Bipolar - mit extremen Emotionen leben - Dr. Eberhard J. Wormer - E-Book

Bipolar - mit extremen Emotionen leben E-Book

Dr. Eberhard J. Wormer

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  • Herausgeber: Humboldt
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Wegweiser durch das Labyrinth der Emotionen: Ein turbulentes Leben im Strudel extremer Emotionen: Manie und Depression. Bipolare Stimmungsstörungen sind eine häufig unerkannte und missverstandene, mitunter lebensbedrohliche psychische Erkrankung. Wer über die Anzeichen, Diagnosekriterien und Therapien, über die Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung Bescheid weiß, erreicht heute in den meisten Fällen eine erfolgreiche Kontrolle der manisch-depressiven Erkrankung: Die Kennzeichen und Merkmale bipolarer Störungen, die in diesem Buch vorgestellt werden, erlauben eine genauere Bewertung der vielfältigen Symptome. Stimmungsstabilisierer und Neuroleptika sowie neue Arzneistoffe helfen dabei, die psychische Stabilität zu verbessern und extreme Stimmungsschwankungen in den Griff zu bekommen. Patienten profitieren von Psychotherapie, Krisenmanagement und der Unterstützung durch Selbsthilfegruppen. Praktische Hinweise zur Problemlösung stärken das Selbstbewusstsein und verhindern, dass Betroffene zum Spielball des Medizinbetriebs werden. Die rechtzeitige Diagnose und Therapie eröffnet bipolaren Patienten die erfreuliche Perspektive auf ein fast normales Leben mit ihrer Krankheit. Dieses Buch zeigt Wege zur Hilfe und Selbsthilfe auf – es kann auch ein Wegweiser durch das Labyrinth der eigenen Emotionen sein.

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Seitenzahl: 171

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Das Buch spricht offen alle Fragen an, die den Betroffenen, sein Umfeld und die Psychiatrie betreffen:

Seite 10: Stimmungsvokabular: von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt

Seite 14: Steckbrief bipolare Störung: So häufi g tritt sie auf, so verläuft sie

Seite 20: Was ist Hypomanie?

Seite 23: Warum die Suizidgefahr bei Menschen mit bipolarer Störung hoch ist

Seite 24: Symptome der Depression

Seite 29: Warum es so oft zu Fehldiagnosen kommt

Seite 48: Welche Medikamente sind erfolgversprechend?

Seite 61: Heilkräuter und Vitalstoffe, die die Behandlung unterstützen

Seite 73: Elektrokonvulsive Therapie: antidepressiv hoch wirksam

Seite 93: Stress aktiv abbauen und die Stimmung stabilisieren

Seite 99: Schwierige Diagnose bei Kindern: Hyperaktiv oder bipolar?

Seite 115: Wie Sie von einer Ernährungsumstellung profi tieren

Seite 117: Was tun, wenn sich manische oder depressive Episoden ankündigen?

Seite 126: Wie Sie als Angehöriger oder Partner unterstützen können

Seite 128: Ihre Rechte als Patient

Seite 132: Selbstbeurteilung Hypomanie

Seite 136: Selbstbeurteilung Depression

Seite 139: Ihr Stimmungskalender

VORWORT

DAS KONTINUUM DER EMOTIONEN

WAS SIND BIPOLARE STÖRUNGEN?

Normale Stimmungsschwankungen

Stimmung außer Kontrolle

Bipolare Störungen

Phasen bipolarer Stimmung

IM LABYRINTH DER DIAGNOSEN

Fehldiagnosen

Die richtige Diagnose: bipolare Störungen

Die Diagnosebibeln DSM-5 und ICD-10

Bipolar-I-Störung

Bipolar-II-Störung

Zyklothymie

Rapid Cycling

Schizoaffektive Störung/Psychose

Melancholie und Manie

BIPOLARE STÖRUNGEN BEHANDELN

Medikamente

Heilkräuter

Hormone und Vitalstoffe

Nicht-medikamentöse Therapieverfahren

Psychotherapie

WEGE ZUR STABILEN STIMMUNG

Medikamentöse Therapie

Interpersonelle und soziale Rhythmustherapie

Psychosoziale Therapie

Stressabbau

BIPOLARE BESONDERHEITEN

Bipolare Störungen bei Kindern

Bipolare Störungen bei Frauen

Mehr als eine Krankheit: Komorbidität

Club der unruhigen Geister

LEBEN MIT BIPOLAREN STÖRUNGEN

Konfrontation und Akzeptanz

Stimmungspflege

Das Netz der Unterstützung

Notfall und Krise bewältigen

Angehörige und Partner: Was tun?

Die Rechte des Patienten

INFORMATION UND HILFE

Selbstbeurteilung: Hypomanie

Selbstbeurteilung: Depression

Stimmungskalender

Kontaktadressen

VORWORT

Liebe Leser,

was haben Marylin Monroe, Ludwig van Beethoven, Amy Winehouse und Vincent van Gogh gemeinsam? Richtig, sie waren weltbewegende Künstlernaturen, die wir niemals vergessen werden. Sie haben aber auch ein turbulentes Leben im Strudel der Emotionen durchlitten, Manie und Depression: große Gefühle – zutiefst menschlich.

Viele große Persönlichkeiten, die das Erscheinungsbild unserer Welt unverwechselbar geprägt haben, hatten keine Wahl: Sie mussten – ob sie wollten oder nicht – mit der Raserei ihrer Gefühle leben. Jeder, der das „Gelächter der Manie“ und die Seelenqual der Depression selbst durchlitten oder als Beobachter miterlebt hat, kennt die Sprengkraft bipolarer Stimmungszustände.

Noch immer führen Vorurteile, falsche oder überholte Vorstellungen, Furcht und Unkenntnis dazu, dass Manisch-Depressiven der ausgrenzende Stempel der „Verrücktheit“ aufgedrückt wird. Dieses Buch kann dabei helfen, die Furcht vor unbegreiflichen psychischen Phänomenen durch aktuelles Wissen und Vorurteile durch Verständnis zu ersetzen – ein Beitrag gegen die Stigmatisierung unserer betroffenen Mitmenschen.

Sie finden in diesem Buch ein reichhaltiges Angebot an Information und Hilfe für Patienten, Angehörige, Partner, Freunde, Bekannte, Kollegen und Interessierte – verbunden mit der Hoffnung, die Genesung der Betroffenen zu unterstützen und einen nützlichen Beitrag für das bessere Verständnis bipolarer Störungen zu leisten.

Die meisten Menschen, die von bipolaren Störungen betroffen sind, möchten wahrscheinlich nichts lieber als einfach nur zur Arbeit gehen und mit ihren Familien ein normales, glückliches und erfülltes Leben führen. Im Vergleich zur Situation noch vor wenigen Jahrzehnten sind die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, heute so gut wie nie zuvor.

Viele Wege führen in die dunkle Nacht der Depression und das Inferno der Manie – es gibt aber auch viele Wege zur wirksamen Hilfe und Selbsthilfe.

Eberhard J. Wormer

DAS KONTINUUM DER EMOTIONEN

Wir alle sind Menschen. Gefühle und Mitgefühl, Lachen und Weinen machen uns erst zu wahren Menschen. Ist aber das empfindliche Gefüge der Emotionen unserem Einfluss entzogen, das Gleichgewicht der Gefühle gestört, dann leidet die Psyche, dann leidet der Mensch. Es kann jeden treffen.

Schätzungen zufolge erleiden bis zu fünf Prozent aller Frauen und Männer weltweit, das ist jeder Fünfzigste, einmal in ihrem Leben bipolare Stimmungsstörungen. In Deutschland sind bis zu vier Millionen meist junge Menschen betroffen. Wie ernst diese Erkrankung genommen werden muss und wie hoch der Verlust an Lebensqualität ist, verdeutlicht folgende Einschätzung: Eine Frau, die mit 25 Jahren (durchschnittliches Erkrankungsalter) von bipolaren Störungen betroffen ist, hat eine um neun Jahre verkürzte Lebenserwartung und verliert zwölf Jahre ihres normalen gesunden Lebens sowie 14 Jahre beruflicher und familiärer Lebensaktivität. Zeit zu handeln.

Psychischen Erkrankungen stand die Menschheit immer mit großer Unsicherheit gegenüber: Entweder wurden Betroffene als „Heilige“ mit großem Respekt behandelt oder man empfand sie als so beunruhigend, dass sie aus der Gemeinschaft der „Normalen“ ausgestoßen wurden. Dies gilt auch für bipolare Störungen, die bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. von dem griechischen Arzt Hippokrates beschrieben und fast 2000 Jahre später von dem deutschen Psychiater Emil Kraepelin als „manisch-depressives Irresein“ neu definiert wurden.

Manie und Depression sind Extremzustände im Kontinuum menschlicher Gefühlsäußerungen, die in unterschiedlichen Abstufungen oder als Mischzustände auftreten können. Forschungsergebnisse belegen, dass bipolare Stimmungsstörungen als Erkrankung zu betrachten sind, die erfolgreich behandelt werden kann, wenn sie korrekt diagnostiziert wird. Damals wie heute werden leider viele Patienten als „neurotisch“, „psychotisch“, „schizophren“, „persönlichkeitsgestört“, „schizoaffektiv“ oder „depressiv“ etikettiert – in Wahrheit sind sie häufig bipolar, manischdepressiv. Es dauert oft Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird – mit schlimmen, wenn nicht gar tödlichen Konsequenzen. Detaillierte Diagnosekriterien erlauben heute eine bessere Bewertung der vielfältigen Symptome als in früheren Zeiten.

Bipolare Störungen beruhen auf einer chronischen Erkrankung des Nervensystems, hervorgerufen unter anderem durch Funktionsstörungen bestimmter Nervenbotenstoffe, genetische Anfälligkeit, Stress und äußere Einflüsse, die die Psyche leichter verletzbar machen. Was die Ursachen betrifft, handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen – mit einem Wort: Wir kennen die Ursache bipolarer Störungen nicht.

Mit fortschreitender Zeit und ohne Behandlung kommt es immer öfter zu immer heftigeren Phasen extremer Stimmung, und die Phasen psychischer Stabilität verkürzen sich. Vergleichbar mit Diabetes, der durch Insulin kontrollierbar geworden ist, kann die manisch-depressive Erkrankung mit Stimmungsstabilisierern oft erfolgreich behandelt werden. Darüber hinaus profitieren Betroffene von neuen verträglicheren Arzneistoffen, von Alternativtherapien sowie Psychotherapie, Psychoedukation, Krisenmanagement und der Unterstützung durch Selbsthilfegruppen. Rechtzeitige Diagnose und Therapie bieten bipolaren Menschen tatsächlich die erfreuliche Perspektive eines weitestgehend normalen Lebens.

Wie bei anderen Erkrankungen betreffen bipolare Störungen nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch seine Familienangehörigen, Freunde und Kollegen. Manische oder depressive Episoden können zu zwischenmenschlichen Konflikten, zur Zerstörung des Familienzusammenhalts oder der Partnerschaft, zum finanziellen Ruin und zum Ende der beruflichen Laufbahn führen. Und – bipolare Störungen können tödlich enden: Jeder sechste Betroffene tötet sich selbst, jeder zweite versucht es zumindest einmal. Das kann in sehr vielen Fällen verhindert werden, denn es gibt sehr wirksame Therapiemöglichkeiten.

Die manisch-depressive Erkrankung ist in der breiten Öffentlichkeit, bei Betroffenen und deren Umfeld sowie Medizinern und Therapeuten noch immer viel zu wenig bekannt. Information, Fortbildung und Aufklärung sind deshalb dringend nötig: für Ärzte und Apotheker, für Psychotherapeuten und Seelsorger, für Behörden und Polizei, für Eltern und Lehrer, für die Massenmedien und die breite Öffentlichkeit.

WAS SIND BIPOLARE STÖRUNGEN?

Hauptkennzeichen bipolarer Störungen sind abnorm veränderte Stimmungen mit auffällig verändertem Antrieb. Die manisch-depressive Erkrankung wird in der Psychiatrie zur Gruppe der sogenannten affektiven Störungen gezählt.

Was aber ist eigentliche eine normale Stimmung? Was sind extreme Emotionen? Wie erkennt man Stimmungsstörungen?

Normale Stimmungsschwankungen

Stimmung kann im übertragenen Sinn als „Temperatur“ der Emotionen beschrieben werden – ein Bündel von Gefühlen hoher oder niedriger Temperatur, das unser Wohlbehagen oder Unbehagen zum Ausdruck bringt. Es ist ganz normal, dass unsere Stimmung nicht immer gleich und in begrenztem Umfang Schwankungen unterworfen ist: Glücksgefühl und Trauer, Wut und Gleichgültigkeit, Zufriedenheit und Unzufriedenheit oder Optimismus und Pessimismus wechseln sich je nach Lebenssituation ab. Auch körperliche Empfindungen wie Müdigkeit oder tatkräftige Energie werden von der Stimmung beeinflusst.

Sind wir guter Stimmung, fühlen wir uns zufrieden und optimistisch. Wir sind entspannt und aufgeschlossen, geduldig, voller Neugier und ausgeglichen. Mit einem Wort: Wir sind glücklich. Wir sind voller Energie und fühlen uns wohl in unserer Haut. Wir schlafen tief und erholsam und essen mit gesundem Appetit. Ein gut gestimmter Mensch wirkt attraktiv auf andere Menschen. Die Zukunftsperspektiven sind hervorragend, und die Zeit ist reif, mit außergewöhnlichen Projekten zu beginnen. Wer gut gestimmt ist, für den ist die Welt der bestmögliche Ort. Es ist wunderbar, hier zu leben.

Sind wir gedrückter Stimmung, neigen wir dazu, uns in uns selbst zurückzuziehen. Gedanken kreisen in unserem Kopf und beunruhigen uns. Wir sind traurig oder fühlen uns leer und verloren. Die Zukunft erscheint düster. Pessimismus drängt sich auf, macht uns Angst. Wir verlieren schneller die Fassung und empfinden Schuldgefühle, wenn wir uns haben hinreißen lassen. Offenheit oder Herzlichkeit gegenüber anderen bereiten große Mühe. Wir ziehen es vor, die Gesellschaft der Menschen zu meiden und lieber allein zu bleiben – und unsere Niedergeschlagenheit zu verbergen. Wir fühlen uns schwach und müde, zweifeln mehr und mehr an uns selbst. Mit einem Wort: Wir sind unglücklich. Die Welt ist ein grauenhafter Ort. Besser, man flieht ihn.

Stimmung außer Kontrolle

Wenn der Thermostat einer Heizungsanlage versagt oder defekt ist, wird die Raumtemperatur unkontrollierbar. Sie haben so etwas vielleicht schon erlebt. Sie können am Thermostat drehen, wie Sie wollen: Entweder die Heizung läuft ständig auf vollen Touren und Sie fühlen sich wie in der Sauna, oder es tut sich gar nichts und Sie frieren wie in der Tiefkühltruhe – oder die Anlage heizt stur lauwarm vor sich hin. Dann ist es Zeit, einen Heizungstechniker anzurufen.

Vermutlich verfügt auch das Gehirn des Menschen über ein Regulierungssystem der Stimmungstemperatur. Allerdings ist dieses System sehr viel komplizierter aufgebaut als eine Heizungsanlage. Erbfaktoren (Gene), Chromosomen, Biorhythmen (Schlaf-Wach-Rhythmus), Kommunikationsfunktionen des Nervensystems (Neurotransmitter), die Balance körpereigener Biostoffe, Hormone und die Psyche sind Faktoren, die das Gleichgewicht der Stimmung beeinflussen. Störungen in diesem Regelwerk erhöhen die individuelle psychische Verletzlichkeit, die sogenannte Vulnerabilität. Bei abnorm veränderten Stimmungslagen gibt es offensichtlich Probleme mit der Einstellung und Stabilität der emotionalen Temperatur.

Die Stimmung der betroffenen Person ist dann abgekoppelt von Lebenssituationen oder Reizen, die normale Stimmungsreaktionen hervorrufen: etwa Trauer nach dem Verlust einer geliebten Person oder überschäumende Freude nach einer erfolgreich bestandenen Prüfung. Glücksempfinden und Trauer führen nun ein unkontrollierbares Eigenleben. Hochgefühle oder Depressionen können ohne besonderen Anlass immer wieder auftreten. Die Stimmung schwankt in unterschiedlichem Grad, leicht bis extrem. Gelegentlich ist der Stimmungszustand so stark verändert, dass die Realität verzerrt wahrgenommen wird: Wahnideen oder bizarre beunruhigende Sinnestäuschungen tauchen auf.

Menschen, die solchen unbeeinflussbaren Stimmungsschwankungen ausgesetzt sind, sind weder „geisteskrank“ noch „selbst schuld“. Sie sind keine „schwachen“ oder „instabilen“ Persönlichkeiten. Auch die Fehlinterpretationen „Pubertät“ oder „Teenagerverhalten“ bei Jugendlichen verzögert nur die Diagnose und die wirksame Hilfe. Die Betroffenen haben in erster Linie ein „technisches“ Problem mit der Regulierung ihrer emotionalen Temperatur. Ein Problem, das behandelt werden sollte und erfolgreich behandelt werden kann.

Bipolare Störungen

Das Grundproblem der manisch-depressiven Erkrankung ist eine Regulierungsstörung der Stimmung, die äußerst unterschiedliche Symptome zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlicher Dauer verursacht. Darüber hinaus sind meist auch das Verhalten, das Denkvermögen und der Antrieb für die alltägliche Lebensaktivität abnorm verändert. Bei der klassischen Form der Erkrankung zeigen sich ausgeprägte Schwankungen: Phasen gedrückter Stimmung, schwere Depressionen und Euphorie oder Hochstimmung (Manie).

Solche Phasen extremer Stimmungsschwankungen sind seit Langem bekannt, beobachtet und beschrieben worden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden diese krankhaften Zustände als „manisch-depressives Irresein“ (so nannte es der deutsche Psychiater Emil Kraepelin 1899) oder „manisch-depressive Erkrankung“ bezeichnet. Heute spricht man von „bipolaren Störungen“, Begriffe, die auf unkontrollierbare Stimmungszustände zwischen den extremen Polen Depression und Manie Bezug nehmen. Die Betroffenen erleben aber auch Schwankungen zwischen den Polen „akut krank“ und „gesund“, also ohne Beschwerden. Darüber hinaus werden bestimmte leichtere Stimmungsschwankungen und bipolare Mischzustände unter diesen Bezeichnungen zusammengefasst.

Bipolare Störungen verlaufen phasenhaft, mit in der Regel wiederkehrenden Episoden dreier Stimmungslagen:

• eine Phase gehobener Stimmung, die Manie genannt wird

• eine Phase gedrückter Stimmung, die Depression genannt wird

• eine Phase normaler Stimmung, in der weder manische noch depressive Beschwerden vorliegen, das beschwerdefreie Intervall

Klinische Beobachtungen haben gezeigt, dass bipolare Erkrankungen kein einheitlich definiertes Krankheitsbild sind, sondern dass vor allem zwei Haupttypen innerhalb eines sogenannten „Spektrums bipolarer Störungen“ vorkommen: Eine Bipolar-I-Erkrankung liegt dann vor, wenn der Betroffene mindestens 14 Tage lang eine gehobene Stimmungslage erlebt hat, die die Kriterien einer Manie erfüllt. Darüber hinaus muss er bereits mindestens eine Depression erlebt haben. Eine Bipolar-II-Erkrankung liegt dann vor, wenn der Betroffene mindestens einmal eine Depression erlebt hat und wenn mindestens einmal eine sogenannte „Hypomanie“-Episode nachweisbar ist, eine abgeschwächte Form der Manie.

Weitere Stimmungsstörungen des bipolaren Spektrums sind Zustände mit raschem Wechsel von Depression und Manie („Rapid Cycling“), depressive Stimmungslagen ohne manische Episoden sowie anhaltende leichtere Stimmungsschwankungen (Zyklothymie).

•Rapid Cycling kennzeichnet einen Verlauf von bipolaren Störungen mit rasch wechselnden manischen/hypomanischen und depressiven Episoden – mindestens vier solche Episoden treten innerhalb eines Jahres auf.

• Die Zyklothymie wird als abgeschwächte Form bipolarer Störungen betrachtet. Zwar kommt es zu keiner ausgeprägten Manie oder schweren Depression, allerdings schwankt die Stimmung doch fortwährend zwischen leicht gehoben und leicht gedrückt. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese chronischen Stimmungsschwankungen durch äußere Faktoren beeinflusst oder verursacht werden oder quasi von selbst entstehen.

Wenn auch vieles, was die medizinische Klassifizierung dieser abnormen Stimmungsstörungen betrifft, noch unklar ist – eines ist klar: Menschen mit bipolaren Stimmungsstörungen leiden unter ihrer Krankheit, die belastende Symptome hervorruft, die Lebensaktivität stark beeinträchtigt und die Lebensqualität mindert. Nicht nur extrem gehobene oder gedrückte Stimmungen, sondern auch enthemmter Antrieb oder völlige Antriebslosigkeit sowie Denkstörungen und zahlreiche körperliche Befindlichkeitsstörungen machen den Betroffenen das Leben zur Hölle.

Steckbrief bipolare Störungen

Begriffe

bipolare Störungen,

bipolar disorder

(engl.), bipolare Erkrankungen, manisch-depressive Erkrankung

bipolare Störungen

Bipolar-I-Erkrankung, Bipolar-II-Erkrankung, Zyklothymie

Krankheitsepisoden

Manie, Hypomanie, Depression, Mischzustände, Rapid Cycling

Häufigkeit

weltweit: etwa 2 bis 5 Prozent aller Erwachsenen

Deutschland: mindesten 3 Millionen Menschen betroffen

Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen

Beginn

durchschnittliches Erkrankungsalter: 25 Jahre während oder nach einer Schwangerschaft

Verlauf

85 bis 95 Prozent der Betroffenen erleben nach einer ersten Krankheitsphase noch 8 bis 10 weitere Episoden

Unbehandelte Manien dauern etwa 2 bis 3 Monate an.

Unbehandelte Depressionen dauern etwa 4 bis 6 Monate an.

Ohne Behandlung verkürzen sich die beschwerdefreien Intervalle zunehmend.

Begleitprobleme (Komorbidität)

Mehr als 80 Prozent der jugendlichen und etwa 40 Prozent der erwachsenen Maniepatienten haben noch weitere Diagnosen:

• Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHD)

• Angststörungen (Phobien)

• Zwangsstörungen

• Substanzmissbrauch (Alkohol, Drogen)

• körperliche Erkrankungen (Migräne, Multiple Sklerose, Schilddrüsenüberfunktion)

Suizidrisiko

Bis zu 80 Prozent der Betroffenen sind suizidgefährdet!

Etwa 15 Prozent töten sich selbst (2 bis 5 Jahre nach der Diagnose)!

Lebenserwartung

etwa um 9 Jahre verkürzt

Kosten

in Deutschland etwa € 1 Milliarde pro Jahr direkte (Therapie) und indirekte (Arbeitsausfall) Krankheitskosten (aus US-amerikanischen Daten abgeleitet)

Bipolar-I-Störung

mindestens eine manische oder gemischte und depressive Episode in der Vorgeschichte sowie beschwerdefreie Intervalle

Bipolar-II-Störung

wiederkehrende Depressionen und Episoden leicht ausgeprägter Manie (Hypomanie) sowie beschwerdefreie Intervalle

Zyklothymie

mindestens zwei Jahre andauernde Stimmungsschwankungen (leicht gehoben bzw. leicht depressiv)

Phasen bipolarer Stimmung

Das Kennzeichen der bipolaren Erkrankung ist ihr phasenhafter Verlauf von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Die Stimmung während solcher Phasen kann extreme Episoden der Manie oder Depression, aber auch geringer ausgeprägte Stimmungsschwankungen wie die Hypomanie oder gemischte Stimmungslagen umfassen. Wechseln sich extreme Stimmungszustände innerhalb von Tagen, Wochen oder Monaten häufiger ab, spricht man von Rapid Cycling.

Manie

Wenn der Thermostat der inneren Stimmungstemperatur anhaltend auf „hoch“ gestellt ist, kommt es zur extremsten und dramatischsten Ausprägung der bipolaren Erkrankung: Manie. Der manische Zustand beginnt langsam, fast unmerklich und heizt sich über Tage und Wochen auf, wird zunehmend stärker, unangenehmer und unzweideutig abnorm.

Zunächst hebt sich die Stimmung der Betroffenen, und sie fühlen sich von einer Flut angenehmer Gefühle überwältigt. Wohlbefinden und Selbstvertrauen nehmen zu, dehnen sich aus und münden allmählich in den Zustand der Euphorie – ein Zustand, in dem man sich zunächst wirklich sehr viel besser fühlt als sonst.

Ich fühlte mich großartig. Nicht nur großartig, ich fühlte mich wirklich großartig. Alles machte absolut Sinn und befand sich auf wunderbare Weise im kosmischen Einklang. Meine Gedanken rasten mit blitzartiger Geschwindigkeit von einer Idee zur nächsten. Ich machte mir von allem, was geschah, Tag und Nacht Notizen.

Kay Redfield Jamison

Im Frühstadium der Manie verändert sich auch das Denken: Man glaubt, klarer und rationaler denken zu können als sonst – oftmals nicht gerade ein Anlass zu vermuten, dass etwas schiefläuft. Aber auch die Denkprozesse selbst beschleunigen sich zunehmend, werden schnell und schneller, bis die Gedanken unaufhörlich durch den Kopf rasen – wie auf einem ungezügelten wilden Pferd sitzend, das in rasendem Galopp dem Weg des geringsten Widerstands folgt, von verwegenen Impulsen getrieben, die die Gedanken von einer in die nächste Richtung lenken. Je länger diese sogenannte Ideenflucht anhält, desto belastender wird sie empfunden.

Fast immer kommt es zur Beschleunigung der Sprache. Die Betroffenen sprechen mehr und schneller, je weiter sich die manische Episode entwickelt hat. Und die Sprache klingt zunehmend gepresst. Im Rahmen eines Sprechversuchs bemerkte man, dass manische Patienten 180 bis 200 Silben pro Minute sprechen können, nicht-manische Personen schaffen nur 122 bis 150 Silben!

Ich vergaß: Manischsein bedeutet, dass du viel Geld ausgibst. Es ist toll. Ich kaufte fast ein Blumengeschäft auf. Ich füllte die Badewanne mit Blumen. Ich tanzte auf dem Dach und nahm Mondbäder.

Hannah Z.

Das für die Manie typische Gefühl der Selbstüberschätzung kann zahlreiche riskante Verhaltensmuster erzeugen: Kauforgien, sexuelle Promiskuität und Enthemmung, Missbrauch von Alkohol oder Drogen. Im Kaufrausch werden hemmungslos extravagante Dinge erstanden. Die finanzielle Katastrophe zeigt sich erst bei der Kreditkartenabrechnung, wenn der Betroffene keine Ahnung mehr davon hat, wofür das Geld eigentlich ausgegeben wurde. Die sexuelle Überaktivität führt nicht selten zu Erschöpfungszuständen, manch einer will eine Zufallsbekanntschaft sofort heiraten, oft werden auch unterdrückte bisexuelle oder homosexuelle Neigungen ausgelebt. Der Missbrauch von Alkohol oder Drogen ist ein häufiges Begleitproblem bei Manie und als untauglicher, verzweifelter Selbsthilfeversuch gegen die schwer belastende Stimmungsstörung zu verstehen.

Fast immer verändern sich Schlaf- und Essgewohnheiten. Eines der ersten Symptome der Manie ist ein vermindertes Schlafbedürfnis – ein wichtiges Zeichen, dass mit der nächsten akuten Episode zu rechnen ist. Die Nahrungsaufnahme ist stark eingeschränkt und man nimmt ab, weil schlicht und einfach keine Zeit zum Essen bleibt: Man ist viel zu beschäftigt.