, dann lässt sich ihre Unabwendbarkeit nicht verkennen. Volksindividualität, Stammeseigenart konservieren zu wollen ist unrationell, zum Misserfolg bestimmt, bleibt Romantik.

Dies klar erkennend, bekenne ich mich zur Romantik. Soweit ich meine Arbeit abhängig machen kann von meinem Verstand, tue ich das, bemühe mich also, in der Richtung des Morgen, des Internationalismus zu wirken. Aber ich tue es mit Bedauern. Mein Herz ist auf Seite dessen, was ich bekämpfe.

Da ich glaube, die Fähigkeit zu besitzen, in meinen Werken das, was ich bin, nach außen zu projizieren, muss sich in meinen Büchern die Erkenntnis meines Verstandes und mein gegen diese Erkenntnis widerstrebendes Gefühl deutlich abspiegeln. Meine Bücher sind somit gefühlsmäßig jüdisch-national, verstandesmäßig international betont. Daraus wohl erklärt es sich, dass sie von einigen Juden als antisemitisch, hingegen etwa von deutschen Nationalisten als schlaue jüdisch-nationale Tendenzmache wüst beschimpft werden.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine wirkliche, klare Demarkationslinie ziehen kann zwischen dem, was jüdisch ist, und dem, was nicht. Früher glaubte ich das tun zu können. Weil ich einigen Leuten vom Gesicht ablesen konnte, dass sie Juden waren, glaubte ich, ich könnte es bei allen. Weil ich aus einigen Büchern mit Sicherheit schloss, dass ihre Verfasser Juden seien, vermaß ich mich, Merkmale eines allgemein jüdischen Stils gefunden zu haben. Ich stellte an Schriftstellern jüdischen Blutes, auch wenn sie nicht Hebräisch konnten und sich nur wenig mit der Bibel befasst hatten, etwa bei Heine, die Merkmale hebräischer Poesie fest, den Parallelismus der Glieder und Ähnliches. Allein bei schärferer Nachprüfung erwies sich diese Feststellung nicht besser fundiert als etwa Goethes kurzes, herrisches Diktum: »Judensprache hat etwas Pathetisches.« Gewiss, es gibt einige pathetische und es gibt auch einige sentimentale jüdische Schriftsteller; aber ich kann nicht finden, dass, sagen wir, in dem »Kapital« von Karl Marx sehr viel Pathetisches steckt. Auch das Pathos oder die Sentimentalität der »auf geometrische Art demonstrierten Ethik« Spinozas dürfte sich schwer erweisen lassen.

Meine Bücher bemühen sich, nicht »jüdisch« zu sein. Sie sind, scheint mir, nicht pathetisch und nicht sentimental. Schwerlich wird man ihnen, auch bei genauer Prüfung, eine projüdische Tendenz nachweisen können. Ich habe beispielsweise von den übeln Eigenschaften und Taten des Juden Joseph Süß Oppenheimer nichts unterschlagen, ich habe sie ins Licht gehoben, eher etwas zugetan. Habe die Eitelkeit, die Prunksucht dieses Juden Süß, seinen Ehrgeiz, seine Geilheit, seine skrupellose Gier nach Erfolg ausführlich geschildert; einige sagen, zu ausführlich. Dennoch behauptet man auf der anderen Seite, ich glorifizierte diesen Juden, ich machte ihn zum Heros, und gerade die sachliche Art, wie ich das Schicksal des Mannes darstellte, reizt die Antisemiten bis aufs Blut.

Es wird wohl so sein, wie einer meiner Kritiker mir sagte: »Natürlich sind Sie objektiv. Sie sind viel zu schlau, um nicht objektiv zu sein. Aber Sie sind doch ein jüdisch-nationaler Internationalist.«

1

Nationalismus und Judentum

Jakob Lion Feuchtwanger wurde am 7. Juli 1884 in München geboren, ein Jahr nach der Hochzeit von Johanna Bodenheimer und Sigmund Feuchtwanger. Er war das erste von neun Kindern. Seine Mutter entstammte einer reichen jüdisch-orthodoxen Familie aus Darmstadt. Der Vater, ein Sprössling bayerischer Bankiers und Industrieller, leitete in zweiter Generation die 1880 in München-Haidhausen gegründete prosperierende Margarinefabrik. Der Wohlstand sicherte der Familie einen Platz in den angesehenen Kreisen der königlichen Residenzstadt.

Die Eltern hatten hohe Erwartungen an ihren Erstgeborenen. In dem jüdisch-orthodoxen Haushalt mit Dienstpersonal und einem Privatlehrer gaben die religiösen Rituale und der tägliche Unterricht in der »hebräischen Bibel«, dem Tanach, und im aramäischen Talmud den Takt vor. Diese systematische Ausbildung legte den Grundstein für Feuchtwangers profunde Kenntnisse und seine lebenslange Faszination für die Geschichte des Judentums.

Deutsche Originalfassung des englischsprachigen Artikels, derunter dem Titel »What Other Men Believe« als Teil 1 einerSerie über die Religionen jenseits des Christentums abgedruckt wurde, in »Sunday Dispatch«, London, 4. Juni 1933.

Was heißt Judentum?

(1933)

Dogmen im strengen Sinn sind dem Judentum unbekannt. Große jüdische Theologen haben oft den Versuch unternommen, solche Dogmen festzulegen, aber ohne bleibenden Erfolg. Allein trotz aller Elastizität – dies hat das Judentum mit dem Buddhismus gemein – sind seine Grundanschauungen von solcher Haltbarkeit, dass sie sich für jede Epoche mit dem jeweiligen Vokabular dieser Epoche klar und unzweideutig ausdrücken lassen. Die Formulierung wechselt: die Prinzipien bleiben die gleichen.

Die Grundprinzipien des Judentums lassen sich auf vier Lehren zurückführen. Altertümlich populär ausgedrückt, sind es die folgenden: 1) der Glaube an Gott Jahve, 2) der Glaube an den Messias, 3) der Glaube an die Offenbarung, 4) der Glaube an die Auserwähltheit der Juden.

Versuchen wir, diese Grundsätze aus ihrer altertümlichen Formulierung in die Diktion der modernen Menschheit zu übersetzen, dann ergibt sich Folgendes.

1) Gott Jahve ist nicht etwa ein langbärtiger, zornmütiger Gott der Rache, der die Sünden der Väter an den Kindern heimsucht und Auge um Auge verlangt. Menschen und Geschehnisse des alten Testaments waren vielmehr für die Juden schon sehr früh Mythologie geworden, und die Propheten Jesaias und Jeremias glaubten so wenig und so viel an die körperliche Existenz des Gottes Jahve wie Plato oder Aristoteles an die physische Existenz des Zeus oder der Venus. Die Entmaterialisierung des Gottes Jahve war vielmehr schon im 7. vorchristlichen Jahrhundert so weit fortgeschritten, dass die Juden gerade wegen ihres unkörperlichen, rein geistigen Gottes zum Gespött aller derer wurden, mit denen sie in Berührung kamen. Schon damals begann man den Namen Jahve auszudeuten als: »Ich bin, der ich sein werde«, als das Ewig-Seiende also, als das geistige Prinzip, als die Idee schlechthin. So rein ideell, so entkörpert war schon im 4. vorchristlichen Jahrhundert dieses »Ewig-Seiende«, dass niemand auch nur den Namen aussprechen durfte.

Das Grundelement der jüdischen Lehre, festgelegt in dem berühmten Bibelsatz: »Höre Israel (Schema Jisroel)«, den der fromme Jude täglich zweimal bekennt, den er in Pergamentröllchen an alle Türen seines Hauses heftet und in Gebetriemen an sein Herz und an sein Hirn, den er sich ins Ohr schreien lässt unmittelbar vor seinem Tode, dieses Grundelement der jüdischen Lehre also war und ist der Glaube an einen unsichtbaren, unkörperlichen Gott, das heißt an ein geistiges Prinzip, ein Gesetz in und über der Materie, das mit den Mitteln der Experimentalforschung nicht erfasst werden kann.

Gute Psychologen, die die jüdischen Theologen immer waren, suchten sie mit allen Mitteln zu bewirken, dass dieser Glaube an das geistige Prinzip nicht im Alltag ersticke. Ein Teil des Lebens, bestimmten sie, sei unter allen Umständen frei von der Arbeit und den Gedanken des Werktags zu halten, sei einzig und allein dem geistigen Prinzip geweiht: der Sabbat. Auch der Ärmste, bestimmten sie, verscheuche an diesem Tag den Materialismus seines Alltags, fülle sich an mit dem Gefühl, dass ein geistiges Prinzip in der Welt ist, das in ihm und um ihn waltet. Und wie diese Bestimmung es vorschreibt, wird es auch heute noch gehalten von 10 Millionen unter den 15 Millionen Juden der Welt.

2) Der Glaube an dieses geistige Prinzip hat zur Folge die optimistische Überzeugung, dass diese unsere Welt nicht ein sinnloses Gebilde ist, sondern ausersehen für eine immer sinnvollere, vollkommenere Entwicklung. Der Glaube, dass ein Zeitalter sein wird, in dem es Krieg der Nationen und Kampf der Klassen nicht mehr gibt, dieser Glaube ist die zweite Grundlehre des Judentums. Sie ist am schönsten ausgedrückt in der Vision des Jesaias vom Ewigen Frieden, vom Reiche des Messias. Das Judentum glaubt an die Überwindung der Gewalt durch den Geist, das Judentum ist seinem Wesen nach pazifistisch, übernational. Die messianische Idee, die Idee vom Ewigen Frieden, oder, sehr nüchtern ausgedrückt, die Idee vom unendlich langsamen, aber sicheren Fortschritt der Menschheit ist einer der vier Grundpfeiler jüdischer Lehre.

3) Mit diesem Prinzip eng zusammen hängt der dritte Grundsatz jüdischen Glaubens, der Glaube an das göttliche Wort, an das Gesetz, an die Vernunft, an die Literatur im Gegensatz zum Glauben an das Schwert, an die Gewalt. Die Juden sind durch Jahrtausende zusammengehalten nicht durch gemeinsamen Boden, nicht durch gemeinsame Rasse, nicht durch gemeinsame Sprache, sondern einzig und allein durch ein Buch, durch die Bibel, durch Gemeinsamkeit im Geiste. Als das zweite Reich der Juden von Rom zerstört wurde, haben sie den Staat mit Bewusstheit ersetzt durch das Wort, durch das Gesetz. Der Kult des Buches, der Lehre, der Offenbarung, den Juden schon seit ihrem ersten Auftreten in der Geschichte eigen, wurde von da an mit doppelter Intensität betrieben. »Wir haben nichts als das Buch, die Lehre«, lautet eines ihrer wichtigsten Bekenntnisse. Der Kabbala, der jüdischen Mystik, liegt das große Erstaunen zugrunde über das Wunder, dass ein Mensch mittels der Schrift seine Gedanken über die Jahrtausende fortpflanzen kann, sodass seine Urenkel noch, wenn sie nach Jahrtausenden seine Sätze lesen, das Gleiche empfinden wie er selber und in den gleichen Lauten sprechen. Das jüdische Glaubensbekenntnis ist meines Wissens das einzige, das seine Anhänger verpflichtet, ihre Kinder lesen und schreiben zu lehren. Manchmal grenzt der Kult des Wortes, der wilde Kampf um jeden einzelnen Buchstaben der Schrift ans Komische. Und rührend ist die fast abergläubische Bewunderung, die heute noch unter den Juden des Ostens der erfolgreiche Geschäftsmann dem letzten Schriftgelehrten entgegenbringt.

4) Am meisten missdeutet unter den vier Prinzipien jüdischen Glaubens ist das vierte, die These von der Auserwähltheit. Es ist gewiss, dass in ihren Anfängen, etwa um 1000 vor Christus diese Lehre nichts anders war als krasser Nationalismus; ja, man kann mit einem gewissen Recht behaupten, dass die Juden es waren, die vor 2000 Jahren als Erste den Nationalismus in die damals kosmopolitische westliche Zivilisation hineingetragen haben. Es war kein Wunder, dass eine Gemeinschaft, die lange Zeit hindurch als einzige einem geistigen Prinzip gehuldigt und dafür zahllose Opfer auf sich genommen hatte, die andern ringsum als Barbaren betrachtete und sich selber als auserwählt. Aber die Juden haben diesen Nationalismus, dem sie vor 2000 Jahren huldigten und den sie damals auch religiös verankerten, sehr teuer bezahlen müssen, und sie haben schon vor 2000 Jahren gelernt, was andere Nationalisten erst jetzt werden lernen müssen, dass die innere Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft im Geiste nicht durch Geburt erlangt wird, sondern erst durch Lehrzeit und Leben erworben und dokumentiert werden muss.

Die Führer der Juden, die großen Propheten vor allem, haben den primitiven geistigen Hochmut, wie er sich ursprünglich in der These vom Auserwählten Volk ausdrückte, schon sehr früh überwunden. Schon im siebenten vorchristlichen Jahrhundert wird die Auserwähltheit dahin kommentiert, dass die Juden auserwählt seien für besondere Verpflichtungen, nicht für besondere Rechte. Seit dem Fall des zweiten Reiches kurz nach der Geburt Christi ist diese Deutung die einzige religiös gültige. Wenn jemand zum Judentum übertreten will, dann muss ihn, schreibt das Religionsgesetz vor, der Rabbi davon abzuhalten suchen. Er muss ihn belehren, dass er als Nichtjude zur Einhaltung nur weniger sozialer Grundgesetze verpflichtet sei; trete er aber zum Judentum über, dann nehme er damit ungeheuer viele und drückende soziale Verpflichtungen auf sich. Darin allein bestehe die Auserwähltheit der jüdischen Gruppe.

Seit den Zeiten des Talmud ist die Lehre von der Auserwähltheit, dies Grundprinzip jüdischen Glaubens, durchaus identisch mit der Überzeugung von der sozialen Mission des Judentums. Schlagend drückt sich diese Idee in einer berühmten Talmud-Anekdote aus. Ein Heide, erzählt dieser Bericht (der aus der Zeit kurz vor dem Auftreten Christi stammt), ein Heide kam zu dem strengen Rabbi Schammai und erklärte ihm, er wolle Jude werden, wenn Rabbi Schammai ihm die Grundprinzipien des Judentums beibringen könne in der Zeit, während der er auf einem Fuß stehen könne. Rabbi Schammai jagte ihn fort. Da ging der Mann zu Rabbi Hillel und machte ihm den gleichen Vorschlag. »Warum nicht?«, erwiderte Rabbi Hillel. »Was du nicht willst, dass man dir tue, das tu auch keinem andern. Das ist alles.«

Sie sehen, der Satz von der Auserwähltheit besagt nichts anderes als die Auserwähltheit zu einer besonders strengen sozialen Mission. Jude sein heißt, jüdischem Religionsgesetz zufolge, mehr als andere zu sozialem Denken und Handeln verpflichtet sein. Während die Zivilisation der andern weißen Völker immer wieder durch Rückfälle in die Barbarei unterbrochen wurde und wird, währt die jüdische zivilisatorische Tradition jetzt ununterbrochen durch drei Jahrtausende. Um dieser Tradition willen, für die Millionen von Juden gestorben sind, glaubt sich der Jude auserwählt, mehr als andere zur Erreichung des endgültigen messianischen Zieles der Menschheit beitragen zu müssen.

Das endgültige Ziel des Judentums ist also nicht etwa ein nationales, sondern kosmopolitisch. Sicher gibt die These von der Auserwähltheit dem jüdischen Glauben einen nationalen Anstrich. Aber dieser jüdische Nationalismus hat im Gegensatz zu jedem andern die Tendenz, nicht sich zu befestigen, sondern sich aufzulösen. Die Lehre von der Auserwähltheit ist verständlich nur im Zusammenhang mit den andern Prinzipien des Judentums, mit dem Grundbekenntnis zu einem geistigen Prinzip, mit der Lehre von der Überwindung des Schwertes durch den Geist, mit der messianischen Idee.

Die These von der Auserwähltheit entspringt dem stolzen und drückenden Bewusstsein einer ungewöhnlich schweren Mission, die erst in sehr späten Zeiten erfüllt werden kann. Der jüdische Nationalismus, wie ihn diese Lehre erzeugt hat, sehnt sich danach, aufzugehen in einer geeinten Welt, wie Salz sich im Wasser löst, nicht länger sichtbar und dennoch allgegenwärtig und für immer da.

Entstanden 1933, erschien dieser Text erstmals in der von LionFeuchtwanger gemeinsam mit Arnold Zweig herausgegebenen Streitschrift »Die Aufgabe des Judentums« inParis.

Nationalismus und Judentum

(1933)

I.

Man frage den Durchschnitts-Nationalisten, sei er Deutscher, Italiener oder Jude, was er sich eigentlich unter dem Wort »meine Nation« vorstellt, und man wird gewöhnlich die entrüstete Antwort erhalten: »Nation? Das braucht man doch nicht weiter zu erklären. Nation – das spürt man eben oder man spürt es nicht. Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nie erjagen.« Kurz – nach einer klaren Definition gefragt, entwischt der Nationalist gemeinhin in den Bereich des Gefühls.

Natürlich sind viele Nationalisten bemüht, diese Gefühle mit Vernunftgründen zu umkleiden. Sie haben eine Unmenge von Gründen bei der Hand, die aber zu guter Letzt alle auf vier Grund-Ideologien hinauslaufen, die einander häufig überschneiden. Nach diesen vier Ideologien basiert nationale Zusammengehörigkeit: erstens auf gemeinsamen örtlichen und klimatischen Vorbedingungen, zweitens auf gemeinsamer Rasse, drittens auf gemeinsamer Geschichte und viertens auf gemeinsamer Sprache.

In Folgendem wollen wir diese vier Elemente der nationalen Ideologie in ihren Einzelheiten und besonders im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Judentum untersuchen.

II.

Wir haben es also zunächst mit jenem Nationalismus zu tun, welcher behauptet, gemeinsames Klima, gemeinsamer Boden, gemeinsame örtliche Bedingungen schüfen Verwandtschaft zwischen Individuen. Es ist nun kein Zweifel, dass diese Art Nationalismus unter gewissen Bedingungen Sinn haben kann. Dieser Nationalismus war so lange sinnvoll, als die Bewohner gewisser Landstriche zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf den Boden eben dieser Landstriche, auf die Erzeugnisse ihrer Nachbarn angewiesen waren. Solange die Königreiche Juda und Israel bestanden, hatte dieser Nationalismus auch für die Juden Sinn. Aber schon unter dem zweiten jüdischen Königreich, unter den Hasmonäern, hatte er einen beträchtlichen Teil seiner Bedeutung verloren. Man kann nicht behaupten, dass etwa die Römer durch die Intoleranz oder durch besondere Maßnahmen gegen die Juden für die Ausbrüche des jüdischen Nationalismus verantwortlich waren. Man kommt vielmehr den Tatsachen bedeutend näher, wenn man sagt, dass die zu jener Zeit unter der Herrschaft der Römer zusammengeschweißte zivilisierte Welt von Nationalismus überhaupt nichts wusste. Das Römische Reich bewies allen Völkern und selbstverständlich auch den Juden gegenüber eine Toleranz, die heute unvorstellbar ist: das Leben war im ganzen Reich auf eine einheitliche Formel gebracht, der Handel blühte, der Güteraustausch von einem Ende der damals bekannten Welt zum andern funktionierte mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Die Vereinigten Staaten von Europa waren Wirklichkeit geworden. Es waren – seltsam genug – die Juden, die zu Beginn unseres Zeitalters den Nationalismus in die damals völlig kosmopolitische Welt hineintrugen. Wer meinen Roman »Der jüdische Krieg« kennt, wird mich, glaube ich, nicht der Parteinahme für die Römer zeihen. Aber ich kann meine Erkenntnis nicht verschweigen: zu jener Zeit waren die Juden die Nationalisten, nicht die Römer. Die Herrschaft der Römer war tolerant. Sie waren ausgezeichnete Verwaltungsbeamte. Ihr Regime war vernünftig. Was sie dem Land gaben und was sie von ihm nahmen, entspricht dem, was heute England in Palästina gibt und nimmt. Die Argumente, die der jüdische König Agrippa zu jener Zeit zugunsten der Römer vorbrachte und die sich gegen die Juden richteten, waren gute, vernünftige Argumente. Es gab zu jener Zeit in der Welt keinen Nationalismus. Die Welt war kosmopolitisch. Es waren, ich wiederhole es, so seltsam es klingen mag, die Juden, die als Erste in unserer Ära den Nationalismus in die zivilisierte westliche Welt hineintrugen.

Man weiß, wie bitter sie hierfür bestraft worden sind. Was die Mehrzahl der Weißhäutigen erst aus dem Weltkrieg gelernt hat oder vielleicht erst aus einem zweiten Weltkrieg wird lernen müssen – nämlich die Sinnlosigkeit eines regional-politischen Nationalismus –, das ist uns Juden vor achtzehnhundert Jahren auf eine sehr bittere, unvergessliche Weise eingehämmert worden.