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Das Mädchen Birdie zieht zu ihrer Großtante und ihrem Großonkel aufs Land. Sie ist aufgeregt, was sie dort erwartet. Doch ihre Adoptivfamilie ist kühl und auch die Dorfgemeinschaft abweisend. Als einziges Schwarzes Mädchen im Dorf ist Birdie einsam. Bis sie eines Tages einen Freund findet: ein Pony. Doch das schwebt in großer Gefahr. So fasst Birdie einen gewagten Plan, um es zu retten.
Eine bewegende Geschichte über Familie und Zugehörigkeit, über Rassismus und eine außergewöhnliche Freundschaft, die alle Hindernisse überwindet.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2025
J.P. Rose
Birdie
Eine Freundschaftsgeschichte
Roman
Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: formlabor, Hamburg
Umschlagillustration: Tobias Goldschalt, Hamburg
eISBN 978-3-458-78468-5
www.insel-verlag.de
Für meine Mam
Marienkäfer, flieg nach Haus, flieg nach Haus
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
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Fitzwilliam-Kinderheim, 1952
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Anmerkungen zum geschichtlichen Hintergrund
Das Kinderheim
Die Kohleindustrie
Grubenponys
Meine Inspiration für
Birdie
Dank
Textnachweis
Informationen zum Buch
Birdie
Birdie zog den Schlüssel aus der Badezimmertür, presste die Wange an das Schloss aus kaltem, schwarzem Stahl und lugte durch das Loch. Sie blinzelte und spürte, wie ihre Wimpern das Holz der alten Tür streiften.
Abgesehen von dem großen Teefleck auf Mrs Dudleys verwaschener grüner Schürze konnte sie auf der anderen Seite allerdings kaum etwas erkennen. Dann zuckte sie zurück, als plötzlich Mrs Dudleys Auge erschien. »Birdie! Mach die Tür auf!«
»Ich will nich weg! Das hab ich Ihnen schon hundertmal gesagt. Ich bleib hier, bei Ihnen!«
»Ach, Birdie. Wir müssen doch langsam los zum Bahnhof.« Mrs Dudley rüttelte sachte am Türknauf. »Mach wenigstens auf, Schätzchen, dann können wir besser drüber reden.«
»Nein! Sie wollen mich ja nur loswerden.«
»Das stimmt doch gar nich, Kleines. Und außerdem hast du dir das doch immer gewünscht! Eine richtige Familie! Und deine Großtante freut sich schon so, dich kennenzulernen. Stand in ihrem Brief.«
»Ist mir egal. Ich will nich weg. Gehen Sie ruhig Ihren Tee trinken, Mrs Dudley, ich komm hier sowieso nich raus.« Damit steckte Birdie den Schlüssel zurück ins Schloss und setzte sich auf den kalten Boden mit den verblassten roten Fliesen. Sie lehnte sich rücklings an die Tür und warf einen Blick in ihre Streichholzschachtel mit den Marienkäfern, die sie im Garten gesammelt hatte.
»Birdie, jetzt reichts mir aber! Du verpasst noch deinen Zug. Die erwarten dich doch. Stell dir mal vor, wie enttäuscht sie sein werden, wenn du nich kommst.«
Birdie wischte sich die Tränen ab, die ihr schon seit dem Morgen immer wieder übers Gesicht liefen.
Mrs Dudley hatte ja recht. Sie hatte sich wirklich immer eine richtige Familie gewünscht, aber jetzt, wo sie endlich eine bekommen sollte, verließ sie plötzlich der Mut. Sie kannte nun mal nichts anderes als das Leben hier im Kinderheim. Und bei der Vorstellung, Mrs Dudley und alles Vertraute hier zurückzulassen … tja, da wurde ihr einfach nur hundeelend zumute.
»Na und«, sagte Birdie und verschränkte die Arme, »dann schreib ich ihr halt und sag Danke, aber ich habs mir anders überlegt.«
Sie hörte, wie Mrs Dudley seufzte. Das machte die Heimleiterin ziemlich oft, wenn sie nicht so recht weiterwusste, und danach räusperte sie sich stets laut, so als hätten sich die Worte in ihrer Kehle verfangen.
»Birdie, Schätzchen, ich kann ja verstehen, dass du Angst hast, aber das geht ganz schnell vorbei, wenn du erst mal da bist und dich eingelebt hast. Wirst schon sehen. Und wir zwei schreiben uns regelmäßig.«
»Wirklich?«
»Natürlich. So, und jetzt komm. Der Zug wartet nich – nich mal auf dich, Birdie Bagshaw.«
Jetzt war es Birdie, die seufzte. Sie steckte die Marienkäferschachtel zurück in die Tasche. Einen Moment lang lehnte sie den Hinterkopf an die Tür und kniff die Augen zu, ehe sie aufstand und sich im Spiegel betrachtete. Ihr üppiger rabenschwarzer Lockenschopf ringelte sich bis auf ihre Schultern. Ihre hellbraune, von der Herbstsonne mit Sommersprossen gesprenkelte Haut war fleckig vom Weinen. Selbst ihre Nasenspitze war leicht gerötet.
Birdie klammerte sich an den Waschbeckenrand und versuchte, mit purer Willenskraft ihre Beine vom Zittern abzuhalten. Dann presste sie sich eine Hand auf den Brustkorb und fühlte ihr Herz hämmern, so heftig, dass sie fürchtete, es könnte vor lauter Überanstrengung stehen bleiben. Es stimmte, Birdie hatte wirklich Angst. Oder eigentlich war es noch mehr als das, aber ein passenderes Wort fiel ihr nicht ein.
Sie holte tief Luft und streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber ihre Füße waren wie am Boden festgeklebt. Erst nachdem sie ein weiteres Mal tief durchgeatmet hatte, schaffte sie es, langsam, ganz langsam den Schlüssel zu drehen und die Tür zu öffnen.
Mrs Dudley lächelte voller Zuneigung, als Birdie sich mit dem Ärmel ihres alten grauen Mantels die Tränen abwischte.
»Ich … Ich glaub, ich bin dann so weit.«
»Na, siehst du! So ists brav.« Mrs Dudley nahm ihre Hand. »Und jetzt geh dich rasch von den anderen verabschieden, die warten schon alle.«
Sie führte Birdie den langen, kalten Flur hinunter bis zur Eingangstür, an der sich die restlichen Heimkinder versammelt hatten.
»Du wirst uns so fehlen, Birdie. Stimmts, Gordon?« Birdies Freundin Margaret war in Tränen aufgelöst. Der Junge neben ihr nickte und ließ den Kopf hängen, sodass Birdie nicht viel mehr als seine dicken, krausen Locken sah.
Birdie sah sich um. Alle diese Kinder waren ihre Freunde. Schon seit sie Babys gewesen waren, hatten sie zusammen hier in Mrs Dudleys kleinem Kinderheim am Stadtrand von Leeds gelebt.
Birdie hatte lange gewartet, gehofft, sich von ganzem Herzen gewünscht, dass eines Tages ihre Mam auftauchen und sie zu sich holen würde, allerdings, wie sie heute wusste, vergeblich. Mrs Dudley hatte nämlich vor ein paar Jahren einen Brief erhalten, in dem stand, dass Birdies Mutter verstorben sei. Und obwohl Birdie sich überhaupt nicht an ihre Mam erinnern konnte, hatte sie danach jeden Tag um sie geweint, während das Laub an dem großen alten Ahorn im Garten sich erst von grün zu braun verfärbte und schließlich vom eisigen Winterwind zu Boden geweht wurde. Und jetzt hatte sich plötzlich ihre Großtante gemeldet, die sie bei sich haben wollte … sie, Birdie. Jemand wollte sie bei sich haben! Das war eine Wucht, einfach phänomenal! Endlich würde sie eine richtige Familie haben. Wenn sie dafür nur nicht ihre Freunde hier zurücklassen müsste …
»Ihr werdet mir auch fehlen.« Birdie schlang die Arme um Margaret, woraufhin diese gleich von Neuem losschluchzte. Birdies Herz wurde so schwer, als hätte jemand einen dicken Stein darauf abgeladen, und sie sog den Moment förmlich in sich ein, kostete ihn aus bis zum Letzten. Sie wusste, dass das hier ein Abschied für immer war und für sie ein neues Leben begann, ob sie nun wollte oder nicht.
»Deine Großtante, Mrs Winterbottom, holt dich vom Zug ab, Liebes«, erklärte Mrs Dudley, als Birdie und sie zusammen auf Bahnsteig elf des Bahnhofs von Leeds standen.
Es war kein warmer Tag, aber Mrs Dudleys rundliche Wangen waren trotzdem gerötet, und die tiefen Falten in ihrem Gesicht erinnerten Birdie an die Erde im vergangenen Sommer, rissig und zerfurcht unter der sengenden Sonne. Ihr ergrauendes Haar war fest auf kleine rosa Lockenwickler gedreht, die unter ihrem Kopftuch hervorlugten, sie trug eine dicke braune Strumpfhose, und die Schuhe, in die sie ihre geschwollenen Füße gezwängt hatte, hatten dasselbe Blau wie ihr Wollmantel.
Jetzt nahm sie Birdie fest in den Arm und hüllte sie in ihren Geruch nach Seife und Mr Dudleys Pfeifentabak.
»Dann steigst du jetzt wohl besser ein, Schätzchen.«
Panik wallte in Birdie auf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, mit dem Atmen nicht hinterherzukommen, und schnappte ein paarmal mit offenem Mund nach Luft. »Sehen … sehen wir uns denn irgendwann wieder?«
Mrs Dudleys Stirn legte sich in Runzeln und Birdie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.
»Aber ja doch, Liebes.« Mrs Dudleys Stimme brach ein wenig. »Richtig gut haben wirst dus da oben. Die Yorkshire Dales sind wunderschön, und du hast wirklich Glück, dass deine Tante dich zu sich holt. Wirst schon sehen, wenn du erst mal ganz angekommen bist bei deiner neuen Familie, hast du uns im Nu vergessen.«
Birdie schüttelte hitzig den Kopf. »Nein, nie! Ich werd Sie und die anderen niemals vergessen.« Sie sah die Heimleiterin an. Seit sie denken konnte, war es Mrs Dudley gewesen, die auf sie aufgepasst hatte, die sie abends ins Bett gebracht und morgens geweckt hatte. So war es immer gewesen. Kurzentschlossen schob sie die Hand in die Manteltasche und zog ihre Streichholzschachtel hervor.
»Könnten Sie das hier für mich aufbewahren, Mrs Dudley?«
Mrs Dudley zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Streichhölzer?«
Birdie öffnete die Schachtel. »Nein, da sind meine Marienkäfer drin. Ich glaub, die wollen vielleicht lieber hier bei Ihnen bleiben. Wenn ich sie mitnehmen würde, müssten sie am Ende nur den ganzen Weg zurück nach Hause fliegen, wie in dem Lied, das Sie immer singen. Da spar ich ihnen lieber die Mühe.«
Mrs Dudley sah Birdie aus ihren gütigen blassblauen Augen an. »Danke, Liebes. Ich geb gut auf sie acht. So, und jetzt ab in den Zug mit dir.«
»Mrs Dudley?« Birdie rührte sich noch nicht vom Fleck. »Meinen Sie, die werden mich mögen? Meinen Sie, jetzt wird alles gut?«
»Ja, Schätzchen, da bin ich mir ganz sicher … Bloß …« Mrs Dudley ließ den Blick über den Bahnsteig schweifen, als könnte sie dort die richtigen Worte finden. »Bloß … dein Leben da oben wird ziemlich anders sein. Die Kinder hier, weißt du, die …« Sie hatte offenbar große Mühe, den Rest des Satzes über die Lippen zu bringen, und Birdie wartete geduldig ab. »Na ja, jedenfalls wirds nich mehr so sein wie vorher, Birdie … Weil die Leute nun mal …« Sie verstummte.
»Was ist mit den Leuten?«
Wieder räusperte sich Mrs Dudley, doch auch das konnte nicht die Sorge aus ihrer Stimme vertreiben. »Tja, wie soll ich sagen? Manchen, mit denen du da zu tun haben wirst, denen … kommst du vielleicht ein bisschen fremd vor. Das braucht wahrscheinlich alles erst mal seine Zeit.«
»Ach, ich find mich schon zurecht, Mrs Dudley.«
Mrs Dudley rang die Hände. »Davon bin ich überzeugt, Birdie. Aber ich mein auch nicht, dass du Zeit brauchst. Sondern die Leute. Die könnten sich am Anfang etwas schwertun.«
Ein Pfiff ertönte. »Alles einsteigen!«, bellte der Schaffner vom anderen Ende des Bahnsteigs.
»Wie meinen Sie das?« Das wurde ja immer verwirrender. »Womit könnten die sich schwertun?«
Mrs Dudley schüttelte den Kopf. »Ach, ist schon gut, Liebes.« Sie lächelte. »Weißt du, ich kann dir gar nich sagen, wie lieb ich dich hab, Birdie Bagshaw. Ich könnt dich nich lieber haben, selbst wenn du meine eigene Tochter wärst.«
Sie half Birdie in den Waggon und reichte ihr ihren kleinen, verbeulten Koffer.
Birdie zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich gleich darauf aus dem Fenster.
»Schön die Augen offen halten, Birdie, deine Haltestelle heißt Barrington Dale«, rief Mrs Dudley über das Schnaufen des Zugs hinweg. Dampf und Qualm umwaberten sie wie dichter Nebel. »Wenn du dir nich sicher bist, frag den Schaffner. Hast du verstanden, Schätzchen?«
Birdies Panik kehrte zurück. Es war so weit. Sie reiste wirklich ab.
»Und Sie werden mich auch ganz sicher nich vergessen, Mrs Dudley? Versprechen Sies mir!«
»Als könnt ich dich je vergessen, Liebes! Und außerdem hab ich dir schließlich versprochen, dass ich dir schreib, nich wahr?« Mrs Dudley betupfte sich die Augen mit ihrem cremefarbenen Taschentuch, während der Bahnhofslärm um sie anstieg wie eine aufkommende Flut. »Und ich bin immer hier, unter demselben Mond wie du. Also, wenn du mal ein bisschen traurig bist oder Heimweh hast, dann guck einfach hoch zum Mond und stell dir vor, dass ich es auch tu. Denn das werd ich. Ich bin immer für dich da, und nichts wird je was daran ändern, wie sehr ich dich liebhab, Schätzchen. Egal, wie weit oder wie lange du von mir weg bist.«
Birdie taumelte, als der Zug mit einem Ruck anfuhr. Rumpelnd legte er an Geschwindigkeit zu und sang dazu sein pfeifendes, zischendes Lied.
Hastig stürzte Birdie zurück ans Fenster. »Mrs Dudley! Mrs Dudley! Mrs Dudley, ich will lieber doch nich weg! Mrs Dudley, können Sie mich abholen, wenn ich aussteige? MRS DUDLEY!«
Doch Mrs Dudley hörte sie nicht mehr, sondern stand bloß winkend auf dem Bahnsteig. Innerhalb von Sekunden schrumpfte sie zu einem winzigen Pünktchen zusammen und bald darauf war sie nicht mehr zu sehen.
»Barrington Dale! Barrington Dale! Nächster Halt: Barrington Dale!«, rief der Schaffner, der mit großen Schritten durch den leeren Waggon marschierte, über das Kreischen der Bremsen hinweg.
Birdie sah aus dem Fenster: Draußen wurde es bereits dunkel, der Regen trommelte gegen die Scheibe und das weiße Schild des kleinen Dorfbahnhofs schwang im Wind.
»Ich muss hier aussteigen, Sir.« Das klang sehr viel selbstsicherer, als Birdie es in Wirklichkeit war.
Die buschigen grauen Augenbrauen des Schaffners hoben sich, als er sie über den Rand seiner schwarzgerahmten Brille hinweg musterte. »Na, dann komm mal besser in die Gänge, Kleine, sonst landest du nämlich in Schottland, und die Kälte hier is nix gegen die da oben, das kannst du mir glauben.« Er gluckste in sich hinein und hob Birdies Koffer aus dem Gepäcknetz. »Zum ersten Mal allein unterwegs?«
»Ja, aber lieber wär ich zu Hause geblieben.«
»Wie heißt du denn?«
»Birdie. Birdie Bagshaw.«
Der Mann lächelte freundlich. »Birdie Bagshaw. Da brat mir doch einer nen Storch. Wo findet man heutzutage noch jemanden mit so nem dollen Namen?«
»Zwischen den Rüben.«
Der Schaffner brach in schallendes Gelächter aus. »Wie bitte?«
»Meine Mam hat mich beim Erntedankfest in der Kirche ausgesetzt. Da war ich noch ein ganz kleines Baby, darum hat sie mir einen Brief an den Latz gesteckt, in dem stand, dass sich bitte jemand um mich kümmern soll. Und dass ich Birdie Bagshaw heiße.« Birdie runzelte die Stirn. »Es war auch ein Foto von ihr dabei, aber leider lag ich direkt neben der roten Bete, und außerdem hat es durchs Kirchendach geregnet, darum war das Bild am Ende ganz nass und rot, und man konnte nichts mehr drauf erkennen. Danach bin ich ins Kinderheim gekommen, aber jetzt hat meine Großtante Mabel geschrieben, ich darf bei ihr wohnen.«
Der Schaffner schüttelte gutmütig den Kopf. »Hat dir schon mal wer gesagt, dass du ganz schön viel redest?«
Birdie blieb vollkommen ernst. »Ja.«
Schmunzelnd warf der Mann einen Blick auf seine Taschenuhr. »Dann komm mal mit.«
Birdie folgte dem Mann zur Zugtür und stieg aus. Der Wind, der sie draußen auf dem Bahnsteig empfing, war deutlich rauer als in Leeds und heulte ihr eisig um die Ohren.
Nachdem der Schaffner ihr ihren Koffer gereicht hatte, schloss sich die Tür hinter ihr mit einem ziemlich endgültigen Rums.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und war kurz darauf verschwunden. Birdie hatte heute jede Menge Menschen und Bahnhöfe kommen und gehen sehen, aber eins wollte einfach nicht weggehen: die Traurigkeit, die in ihrer Brust flatterte wie eine von Mr Dudleys Tauben.
Sie drehte sich um und sah in die Richtung, aus der sie gekommen war. Es gab jetzt kein Zurück mehr, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie hier erwartete. Sie hatte noch nie mit ihrer Großtante gesprochen, nicht mal ein Foto von ihr gesehen. Sie und Birdie waren einander völlig unbekannt.
Bemüht, das Flattern zu ignorieren, guckte Birdie sich um.
Ein paar Leute liefen an ihr vorbei, und Birdies Blick blieb an einer Frau im mittleren Alter hängen, die mit sauertöpfischer Miene den Bahnsteig entlangeilte. Doch auch sie schenkte Birdie keine Beachtung, sondern marschierte schnurstracks weiter Richtung Fahrkartenschalter. Kurz darauf stand Birdie wieder allein da, einsam und weit weg von zu Hause.
Birdie wartete.
Und wartete.
Und wartete.
Und wartete.
Sie setzte sich hin und sah zu, wie der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr neunundfünfzig Mal im Kreis tickte. In ihrem Kopf machten sich zwei beunruhigende Gedanken breit. Erstens fragte sie sich, ob sie vielleicht an der falschen Haltestelle ausgestiegen war. Und zweitens – noch schlimmer –, ob es sich bei dem Ganzen nicht vielleicht um ein Missverständnis handelte. Was, wenn Mrs Dudley etwas durcheinandergebracht hatte und in Wirklichkeit nicht Birdie hier hätte stehen sollen, sondern Barbara, eine ihrer Freundinnen aus dem Heim? Aber wenn es so wäre, hätte dann nicht längst jemand kommen und nach Barbara Ausschau halten müssen?
Birdie hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr zu weinen, aber es fiel ihr immer schwerer, sich daran zu halten, und sie schluckte krampfhaft gegen die Tränen an, die sich in ihrer Kehle stauten.
»Hallo?« Eine fremde Stimme ließ sie zusammenzucken.
Sie drehte sich um. Hinter ihr stand ein Kofferträger, ein älterer Herr mit so krummem Rücken, als hätten ihn die starken Yorkshire-Böen mit den Jahren immer mehr gebeugt. Seine Haut war schlaff und runzlig und seine Hängebacken schlackerten beim Sprechen wie zwei Wäscheklammerbeutel.
Er räusperte sich. »Wartest du auf jemanden, Kleine? Bist ja schon ne ganze Weile hier.«
»Ja, auf meine Großtante … Mrs Winterbottom.« Birdie war so erschöpft, dass die Worte ihr nur noch im Schneckentempo über die Lippen krochen.
Der Mann machte große Augen. »Mrs Winterbottom ist deine Großtante? Was du nich sagst.«
»Ja. Glaub ich jedenfalls. Vielleicht ist sie aber auch die von Barbara … Kennen Sie sie?«
»Wen, Barbara?«
»Nee, die können Sie ja gar nich kennen. Ich mein Mrs Winterbottom.«
»Ach so. Ja, die kenn ich. Wohnt da drüben im Dorf. Hätte die dich hier abholen sollen?«
»Das hat Mrs Dudley so gesagt, aber vielleicht hab ich mich auch vertan.«
Der Kofferträger zog eine silberne Taschenuhr aus seiner Weste. »Tja, der Bus fährt um diese Zeit jedenfalls nich mehr. Der kommt sowieso nur einmal am Tag, mit Glück.«
»Und was soll ich jetzt machen? Hierbleiben?«
Der Mann lachte. »Hier? Nee, da holst du dir ja Frostbeulen. Musst halt zu Fuß gehen. Keine Sorge, is nich weit fürn junges Ding wie dich. Einfach die Straße da runter bis zum Zaum. Da kletterst du rüber, läufst über die Weide und dann bist du auch schon da. Pass nur auf mit den Kühen. Die sind nich so freundlich, wie sie aussehen.«
Der Regen hatte aufgehört, und es war so still, dass Birdie sich vom Klang ihrer eigenen Schritte verfolgt fühlte. Immer wieder hielt sie an, um sich zu vergewissern, dass wirklich niemand hinter ihr herlief.
Sie war todmüde. Noch nie war ein Tag ihr so lang vorgekommen, und er schien sich immer noch länger hinzuziehen, genau wie die Straße vor ihr. Birdie hatte sich ausgemalt, wie sie mit einem Stück Ingwerkuchen und vielleicht sogar einer Tasse warmer Ovomaltine empfangen würde, nicht von dem bitterkalten Yorkshire-Wind.
Seufzend umfasste sie den Griff ihres alten Koffers fester und redete sich ein, sie hätte keine Angst. Redete sich ein, die Dämmerung, die allmählich hinter ihr herankroch, wäre kein bisschen gruselig. Sie begann, laut vor sich hin zu summen, damit sie sich mutiger fühlte. Damit die Hecken ihr nicht mehr auflauerten wie wilde Raubtiere, die Trockenmauern nicht mehr neben ihr herglitten wie riesige Schlangen. Alles hier war so anders, selbst der Geruch der Luft. Hier draußen gab es keine hohen, rauchenden Schornsteine, keine Fabrikschlote mit ihrem beißenden, nach faulen Eiern stinkenden Qualm. Sie musste wirklich mitten im Nirgendwo gelandet sein.
Während sie zusah, wie ihr Atem vor ihrem Mund kleine Wölkchen bildete, fiel ihr wieder ein, was Mrs Dudley zu ihr gesagt hatte, und sie guckte hoch zum Himmel. Doch der Mond war nicht zu sehen.
Wieder ermahnte sie sich dazu, ruhig zu bleiben, als sie sich durch ein Gewirr aus Brombeerranken kämpfen musste, die sich störrisch in ihrem Mantel verfingen. Schließlich gelangte sie auf eine Lichtung.
Und dort, hinter einer weiteren Mauer, sah sie es: das Dorf. Winzige Häuser am Horizont, bewacht von den wilden Hügeln der Yorkshire Dales. Die erleuchteten Fenster schienen ihr zuzuzwinkern.
Ihr neues Zuhause.
Hier würde ihr neues Leben beginnen.
Hier, in Barrington Dale.
Die Kälte wurde immer unerbittlicher und krallte sich geradezu in den Knochen fest. Ausnahmsweise war Birdie froh über die viel zu langen Ärmel ihres grauen Mantels, die sie sich jetzt über die Finger ziehen konnte, um sie vor dem schneidenden Wind zu schützen.
Ihr Koffer schien mit jedem Schritt schwerer zu werden, und ihre Schuhsohlen waren so dünn, dass sie jeden Stein darunter spürte. Schließlich führte der bucklige Weg zu einem rauschenden Fluss und über eine gewölbte Brücke in Richtung einiger alter, schiefergedeckter Bauernhäuschen.
Ein Stück voraus entdeckte Birdie einen Mann, der einen kleinen Hund spazieren führte.
»Entschuldigen Sie, Sir«, rief sie höflich. »Ich möchte zu Mrs Winterbottom.«
Der Mann riss die Augen so weit auf, dass sie sich kurz umdrehte, um nachzusehen, ob hinter ihr etwas in der Dunkelheit lauerte.
»Äh … Mrs Winterbottom, sagst du?«
»Genau, das ist meine Großtante. Sie hat geschrieben, dass sie mich bei sich aufnehmen will. Ich bin Birdie.«
Jetzt wirkte er regelrecht entgeistert und wischte sich mit einem sauberen weißen Taschentuch über die Stirn. »Bist du dir da sicher?«
»Ja, ja, ich heiße ganz sicher Birdie. Den Namen hat meine Mam damals auf einen Zettel ge-«
»Das mein ich nich«, fiel er ihr barsch ins Wort. »Ich mein, dass du zu Mrs Winterbottom sollst. Bist du wirklich sicher, dass sie dich aufnehmen will?«
»Ja. In ihrem Brief stand, sie könnts gar nich erwarten, mich kennenzulernen.« Birdie biss sich auf die Unterlippe.
Der Mann klemmte sich seine Zeitung unter den Arm wie ein Gewehr. »Tja, dann. Sie wohnt jedenfalls da oben auf dem Hügel. Direkt gegenüber von den Kleingärten …« Er hielt mit offenem Mund inne, und Birdie wartete darauf, dass er weitersprach, aber dann wandte er sich wortlos zum Gehen und nahm seine unerklärliche Empörung mit.
Oben auf dem Hügel angekommen, der sich wie eine riesige Meereswoge über dem Dorf erhob, entdeckte Birdie das Haus. Es hatte ein weit vorspringendes Schieferdach, und darunter drängte sich eine Reihe winziger Fenster, wie um sich zu verstecken. Die Mauern waren schneeweiß getüncht, wodurch das Ganze an einen der Zuckerwürfel erinnerte, die Mrs Dudley sonntags in ihren Tee gab.
Birdie öffnete das Vorgartentörchen und folgte dem von kniehohen Hecken flankierten Pfad zur Tür. Der Kies knirschte unter ihren Füßen.
Sie holte tief Luft und einen Moment lang verharrte ihre Hand reglos in der Luft. Dann betätigte sie beherzt den großen schmiedeeisernen Türklopfer und wartete …
… und wartete …
… und wartete.
Birdie staunte darüber, wie viel Wartezeit in einen einzigen Tag passte. Irgendwann ertönte von drinnen das Klickediklack näher kommender Schritte.
Dann wurde die schwere Eichenholztür aufgerissen. Die Frau, die darin erschien, war klein und trug einen marineblauen Wollrock mit einer dazu passenden, bis unters Kinn zugeknöpften Jacke. Außerdem hatte sie sich ein Schultertuch umgelegt, dessen Enden sie nun energisch zusammenzog, als sträubte es sich dagegen, an seinem Platz zu bleiben. Sie musterte Birdie argwöhnisch. »Ja, bitte?«
»Mrs Winterbottom?«
»Wer will das wissen?«, antwortete sie knapp.
»Birdie.«
Das versetzte die Frau merklich in Aufregung. »Birdie? Ach du meine Güte.« Sie trat einen Schritt vor. »Wo ist sie denn? Ist ihr was passiert?«
»Nein, nein. Ich bin Birdie.« Birdie deutete auf sich selbst.
Der Mund ihrer Großtante klappte auf.
Sie wurde aschfahl.
»Du … du … du bist Birdie? Ich … aber …« Sie blinzelte ein paarmal rasch hintereinander, ehe sie den Mund wieder schloss und sich das Brustbein rieb, als bekäme sie plötzlich schlecht Luft. Und das war der Moment, in dem Birdie begriff. Das hier war die Frau, die sie zuvor am Bahnhof gesehen hatte. Also hatte ihre Großtante sie gar nicht vergessen. Aber warum hatte sie sie dann nicht angesprochen?
»Ich … ich hab … ich hab …«, setzte ihre Tante von Neuem an. »Birdie, ich hab nich gewusst, dass du …« Sie fuchtelte mit der Hand durch die Luft, als schwebte dort ein Schwarm unsichtbarer Worte, aus denen sie die richtigen herauszupicken hoffte. »Na ja, dass deine … also, dass du …« Wieder verstummte sie und umklammerte ihre Kehle, als hätte jemand ihr die Perlenkette gestohlen.
Birdie wartete bibbernd ab. Sie hatte keine Ahnung, worauf ihre Tante hinauswollte. »Dass ich was?«
Ihre Tante sog scharf die Luft ein, als sie jemanden die Straße hochkommen sah, und zog Birdie ins Haus. Sie wirkte völlig aus der Fassung gebracht.
Der Flur, in dem Birdie sich wiederfand, war schummrig erleuchtet. Auf dem Boden stand ein Nachttopf aus weißem Porzellan, der mit einem grauen Baumwolltuch abgedeckt war. Es roch nach Toast und Wachspolitur, und an der Wand hing ein großes gerahmtes Porträt von Birdies Großtante, die nicht mal auf dem Bild lächelte.
Birdie wandte ihren Blick wieder der echten Mrs Winterbottom zu. Irgendetwas stimmte hier nicht. »Hast du mich denn nich erwartet, Tante Mabel?«
Ihre Tante versuchte sich an einem Lächeln. »Doch. Oder nein. Eigentlich hab ich …« Sie leckte sich über die Lippen. »Sagen wir, ich hab nich mit jemand so … Fremdem gerechnet.«
Fremd.
Genau dieses Wort hatte Mrs Dudley auch benutzt. Aber wieso fremd? Was sollte das bedeuten? Sie war doch einfach nur ein ganz normales Mädchen.
Genau wie der Mann unten im Dorf starrte ihre Tante sie so irritiert an, dass Birdie sich über den Mund wischte, falls dort noch ein paar Krümel von dem Stück Schweinefleischpastete klebten, das Mrs Dudley ihr für die Fahrt eingepackt hatte. Aber dann schüttelte ihre Tante den Kopf. »Davon hat keiner was gesagt«, murmelte sie vor sich hin.
Sie nahm Birdies Koffer und ging damit zu der Tür am Ende des Flurs. Verwirrt und enttäuscht blieb Birdie hinter ihr zurück.
Birdie gab sich einen Ruck und hastete ihrer Tante hinterher durch den schwarz-rot gefliesten Flur. Die knarzende Tür an seinem Ende führte in ein kleines, aufgeräumtes Hinterzimmer. Neugierig sah sie sich um. Im Kamin knisterte ein orangegelbes Kohlenfeuer, und in der gegenüberliegenden Ecke stand ein einsamer Sessel, über den eine braune Häkeldecke gebreitet war. Die Fenster waren mit ausgeblichenen Zeitungsseiten verklebt, vermutlich um die Kälte draußen zu halten, und an der Wand tickte teilnahmslos eine Standuhr vor sich hin, aufrecht wie ein Wachmann.
Obwohl sie nur in den Dales waren und damit gar nicht weit weg von Leeds, kam es Birdie vor, als läge ein kompletter Ozean zwischen ihr und dem Kinderheim. Die seltsame Starre, die das gesamte Haus zu erfüllen schien, begann bereits auf sie überzugreifen und vermischte sich mit der wachsenden Traurigkeit in ihr.
Birdie verstand die Welt nicht mehr. Natürlich war ihr klar gewesen, dass der Abschied von Mrs Dudley und den anderen Kindern schwer werden würde, aber sie hatte sich immer vorgestellt, eine eigene Familie zu haben müsste sich anfühlen, als hätte man am ersten Frühlingstag eine Kugel Sonnenschein verschluckt. Niemals hätte sie erwartet, dass es stattdessen war, als läge einem eine riesige Bleikugel im Magen.
Sie warf einen Blick auf die alte Uhr. Der Tag war noch nicht mal rum, und trotzdem vermisste sie die anderen ganz fürchterlich, besonders Mr und Mrs Dudley. Was sollte sie bloß ohne sie anfangen? Wie sollte sie hier zurechtkommen? Am besten bat sie Mrs Dudley wohl gleich in ihrem ersten Brief, sie so bald wie möglich wieder abzuholen. Schließlich schien ihre Großtante alles andere als froh darüber, sie bei sich zu haben.
»Ich hab dir ein Bad vorbereitet, Birdie. Ist nur schon etwas her, darum ist das Wasser wahrscheinlich nich mehr warm. Aber an einem kalten Bad ist ja bekanntlich noch keiner gestorben.«
Birdie runzelte die Stirn. »Doch.«
Ihre zierliche Tante schien vor lauter Entrüstung direkt ein Stück größer zu werden. »Was?«
»Es sind wohl schon Menschen an einem kalten Bad gestorben. Mr Hargreaves zum Beispiel, Mr Dudleys alter Nachbar. Der ist mittwochs am Fluss angeln gewesen und hat sich dort nich nur ein paar Hechte geholt, sondern auch eine Erkältung. Danach hat er ein paarmal kalt gebadet, um das Fieber zu senken, und Mr Dudley meinte, schon am Freitag drauf hätte er den Löffel abgegeben.«
Der Seufzer, der ihrer Tante daraufhin über die missbilligend geschürzten Lippen ging, erinnerte Birdie an Mrs Dudley, die oft ganz genauso geseufzt hatte. »Tja, dann können wir wohl nur hoffen, dass es dir heute besser ergeht.«
»Ja«, entgegnete Birdie mit einem besorgten Blick auf die Zinnwanne vor dem Ofen. Das Wasser darin machte einen eiskalten Eindruck. Selbst wenn sie die Augen ganz schmal zusammenkniff, ließ sich nicht der winzigste Hauch von Dampf darüber erkennen.
»Das da kannst du alles benutzen.« Ihre Tante deutete auf ein Stück Karbolseife, das zusammen mit einer Schachtel Badesalz, einem fadenscheinigen blauen Handtuch und einer hölzernen Rückenbürste oben auf dem Ofen lag. »Aber denk dran: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Und wenn du fertig bist, gibts Abendessen.« Ihre Tante hielt kurz inne und fixierte Birdie mit ihrem Blick. »Ich hab dir ein Sandwich gemacht, mit Käse und Gürkchen. So was isst du doch, oder? Du weißt schon … ganz normales englisches Essen eben. Nichts Besonderes.«
»Nichts Besonderes?« Birdie konnte gar nicht fassen, dass jemand ein Sandwich mit Käse und Gürkchen als nichts Besonderes bezeichnete. Für sie war das der Himmel auf Erden, wenn auch vielleicht nicht ganz so spektakulär wie Corned Beef, das es im Heim höchstens an wichtigen Feiertagen gab.
»Für uns jedenfalls«, verdeutlichte Mrs Winterbottom. »Ganz normales Essen, wie unsereins hier es kennt.«
Birdie wunderte sich ein wenig, warum ihre Tante so sehr auf dem Wort normal herumritt. »Ich bin dankbar für alles, was man mir vorsetzt«, verkündete sie lächelnd. »Mrs Dudley hat uns immer eingebläut, dass wir das sagen sollen, selbst wenn irgendwer uns Grießpudding serviert, davon musste Barbara nämlich schon mal k-«
»Schluss jetzt mit dem Geplapper«, unterbrach ihre Tante sie hastig und massierte sich die Nasenwurzel. Dann schwieg sie eine Weile, bevor sie mit matter Stimme fortfuhr: »Also, wie dem auch sei, nach dem Abendessen zeig ich dir dann dein Zimmer und das Plumpsklo hinterm Haus … Ach, und bevor ichs vergesse: Dein Onkel musste kurzfristig rüber nach Bradford, aber morgen früh sollte er wieder hier sein.«
Das Gesicht ihrer Tante wirkte so angespannt und verkniffen. Es erinnerte Birdie an Margaret, als die mal zu viel Kohlsuppe gegessen und schlimme Bauchkrämpfe bekommen hatte.
»Gehts dir nich gut, Tante Mabel?«, fragte Birdie, die überlegte, ob ihre Tante wohl einfach nur müde war. Ja, daran lag es bestimmt. Mrs Dudley wurde gegen Abend auch immer furchtbar müde. »Wie wärs, wenn ich dir einen Tee mache? Das kann ich schon ganz allein, sogar ohne mir die Finger zu verbrennen. Wenn Mrs Dudley einen anstrengenden Tag hat, hilft ihr eine Tasse Tee immer. Dir ja vielleicht auch?«
Doch ihre Tante brachte nur ein winziges Kopfschütteln zustande, als wäre ihr Nacken plötzlich versteinert. Und dann, ohne ein weiteres Wort, machte sie so zackig auf dem Absatz kehrt wie ein Soldat in einer Militärparade.
Kaum dass die Tür hinter ihr zugefallen war, begannen Birdies Tränen zu fließen. So ein Gefühl war es also, eine Familie zu haben? So eisig wie das kalte Wasser in der Zinnwanne? Sie verstand das alles einfach nicht. Aber eines wusste sie ganz sicher: Sie wollte nach Hause.
Nachdem Birdie nur die Zehen in das eiskalte Bad getaucht hatte – auf keinen Fall wollte sie enden wie Mr Hargreaves –, verschlang sie hastig ihr Sandwich und folgte dann ihrer Tante in die zugige Dachkammer, in der sie von nun an schlafen sollte.
Die Bodendielen waren mit schlichten braunen Teppichen ausgelegt, aber trotzdem spürte Birdie den kalten Luftzug, der durch die Ritzen drang. Das winzige Fenster auf der Giebelseite schien mehr schlecht als recht in seinen Rahmen zu passen. Es rappelte im Wind und ließ tröpfchenweise den Nieselregen herein.
Birdie hockte sich im Schneidersitz aufs Bett und lauschte der Liste an Dingen, die sie zu tun und zu lassen hatte. »Denk auf jeden Fall an dein Nachtgebet«, begann ihre Tante aufzuzählen und fügte dann leise hinzu: »Glaub mir, wir können jede Unterstützung brauchen, die wir kriegen können. Morgen früh machst du bitte dein Bett. Und ich erwarte, dass du mir nach der Schule im Haushalt hilfst.«
Sie verzog den Mund zu etwas, das ein Lächeln hätte werden können, dann aber doch nicht richtig durchkam, und am Ende pressten sich ihre Lippen fest zu einem schmalen Strich zusammen. Um die aufzukriegen, dachte Birdie bei sich, brauchte man wahrscheinlich einen von diesen Drehschlüsseln, wie sie immer an Mrs Dudleys Fleischkonserven waren. Wie schon so oft an diesem Abend glitt Mrs Winterbottoms Blick an Birdie hoch und runter, als sähe sie sie wieder und wieder zum ersten Mal. »Leicht wird das alles nich, nur dass dir das klar ist.«
