Bis die Ärztin kommt - Josephine Chaos - E-Book

Bis die Ärztin kommt E-Book

Josephine Chaos

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Beschreibung

*** Sexy Schwestern *** *** Scharfe Chefärzte *** *** Verklemmte Patienten *** *** Spektakuläre Geburten *** Nach der Geburt ihres vierten Kindes stolpert Frauenärztin Doktor Chaos sogleich von einem Ereignis ins nächste: Die neue Kollegin entpuppt sich als knallharte Konkurrentin und Ärzte verrückt machende Blondine. Mit Schwangerschaftsspeck auf den Hüften und Babykotze im Still-Dekolleté ertappt Josephine gleich zwei Paare beim Sex am Arbeitsplatz, muss sich um die Schwangerschaft einer ungeliebten Kollegin kümmern und riskiert durch den Streit mit einer Privatpatientin ihre Klinikkarriere. Geboren wird immer: Rasante neue Geschichten von Deutschlands unterhaltsamster Frauenärztin!

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Josephine Chaos

Bis die Ärztin kommt

Liebe, Leidenschaft und andere Notfälle

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Hinweis]Warum die Pest gegen tolle Frauen mit langen Beinen nur ein Babyschnupfen ist!Von Springern und langen Larrys. Oder: Willkommen im OP-Land!Dr. Multisozialversagen. Und: mit der Milchbar über die WöchnerinnenstationWarum Jeannie in High Heels nicht joggen und Bambi nicht »poppen« sagen kannMediterraner Ganzkörperschmerz und blümelige WonnenWillkommen im Leben, Tschäremie-Marlboro! Und warum Nancy The Fancy definitiv ein Alien istNachts um 2 Uhr ist im OP die Welt noch in OrdnungKanarienurlaub auf Fürteventura, und warum Chaos-Kind-klein ein Motorrad gekauft hatWas passiert, wenn Freddy Krueger aus »Nightmare on Elmstreet« in der Sesamstraße auftauchtDas Offensichtliche ist meist ziemlich offensichtlichFreaky Friday: Wer Kompressen entwendet und nicht wiederbringt, wird mit OP-Verbot nicht unter drei Wochen bestraftUnd nun, das Ende naht. Oder: Einladung zur FacharztprüfungDie Arbeitshöhle, wo Milch und Honig fließen – und Männer gemütlich X-Box spielen könnenWie ich beinahe geteert, gefedert und gevierteilt wurde, bevor man meine armseligen Überreste im Atlantik versenkteWenn der Papst zum protestantischen Glauben konvertiertNachts in der Notaufnahme. Oder: Warum um 23 Uhr 45 Privatunterhaltung extra kostet!Wenn Weihnachten und Ostern mal wieder auf ein und denselben Tag fallenDon Camillo und Peppone. Oder: Eine geheimnisvolle VerabredungEin Laborzettel wie der Nachthimmel über der KaribikWie Rhinozerosse sich vergnügen und warum auch Hotelgäste ein Recht auf Einhaltung der Ruhezeiten habenWarum man sich besser nicht mit der Mafia anlegtEin Magen-Darm-Infekt kommt selten alleinÜber seltsame Stimmen und den Arm des Mannes auf der Schulter der Ex-FeindinWer ist eigentlich Helena Schöne?Die Rettung der Hoffnungslosen und VerzweifeltenGlossarDanksagung

Für Michael Crichton und Samuel Shem –

ohne die ich nicht einmal die Jahre

der Vorklinik überlebt hätte!

Die Personen und Handlungen in diesem Buch sind völlig frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen rein zufällig und somit nicht beabsichtigt.

Warum die Pest gegen tolle Frauen mit langen Beinen nur ein Babyschnupfen ist!

»… und schön ist sie auch noch! Ich meine: wirklich unglaublich atemberaubend, wie-gemalt-SCHÖN! Die Jungs sind alle völlig von der Rolle, laufen den ganzen Tag sabbernd und gaffend hinter ihr her und überschlagen sich nur so vor Liebenswürdigkeiten. ›Helena hier‹ und ›Helena dort‹ – es ist ganz, ganz schrecklich!«

Gloria-Victoria, Lieblingshebamme und zweitbeste Freundin, ist eigentlich – man möchte es gerade kaum glauben – eine völlig ausgeglichene, stets blendend gelaunte Person. Die Betonung liegt auf eigentlich, denn im Moment ist sie eher völlig aus dem Häuschen, und ich habe nur eine ungefähre Ahnung, wie es dazu kommen konnte.

Während ich Baby-Chaos die Milch von der zufrieden lächelnden Schnute wische und das schlafende Kind vorsichtig in seinen Stubenwagen packe, das Telefon mit der aufgebrachten Hebamme fest zwischen Kinn und Schulter gepresst, flüstere ich leise in die Sprechmuschel: »Gloria, Liebelein, du solltest dich nicht so aufregen. Das ist schlecht für den Blutdruck!«

»Für den Blutdruck? Den BLUTDRUCK? Ich sag dir, was mir den Blutdruck in die Höhe treibt! Dieses Bunny! Mit ihren knallengen Jeans und diesen Beinen bis zum Hals. Kannst du dir vorstellen, dass sie Designer-Hosen trägt?«

»Isses wahr …?«

»… IM Krankenhaus? IM Dienst?«

»Unglaublich, das …«

»Und selbstverständlich ist sie blond. BLOND!« Ich stutze und starre irritiert auf das Telefon in meiner Hand. Also, wenn die Stilldemenz nicht gerade meine letzte Hirnzelle eliminiert hat, dann …

»Gloria – bist DU nicht auch blond? Zumindest warst du es letzte Woche noch …«

»JAAA! Aber bei mir muss das so sein!«

Ach so – ich vergaß …

»… und dann hat sie noch diese unerhört blauen Augen – mit sooooo langen Wimpern!«

 

Mit jedem neu aufgezählten Körpermerkmal hangelt sich die Stimme der aufgebrachten Freundin weiter die Tonleiter hinauf, bis es – beim zwei gestrichenen »C« angekommen – in schönstem Fortissimo aus dem Hörer plärrt: »… und tolle Brüste hat sie aaaahaaauch!«

Au weia! Tolle Brüste sind natürlich ganz schön blöd!

Um das Kindelein nicht aus postprandialem Tiefschlaf zu holen, schleiche ich, das Telefon an die eigene Brust gedrückt, in die Küche, gieße mir erst einen Kaffee ein, ziehe dann mein geliebtes Guten-Morgen-Snickers aus der Schublade und mache es mir am Küchentisch gemütlich, wohl wissend, dass das hier durchaus länger dauern kann. Das ganze Telefon-Drama dreht sich nämlich seit nun mehr als einer halben Stunde und einer vollen Stillmahlzeit einzig um Frau Dr. Helena Schöne, welche – genau wie ich – als Assistenzärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe im Krankenhaus »Am Rande der Stadt« arbeitet und bei der ganz offensichtlich der Name Programm ist. Dr. Schöne muss mindestens Anwärterin auf die nächste Miss Universe sein. Ach, was sage ich? Miss Heaven … Paradise … What ever.

Ich selbst kann das Ausmaß ihrer Schönheit noch nicht selbst beurteilen, denn da die Kollegin Schöne sehr kurzfristig als meine Schwangerschaftsvertretung eingestellt wurde, habe ich bislang noch nicht die Bekanntschaft dieser sagenumwobenen Person gemacht. Was sich bald ändern wird. Nächste Woche. Denn dann ist mein Mutterschutz vorbei.

»Okay, tolle Brüste, lange Beine – die Frau ist die Pest. Hab ich das jetzt alles richtig mitbekommen?« Genüsslich beiße ich ein Stück meines Schokoriegels ab und spüle mit reichlich Kaffee nach, während Gloria-Victoria, gerade noch leidlich runterreguliert, schon wieder heftig zu schnaufen beginnt.

»Die PEST?«, brüllt es mir beleidigt entgegen. »Die Pest ist ein Babyschnupfen gegen diese Ziege!«

Ich sehe bildlich vor mir, wie die sonst sommersprossigen Wangen meiner Lieblingshebamme in flammendem Rot brennen. Unglaublich – die Kleine ist wirklich völlig von der Rolle. Wegen einer Frau, die sie gerade mal seit einigen wenigen Wochen kennt!

»Erde an Gloria! Hallo? Du musst jetzt dringend wieder runterkommen!«

Nicht, dass das noch ein Herzinfarkt wird. Ich mache mir wirklich ein wenig Sorgen. »Sag, Hase – was ist denn eigentlich los, hm? Nancy The Fancy ist auch umwerfend schön! Und arrogant! Und bösartig außerdem, aber ich kann mich nicht erinnern, dass du wegen ihr jemals derart von der Rolle warst …«

»JA!«, brüllt es wütend zurück »Aber Nancy ist schließlich Chirurgin. Mit der hab ich genau gar nichts zu tun. Und die ist ja auch nur hinter ihrem Oberarzt her – und gräbt nicht an Malucci herum!«

Ach, daher weht der Wind also! Dr. Malucci ist nämlich auch gynäkologischer Assistenzarzt. UND gutaussehend. Obendrein seit kurzem mit meiner kleinen Sommersprossenhebamme liiert. Und weil er außerdem ein italienischer Sunnyboy wie aus dem Lehrbuch ist, der sogar der dreiundachtzigjährigen Frau Obermeier aus Zimmer 375 B noch schöne Augen macht, ist Gloria-Victoria jetzt wohl in Sorge um die zarten Triebe dieser frisch erblühten Liebe. Oder so. Mann, Mann, Josephine, du hast immer noch ordentlich viele Schwangerschaftshormone im Blut. Frisch erblühte Liebe …

»Sag mal, ist da etwa jemand ein kleines bisschen eifersüchtig?« Die Frau am anderen Ende der Leitung verfällt jetzt zunehmend in Schnappatmung.

»Bist du bescheuert, Josephine? Wieso sollte ich eifersüchtig sein? Und auf wen? Pfffttt …!«

Nicht sehr überzeugend, dieses »Pfffttt« …

»Hat er denn schon irgendetwas getan, was die ganze Aufregung rechtfertigen würde? Hat er ihr Blumen geschenkt? Sie zum Essen ausgeführt? Im Cabrio die Sterne gezeigt?« Ich muss ein bisschen grinsen, als ich mir Malucci mit seinem italienischen Gardemaß von etwa 1 Meter 60 neben der offensichtlich topmodelgroßen Blondine vorstelle. Der bräuchte zum Küssen glatt eine Trittleiter.

»NEIN!«, faucht es mir durch den Hörer entgegen. »Aber was noch nicht ist, das kann ja ganz bald was werden!«

»Hör zu, GV, ab Montag bin ich wieder im Dienst, dann nehmen wir uns der Geschichte gemeinschaftlich an, okay? Und sollte auch nur Maluccis Augenbraue in Richtung dieser sagenhaften Helena zucken, mach ich Spaghetti-Napoli aus ihm, verstehst du?«

Oh Mann – noch nicht wieder richtig zurück aus dem Mutterschutz und schon ist die Kacke richtig am Dampfen. DAS kann ja noch lustig werden …

Von Springern und langen Larrys. Oder: Willkommen im OP-Land!

Es ist Montagmorgen, 7 Uhr 45, als ich, ein wenig außer Atem, am Klinik-Pförtner vorbei zu den Aufzügen hetze, einen Kaffee in der linken und lauter wichtige Dinge wie Arztkittel, Milchpumpe, Kühltasche und Mittagessen in der rechten Hand. Ein bisschen aufgeregt bin ich schon, so, als wäre dies mein erster Arbeitstag. Dabei bin ich schon verdammt lange im Geschäft – gefühlte einhundert Jahre würde ich sagen, und war nur für ein paar Monate im Mutterschutz mit Chaos-Kind Nummer vier. Beim Gedanken an besagtes Kind, welches gerade durch den Zuhause arbeitenden Gatten bespaßt wird, spüre ich, wie mir die Muttermilch in die Brust schießt. Besorgt schaue ich an mir herunter auf mein ungewohnt ausladendes Stilldekolleté, ob sich denn schon irgendwelche verdächtigen, durch auslaufende Muttermilch verursachte Flecken auf der Bluse gebildet haben, als sich mit einem leisen Sirren die Aufzugtür öffnet und eine vertraute Stimme sagt: »WOW – echt tolle Möpse, Josephine!« Ich merke deutlich, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt und muss dennoch lachen.

»Malucci, du altes Schlitzohr, solltest du nicht langsam damit aufhören, fremden Frauen auf die Brüste zu glotzen?«

»Weißt du, Bella, das ist der wahre Grund, warum ich Gynäkologe geworden bin: Damit ich damit niemals aufhören muss«, spricht es und drückt mich fest an seine goldkettengeschmückte, braun gebrannte Italiener-Brust.

»Es ist SO schön, dass du wieder da bist! Hast du Helena schon kennengelernt?« Gemeinsam fahren wir mit dem Aufzug in den vierten Stock, dort, wo sich am Ende des Flures unser winzig kleines Dienstzimmer befindet.

»Nein. NEIN! Aber gehört habe ich von ihr … unglaubliche Geschichten über lange Beine, tolle Haare und sagenhafte Brüste …« Bei Maluccis Lieblingsstichwort betrachte ich prüfend sein wirklich attraktives Gesicht. Und? Irgendwelche verdächtigen Reaktionen, die auf verschärftes Interesse an einer näheren Bekanntschaft mit diesen sagenumwobenen Körperteilen schließen lassen? Doch der sonnige Italiener sieht einfach aus wie immer. Sonnig eben. Gut gelaunt. Ausgeglichen. Nix verräterisch, nix schlechtes Gewissen. Ein bisschen abwesend vielleicht.

»Jaaaaaa – die Frau hat echt tolle Br – laue Augen!« Und den Blick verträumt in weite Ferne schweifen lassend, streichelt er sich sacht über die Brusttasche seines OP-Kittels, als hätte er Helenas Dekolleté heimlich darunter versteckt. Gerade will ich zu einer ersten, kurzen Ansprache ansetzen, als die Aufzugtür sich mit leisem »Pling« im gewünschten vierten Stock öffnet.

»JO-SE-PHI-NE!« Mit lautem Jubelgeschrei fällt mir eine kleine, dürre Person mit riesiger Nerd-Brille so stürmisch um den Hals, dass ich beinahe rückwärts in den Aufzug zurückkippe. Dr. Juliane Rehlein, genannt »Bambi« – Lieblingskollegin und Dauerangsthase – ist offensichtlich höchst erfreut, mich wiederzusehen.

»JOSEPHINE!«, brüllt die kleine Ärztin mir nun direkt ins Ohr, ohne auch nur ansatzweise ihren Klammergriff zu lockern. »Ich bin SO FROH, dass du wieder da bist!«

DAS wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen …

»Okay, Liebelein, lass uns erst mal schnell aussteigen, bevor wir wieder nach unten fahren. – Nein. Bambi, du musst mich jetzt loslassen. LOSLASSEN!«

Ich fühle mich ein wenig in die Zeit in der Hundeschule mit unserem lernresistenten Golden-Retriever-Rüden versetzt, der mir auch permanent am Bein klebte und in besonders aufregenden Momenten gerne mal mit Anlauf auf den Schoß hüpfte. Merke: 55 Kilo hüpfender Golden Retriever sind nicht wirklich lustig! Eine 45 Kilo klammernde Jungassistentin kommt dem verdammt nahe.

Mit Kittel, Essen, Kühltasche und Milchpumpe in den Händen, das Bambi am Hals, stehe ich also ein wenig hilflos auf dem Gang herum, während Malucci sich scheckig lacht.

»Los, Malucci, hilf mir gefälligst!«, zische ich, was Bambis »Josephine-Josephine-ich-bin-so-froh-dass-du-wieder-da-bist-Josephine«-Mantra völlig unbeeinflusst lässt.

Erst nach gemeinschaftlicher Mobilisierung aller zur Verfügung stehender Kräfte gelingt es uns schließlich, die kleine Ärztin von meinem Hals zu pflücken, und unseren Weg zum Dienstzimmer fortzusetzen. Aus dem Bambi, das wie ein kleines Mädchen neben mir herhüpft, plätschert unterdessen ein Schwall zusammenhangloser Sätze: »Josephine, hast du schon von der Neuen gehört? Bestimmt. Sie heißt Helena! Schöne! Und weißt du, was total lustig ist? Sie ist tatsächlich schön. Sagenhaft schön!« Kurz hält die kleine Frau inne und blickt verträumt zur Flurdecke, als wolle sie sich die Schönheit der neuen Kollegin noch einmal in Erinnerung rufen. Dann geht es auch schon ungebremst weiter: »Und weißt du, was? Alle finden sie toll. Sie ist auch ganz toll. Ziemlich ruhig – aber das schadet ja nicht.«

»Nein, ruhig ist manchmal nicht die schlechteste Option!«, wirft Malucci grinsend ein, was das Bambi jedoch kein bisschen in seinem Redefluss stoppt.

»Wilma hasst sie übrigens. Ist ja klar. Wen kann Wilma schon leiden?« Bambi hält kurz inne und denkt offensichtlich angestrengt darüber nach, ob Dr. Wilma »die Schreckliche«, allseits ungeliebte Gynäkologen-Kollegin, so etwas wie Freundschaft für jemanden empfinden kann. Ihr energisches Kopfschütteln macht klar, zu welchem Schluss die Überlegung geführt hat, dann geht es auch schon in halsbrecherischem Tempo weiter.

»Oberarzt Dr. Überzwerg betet sie an. Was Nancy wiederum völlig fertig macht. Ich meine: Hallo? Wir sprechen von Nancy! Mrs Teflon! An der sonst immer alles abperlt, weißt du noch? Chef Böhnlein mag sie auch. Muss er ja – schließlich hat er sie eingestellt, oder? Ach – eigentlich mögen sie alle. Außer Wilma eben. Und Nancy. UND Gloria-Victoria.« Kurze Pause, Stirnrunzeln. »Bei den anderen Hebammen kann man es noch nicht wirklich sagen. Du weißt ja, wie die manchmal sind. Gerade mit Neuen. Und Frauen. Und vor allem sagenhaft schönen Frauen …«

Mein Kopf schwirrt mir ein wenig von all den Informationen, die da auf mich einprasseln, und ich bin froh, als wir endlich am Dienstzimmer ankommen. Fünf Minuten später lerne ich die schöne Helena dann endlich persönlich kennen. In der wahrscheinlich ungünstigsten Position, die man sich für eine erste Begegnung denken kann: Nur in Unterhose und meinem ältesten Still-BH – beide Körbchen vorsorglich mit dicken, extra-saugfähigen Einlagen ausgepolstert – stehe ich vor ihr, wie die letzte Schwangerschaft mich zurückgelassen hat: mit immer noch ordentlich Speck auf der Hüfte, Schlabberbauch und einem Hauch von Babykotze im ausladenden Dekolleté. Und ich starre auf das, was vor mir steht. Miss Perfection. Superwoman. The INCREDIBLE!

»Hi! Ich bin Josephine!« Supereinfallsreich. Ich schlage mir in Gedanken vor die Stirn, während ich reichlich unbeholfen versuche, Bauch, Hüfte und Busen samt Still-BH hinter dem Oberteil meines blauen OP-Zweiteilers zu verstecken. Mit wenig bis keinem Erfolg.

Kein Mensch hat mir gesagt, wie toll diese Frau aussieht. Ihr Gesicht erinnert an Grace Kelly, und zwar in der Zeit, bevor sie den dicken Fürsten ehelichte und fortan mit depressivem Gesichtsausdruck durch die Gassen von Monaco schlich. Ich muss fast ein wenig den Kopf in den Nacken legen, so groß ist sie. Die schulterlangen, naturblonden Haare umrahmen wie mit Photoshop bearbeitet ihren Kopf. Und ihre Augen … Nein! Alles was ich über diese Augen sagen könnte, wäre zu kitschig, um es ungestraft außerhalb einer indischen Bollywood-Verfilmung zum Besten geben zu dürfen. Allmählich beginne ich zu begreifen, was meiner Lieblingshebamme solche Kopfschmerzen bereitet: Für diese Frau bräuchte es tatsächlich einen Waffenschein

»Helena Schöne. Freut mich, dich kennenzulernen!«

Alle Achtung, Puppe! In Sachen Körperbeherrschung bekommst du eine Eins mit Sternchen! Noch nicht einmal mit der perfekt geschwungenen Augenbraue hat sie bei meinem Anblick gezuckt. Ich nehme die entgegengestreckte, perfekt manikürte Hand und schüttele sie vorsichtig. Tatsächlich – die Frau ist echt. Echt schön und absolut echt unglaublich. Als ich zehn Minuten später zur Dienstübergabe im Konferenzraum sitze, habe ich meinen Schock über den Anblick der Neuen immer noch nicht ganz überwunden und muss ständig zu ihr hinüberschielen. Sie ist schön, wirkt unbeteiligt und seltsam unterkühlt. Keine Ahnung, was ich von dieser Frau halten soll – von der Tatsache mal abgesehen, dass sie nicht gerade dazu beiträgt, mein durch die vielen Post-Schwangerschaftspfunde deutlich ramponiertes Selbstbewusstsein ein wenig aufzuwerten. Mitten in meine Überlegungen schließt sich mit energischem Klacken die schwere Tür zum Konferenzraum, und das Gemurmel der Kollegen verstummt.

Der Chef ist da.

Chefarzt Dr. Frederik Böhnlein ist ein Kerl wie aus dem Bilderbuch. Oder einem schlechten Kitschroman. Mit der beeindruckenden Körpergröße von etwa zwei Metern und schlohweißem Haar strahlt er so viel natürliche Autorität aus, wie man sie sich bei einem Chefarzt nur wünschen kann. Lediglich das gutmütige Zwinkern seiner dunkelbraunen Augen unter den buschig weißen Weihnachtsmannbrauen machen diese Wirkung hin und wieder zunichte. Sechs Kinder hat der Chefarzt groß gezogen. Das heißt: Seine Frau hatte wohl die Hauptarbeit mit fünf Böhnlein-Töchtern und einem Böhnlein-Sohn. Väterlich ist der Chef dennoch und auch sonst ein prima Kerl. Falls es bis jetzt noch nicht klar geworden sein sollte: Ich mag meinen Chef. Jeder mag ihn. Er ist ein Goldstück!

»Frau Dr. Chaos, willkommen zurück!«, ruft das Goldstück da auch schon freudig aus und kommt auf mich zugeschritten. »Schön, dass Sie wieder da sind!« Heftig schüttelt er mir die rechte Hand, während er mit der anderen begeistert meine Schulter klopft. »Geht es Ihnen gut? Was macht der Lütte? Isst er schon Schnitzel?« Sein tiefer Bass dröhnt, als er über seinen eigenen Spaß lacht, und ich muss grinsen. Chef Böhnlein ist SO NETT!

»Danke, Chef. Ja, dem kleinen Chaos geht es gut, und wenn er nur ein bisschen nach dem Rest meiner Jungs kommt, wird er demnächst ganz sicher übergangslos von Muttermilch zu Steak mit Pommes wechseln!« Ein wenig Sorge habe ich schon, Dr. Böhnlein könnte mir die Schulter auskugeln, denn noch immer schüttelt er meine Hand euphorisch.

»Ja – ein Prachtkerl ist das. Habe ich gleich gesehen, als er auf die Welt kam. Riesenjunge. Wunderbar!« Dann, erklärend zum Rest der Truppe gewandt: »Wissen Sie eigentlich, dass ich bei der Geburt des Burschen dabei war?«

Wissen sie. Und nicken brav – alle, außer unserer schönen Helena, die ja von meiner Überraschungsgeburt im letzten Jahr, während eines völlig wahnsinnigen Samstagdienstes, noch gar nichts wissen kann. Als der Chef endlich von meinem Arm ablässt, übergibt das Bambi, aufgeregt und kaltschweißig wie immer, ihren Nachtdienst.

»Seinen Dienst übergeben« bedeutet im Klinikjargon, dass man die Kollegen der Tagesschicht über die Geschehnisse der vergangenen Nacht in Kenntnis setzt. Wie viele Geburten es gegeben hat zum Beispiel (eine!), ob es währenddessen zu Komplikationen gekommen ist (ja!), wenn ja, welche (akute, hysterische Panikattacke der diensthabenden Ärztin bei sonst völlig unauffälligem Geburtsverlauf), und was dagegen unternommen wurde (massives Anschnauzen durch die diensthabende Hebamme, was zur sofortigen Besserung der Gesamtsituation geführt hat).

Aufmunternd klopft Böhnlein jetzt zur Abwechslung dem schon wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs stehenden Rehlein den Rücken.

»Wissen Sie, liebe Frau Kollegin: Sie müssen einfach noch deutlich ruhiger werden. Sonst bekommen Sie eines Tages bestimmt noch einen Herzinfarkt!«

Ganz sicher wird das irgendwann geschehen. Denn Bambi ist einfach viel zu panisch für diese Welt. Und somit prinzipiell absolut ungeeignet für den Beruf der (Frauen-) Ärztin, in dem es tagtäglich nur so vor beängstigenden Situationen wimmelt: Blutende Frauen, schwierige Geburtsverläufe, eilige Kaiserschnitte, Notkaiserschnitte – die Liste zu erwartender Katastrophen ist gerade in der Geburtshilfe so lang wie eine Polonaise beim Kölner Karneval. Und da ist es wenig hilfreich, wenn die verantwortliche Ärztin immer erst den Kopf verliert, bevor irgendjemand – meist die zuständige Hebamme – ihn ihr wieder zurechtrückt. Mein Mutterherz wird weich, als ich die kleine Kollegin da so sitzen sehe – die mageren Schultern hängend und mit deutlich gesenkter Tränenschwelle. Grundschullehrerin hätte Juliane Rehlein eigentlich gerne werden wollen – so zumindest hatte sie es mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit und nach drei halben Proseccos einmal anvertraut.

»Ja – UND? Warum bist du es nicht geworden?« Wer ein Medizinstudium mit Bravour und »Summa cum laude« abschließen kann, der sitzt den Grundschullehrer ja wohl auf der linken Po-Backe ab, sollte man meinen.

»Ach, weißt du – meine Eltern …« Traurig blinzelte Bambi damals durch ihre dunkle Hornbrille zu mir herüber. Was für eine blöde Frage aber auch. Herr und Frau Professor Dr. Rehlein, Mediziner in der geschätzt zwanzigsten Generation und garantierte Nachfahren von so wichtigen Menschen wie Semmelweis oder Koch, mit der wahrscheinlich größten, internistischen Praxis diesseits der Milchstraße, hatten wie selbstverständlich erwartet, dass die einzige Tochter dem Ruf der Medizin folgen und somit die Familientradition weiter führen würde. Punktum – Ende der Diskussion. Und das Bambi hatte klaglos getan, was von ihr verlangt war. Armes, kleines Ding. Nach der Übergabe schnäuzt Bambi sich herzhaft in das von Malucci gentlemenlike dargebotene Taschentuch, bevor es – froh, einen weiteren Dienst überlebt zu haben – nach Hause geht. Ich hingegen gehe in entgegengesetzter Richtung in den OP, froh, mich heute Morgen tatsächlich als Operateurin einer schönen, primären Sectio auf dem Plan wiedergefunden zu haben. Und das an Tag eins meiner Rückkehr. Das Leben kann so schön sein!

Ich LIEBE Operationssäle. Natürlich nicht in der Rolle der Patientin, Gott bewahre, sondern als Arzt, am besten noch als Operateur, also derjenige, der das Sagen hat und somit auch das Skalpell schwingen darf. Großartig ist das! Außerdem sind OPs immer wieder Schauplätze seltsam anmutender Begebenheiten und haben somit einen nicht unerheblichen Unterhaltungswert. »Jetzt fass den Larry mal ordentlich an!« ist hier zum Beispiel keine sexuelle Belästigung, sondern die mehr oder minder freundliche Aufforderung, mittels eines großen, Spatel-förmigen Instruments Gedärm, die Blase oder ein anderes Organ aus der Sicht des Operateurs zu halten. Ein »Mäuschen« ist somit auch kein Nagetier, sondern ein kleines, unscheinbares Wattebäuschchen, und wenn »aufgelegt« ist, befindet sich der Patient anästhesiert, gewaschen und gelagert auf dem Tisch, und es geht los – mit der Operation, nicht mit dem Tanzabend.

In Operationssälen scheint die Realität manchmal außer Kraft gesetzt zu sein. So, als betritt man Disneyland, und plötzlich wird die Welt nur so von komischen Figuren bevölkert. Tatsächlich wimmelt es in den OPs dieser Welt nur so von komischen Figuren – und je größer die Klinik, desto umfangreicher das Spektrum menschlicher Absurditäten. Denn in diesen heiligen Hallen medizinischen Wirkens, die kaum ein Mensch je nicht narkotisiert zu sehen bekommt, herrschen völlig andere Gesetzmäßigkeiten. Diese Parallelwelt besteht aus hoch sterilen, übelkeitsgrün oder eitergelb gekachelten Räumen, die mit zahlreichen, skurril anmutenden Gerätschaften ausgestattet sind: mannshohe, monitorbestückte Türme mit farbenfroh blinkenden Lichtern, durchsichtige Behälter gefüllt mit Flüssigkeiten und von der Decke ragende ufogleich aussehende Lampen. Und wohin das Auge auch blickt, baumeln bunte Kabel Lianen gleich von Buchse zu Buchse. In den Räumen vor den OP-Sälen verteilen grün gekleidete, mundschutzvermummte Menschen an langen Reihen chromblitzender Waschbecken monoton Desinfektionsmittel von den Fingern über die Handgelenke bis hinauf zu den Ellenbogen, stehen dazwischen sekundenlang still, die Arme seitlich von sich gestreckt, und starren Löcher in die Spiegel über den Becken. Manche denken dabei vielleicht über die Wunder nach, die sie gleich vollbringen sollen. Die heutige Einkaufsliste. Oder dass sie ganz schön die Hose voll haben …

Einige bewegen die Arme sacht durch die Luft, um das Sterilium auf der Haut schneller zum Trocknen zu bringen. Und manche Grünlinge reden tatsächlich miteinander.

»Das rechte Ovar sieht völlig blande aus. Ich geh rein und bau die Zyste links aus, dann kann ich um 3 noch schnell die LASH machen!«

»Okay, ich habe jetzt nur noch eine Lap-Galle – um 5 zum Tennis?«

»Geht klar!«

Abgang Operateure – linker Saal, rechter Saal, Tür zu – SHOWTIME!

Währenddessen sitzen diejenigen, die gerade nicht beschäftigt sind, zusammengepfercht in einem kleinen Raum vor leeren Kaffeetassen, vollgekrümelten Tischen und in schlechter Luft, und reden über Frauen (die Chirurgen), Frauen (die Gynäkologen), Frauen (die Urologen) und die neuesten iPhone-Apps (die Anästhesisten). Einige stopfen auch nur schweigsam und in rasanter Geschwindigkeit Essen in sich hinein, spülen mit zwei bis drei Tassen Kaffee oder einem halben Liter Cola nach und sind schneller wieder verschwunden, als man schauen kann. DAS sind dann in der Regel die Gefäßchirurgen – verschlossene, unfreundlich dreinschauende Wesen, die für einen einzigen Eingriff gerne mal acht Stunden und länger »am Tisch« stehen. Diese Jungs haben nie ausreichend Zeit zum Quatschen (weder über Frauen noch iPhone-Apps), denn schließlich müssen sie ihre 10000 Kalorien Tagesverbrauch (für zwei Acht-Stunden-OPs und einen kleinen Abschlussmarathon nach Feierabend) irgendwie wieder hereinbekommen. Ganz ehrlich: Ich bin überzeugt, dass sie sich auch sonst nicht mit dem normalen Fußvolk abgeben würden – Gefäßchirurgen sind etwas ganz besonderes, die reden nicht mit jedem dahergelaufenen Normalo-Mediziner …

 

Was in den Operationssälen selbst vonstattengeht, ist einfach nur großartig. Denn hier ist bis ins letzte Detail alles geregelt, jede Person hat ihren ganz bestimmten Platz, und jeder kennt wie selbstverständlich seine Aufgaben. Der Anästhesist zum Beispiel betäubt erst den Patienten und ist anschließend überwiegend fürs Gesamt-Entertainment (Musik auflegen oder wechseln) und kleinere Handlangertätigkeiten (Nahtmaterial heraussuchen und dem Chirurgen tausendundeinmal das Licht einstellen) zuständig. In den Pausen dazwischen liest er die Tageszeitung, spielt auf seinem iPhone, vertritt sich hin und wieder die Füße und nervt den Operateur damit, dass er seine Patientin heimlich und mutwillig zum Pressen bringt. Dann quillt das ganze Gedärm nämlich wie eine wild gewordene Riesenschlange ins OP-Feld und keiner sieht mehr irgendetwas.

Nein, ist Spaß. Selbstverständlich kommt der Patient von ganz allein auf die Idee, den Chirurgen zu ärgern und der Betäuber muss den Karren dann wieder aus dem Dreck ziehen. Anästhesiezeug hochdrehen, Entspannungszeug einspritzen. Gedärm lahmlegen.

Pflegepersonaltechnisch gibt es in jedem Saal eine(n) Instrumenten-Schwester (oder -Pfleger) und einen Springer! Wobei letzterer mitnichten willenlos durch die Säle hüpft, sondern dafür sorgt, dass die Instrumentenfachkraft alles auf ihrem sterilen Tisch hat, was der Operateur zum Glücklichsein braucht. Diese reicht ihm dann »Fasszangen, Skalpelle, Larrys und Fritsche«, öffnet Siebe voller »Kocherklemmen, Zweizinker, Mäuschen und Roux-Haken«. Tupft seine Stirn, säubert die Kamera-Optiken, verteilt Sauger und Strom. Mit diesen beiden – Springer und Instrumentierer – sollte man sich in jedem Fall gut stellen, denn sie können dir so dermaßen das Leben zur Hölle machen, dass du dir wünschst, nie wieder einen OP-Saal betreten zu müssen! Während der »Springer« unsteril herumlaufen und alles anfassen darf, was ebenfalls unsteril ist, somit auch während Zwölf-Stunden-Marathon-OPs mal schnell zur Toilette oder auf eine Cola in den Aufenthaltsraum verschwinden kann, ist die steril gewaschene Instrumentenkraft an ihren ebenfalls sterilen Tisch »gefesselt« und dazu verdammt, die OP bis zum bitteren Ende auszusitzen beziehungsweise zu stehen. Was auch den Umstand erklärt, warum diese Menschen gerne einmal ungemütlich werden, wenn kurz vor Feierabend ein Jung-Assistent als erster Operateur auf dem Plan steht.

»Waaaaaaaaaaaaas? Dr. Schnecke macht die Appendix? Um 15 Uhr? Das könnt ihr euch abschminken! Um 20 Uhr 15 kommt ›Grey’s Anatomy‹ – bis dahin will ich Zuhause sein!« Aus solchen oder ähnlichen Gründen hat es dann tatsächlich schon mal die eine oder andere OP-Plan-Änderung gegeben. Operateure selbst lassen sich hingegen über keinen gemeinsamen Kamm scheren, denn es gibt so viele unterschiedliche Charaktere, dass man sie unmöglich alle auf einen Nenner bringen kann.

Es gibt die wilden Metzler, die sich ohne Rücksicht auf Ästhetik oder gar gewebeschonendes Arbeiten wie Bulldozer durch den Mensch auf ihrem Tisch wühlen, das Problem beheben, anschließend euphorisch jede einzelne Blutzelle, die ihnen vor den Elektro-Kauter kommt, gnadenlos wegbrutzeln und ihr Gesamtkunstwerk dann mit Minimum 1500 Wundklammern verschließen. Merke: Es gibt keine Naht, die ein ordentlicher Tacker und ein Berg Klammern nicht halten könnte. Pflasterverband drauf – fertig!

Dann gibt es die Hundertprozentigen, die immer doppelt so lange brauchen wie alle anderen und bei denen das komplette Team – Anästhesisten inklusive, obwohl die ja eigentlich während der kompletten OP-Zeit sitzen dürfen – schon mal vorsichtshalber Stützstrümpfe und Dauerkatheter trägt.

Und dann noch die Hasenfüße, deren Mützen man schon vor dem ersten Schnitt mit Kompressen auspolstern muss, damit nicht permanent Angstschweißtropfen ins OP-Gebiet tropfen. Die Routinierten und die Anfänger, die Versager und die Stümper. Und ganz hinten in der Reihe, so selten wie Edelweiß im Gebirge: die Genies! Ihnen zuzuschauen ist wie Bach hören. Oder die Sixtinische Kapelle betrachten. Man kommt aus dem Schwärmen und Staunen schlicht nicht mehr heraus. Fast ist es, als teile sich das Gewebe unter ihrem Skalpell von selbst, und mit einem Mal liegt die Anatomie vor einem, in hochglänzendem 3D mit Dolby-Digital-Surround, schöner, als »Grey’s Anatomy« selbst, das medizinische Fachbuch unter den medizinischen Fachbüchern, es je hätte beschreiben können.

Operationssäle gleichen geheimen Bruderschaften – niemand kann sich hier hereinschleichen, der nicht hierher gehört. Denn selbst, wenn man das Prozedere des sterilen Waschens, Seins und Bleibens bis ins letzte Detail erklärt bekommt, wird man die ersten Male unweigerlich schon beim Anfassen des Desinfektionsspenders von jedem alten Hasen als Greenhorn enttarnt werden. Es muss dir einfach in Fleisch und Blut übergegangen sein: Wo halte ich die steril gewaschenen Hände hin? Nicht zu hoch, keinesfalls zu tief! Wo darf ich stehen und wo nicht, wenn die Hütte brennt? Laufe ich rechts am Instrumententisch vorbei oder lieber doch die Abkürzung an der Anästhesie vorbei? Selbst so simple Dinge wie Handschuhe anziehen und Patienten abdecken funktionieren nur durch genau geplante und vorgeschriebene Abläufe. Ist man jedoch erst einmal eingeführt in die sterile Welt der Wunder, wird man sich fortan in jedem beliebigen OP der Welt sofort zu Hause fühlen. Und selbst die Instrumentenschwester wird nicht mehr ganz so grimmig über ihrem Mundschutz hervorschauen, wenn sie erkennt, dass man ein Bruder ist. Oder eine Schwester.

 

Zurück im heimischen OP stelle ich erfreut fest, dass die Brüder und Schwestern mich dort trotz babybedingter Abwesenheit nicht vergessen haben. Ich werde freundlich begrüßt, und zeige anschließend mit stolz geschwellter Brust Bilder vom Baby herum, die mit gebührenden »Ahs« und »Ohs« kommentiert werden. Dann operiere ich unter den gutmütigen Augen meines Lieblingschefs einen Kaiserschnitt, zwei kleine Bauchspiegelungen und eine Zyste in einer Brust, bevor ich mich gegen Mittag auf den Weg zum Dienstzimmer mache – um Milch abzupumpen, bevor meine Oberweite doch noch die Kapazitäten des OP-Oberteils sprengt.

Vor der Tür zum Dienstzimmer halte ich kurz inne. Geräusche dringen bis auf den Flur heraus – seltsame Geräusche, die ich nicht wirklich zuordnen kann. Vielleicht ist es die Putzfrau? Aber so spät? Wahrscheinlich hat sie mal wieder heimlich den Fernseher eingeschaltet und dann vergessen, ihn wieder auszumachen, denke ich, während ich den Schlüssel ins Schloss schiebe.

Hm, komisch … gar nicht abgeschlossen?

Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spalt breit und höre es jetzt ganz deutlich: Dauerwerbesendung auf irgendeinem drittklassigen Programm. Eine miserabel synchronisierte Eunuchen-Stimme faselt gerade etwas von »Superpinsel« und »Megarolle«, während das weibliche Pendant hohe, spitze Schreie ausstößt.

»Hallo?«, rufe ich vorsichtig durch den Türschlitz. »Ist da wer?« Man will ja niemanden erschrecken.

»… und SIEH nur, Jane, wie SCHÖN und SCHNELL die Farbe mit DIESEM TOLLEN Gerät auf ALLEN Wänden …« Janes spitze Schreie werden jetzt höher und lauter. Offensichtlich ist sie völlig hin und weg von seinem tollen Gerät! Resolut öffne ich die Tür nun komplett – die Milch muss raus, soviel ist klar, sonst wird es übel enden …

»WILMA?« Während Jane im Fernseher gerade »Toll. Toll. TOLL!« skandiert, gipfelt Wilmas hochtöniges Gejohle in einem aufjauchzenden Schrei, bevor sie splitterfasernackt und offensichtlich klatschnass auf Fred zusammenbricht. Herr Jupiter himself, Assistenzarztkollege und Wilmas On-Off-Beziehung, ist gerade definitiv nicht von dieser Welt, sondern liegt mit versonnenem Lächeln und geschlossenen Augen rittlings im zerwühlten Dienstbett – ebenfalls so, wie der Herr ihn geschaffen hat.

Ich GLAUB es ja nicht!

»Bäh – mal ehrlich – habt ihr zwei eigentlich KEIN Zuhause?« Empört schnappe ich mir Milchpumpe und Kühltasche und verlasse das Dienstzimmer, während Jane immer noch in höchster Ekstase »Toll. Toll! TOLL!« schreit.

Dr. Multisozialversagen. Und: mit der Milchbar über die Wöchnerinnenstation

»Kannst du dir das vorstellen? Wilma und Fred? Das war total gruselig!«

Es ist 22 Uhr im heimischen Chaos, und während die drei älteren Kinder alle schon auf ihren Zimmern sind, liege ich mit dem Herrn des Hauses und dem aktuellen Baby-Chaos auf der Couch und schaue fern. Beziehungsweise hechele die Neuigkeiten des Tages durch, was in etwa auf dasselbe herauskommt.

Klein-Chaos, der eigentlich gerade dabei war, ohne Umwege vom letzten Abendessen an meiner Brust zum verdienten Nachtschlaf hinüberzudämmern, reißt jetzt erschreckt die babyblauen Augen auf und starrt mich empört an. »Das ist aber nichts für Babyohren!« soll der Blick wohl sagen. Oder »Schrei nicht so! Es ist Schlafenszeit!«

»Alles gut, Kleiner!«, flüstere ich verschwörerisch. »Mama kann auch leiser.«

Zufrieden schließt das Kind die Augen wieder – so ein cleveres Baby aber auch. Noch kein Dreivierteljahr alt und kapiert gleich, was man von ihm will.

»Aber ist es nicht nett, dass die beiden einander gefunden haben? Vielleicht sind sie dann weniger anstrengend, wenn sie anderweitig, ähm, beschäftigt sind?«

Herr Chaos liegt grinsend auf der Couch, und ich sehe deutlich das Kopfkino vor seinem inneren Auge ablaufen. Die Kollegen Fred vom Jupiter und Wilma Schrecklich sind aber auch ein extrem außergewöhnliches Paar: Den nahezu autistisch anmutenden Fred hatten wir anfangs tatsächlich alle für einen Patienten der psychiatrischen Abteilung gehalten. Wir nahmen an, dass er sich eines schönen Morgens in einem ganz sicher heimlich entwendeten Arztkittel in unsere Frühbesprechung geschlichen hatte. Wortlos war er in abgewetzten, dunkelbraunen Cordhosen und einem löchrigen Hemd im Konferenzraum aufgetaucht und hatte sich – ohne uns andere auch nur eines Blickes zu würdigen – an den ausladenden Besprechungstisch gesetzt. Gänzlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass alle anwesenden Kollegen ihn entgeistert angestarrt haben. Ich meine: Wir hatten mit Patienten der psychiatrischen Abteilung schon einiges erlebt, was eine solche Vermutung durchaus zuließ: Vor gar nicht allzu langer Zeit zum Beispiel war ein schmächtiger Mann im Kreißsaal aufgekreuzt und hatte verlangt, von dem Känguru entbunden zu werden, welches sich in seinem Beutel befände. In seinem BEUTEL – ist klar!

Oder eine Tagespatientin hatte sich im nahegelegenen Fünf-Sterne-Hotel erfolgreich über mehrere Wochen als »Gräfin Solian« in die Präsidentensuite eingemietet, bis einer Rezeptionistin mit Krankenschwesternvergangenheit auffiel, dass es sich bei »Solian« um den Namen eines psychiatrischen Medikamentes handelt. Die Gräfin wurde daraufhin umgehend in die Psychiatrie umquartiert, wo man fortan sorgfältig darauf achtete, dass sie besagtes »Solian« auch wirklich wieder regelmäßig einnahm.

 

Aber zurück zu den wilden Spekulationen um den Mann mit dem ungewaschenen, schütteren Blondhaar. Diese endeten jäh durch das Eintreffen des Chefs, der ihn uns als »neuen, jungen Kollegen vom Jupiter« vorstellte, der bereits über ein wenig Erfahrung im Bereich Gynäkologie verfüge und unser Team künftig unterstützen solle.

Wir waren gelinde gesagt baff. Der sollte uns unterstützen? Konnte der überhaupt sprechen?

Nun ja – er konnte. Und kann es noch. Was aber nichts an der Tatsache ändert, dass er es dennoch nicht oft tut. Denn Dr. vom Jupiter ist kein Freund großer Worte. Oder besser gesagt: Er ist eigentlich gar kein Freund, daher auch sein Spitzname »Dr. Multisozialversagen«. Fred spricht nicht. Fred arbeitet nicht. Fred will keine Dienste machen. Ganz schlechte Kombination in diesem Berufszweig. Wäre er mal besser in die Rechtsmedizin gegangen.

Nun ist er aber hier und hat offensichtlich ein Techtelmechtel mit Kollegin Wilma.

»Die zwei haben sich doch irgendwie verdient, findest du nicht? Sozial inkompatibel und bösartig – die ergänzen sich richtig gut!« Herr Chaos grinst immer noch, und auch der kleine Mann verzieht das Gesicht kurz im wonnigen Halbschlaf.

»Ist schon klar, dass ihr Jungs euch immer einig sein müsst. Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Die poppen jetzt nur noch. Dabei arbeiten die sowieso schon nicht.«

»Aber dann fällt es doch gar nicht auf. Und immerhin macht Sex glücklich. Vielleicht bekommen sie ja davon wenigstens gute Laune?« Der Gatte lacht amüsiert auf, als ich beleidigt das Stilltuch nach ihm werfe. Pah, die zwei und gute Laune! Eher friert die Hölle ein!

»Und wie ist die Neue so? Die schöne Greta?«

»Helena!«

»Meinetwegen. Ist sie denn auch wirklich schön?«

»Sagenhaft schön! Besorgniserregend schön. Ich kann sie nicht leiden!«

»Weil sie so schön ist?«

Ich überlege kurz. Mag ich sie wirklich nur deshalb nicht? Oder hat meine Aversion vielleicht auch einen logisch nachvollziehbaren Grund?

»Ich habe keine Ahnung«, gestehe ich freimütig. »Eigentlich kann ich sie auch gar nicht richtig einordnen, schließlich redet sie kaum etwas. Eigentlich gar nichts.«

»Was ja nicht immer von Nachteil ist.«

Herr Chaos wirft mir verschmitzte Blicke zu. Ich werfe die Schnullerkette nach ihm.

»Soll das heißen, ich rede zu viel?«

»Neeeeein! NEIN! Auf gar keinen Fall!«

Sein Grinsen wird breiter, und mir gehen die Wurfgeschosse aus.

»Ich fühl mich einfach ganz schrecklich hässlich, wenn ich neben ihr stehe. Sie ist so perfekt, und ich bin so … FETT!«

»Du bist nicht fett. Du bist … weiblich!«

»Ja – weiblich! Malucci glotzt mir auch den ganzen Tag lang auf die Brüste. Die übrigens alle fünf Minuten auslaufen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, als stillende Mutter auf der Wöchnerinnenstation Visite zu machen? Alle Nase lang quäkt ein Neugeborenes, und augenblicklich wird an meiner Milchbar die Jalousie hochgezogen.«

»Das ist ein sehr niedlicher Gedanke – wie du da mit deiner Milchbar und kleinen Hockern unterm Sonnenschirmchen über die Station ziehst!«

»DU. BIST. DOOF!« Ich werfe die Fernbedienung, die Herr Chaos aber geschickt auffängt.

»Du bist sagenhaft schön. Und ich liebe deine Milchbar. Und deinen Hintern …«

»Du findest meinen Hintern fett?«

Herr Chaos stöhnt jetzt ein bisschen, wie er es immer macht, wenn ich meine anstrengenden fünf Minuten habe.

»Dein Hintern ist Klasse!«

»Aber warum erwähnst du ihn extra?«

»Schatz – es ist spät. Lass uns ins Bett gehen!«

Warum Jeannie in High Heels nicht joggen und Bambi nicht »poppen« sagen kann

»NEIN! Das glaub ich nicht!« Entsetzt schlägt Bambi die Hand vor den Mund und starrt mich fassungslos an.

»Wilma und Fred? Ich meine: Wilma und Fred?« Das kleine Waldtier kriegt sich gar nicht mehr ein, weswegen Frau von Sinnen, Hebamme mit Hang zu Katastrophenentbindungen, die immer in einem Happy End gipfeln, neugierig den Kopf zur Tür des Besprechungszimmers hereinstreckt.

»Was ist denn mit Wilma und Fred?«, nimmt sie die letzten Wortfetzen auf und blinzelt heftig interessiert mit den Äugeln hinter ihrer Eulenbrille.

»Du wirst es nicht glauben!« Das Bambi ist ganz aufgelöst. »Josephine hat Fred und Wilma beim … Ähm, also – beide zusammen … hm – wie soll ich es bloß sagen …? Kompromittierend, verstehst du …?«

»Wenn ich ehrlich bin – kein Wort!« Frau von Sinnen hat sich auf einen Stuhl neben Bambi niedergelassen und nickt ihr aufmunternd zu, während die kleine Ärztin verzweifelt nach Luft schnappt, die Ohren tiefrot.

»Ich habe die beiden gestern Nachmittag auf frischer Tat beim Poppen erwischt. Im Dienstzimmer! Während der Arbeitszeit!«, fahre ich kurzerhand dazwischen. Wir haben schließlich nicht ewig Zeit. »Los, Bambi – sag poppen!«

»Ich kaaaaann aber nicht!«, quietscht es unglücklich zurück.

»Du bist Gynäkologin! Das ist dein Fachgebiet – also nenn die Dinge gefälligst auch beim Namen. Sag POP-PEN!«

»Ich möchte darüber aber nicht so gerne reden!« Das Rehlein gleicht jetzt eher einer Fuchsstute, während sich das Rot seinen Weg den langen, schmalen Hals entlang bis ins knochige Dekolleté der kleinen Frau bahnt.

»Lass doch das arme Ding!«, rügt FvS milde und schiebt ihren Stuhl interessiert ein Stück näher an die Quelle der Information, also an mich: »Sag schon – WAS läuft da zwischen Wilma und Fred?«

»Die zwei treiben es wie die Karnickel, dass weiß doch mittlerweile auch die letzte Küchenhilfe. Guten Morgen!«

In einer Duftwolke aus teurem Parfüm und jeder Menge Haarspray stolziert Jeannie auf nagelneuen zehn Zentimeter hohen Leoparden-High-Heels zur Tür herein. Allein vom Anblick ihrer Schuhe bekomme ich Arthrose im Sprunggelenk, doch Jeannie könnte in diesen Dingern wahrscheinlich sogar den ersten Platz beim New-York-Marathon belegen.

»Sag, Jeannie – kannst du in diesen Schuhen auch joggen?«, sinniere ich laut vor mich hin.

»Josephine – hast du getrunken?« Frau Von Sinnen schüttelt irritiert den Kopf, während Miss Super-High-Heels nur vielsagend grinst.

»Wer weiß …?« Dann lässt sie sich mit einem tiefen Seufzer am anderen Ende des Tisches nieder, legt die Füße mit den Tierfellschuhen auf den benachbarten Stuhl und schlürft lasziv an ihrem Kaffee-Latte-to-Go. Kollegin Jeannie ist eine schöne Frau – nein, nicht so sagenhaft schön wie unsere Neue – aber auf eine aufreizend gekleidete, sorgfältig geschminkte und frisierte Art und Weise. So trägt Jeannie niemals Schuhe mit einem weniger als sechs Zentimeter hohen Absatz, was ihr bereits einen ganzen Ordner voller Dienstanweisungsverstößen eingebracht hat. Keine Ahnung, warum die Dienstaufsichtsbehörde auch nicht verstehen will, dass Jeannie bestenfalls dann einer erhöhten Unfallgefahr ausgesetzt wäre, wenn man sie zwingen würde, normales Schuhwerk zu tragen. Oder sich auch während der Arbeitszeit ihrer perfekt manikürten Gelfingernägel zu entledigen.

»Okay, Leute«, setzt Frau von Sinnen an, »wir kommen jetzt erst einmal zur Ruhe. Und dann erzählt ihr mir alles, was ihr über Freds und Wilmas Krankenhaus-Sexleben berichten könnt! – Was ist? Warum starrt ihr mich denn so an?« Verzweifelt versuche ich noch, die redselige Hebamme durch versteckte Zeichen zum Schweigen zu bringen, da ist es schon geschehen.

»Das würde mich jetzt aber auch mal brennend interessieren!«, tönt des Chefs tiefer Bass zur Tür herein, und es scheint, als zögen sich über seiner hohen Stirn dunkle Gewitterwolken zusammen.

 

»Und dann? Was ist dann passiert? Hast du es ihm erzählt?« Gloria-Victoria kippt vor Aufregung fast vom Stuhl, während Frau Von Sinnen hochkonzentriert in ihrem Kaffeebecher rührt.

»Nein, Gott bewahre, wir konnten es tatsächlich irgendwie so hinbiegen, dass er nun glaubt, die liebe FvS völlig missverstanden zu haben. Stimmt doch, oder?« Gemütlich lümmele ich auf der großen Ledercouch des allseits nur »Aquarium« genannten Kreißsaalstützpunktes herum und pumpe die Milch, die nach den diversen Milcheinschüssen der Morgenvisite noch übrig geblieben ist, in die Flasche meiner Elektropumpe. Seinen Namen verdankt der Kreißsaalüberwachungsraum zwei deckenhohen Glasfronten, welche den Blick in östlicher Richtung auf fünf im Halbkreis angeordnete, in unterschiedlichen Farben gehaltene Kreißsäle freigeben, und gen Westen eine einmalig schöne Sicht auf Klinikgarten und Sonnenuntergänge erlauben. Letzteres natürlich nur abends und bei gutem Wetter, ist klar. An den beiden nicht verglasten Wänden befindet sich neben der eingangs erwähnten, von Chefarzt Böhnlein erst im vergangenen Jahr gesponserten Lümmelcouch, ein riesiger Fernsehmonitor, auf den die Herztonüberwachungen der einzelnen Kreißsäle übertragen werden, was der jeweiligen Hebamme einen komfortablen Überblick über die Geschehnisse bietet.

»Woher soll ich denn auch wissen, dass der Chef hinter mir steht«, grummelt Hebamme Von Sinnen deutlich verschämt in ihren Kaffeepott, wo sich der Löffel bei dem andauernden Rühren mittlerweile eigentlich in Wohlgefallen aufgelöst haben müsste.

»Ich habe vielleicht Zeichen gegeben? Und mit den Augen gerollt? Deutlicher hätte ich nur werden können, wenn ich mit Sachen nach dir geworfen hätte!« Die Hebamme will gerade antworten, als mein Handy klingelt. Auf dem Display: das Bambi!

»Bambi? Was gibt es?« Am anderen Ende der Leitung wispert jemand unverständliches Zeug in den Hörer.

»Liebelein – sprich bitte lauter!« Erneutes, dieses Mal nur unwesentlich lauteres Wispern an meinem Ohr. Kann es denn wahr sein?

»BAMBI! LAUTER!«

»Herrjeh noch eins – sie ist in Kreißsaal vier bei einer Frau mit vorzeitigem Blasensprung und Wehentätigkeit. Nur falls es jemanden noch vor Einbruch der Dunkelheit interessiert!« Leidlich genervt verdreht Gloria-Victoria die Augen – ihre sprichwörtlich gute Laune scheint derzeit tatsächlich völlig abhanden gekommen zu sein.

»Okay, Bambi, bleib wo du bist – ich bin unterwegs!« Dann, zu den beiden Hebammen gewandt: »Kann mich freundlicherweise jemand aufklären, was da drinnen los ist?« Doch Gloria deutet nur anklagend mit dem Finger auf die neben mir sitzende Kollegin.

»Ist Von Sinnens Patientin!« Diese hört endlich mit dem Rühren ihres Kaffees auf und schaut mich mit unschuldigen Hebammenaugen an.

»Och, weißt du … Assistenzarztausbildung. Ich habe das Bambi zum Untersuchen reingeschickt, damit sie ein bisschen Übung bekommt …!«

»Häh? Willst du mich veräppeln? Die Kleine ist vielleicht panisch …«

»… HYSTERISCH …!«, hustet Gloria dazwischen.

»… und manchmal durchaus ein klein wenig hysterisch, aber mittlerweile auch schon im dritten Ausbildungsjahr! Ich denke, das mit dem Untersuchen hat sie jetzt langsam raus, oder?«

»Es ging mir auch nicht wirklich um die Untersuchung, sondern eher um den Patientenkontakt!«, flötet Frau von Sinnen und sieht dabei so unschuldig aus, dass ich es fast mit der Angst zu tun bekomme.

Ich rappele mich also von der Couch hoch, richte mich patientenkompatibel her – also BH zu, Hemd runter, Stilltuch weg –, verstaue den Milchvorrat in meiner Kühlbox und stiefele nach Kreißsaal IV, der mit den apfelgrünfarbenen Wänden, und kaum zur Tür herein, befinde ich mich auch schon mitten im Geschehen.

 

»ICH BIN ARZT!«, ruft es mir entgegen, und verblüfft schüttele ich die Hand des Mannes, der wie aus dem Nichts heraus vor mir auftaucht. Ein wahrhaft großer Kerl, Mitte vierzig vielleicht, gepflegt und adrett gekleidet, mit Goldrandbrille und Charlie-Sheen-Frisur. Für diese hat er hoffentlich seinen Friseur verklagt – geht gar nicht! Aber das ist gerade nicht mein Problem.

»Ich bin Arzt!«, wiederholt er jetzt erneut, langsam und jede einzelne Silbe betonend. Ich bin verwirrt – was will der bloß von mir?

»Das trifft sich ja gut!«, antworte ich zögernd, »ich bin nämlich auch Ärztin, wissen Sie?« Beruhigend lächele ich ihm zu, was ihn nur veranlasst, stärker meine Hand zu schütteln. »Vielleicht lassen Sie mich los, dann sag ich Ihrer Frau auch kurz Guten Tag, einverstanden?«

Folgsam lässt er von mir ab und tritt einen Schritt beiseite. Dann beugt er sich doch noch einmal zu mir herüber und flüstert eindringlich: »Ich. Bin. Arzt.«

JETZT habe ich es endlich kapiert. Arzt! Super!

Dieser Mann ist durch. Aber so was von. Jetzt schon. Das kann ja noch lustig werden. Gottlob macht Frau Arzt einen ganz zauberhaft normalen Eindruck. Laut schnaufend und prustend hängt sie gerade in das von der Decke baumelnde Tuch gekrallt, während der Wehenschreiber beeindruckende Berge aufs durchlaufende Papier krakelt. Ich schaue mich suchend um – und da, in der hintersten Ecke des weitläufigen Raumes, zwischen Kreißbett und Badewanne versteckt – dem am weitesten von der Patientin entfernten Platz –, winkt das Bambi verschüchtert zu mir herüber. Ich sage »Hallo« zu Frau Arzt, die mir zwischen zwei Wehen freundlich zunickt und gehe dann zu meiner Kollegin hinüber.

»Bambi?«, flüstere ich. »Was ist los? Was machst du hier? Das da vorne ist deine Patientin. Und warum sprichst du so leise ins Telefon, wenn du mich anrufst?«

In Bambis großen Rehaugen herrscht wie üblich Hochwasser, und auch die Unterlippe zittert verdächtig. Das Rehlein ist offensichtlich genauso durch wie Herr Arzt.

»Es ist … also, weil … Nein: wegen … Der Mann! Arzt! Ich weiß nicht …!«

Unverständliches Zeug – mein Gesicht ein einziges Fragezeichen!

»Bambi – grammatikalisch vollständige Sätze, bitte! Ich versteh gerade nur Hauptbahnhof!« Die kleine Frau holt tief Luft und schluckt trocken. Ein Tränchen verlässt das linke Auge und rollt malerisch die Wange entlang, bevor es auf Bambis XXS-Kasack klatscht. Frau Arzt scheint sich stimmtechnisch gerade auf die 150 Dezibel vorzubereiten, während nun auch des Gattens Mantra zunehmend lauter zu uns herüberschallt.

»Ich bin Arzt. Wissen Sie? ARZT! Ich bin AAAAHAAARZT!«

»Wow – ich wette, der hat ein prätraumatisches Belastungssyndrom. Was ist der Kerl bloß? Dermatologe?« Bambi schüttelt heftig den Kopf und sieht gerade auch ein wenig traumatisiert aus.

»Er ist …«, flüstert sie, kaum noch hörbar, »Rechtsmediziner!«

Das Fragezeichen auf meiner Stirn wird sekündlich größer – wo ist denn nun die Pointe der ganzen Nummer? Versteh nur ich das nicht?

Dr. Juliane Rehlein sieht jetzt aus, als müsse sie sich jeden Augenblick übergeben. Oder wirkt sie nur deshalb so grün, weil die Farbe der Wand sich im Weiß der Gesichtsfarbe wiederspiegelt? Ich fasse die Kleine bei den Schultern und schüttele sie ein bisschen.

»DU. BIST. AUCH. ARZT! Erinnerst du dich?« Just in diesem Moment zupft mich wer am Kittel.

»Vielleicht kann mal jemand meiner Frau helfen?« Unbemerkt hat sich der Kollege von hinten angeschlichen und hängt mir nun verstört am Kittelsaum, während seine Frau frenetisch brüllend von der Decke hängt. Also – irgendwie …

»Wo ist eigentlich Frau von Sinnen? Ist das nicht ihre Geburt?« Suchend schaue ich zur Tür, während Rehlein sich unerlaubt von der Truppe entfernen will.

»Ich geh sie schon holen!«

»Nix da – ICH geh sie holen – DU hältst die Stellung!« Keiner von uns geht, denn jetzt steht auch Frau Arzt an meiner Seite, packt mich unsanft am Arm und knurrt – jedes einzelne Wort betonend: »ICH MUSS PRESSEN!«

Das ist ja super. Pressen muss sie! Wo ist bloß diese verdammte Hebamme?

»Bambi – ruf Von Sinnen an. Und SPRICH LAUT! Frau Arzt – Sitzen? Stehen? Liegen?«

»STEEEEHEEEEN!«, brüllt sie und schmeißt sich zurück ans Seil, dass ich fürchte, sie könnte den Karabiner aus der Decke reißen.

Diese Frau ist der Oberhammer. Wie ein Sumo-Ringer vor dem entscheidenden Angriff hängt sie in ihr Tuch geklammert und presst, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich liege auf den Knien vor ihr und sehe den dunklen Schopf des Kindes schon deutlich vor mir.

»Ich brauche eine HEBAMME